Hello, Mr. President

Sehr geehrter Herr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,
Mr. George W. Bush jr.,

ich bin eine Mutter in den USA, die sich um ihre Kinder sorgt. Wahrscheinlich bekommen Sie in diesen Tage viele Briefe von vielen Müttern, denen es wegen ihrer Kinder bange ums Herz ist. Ich sehe im Fernsehen, dass Sie entschlossen sind, die Achse des Bösen zu besiegen. Das will ich natürlich auch. Aber dabei verstehe ich nicht recht, dass diese Achse seit kurzer Zeit nicht mehr aus drei Staaten bestehen soll, sondern nur noch aus einem. Eigentlich, wenn ich die Nachrichten richtig begreife, auch nicht mehr wirklich aus einem Staat, sondern aus einem einzelnen Mann. Ich finde, nebenbei gesagt, dass das ein merkwürdiger Begriff von einer Achse ist. Verzeihen Sie, ich bin eben nur eine dumme Frau.
Athabaska
Jedenfalls wollen Sie diesen Mann besiegen und absetzen. Weil er versucht hat, ihren Vater zu töten, wie Sie sagen. Ich bin, wie gesagt, eine Mutter, ich bin also schon etwas älter. Ich habe vor zwölf Jahren, als Ihr Vater Präsident war und gegen den Irak Krieg geführt hat, auch schon ferngesehen. Deshalb erinnere ich mich daran, dass George W. Bush sr. mehr als einmal versucht hat, Saddam Hussein zu töten. Der von Ihnen genannte Grund scheint mir deshalb ziemlich fadenscheinig zu sein. Entschuldigung, aber eigentlich hätte Saddam mehr Grund, Sie zu töten, als Sie ihn.

Ach, Mr. President, sind Sie vielleicht gerade auf Ihrer Ranch in Texas und reiten einen wilden Mustang zu? Oder sind Sie in der Kirche und beten zu Gott für das Wohlergehen seines eigenen und einzigen Landes? Ich weiß, Sie haben so viele wichtige Dinge zu tun, und mein dummer Brief, den Sie gerade lesen, hält Sie davon ab! Aber ich möchte Ihnen trotzdem noch etwas ganz Wichtiges sagen. Ich will mich auch kurz fassen.

Aus dem Fernsehen weiß ich, dass die Vereinigten Staaten Mitglied in den United Nations sind. Da ist ja fast jedes Land der Welt Mitglied, sogar die Schweiz ist vor ein paar Monaten beigetreten. Fernsehen bildet, wissen Sie! Ich weiß auch, dass es bei den Vereinten Nationen einen Sicherheitsrat gibt, der allein berechtigt ist, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wenn ein Staat andere bedroht – jedenfalls so ähnlich. Jeder Mitgliedsstaat unterschreibt bei seinem Beitritt, dass er diese Regel akzeptiert. Das habe ich alles aus dem Fernsehen – nicht, dass Sie glauben, dass ich diese zersetzenden Zeitungen von der Ostküste lese! Von denen habe ich nur Schlimmes gehört.

Aber jetzt sagen Sie, Mr. President, dass wir den Irak – oder Saddam Hussein, oder wen immer Sie meinen – auch dann angreifen werden, wenn die UN beschließen, nicht anzugreifen! Bestimmt haben Sie gebetet, bevor Sie diesen Beschluss gefasst haben, oh ja, das glaube ich bestimmt!

Aber, Mr. President, ich sagte bereits, dass ich eine Mutter bin. Als Mutter versuche ich, meinen Kindern Regeln beizubringen. Ich sage ihnen, dass man Regeln einhalten muss. Wenn niemand sich an Regeln hält, kann niemand sicher sein, sage ich ihnen. Wenn du deinen Bruder auffrisst, sage ich, dann kannst du nicht sicher sein, dass der Bruder deines Bruders dich nicht fressen will. Du sollst eben nicht töten, nicht wahr? Reiner Selbstschutz ist das.

Sie, Mr. President, sind gerade dabei, wichtige Regeln zu verletzen – ich muss Ihnen das leider sagen. Wohin soll das denn führen, was Sie machen? Wenn Sie jetzt den Irak oder Saddam angreifen, dann greift morgen Indien Pakistan an und übermorgen China Taiwan und in drei Tagen Brasilien Argentinien, und in vier Tagen ist die Welt im Eimer! Wenn Sie mein Kind wären, würde ich Ihnen eins hinter die Ohren geben, aber kräftig. Entschuldigung!

Oh, Mr. President, bestimmt war ich jetzt zu direkt zu Ihnen und ohne den gehörigen Respekt. Aber wissen Sie, wenn man zwei Jahre lang nur mit den Kindern beschäftigt war und dauernd hinter ihnen her sein musste, damit sie die Regeln des Überlebens lernen, dann wird man gegenüber Regelverletzern schnell ungeduldig. Wenn Sie Krieg führen wollen, dann erkläre ich hiermit ausdrücklich, dass Sie das nicht in meinem Namen tun. Not in my name!

Meine Kinder sind jetzt groß. Sie sind zu selbständigen Bären geworden, die gelernt haben, was sich gehört. Sie halten sich an sinnvolle Regeln. Sie bringen niemanden um, auch nicht, wenn sie zufällig gerade stärker sind als ihre Gegner. Sie sollten sich daran ein Beispiel nehmen, Mr. President!

Ach, Sie merken jetzt erst, wer Ihnen diesen Brief geschrieben hat? Oh nein – Sie müssen jetzt nicht Fish and Game oder das Bureau of Land Management aktivieren, um mich zu eliminieren – ich bin ganz friedlich und auch keine Terroristin. Ich ernähre mich von Beeren und Wurzeln. Ich sehe nur ab und zu fern und versuche die spärlichen Nachrichten zu verarbeiten, die ich dort bekomme. Ich muss also nicht abgeschossen werden, und Ihre Sicherheitsdienste brauchen mich auch nicht auf Guantanamo zu internieren, wo meine Bärenrechte einen Bärendreck wert wären.

Mr. President, ich möchte nur, dass Sie endlich erwachsen werden und sich an sinnvolle Regeln halten. Ihr Vater ist ja wohl nicht geeignet, um Ihnen eine ordentliche Ohrfeige zu geben. Ich hoffe auf Mutter Barbara.

Mit freundlichen Grüßen

Athabasca

Athabaska

Elternführerschein

Manfred und Grizzy

Manfred unternahm seinen vorläufig letzten Inspektionsgang in der neuen Bärenheimat. Es war Mitte November geworden, und vor allem in den Senken und den vor dem Wind geschützten Lagen der LaSals versank er schon bis zum Bauch im Schnee. Höchste Zeit also für den Winterschlaf!
Er stellte beruhigt fest, daß alle getan hatten, was für das sichere Überstehen der nächsten Monate notwendig war. Zuerst einmal hatten sie gefressen, was das Zeug hielt, achtzehn, manchmal auch neunzehn Stunden am Tag, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Ramses und das Schwein hatten sich dabei natürlich zurückgehalten – der Frosch brauchte so gut wie keine Reserven für die kalte Jahreszeit, weil er seinen Metabolismus auf Sparflamme stellte, und das Schwein konnte nun einmal nicht mehrere Monate hintereinander schlafen; deshalb hatte es sich Vorräte angelegt und hauptsächlich Eicheln gesammelt. Auch die Bären lagerten kleine Berge von Nüssen, Eicheln und getrockneten Früchten und Pilzen in den Ecken ihrer Höhle. Keiner von ihnen würde die ganze Zeit lang durchschlafen, sondern zwischendurch aufwachen, für kurze Zeit nur und ein bißchen dumpf im Kopf, aber immer hungrig.
Manfred war nicht unterwegs, um zu überprüfen, wie sich die anderen vorbereitet hatten. Ihm ging es um Selbstkontrolle. Er rüttelte an den elektrischen Leitungen, die er verlegt hatte, untersuchte jeden einzelnen Schaltkreis in der Telefon- und Computerzentrale und warf zum Schluß einen Blick in die Bibliothek. Die Regale, die die Bären selbst gezimmert hatten, waren schon recht gut gefüllt. Selbstverständlich enthielten sie kaum noch Nachschlagewerke. Informationsbedarf ließ sich heutzutage in der Regel schneller und aktueller elektronisch befriedigen als mit Hilfe von bedrucktem Papier. Dagegen waren die Abteilungen Literatur, Kunst und Philosophie schon zu beachtlicher Größe angeschwollen. Wahrscheinlich, dachte Manfred, würden auch sie eines Tages verschwinden und durch das e-book ersetzt werden. Oder vielleicht auch nicht. Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß sein altmodischer Vater zum Beispiel Hegels Darlegungen auf einem Bildschirm mit Hilfe eines Lesegerätes zu verstehen versuchte, anstatt mit einem Buch in der Hand herumzuwandern und dabei leise vor sich hin zu schimpfen, weil er die komplizierten Gedankengänge nicht sofort begriff. Und auch Kulle würde wohl die Papierausgabe vorziehen – wie sollte er auch auf einem Bildschirm seine wütenden Anmerkungen unterbringen, die er an den Rand von Texten zu kritzeln pflegte? Er schmunzelte, weil er an die beiden Bären dachte, die er am meisten liebte, abgesehen von seiner Mutter natürlich, und weil er mit seiner Arbeit zufrieden war. Er konnte sich beruhigt der überwiegend traumlosen Winterruhe hingeben, ohne sich zu sorgen, daß draußen der Schnee unermüdlich Zentimeter um Zentimeter höher wuchs und alles Leben unter sich begrub.
Athabasca
Er drehte sich um und fand den Weg zurück zur Höhle versperrt. Athabasca stand dicht vor ihm. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, scheinbar direkt in seiner Kehle. Vergeblich versuchte er zu schlucken und sich zu beruhigen. Hatte er gerade wirklich an die drei Bären gedacht, die er am meisten liebte? Er wollte Athabasca begrüßen, brachte aber keinen artikulierten Ton heraus.
Atti nickte, als wüßte sie Bescheid. „Hi, Manfred“, sagte sie leichthin und beglückte ihn mit einem charmanten Lächeln. „Alles klar fürs Hibernieren?“
Manfred nickte.
„Schön!“ kommentierte die junge Bärin. Und selbstverständlich, als redete sie über eine Nebensächlichkeit, fuhr sie fort: „Wir beide müssen uns übrigens beeilen, wenn wir in diesem Jahr noch ein Kind machen wollen.“
Manfred verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall, der ihn hilflos röcheln ließ. Vielleicht hätte er sich nie wieder davon erholt und wäre elendiglich erstickt, wenn Athabasca ihm nicht energisch auf den Rücken gesprungen und ihm von diesem Sitz aus in die Flanken getreten hätte. Ganz allmählich kam er so wieder zu Atem.
„Was hast Du gesagt?“ japste er endlich.
„Du hast mich ganz genau verstanden!“ entgegnete Atti seelenruhig. „Glaubst Du, ich habe nicht gemerkt, daß Du schon vom ersten Tag an um mich herumschleichst und mir zu imponieren versuchst? Kann das etwas anderes bedeuten, als daß Du mit mir schlafen willst? Ich jedenfalls habe nicht angenommen, daß Du mir das Angebot machen wirst, mich zur Hilfsmedientechnikerin auszubilden! Oder irre ich mich?“
„Nnnein…ja…nein…“ Manfred konnte in seiner Verwirrung nur stammeln.
„Also habe ich recht“, stellte Atti fest. „Du hast Dich nur nicht getraut. Seid Ihr Europäer immer so schüchtern?“
„Nur manchmal…“ Nur mühsam konnte Manfred sich sammeln. Ganz allmählich, wie ein kleines, vom Ausgehen bedrohtes Flämmchen, glimmte in seinem Bewußtsein der Gedanke auf: Sie mag mich! Sie will mit mir schlafen! Er war so begeistert von dieser Erkenntnis, daß er sie laut äußern mußte.
„Du willst mit mir schlafen!“ rief er.
„Das habe ich nicht gesagt.“ Die Bärin war so ernsthaft, daß Manfreds Freude in sich zusammenfiel.
„Zuerst müssen wir klären, ob Du als Vater meiner Kinder geeignet bist.“ Sie zog ein eng zusammengerolltes Blatt Papier aus ihrem dichten Nackenfell, das Manfred bisher nicht bemerkt hatte. Sie breitete es aus und hielt es Manfred hin.
„Da, lies!“
Er gehorchte.

Fragebogen zum Mutterführerschein

1. Was mache ich, wenn ich schwanger bin?
a) Jeden Tag möglichst viel mit dem Fötus reden – das gibt ein kluges Kind.
b) Viel Honigwein trinken, damit das Kind groß und stark wird.
c) Fressen, fressen, fressen – nach der Geburt werde ich die Reserven brauchen.

2. Wie verhalte ich mich bei der Geburt?
a) Ich suche den besten Bärenarzt, den ich finden kann, und wenn er am anderen Ende der Welt wohnte.
b) Ich bitte alte Bärinnen um Beistand.
c) Ich verlasse mich ganz auf meinen gesunden jungen Körper.

3. Während der ersten Wochen
a) weiche ich meinem Jungen nicht von der Seite.
b) muß ich viel schlafen und mich von der Geburt erholen.
c) lasse ich mein Junges seine ersten selbständigen Erfahrungen machen.

4. Auf den Vater meines Kindes
a) kann ich mich verlassen, er hilft mir bei der Erziehung.
b) kann ich nicht bauen, er kümmert sich nicht um das Kleine.
c) Vor dem Vater werde ich das Kleine in Sicherheit bringen, damit er es nicht auffrißt.

5. Selbstverständlich hat mein Junges seinen eigenen Kopf.
a) Gut so – so entwickelt es seine Persönlichkeit.
b) Seinen eigenen Kopf kann es haben, nachdem ich meine Erziehung beendet habe, aber keinen Augenblick früher.
c) Wir werden Differenzen ausdiskutieren, falls sich welche ergeben sollten.

6. Mein Kind hat viele Wünsche
a) Mein Kind bekommt alles, was es haben möchte – ich will schließlich, daß es ein glücklicher Bär wird.
b) Mein Kind bekommt alles, was es sich erarbeitet hat.
c) Ich entscheide das nach Lust und Laune – es geht hier ja auch ums Lustprinzip!

7. Was soll mein Kind lernen?
a) Lernen darf kein Zwang sein – die Jungen wissen selbst am besten, was gut für sie ist.
b) Das Beste ist gerade gut genug! Mein Kind ist intelligent und schafft das schon, auch wenn es schwierig ist.
c) Denken.

8. Was verbiete ich meinem Kind?
a) Alles.
b) Gar nichts.
c) Das weiß ich noch nicht – erst mal sehen, wer mein Kind ist.

Manfred war verwirrt, als er die Lektüre beendet hatte. „Ja…sehr interessant…“ murmelte er. „Und was soll ich jetzt tun?“
„Natürlich die Fragen beantworten, du dummer Bär!“ forderte Atti ungeduldig.
„Warum sollte ich? Das sind doch Fragen zu einem Mütter- und nicht zu einem Väterführerschein“, wehrte Manfred ab.
„Stimmt, aber jeder, der sie beantwortet, verrät dabei, wie viel oder wie wenig er vom Bärenleben versteht. Und genau das will ich von Dir wissen, bevor wir vielleicht zusammen ein Kind zeugen.“
Na gut!“ brummte Manfred. Er wollte Athabasca, er mochte sie, vielleicht liebte er sie sogar, also kam er um den lästigen Fragebogen wohl nicht herum.
„Während der Schwangerschaft frißt Du, so viel Du kannst, und meinetwegen kannst Du mit dem Foetus auch reden. Du wirst allerdings zu beidem wenig Gelegenheit haben, denn überwiegend wirst Du Winterschlaf halten. Bei der Geburt solltest Du nicht leichtsinnig auf Dich selbst vertrauen, aber auch kein Gewicht verlieren, indem Du endlos weit zu einem berühmten Arzt rennst. Vertraue Dich lieber erfahrenen Frauen an. Selbstverständlich wirst Du in den ersten Wochen, ja sogar während der ersten Monate ständig um die Jungen sein, und ich – äh – also der Vater wird Dir dabei helfen. Ein guter Vater wird sich ab und zu auch alleine um die Kinder kümmern. Es ist viel zu gefährlich, daß Bärenkinder schon früh ihren eigenen Kopf durchsetzen, aber wenn sie sich Mühe geben, bekommen sie zur Belohnung auch, was sie sich wünschen. Denken lernen ist meiner Meinung nach das wichtigste Erziehungsziel, und Ge- und Verbote hängen in der Tat stark von der jeweiligen Persönlichkeit ab.“ Nach dieser langen Rede sah er die junge Bärin erwartungsvoll an.
Athabasca reagierte völlig anders, als er erwartet hatte. Sie sah ihn mit einem unendlich verächtlichen Blick an, würdigte ihn keines Wortes, drehte sich schnell wie ein Wirbelwind auf den Hinterpranken herum und war im selben Moment auch schon verschwunden. An ihre Gegenwart erinnerten nur noch einige gelbe welke Blätter, die zu Boden segelten – Atti hatte sie bei ihrem schnellen Abgang abgestreift. Und eine Spur im tiefen Schnee.
Jetzt begriff Manfred gar nichts mehr. Er hatte ihr nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet und hatte nicht die geringste Ahnung, was er falsch gemacht haben könnte. Aber natürlich wollte er es gerne wissen. Nur – wie sollte er das herausbekommen? Atti konnte er wohl kaum fragen, das hatte sie ihm nur allzu deutlich signalisiert. Seine Eltern wollte er nur ungern über sein Problem informieren, und das ist gut verständlich: Kein Kind auf dieser Welt will seinen Eltern offenbaren, daß es Schwierigkeiten mit der Liebe hat. Also blieb nur Kulle übrig.
Manfred wußte, wo er Kulle suchen mußte; jetzt, da die Jahreszeit weite Streifzüge durch die Berge nicht mehr zuließ. Natürlich in der Bibliothek.
Kulle hatte sich in eine Ecke gerollt, die von einer tief hängenden Glühbirne beleuchtet wurde. Er lag auf der Seite und hielt ein aufgeschlagenes dünnes Buch in der Pfote. Als Manfred sich näherte, registrierte er, daß Kulle nur mit dem oberen Auge las. Das untere war geschlossen. Die eigentlich obligatorische Fliege war nicht um seinen Hals geschlungen. Kulle war kurz vor dem Einschlafen und hatte sich schon für den Winterschlaf ausgezogen.
Der junge Bär störte ihn dennoch. Zu drängend war seine Frage, und er wollte nicht riskieren, ein Jahr zu verschenken oder Athabasca vielleicht sogar ganz zu verlieren. Kulle brummte anfangs zwar empört, aber bald hörte er interessiert zu.
Als Manfred seinen Bericht beendet hatte, schüttelte er jedoch den Kopf. „Hmm. Ich verstehe das auch nicht. Soweit ich Dein Verhalten beurteilen kann, entspricht es völlig der Bärenetikette. Die Literatur ist hier, fürchte ich, nur wenig hilfreich. Nietzsche empfiehlt, die Peitsche mitzunehmen, wenn man zum Weibe geht. Lange Zeit habe ich ihn wegen dieses Spruches für einen Masochisten gehalten, aber er hat den Rat anders gemeint. Schopenhauers Aussage über die Dummheit der Frauen ist selbst so dumm, daß er eines Kommentars unwürdig ist. Die Klassiker haben sich zu Frauen wenig geäußert. Am ehesten kann ich mich noch an Marx‘ Brief an Engels erinnern, in dem er ihm kondoliert: „Der Tod der Mary hat uns alle sehr erschüttert…“ Aber gleich danach schreibt er auch schon wieder davon, daß er pleite ist und dringend Geld braucht. Brief an die Kollontai? Falsch – dabei geht es um die Möglichkeit des direkten übergangs zum Kommunismus im feudal geprägten Rußland…Und Bebel sagt viel über die Frau im Sozialismus, aber nichts über einen Mütterführerschein. Außerdem weiß Du ja, daß ich Junggeselle bin. Ich habe keine Erfahrung mit Frauen. Aber Dein Vater kann Dir da sicher weiterhelfen.“
Kulle legte sich wieder hin, ohne eine Reaktion Manfreds abzuwarten. Das Buch, das er die ganze Zeit lang festgehalten hatte, fiel ihm aus der Hand und klappte zu, so daß der Titel lesbar wurde: James D. Doss. Shaman sings. Kulle las einen Krimi! Er mußte wirklich sehr müde sein.
Ohne große Hoffnungen machte Manfred sich auf die Suche nach Bärdel, wie Kulle es ihm empfohlen hatte. Er tat recht daran, keinerlei Erwartungen zu hegen: Sein Vater konnte an seinem Verhalten ebenfalls nichts Falsches finden.
„Frag am besten Deine Mutter!“ riet Bärdel ihm und gähnte dabei herzhaft. „Sie als Frau weiß bestimmt, was Athabasca gestört hat.“
Sein Sohn befolgte den Rat nur ungern. Er wußte nicht genau warum, aber er schämte sich sehr, seiner Mutter gegenüber seine Schwierigkeiten zuzugeben. Es war ihm wesentlich leichter gefallen, mit Kulle und Bärdel darüber zu sprechen.
Tumu schien, ebenso wie die anderen Bärenfrauen, noch gar nicht müde zu sein. Die Frauen schleppten ihre vom angefressenen Speck schweren Körper durch die Schlafhöhle und ordneten alles für die lange Winterpause. Das machten sie bereits mindestens zum fünften Mal, und eigentlich gab es nichts mehr zu räumen, aber sie gaben sich dennoch den Anschein, als herrsche völliges Chaos. Nur mühsam konnte Manfred Tumu dazu bringen, das Neuarrangement der Wintervorräte den anderen Frauen zu überlassen und ihm zuzuhören. Dann aber lauschte sie konzentriert.
„Du hast nichts falsch gemacht“, kommentierte sie, als er fertig war. „Jedenfalls nicht nach unseren Maßstäben. Aber Atti ist wohl noch an archaische Formen des Zusammenlebens gewöhnt. Anders kann ich mir ihre Reaktion nicht erklären.“
Mama“, sagte Manfred und rutschte unruhig von einer gut gepolsterten Hinterbacke auf die andere, „Mama, ich finde nicht, daß es gerade jetzt an der Zeit ist, in Rätseln zu sprechen!“
„Das kann ich nachvollziehen. Aber Du mußt mich auch verstehen: Ich bin gerade im Begriff, einen uralten Schwur zu brechen, den sich alle europäischen Bärinnen seit Jahrhunderten gegeben haben und noch heute geben. Ich muß mein Versprechen zu schweigen brechen, denn sonst kann ich Dir nicht helfen.“
Manfred saß jetzt ruhig und sehr aufrecht. Aufmerksam sah er seine Mutter an. Er wußte, daß sie nie übertrieb. Was sie jetzt zu sagen hatte, mußte wirklich wichtig sein.
Tumu schluckte schwer, bevor sie fortfuhr: „Vor langer Zeit, als es in Europa noch wenige Menschen gab, war das Verhältnis von Bären, also von männlichen Bären, zu ihren Kindern ein ganz anderes als heute. Die Mütter mußten die Jungen vor den Vätern in Sicherheit bringen, damit … damit …“ Tumu mußte dreimal Anlauf nehmen, bis sie das Furchtbare schließlich erklären konnte: „…damit sie sie nicht auffraßen.“
Manfred saß ganz starr. Widerstandslos ließ er es geschehen, daß seine Mutter ihn wie ein kleines Kind in die Arme nahm und streichelte. In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm von Gedanken und Gefühlen.
„Aber warum….“ fragte er nach einer langen, lastenden Pause. Er brach jedoch sofort wieder ab. Es gab zu viele Warums, und er wußte nicht, welches er zuerst beantwortet haben wollte.
Tumu verstand ihn auch ohne Worte. „Vielleicht gab es zu wenig Nahrung. Vielleicht erkannten die Bären ihren eigenen Nachwuchs nicht. Damals lebten wir noch nicht in festen Beziehungen zusammen, sondern streiften einzeln umher. Erwachsene Bären trafen sich oft nur zur Paarung und trennten sich dann wieder. Erst als die Menschen mehr wurden, als wir Bären weniger wurden und näher zusammenrückten, weil wir nur so überleben konnten, hat sich das geändert. Heute sind Bären liebevolle Väter.“
„Aber warum…“ fragte Manfred zum zweiten Mal. Eine Frage war noch immer nicht beantwortet.
„Alle Bärinnen wissen davon. Alle müssen es wissen, schon um der Vorsicht willen. Aber wir schwören, es keinem Mann zu erzählen. Wir wollen nicht, daß ihr ein schlechtes Gewissen habt. Du bist der einzige Bär, der jetzt dieses Wissen hat, aber Du mußt mir versprechen, es keinem anderen Mann mitzuteilen.“
Manfred nickte. Er wußte jetzt alles, aber es würde lange dauern, bis er es verdaut hatte. Die Bärinnen taten recht daran, dieses Wissen für sich behalten zu wollen.
„Meinst Du, daß Attis Reaktion bedeutet, daß die Bären hier in Amerika noch immer…“ Er schauderte und konnte auch diesen Satz nicht beenden.
„Ich nehme es an. Ich werde mit ihr reden. Wenn unsere Vermutung stimmt, dann wird sie Dir zunächst bestimmt nicht glauben, wohl aber mir. Laß mich nur machen!“ Sie stand auf und klopfte ihrem Sohn derb auf den pelzigen Rücken: „Ich finde, ihr paßt gut zueinander!“ Mit diesen Worten stapfte sie aus der Höhle.
Athabasca
Manfred mußte lange auf ihre Rückkehr warten. Währenddessen wurde es um ihn herum immer ruhiger. Ein schlaftrunkener Bär nach dem anderen kam herein, bahnte sich einen Weg möglichst weit nach hinten, weil es da am wärmsten war, und legte sich zum Schlafen. Allmählich wurde der Platz knapp, und Manfred wurde immer weiter zum kühlen Höhleneingang gedrängt. Nach einer ihm unendlich erscheinenden Zeit tauchte Tumu aus der Dunkelheit der längst eingebrochenen Nacht auf. Sie zauste ihrem Sohn das Kopffell, gähnte ungeniert und wies nach draußen. „Sie wartet auf Dich!“
Schon nach den ersten beiden Worten war Manfred auf und davon.
Die Bären in der ersten Tiefschlafphase hörten wenig von dem Toben, Knurren und Brummen, das nicht weit entfernt von der Höhle stattfand. Sie wachten auch nicht auf, als Athabasca und Manfred endlich als letzte auch zum Schlafen kamen. Sie fanden nur noch ein zugiges Plätzchen direkt am Eingang, aber das störte sie überhaupt nicht. Sie kuschelten sich eng aneinander und froren kein bißchen. So hatten es auch die Zellen, die sich in Attis Gebärmutter bald eifrig zu teilen begannen, mollig warm.

 

Scheiße

SCHEISSE

Scheiße

Bären neigen, anders als viele Menschen, keineswegs zum Fluchen. Wenn sie ihrem Unmut Ausdruck verleihen wollen, hauen sie normalerweise ihre rechte Pranke in die linke – Linkshänder machen das natürlich andersherum. So belästigen sie niemanden mit ihren Emotionen, und gleichzeitig wissen sie aufgrund der Wucht des Schlages, den sie ausgeführt haben, wie sehr sie sich ärgern.
Um so verwunderlicher ist es, daß die Bären in ihrer neuen Heimat eine Gewohnheit entwickelten, die stark an menschliches Verhalten erinnert. Fast überall dort, wo sie sich aufhielten, konnte man in unregelmäßigen Abständen ein kräftiges „Scheiße“ vernehmen. Manche, die sich schon an die neue Sprache gewöhnt hatten, brummten oder riefen stattdessen „shit“, aber beides kommt auf das gleiche heraus. Ramses sitzt auf dem Hintern

Ramses und das Schwein verhielten sich übrigens ebenso, aber es ist ungewiß, ob das für sie ungewöhnlich ist – die Fluchgewohnheiten von Fröschen und Schweinen sind bisher noch nicht genau erforscht.
Eines Tages gingen Bärdel und Ramses einander entgegen, aber kurz bevor sie sich trafen, setzten sich beide gleichzeitig unvermittelt mit nach vorne gestreckten Beinen auf die Erde und sagten ebenso gleichzeitig: „Scheiße!“
Als hätten sie lange zusammen ein Ballett eingeübt, standen sie auch zusammen wieder auf und begannen, ihre Sitzflächen zu säubern. Bärdel hatte es leichter als Ramses: Der Kuhfladen, auf dem er ausgerutscht war, war schon ein paar Tage alt und ziemlich durchgetrocknet. Ramses dagegen mußte sich mit einem neueren, deutlich schmierigeren Produkt auseinandersetzen.
„Entschuldigung“, sagten beide, immer noch gleichzeitig, und sagen einander dabei nicht an. Die Angelegenheit schien ihnen peinlich zu sein. Bärdel begann dennoch, darüber zu sprechen.
„Ramses“, sagte er, wir alle finden es sehr schön hier, und wir sind Tussi wirklich dankbar dafür, daß wir hier sein dürfen. Du darft ihr das gerne in unser aller Namen berichten. Aber es gibt da eine Kleinigkeit…“
Ramses nickte. Er nickte so entschlossen, daß ihm der große Froschkopf vom Hals zu fallen schien. „Ja, und das ist übehaupt keine Kleinigkeit. Diese Scheiße überall hier ist mehr, als meine empfindliche Froschnase ertragen kann, und euch Bären geht es vermutlich ebenso. Dazu kommt die Rutschgefahr. Und überall da, wo diese Fladen herumliegen, fehlen die schönsten Blumen. Es ist wirklich fürchterlich!“
„Aber wieso gibt es hier so viele Kuhfladen?“ wollte Bärdel wissen. „Dies hier ist ein National Forest, das…“
Bärdel unterbrach sich, weil auf einmal ganz in der Nähe jemand zu singen begann.

„This land is my land,
this land is your land,
from California
to the New York Island,
from the Redwood Forest
to the Gulfstream Waters
this land belongs to you and me.“

Ein wunderschöner Bariton sang, und Bärdel lauschte andächtig. Er genoß die Stimme, und er mochte das Lied,wenn es auch für seine europäischen Ohren ein wenig sentimental klang. Vergeblich sah er sich nach dem Sänger um – niemand schien hier zu sein.
„Schön, nicht?“ fragte er, und Ramses nickte. „Also, wir sind hier in einem National Forest…“ Diesmal kam Bärdel noch nicht einmal so weit, seinen Nebensatz zu beginnen. Schon bei dem „F“ von „Forest“ fing der unbekannte Musiker wieder an:
„This land is my land…“
Bärdel war Rechtshänder, und deshalb hieb er seine rechte Pranke in die linke.
„Schöön gesungen!“ rief er. „Aber ich möchte hier und jetzt etwas diskutieren, und dazu brauche ich Ruhe! Wer immer mit mir zusammen nachdenken möchte, ist herzlich eingeladen, aber bitte ohne Gesang!“
Ramses nickte zustimmend und schaute nach rechts. Dort raschelte jemand im Unterholz, kleinere Zweige brachen. Manfred, der wohl in der Nähe herumgelungert hatte, bahnte sich seinen Weg durch die Büsche und sah seinen Vater fragend an. Bärdel schaute ebenfalls nach rechts, weil er meinte, daß der Gesang von dort gekommen war. Athabasca schlängelte sich aus dem dichten Gebüsch.
„Atti?“ fragten Bärdel und Manfred gleichzeitig.
„Wer sonst?“ war die ungnädige Antwort. „Und bevor ihr fragt: Ja, ich habe gesungen. Ja, ich singe Bariton. Und ja: Wenn jemand ‚National Forest‘ sagt, dann muß ich singen… Meine Mutter wurde erschossen, als ich ein Jahr alt war. Ein Ranger fand mich und zog mich auf. Das war gegen das Gesetz der Menschen, aber er wurde nicht erwischt. Er ließ mir alle Freiheiten, die ich brauchte, und ich wurde eine richtige Bärin. Ganz nebenbei habe ich auch eine Menge über die Menschen gelernt. Er sang in jeder freien Minute immer dasselbe Lied, und ich fürchte, ich…“
Bärdel dachte nicht daran, daß es in dieser Situation angebracht gewesen wäre, Atti zu trösten. Er hätte ihr auch sagen sollen, daß es richtig ist, Traumata auszuleben, anstatt sie zu verdrängen, daß sie sich also völlig richtig verhielt. Er vergaß alle diese psychologischen Weisheiten, weil ihn eine ihrer Aussagen vollständig überrumpelt hatte.
„Deine Mutter wurde erschossen? Aber wir sind hier doch in einem Na…“ Immerhin war er noch überlegt genug, um das Schlüsselwort zu vermeiden, das Attis Zwangshandlung auslöste. „Ich meine, wir sind hier in einem Gebiet, das der amerikanischen Föderation gehört, also allen. ‚Land of many uses‘, damit machen sie doch Reklame. Wieso wurde deine Mutter dann…“ Bärdel brach ab, weil er es nicht übers Herz brachte, das brutale Verb zu wiederholen.
„Das Land gehört allen – richtig!“ sagte Atti. „Allen Menschen – zumindest vom Anspruch her. Und zu den zahlreichen Möglichkeiten, die ihnen hier geboten werden, gehört auch die Jagd auf Bären und auf andere nette Zeitgenossen. Aber ihr braucht keine Angst zu haben!“ Sie hatte bemerkt, daß Bärdel und Manfred unruhig wurden und sich ängstlich umsahen. „Euch, uns allen wird nichts passieren. Meine Mutter konnte nicht lesen, und das ist ihr zum Verhängnis geworden. Die Forstverwaltung hier ist so ordentlich, daß sie überall plakatiert, welche Tierart wann und wo geschossen werden darf. Wir können den Mördern einfach aus dem Weg gehen.“
„Na ja“, brummte Bärdel. Er war keineswegs beruhigt. Da er aber das Thema jetzt nicht weiter verfolgen wollte und auch nicht wußte, wie er auf die Enthüllung von Attis unglücklicher Jugend reagieren sollte, wiederholte er einfach die Frage, die er schon einmal vergeblich gestellt hatte: „Und wieso gibt es hier so viele Kuhfladen?“
Athabasca zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Die waren schon immer da.“
„Die Kuhfladen“, erklärte Ramses wichtig, „stammen von Rindern.“
„Ach was!“ murmelte Manfred ironisch, schwieg aber angesichts eines strafenden Blickes seines Vaters.
„Viele Rancher aus der Gegend hier haben das Recht, ihr Vieh in den Sommermonaten in den Bergen grasen zu lassen. Wäre das anders, müßten sie zufüttern – weiter unten wächst in den heißen, trockenen Monaten praktisch nichts. Da die Zahl der Rinder nicht begrenzt ist, kommt es zu überweidung. Deshalb liegen überall Fäkalien herum, und deshalb vermissen wir so viele Pflanzen, die es hier eigentlich geben sollte. Sie wurden einfach aufgefressen.“
„Was können wir dagegen machen?“ wollte Manfred wissen.
Ramses wackelte mit dem Kopf. „Dafür hat Tussi mir keine Instruktionen gegeben.“
„Dann müssen wir selber versuchen, das Problem zu lösen“, stellte Bärdel fest. Entschlossenheit blitzte aus seinen Augen. „Heute Abend ist Bärenrat!“

Nachdem Bärdel, Ramses und Atti der Versammlung das Problem erklärt hatten, herrschte zunächst nachdenkliche Stille. Dina meldete sich als erste zu Wort.
„Ganz prinzipiell sehe ich zwei Möglichkeiten“, konstatierte sie. „Entweder leben wir weiter mit und in der Scheiße, oder wir versuchen, etwas dagegen zu tun!“
Die Reaktion des Rates war einhellig: Alle wünschten sich eine Verbesserung, und so mußte über die Vor- und Nachteile dieser Alternative nicht diskutiert werden.
„Gut!“ sagte Dina zufrieden. „Dann müssen wir uns darüber einigen, wie wir die Rinder loswerden, oder ihre Besitzer, oder die Waldverwaltung, die die Weidenutzung erlaubt, oder alle drei!“
Ganz selbstverständlich sprach Dina von der Waldverwaltung, und ebenso wie sie würde am heutigen Abend kein Sprecher den Begriff „National Forest“ in den Mund nehmen. Tratsch verbreitet sich unter Bären noch schneller als früher im dehländischen Bundestag in Bonn.
Nach Dinas Rede herrschte zunächst die bei Bären übliche nachdenkliche Stille, wenn es galt, mit schwierigen Problemen fertig zu werden, aber dann hagelte es mehr oder weniger vernünftige Vorschläge so schnell, daß es schwerfiel zu folgen.
„Wir könnten den Wald kaufen!“
„Oder wir bestechen die Waldverwaltung!“
„Wir vergiften die Rinder!“
„Vergiften ist gemein! Wir jagen ihnen einfach so viel Angst ein, daß sie davonrennen. Schließlich sind wir angeblich wilde Raubtiere!“
„Zur Abschreckung können wir ja so tun, als hätten wir eine Kuh gefressen!“
„Noch abschreckender wäre es, wenn wir einen Rancher fressen!“
„Das ist mir alles zu blutig! Bauen wir doch eine Rutschbahn aus Kuhscheiße an einem steilen Hang – dann rutschen ein paar Rinder aus und brechen sich die Knochen, und alle anderen werden bestimmt an einen anderen Ort verlegt, weil es hier zu gefährlich ist.“
„Wir können auch eine künstliche Eisbahn anlegen, das ist genauso schlüpfrig – ihr kennt doch den Spruch: ‚Die Kuh muß vom Eis‘?“
Tumu hielt sich die Ohren zu und versuchte gleichzeitig, sich zu Wort zu melden. Das war gar nicht so einfach, denn sie konnte mit den Fäusten auf den Ohren nur einen Signalfinger in die Luft strecken. Bevor Bärdel, der die Versammlung leitete, sie endlich bemerkte, hatte sie viel Zeit sich umzusehen. Die männlichen Jungbären reagierten entzückt auf die Vorschläge, Gewalt anzuwenden, und ihr eigener Sohn war offenbar fasziniert von der technischen Herausforderung, mitten in der Wildnis eine Kunsteisbahn zu installieren. Sie schüttelte den Kopf.
„Sagt mal“, schimpfte sie, als sie endlich an der Reihe war, „sagt mal, was werden die Menschen denken, wenn wir einen von euren Vorschlägen verwirklichen? Irgendeinen? Sie werden wissen wollen, wer dahintersteckt, richtig? Und sie werden uns finden, irgendwann. Wenn ich mich korrekt erinnere, sind wir aber hier, weil wir gerade nicht gefunden werden wollen. Auch richtig? Richtig! Also laßt euch bitte etwas Vernünftiges einfallen, bevor ihr hier dumm rumredet!“
Nach Tumus zornigem Beitrag herrschte Stille, und manche Bären senkten beschämt den Kopf. Bärdel ließ einige wirkungsvolle Sekunden verstreichen, ehe er sagte: „Damit ist wohl klar: Wir müssen versuchen, eine Methode zu finden, die die Rinder hier vertreibt, die aber keinen Rückschluß auf uns zuläßt.“
Diese ernüchternde Feststellung dämpfte den Elan der Versammlung erkennbar. Niemand meldete sich zu Wort. Deshalb machte Bärdel einen Beitrag zur inhaltlichen Diskussion: „Wenn die Rinder vertrieben werden, werden die Menschen immer nach der Ursache suchen. Es muß so aussehen, als würden sie aus eigenem Antrieb verschwinden. Ich habe allerdings keine Idee, wie…“
Kulle macht auf schlau!
„Aber ich!“ platzte Kulle dazwischen. „Danke für das Stichwort! Wir machen die Rinder einfach antriebslos, oder besser: trieblos. Wenn die Stiere nicht mehr auf die Kühe steigen, erledigt sich das Problem binnen kurzer Zeit von allein. Bei den Menschen wäre das genauso, wenn…“
„Kulle!“ mahnte Bärdel. Er wie alle anderen wußte natürlich, daß Kulle vor kurzem eine wissenschaftliche Arbeit über die menschliche Sexualität geschrieben hatte, auf die er mächtig stolz war.1 Er wollte bei jeder passenden und, wie man gerade feststellen mußte, unpassenden Gelegenheit darüber reden. Aber zumindest Manfred fand, daß seine Idee einen Kern enthielt, über den nachzudenken sich lohnte.
„Als ich damals bei den Menschen einen Job finden wollte,2 habe ich gesehen, daß sie den Stadttauben ein Mittel ins Futter getan haben, das sie unfruchtbar machte. Das könnten wir doch auch versuchen! Die Möglichkeiten dazu haben wir: In Moab liegen 13 Millionen Tonnen schwach radioaktiven Abfalls leicht zugänglich herum, und hier oben auf der Polar Mesa gibt es zahlreiche alte Schächte – alles Reste des Uranbooms in den fünfziger Jahren. Da sollten sich schon Wege finden lassen, um den Stieren zwar nicht die Lust zu nehmen, sie aber am Kälbchenzeugen zu hindern.“
„Oh nein!“ rief Bärdel. Er hatte völlig vergessen, daß er sich als Diskussionsleiter zurückzuhalten hatte. „Nein! Mit diesem radioaktiven Zeugs will ich nie wieder etwas zu tun haben. Ich habe noch genug von den Problemen, die wir damals in Dehland damit hatten.3 Damit zu spielen ist viel zu gefährlich. Und außerdem: Rinder sind keine Tauben, sie haben einen wesentlich längeren Reproduktionszyklus. Wenn wir unser Problem mit Hilfe deiner Methode lösen wollten, könnten sich vermutlich unsere Enkel über das Ergebnis freuen.“
Bärdels letzten Gedanken kommentierte Kulle mit einem gewichtigen zustimmenden Nicken.
Wieder herrschte Stille. Nach einer Weile murmelte das Schwein gedankenverloren vor sich hin: „Die Kuh, mit der ich am ersten Tag hier geredet habe, fand ich sehr nett. Wir sollten ihr nichts tun, das wäre gemein.“
„Was genau hat die Kuh gesagt?“ erkundigte sich Bärdel. Er fand eigentlich nicht, daß das wichtig war, aber da die Diskussion in einer Sackgasse steckte, fiel ihm nichts Besseres ein.
Das Schwein setzte sich aufrecht hin und sagte schlicht: „Ich zitiere.
‚Menschen?“ Kenn‘ ich nich…Hier gibs nur Mütter unn Kinner, unn Stiere natürlich. Wolln immer bloß das eine, die unverschämten Kerle. Unn Cowboys. Die sinn gefährlich, weil se dich nämlich verbrenn. Oder se machn dirn Loch ins Ohr ohne Betäubung, wie bei mir. Siehste?…Aba die komm nur ganz selten. Unn so ne halbe Portion wie du kümmert die bestimmt nich.‘ Zitat Ende.“4
„Die hat aber ein schlichtes Gemüt“, kommentierte Tumu. „Als hätte sie ihr Leben lang nur ‚WILD‘ gelesen.“
„Hierzulande liest man nicht“, korrigierte Dina. „Hierzulande sieht man fern!“
„Ja, natürlich. Hierzulande sieht man fern.“ Tumu wiederholte die Aussage, als dächte sie intensiv darüber nach. „Ramses, wie ist das hier, wenn die Menschen fernsehen?“
Allmählich, dachte Bärdel, entfernte sich die Diskussion so weit von ihrem Problem, daß sie es nie lösen würden. Zumindest nicht heute Abend. Aber er griff nicht ein, denn ein Gespräch über das falsche Thema war immer noch besser als unbehagliches Schweigen.
„Bei vielen läuft der Fernseher einfach nebenbei, wie in Dehland früher das Radio. Man sieht hin oder läßt es bleiben. Viele Menschen kleben allerdings viele Stunden täglich vor dem Bildschirm, als seien sie angeleimt. Sie stehen nur auf, um sich etwas zu essen zu holen oder um auf die Toilette zu gehen.“
Viele Bären, die von dergleichen absonderlichen menschlichen Gewohnheiten bisher nichts gewußt hatten, wandten sich ihren Nachbarn zu und wollten mit ihnen weiter in kleinen Gruppen darüber reden, aber Tumu schnitt das entstehende Gemurmel mit einer kurzen Handbewegung ab.
„Was essen sie?“
„Meist Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe, die man nur kurz in der Mikrowelle zu erhitzen braucht. Solche Mahlzeiten heißen auch ‚TV-Dinner‘“.
„Und wenn der Kühlschrank gerade mal leer ist, weil die Menschen vor lauter Fernsehen nicht zum Einkaufen gekommen sind?“ In Tumus interessierter Frage schwang Verachtung mit.
„In diesem Fall gibt es vermutlich irgendwo in der Wohnung noch größere Mengen Kartoffel- oder Maischips, Schokoriegel oder ähnliches. Und wenn auch das fehlen sollte – Softdrinks sind immer im Haus, und sie sind so süß, sie haben so viele Kalorien, daß sie den Hunger zumindest für eine Weile vergessen lassen.“
„Danke für die Auskunft“, sagte Tumu zu Ramses. An alle gewandt, fügte sie hinzu: „Ich denke, das ist die Lösung. Bei geschickter Programmauswahl sollte es nicht allzu lange dauern, bis wir hier nicht mehr ausrutschen – selbstverständlich ohne jemandem etwas getan zu haben.“ Sie nickte dem Schwein zu.
Aller Augen starrten sie groß und verwundert an. In ihrem blanken Unverständnis ähnelten sie Fernsehbildschirmen. Es gab nur zwei Ausnahmen. Manfred strahlte, nahm Tumu in die Arme und schwenkte sie durch die Luft. „Mama, du bist genial!“ rief er dabei.
Bären haben Fehler, wie alle Lebewesen auf dieser Erde. Ein typischer bärischer Charakterzug ist falscher Stolz. Wenn ein Artgenosse behauptet, etwas Wichtiges verstanden zu haben, würde ein Bär niemals eingestehen, daß er diesen Sachverhalt nicht begriffen hat. Deshalb fragte niemand nach, worin Tumus Idee bestand, aber die Neugier nagte an vielen, und deshalb wurde in der folgenden Nacht ein Rekord an unruhigen Träumen aufgestellt.

Dabei war doch alles ganz einfach.
An den Stellen, an denen die Rinder sich besonders gern aufhielten, vor allem an ihren Tränken, installierten die Bären große Fernsehbildschirme. Darauf überspielten sie drei Programme. Das eine hatte einen Fernsehprediger im Mittelpunkt, der jedem, ob Mensch oder Tier, das Himmelreich versprach, wenn er nur oft genug ‚Hallelujah‘ rief. Das zweite zeigte eine Reality-TV Show: Neun Kühe auf einer einsamen Insel. Im dritten lief eine Soap-Opera mit dem Titel: ‚Unsere Kuhweide‘. Die 524. Folge hatte als Plot: ‚Mein Stier geht fremd‘.
Wie Tumu es erwartet hatte, waren die Rinder von den Programmen fasziniert und vergaßen darüber zu fressen. Ihren Durst stillten sie an den gewohnten Wasserstellen. Da das Wasser mit Cola- und Pepsikonzentrat versetzt war, vergaßen sie nach den Trinken ihren Hunger und stellten sich wieder vor sie Glotze.
Die Rancher, die ihren Viehbestand ab und an kontrollierten, konnten sich den Rückgang der Fleischqualität ihrer Rinder in den LaSals nicht richtig erklären. Die Tiere verloren zwar kaum an Gewicht, aber ihre Muskelkonsistenz war wässrig-faserig. Schlechtes Fleisch brachte schlechtes Geld. Man vermutete, daß die Freisetzung von radioaktivem Material in den fünfziger Jahren auch nach Jahrzehnten noch auf Pflanzen wirkte. Man wollte kein Risiko eingehen.
Die Rancher beschlossen, ihre Weiderechte in den LaSals einfach ruhen zu lassen.

Bärdel und Ramses gingen einander entgegen. Sie freuten sich an den wunderschönen Blumen, die rechts und links des Weges wuchsen, umarmten einander und waren Tussi dankbar dafür, daß sie hier sein durften.


Fußnoten:

1 vgl. Kulle: Sexualität   To Top

2 vgl. Jobsuch e   To Top

3 vgl. Die Sägebande   To Top

4 vgl. Der erste Tag   To Top

Anasazi

anasazi2

„Das darfst du nicht!“
Bärdel duckte sich instinktiv, als er die ärgerliche Stimme hörte. Er steckte mitten im Unterholz am Rande des Waldes unten in den Bergen, und dichtbelaubte Eichenbüsche, undurchdringlich für die Augen, trennten ihn von dem Sprecher, der sich anscheinend in offenem Gelände aufhielt. Da er nicht entdeckt werden wollte, verzichtete er darauf, sich näher heranzuschleichen. Das Rascheln der Blätter hätte ihn verraten können. Er vertraute allein auf seine Ohren, hockte sich nieder und schloß die Augen, um sich besser auf sein Gehör zu konzentrieren. „Anasazi“ weiterlesen

Morgenspaziergang

Morgenspaziergang

Auch in der neuen Welt wollten die Übersiedler selbstverständlich nicht auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten – schließlich waren sie konservative Europäer. So hatten Bärdel und Kulle ihre morgendlichen Spaziergänge wieder aufgenommen, sobald Kulles Pfoten verheilt waren (vergleiche: „Der erste Tag„). Anders als in Bärenleben aber bestand Bärdel darauf, in Kulles Nähe zu bleiben – er befürchtete weitere unbedachte Taten seines Freundes. Da er es verstand, seinen Mund zu halten, akzeptierte Kulle die Begleitung ohne irgend einen Kommentar.
Morgen in den Lasalls
Wie auch früher hielten sie eine feste Route ein: Ihr Weg führte sie bergauf über eine Wiese bis zu einem Bach, der unterhalb eines Geröllfeldes talabwärts plätscherte, dann parallel zum Hang durch einen lichten Aspenbestand und in einem sanften Bogen wieder hinunter zurück zur Höhle, die sie inzwischen „Zuhause“ nannten. Direkt hinter dem Wäldchen kreuzten sie dabei einen Fahrweg, der nach dehländischen Kriterien den Namen „Straße“ nicht verdiente, hierzulande aber durchaus als solche galt. Allerdings hatten sie noch nie erlebt, daß jemand diese sogenannte Straße benutzte. Bis heute.
Kulle wollte gerade, gedankenverloren wie immer, den Schutz der Bäume verlassen, als Bärdel nach ihm griff und ihn gerade noch am Schulterfell erwischte.
„Stop!“ flüsterte er. „Da ist doch was!“
Auf dem Fahrweg oder auf der Straße, jedenfalls auf dem festgefahrenen Lehm, stand ein Auto. Es sah so aus, als gehörte es nicht hierher in die Berge und als wollte es auch nicht hier sein. Der ehemals weiße PKW war lehmüberkrustet. Der linke Vorderreifen war platt, und unter dem Wagen breitete sich eine übelriechende schillernde Öllache aus. Die Scheiben waren dunkel getönt, aber dennoch konnten die beiden bei genauem Hinsehen erkennen, daß die Vordersitze besetzt waren.
„Menschen!“ Bärdels Stimme war noch leiser als vorhin. „Laß uns verschwinden!“
Kulle schüttelte jedoch den Kopf. Er sah Studienobjekte vor sich, keine unmittelbare Gefahr. „Nicht so eilig“, sagte er. „Die beiden schlafen doch, das sieht sogar eine Blindschleiche. Außerdem sieht es sehr so aus, als ob sie sich verirrt hätten – ihr Auto ist jedenfalls eine einzige Katastrophe. Ich möchte mir das näher ansehen.“
Morgen in den Lasalls
Bevor Bärdel reagieren konnte, sah Kulle sich das näher an, so wie er es verstand: Er ging ohne Umschweife auf das Auto zu und riß die Beifahrertür weit auf. Der Oberkörper eines jungen Mannes in dunkelblauem Anzug rutschte in den frei gewordenen Raum, und der Kopf wäre auf den harten Boden aufgeschlagen, hätte Kulle ihn nicht im letzten Moment aufgefangen.
„Oh“, sagte Kulle überrascht.
„Oh“, sagte der junge Mann und schlug die Augen auf. Er machte die Augen sofort wieder zu, und sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Zuerst schien er skeptisch zu sein, aber dann begann er zu lächeln. Das Lächeln wurde immer strahlender, und als sein Mund so breit war, daß er die Ohren zu berühren schien, schlug er die Augen wieder auf. Er schaute Kulle voller Vertrauen an, hob die Arme hoch über seinen Kopf und senkte sie stufenweise wieder.
Pay Lay Ale“, sagte er dabei.
„Kulle“, sagte Kulle, als er sich seinerseits vorstellte. Er war jedoch verwirrt – so einen merkwürdigen Namen hatte er noch nie gehört, und auch das Begrüßungsritual war ihm unbekannt.
Seine Antwort schien den jungen Mann nicht minder durcheinanderzubringen. Er schloß seine Augen wieder, rieb sich die Stirn, massierte sich die Schläfen und sah Kulle danach zum zweiten Mal an. Diesmal war sein Blick mißtrauischer und klarer zugleich. Er schüttelte den Kopf, als hätte er einen entsetzlichen Fehler begangen, und wandte sich der Gestalt auf dem Fahrersitz zu. Kulle beugte sich tiefer hinab, um besser sehen zu können.
Der Mann auf dem Fahrersitz war ebenso jung und ebenso weiß wie der Beifahrer und trug den gleichen blauen Anzug. Auch er schlief fest oder war vielleicht  ohnmächtig, wie es sein Freund oder Kollege vor wenigen Minuten auch getan hatte oder gewesen war. Kräftiges Schütteln seines Beifahrers brachte ihn jedoch wieder zu Bewußtsein.
„Wasser!“ sagte er.
Damit konnten die Spaziergänger dienen. Seit dem Abenteuer des ersten Tages hatte Bärdel die Höhle nie wieder verlassen, ohne eine große Flasche Wasser mitzunehmen, und sei es auch nur für einen kurzen Ausflug. Und er hatte allen Bärenlebenern eingeschärft, es genauso zu halten. Also drängelte er sich jetzt nach vorne und reichte seine Flasche ins Auto.
„Bitte, trinkt ruhig, soviel ihr mögt. Wir haben genug.“ Selbstverständlich sprach Bärdel amerikanisches Englisch, aber als er sprach, merkte er, daß der junge Mann das nicht getan hatte. „Wasser“ hatte er verlangt. Buchstäblich. „Wasser“ auf deutsch.
Nachdem sowohl der Fahrer als auch sein Begleiter die Flasche gierig geleert hatten und sie, sichtlich beschämt wegen ihrer Gier, zurückgaben, begann Bärdel zu fragen. „Seid ihr Deutsche?“
Beide nickten.
„Verirrt?“ Beide nickten wieder.
„Touristen?“ Beide schüttelten den Kopf.
„Nein, wir sind Miss…“, begann der eine, aber der andere fiel ihm sofort ins Wort. „Dürfen wir euch etwas fragen?“ wollte er wissen.
“Selbstverständlich!“ sagte Kulle spontan. Er war überzeugt davon, daß es keine Frage gab, die er nicht beantworten konnte.
„Glaubt ihr an Gott?“
Das überraschte Kulle denn doch, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann aber holte er tief Luft. „Natürlich ni…“
Morgen in den Lasalls
„Natürlich nimmt diese Frage sich unter völlig Fremden ein wenig merkwürdig aus“, erklärte Bärdel anscheinend seelenruhig beinahe gleichzeitig. Die beiden Fremden sahen jedenfalls nicht, daß er Kulle heftig in die Seite knuffte, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Es ist schließlich eine sehr persönliche Frage, aber ich will sie trotzdem beantworten: „Ja!“
Kulle blies ihm seinen heißen Atem ins Gesicht, als er ihn verblüfft ansah, aber Bärdel zwinkerte oder blinzelte kein bißchen. Stattdessen lächelte er die Fremden harmlos und strahlend an.
Die beiden strahlten zurück. Der Zusammenbruch ihres Autos, ihre offensichtliche Erschöpfung, vielleicht sogar Verletzungen – alles schien wie weggeblasen. „Wir auch!“ sagten sie im Chor. Und ebenfalls unisono: „Es ist schön, euch zu treffen, Brüder!“
„Gut, gut“, brummte Kulle, „dann sind wir uns also einig, und jeder kann wieder seiner Wege gehen.“ Er sah Bärdel auffordernd an. So neugierig er auch war, einen Disput mit religiös Verrückten, die auf einem Waldweg in einem zusammengebrochenen Auto saßen, hielt er für wenig fruchtbar. Bärdel schien jedoch anderer Meinung zu sein, denn er blieb wie angewurzelt stehen und wartete offenbar auf etwas. Er brauchte nicht viel Geduld zu haben.
„Die Botschaft der Bibel ist wunderbar, nicht wahr?“ fragte Fahrer.
Bärdel nickte mit verklärtem Lächeln. Kulle schaute mehr und mehr verwirrt drein.
„Aber…“ sagte Fahrer.
Bärdel runzelte die Stirn. Er schien nicht geneigt, irgend etwas auf die Bibel kommen zu lassen.Kulle sah jedoch, daß er schauspielerte. Er hatte zunehmend das Gefühl, an einer Schmierenkomödie teilzunehmen, die er allerdings nicht kannte.
„Aber was?“ wollte Bärdel wissen.
Seine augenscheinliche Skepsis veranlaßte Fahrer zu einer anderen Strategie. „Aber viele Menschen glauben leider, daß Gott sich heute nicht mehr offenbart“, erklärte er.
„Tut er das denn?“ Das war wieder Bärdel.
Kulle verlor die Geduld. Gut, abstrakt hatte er verstanden, was hier ablief. Die beiden jungen Männer wollten ihn und seinen Freund für ihre Religion keilen. Bärdel hatte das eher begriffen als er und wollte die beiden jetzt genüßlich und ausführlich vorführen. Aber Kulle hatte keine Lust, sich eine langatmige und bestimmt langweilige Religionsgemeinschaftsgründungs- oder Wundergeschichte anzuhören nach dem Schema: Jungfrau Maria erscheint drei armen Bauernmädchen, Gott erscheint viehhütendem Araberjungen, Nomade klettert bei schlechtem Wetter auf einen Berg – oder so ähnlich. Da er in Amerika war, war er sicher, daß in der Story der Beiden Gottvater samt Sohn, vielleicht auch noch begleitet von einer Dunstwolke, einem Knaben erschienen war, der vermutlich Miller oder Smith hieß – eigentlich also nichts Neues. Viel spannender war da doch, was die neue Religion zu bieten hatte.
„Also, das tut er bestimmt, wenn ich euch beide so ansehe. Wer mitten in der Wildnis über nichts anderes reden will als über Gott, dem ist er zweifellos erschienen!“ knurrte er. Bärdel sah ihn böse an, aber die beiden jungen Männer strahlten Kulle an, als sei er der Weihnachtsmann. „Na, dann erzählt mal – wie ist die Kosten-Nutzen-Relation?“
Bärdel fühlte sich genötigt zu übersetzen, als er die Verwirrung der Autofahrer bemerkte. „Mein Freund möchte gerne wissen, was der Gott, an den ihr glaubt, von seinen Dienern verlangt und wie er ihren Dienst belohnt. Mich interessiert das natürlich ebenfalls“, fügte er höflich hinzu.
Jetzt waren die beiden jungen Männer nicht mehr zu halten. Sie stiegen aus ihrem Auto, federnd und energiegeladen, kamen auf Bärdel und Kulle zu, legten ihnen jeweils einen Arm über die Schulter und übertrumpften sich wechselseitig mit ihren Erklärungen.
„Errichtung des Gottesreiches in Amerika…“
„Ewiges Leben im Himmel, in der Anwesenheit Gottes, mit eurer gesamten Familie…“
„…also mit allen Generationen…“
„…selbstverständlich ewige Fortführung der Ehe…“
„Ein glückliches, drogenfreies Leben auf dieser Erde…“
„Ein irdisches Leben ohne überflüssige Zweifel, denn wir gehorchen der Obrigkeit und dem Gesetz…“
„Beistand von geschulten Brüdern und Schwestern bei allen Problemen, mindestens einmal monatlich…“
Das verbale Trommelfeuer der beiden wollte zunächst gar nicht wieder aufhören, aber endlich verebbte ihr Redefluß.
„Das alles und noch mehr gibt es nur für den Zehnten“, sagte schließlich Fahrer. „Und ein bißchen Engagement“, fügte Beifahrer hinzu. Sie schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an.
Kulle suchte den Blickkontakt mit Bärdel, und Bärdel nickte. Kulle hatte freie Bahn. Bärdel sah aus, als freute er sich kräftig auf ein ordentliches show-down, aber Kulle enttäuschte ihn.
„Hmhm“, machte er. „Wir sollten jetzt mal alle kräftig anfassen, den platten Reifen wechseln und euer Auto umdrehen, damit ihr wenigstens bergab rollen könnt und wieder zu euren Leuten kommt. Die Bremsen sind doch in Ordnung, oder?“
Die beiden Männer schwankten eine Weile zwischen dem Wunsch nach der Fortsetzung ihres theologischen Gesprächs und der vorgeschlagenen Rettungsmaßnahme hin und her, entschieden sich schließlich jedoch für Kulles Vorschlag. Als ihr Auto nach einer arbeitsamen Weile mit der Nase bergab zeigte, stiegen sie ein, bedankten sich, versprachen wiederzukommen, schalteten die Zündung ein, lösten die Bremse und legten den Leerlauf ein. Langsam, dann rascher begannen sie zu rollen. Bevor sie hinter der ersten Kurve verschwanden, leuchteten die Bremslichter auf.
Bärdel grinste Kulle an. „Das waren übrigens
LDS“, informierte er ihn. „Ich habe sie sofort erkannt, denn Ramses hat mir inzwischen einiges über sie erzählt. Deshalb dachte ich, daß ich sie dir bei dieser günstigen Gelegenheit gleich live vorführen sollte. Aber sag mal – seit wann bist du denn gegenüber religiösen Eiferern so nachsichtig, daß du auch noch dafür sorgst, daß sie sicher nach Hause kommen?“
„Nachsichtig?“ knurrte Kulle. „Bin ich das? Ihre Ölwanne ist leer, also können sie den Motor nicht anlassen. Der würde sich sofort festfressen. Ohne Motor haben sie keine Bremskraftverstärkung. Auch als LDS-Mitglied sollte man solche simpelsten technischen Sachverhalte kennen. Wenn sie heil unten ankommen wollen, dann brauchen sie also entweder kräftige Muskeln oder einen kräftigen Gott. Haben sie eins von beiden oder beides, dann wünsche ich ihnen ein glückliches drogenfreies Leben unter irgendeinem grausamen, aber selbstverständlich von Gott eingesetzten Diktator. Und wenn ihnen beides fehlt, ist das auch nicht schlimm, denn es erwartet sie ein nicht endendes Leben mit ihrer lieben Familie in Gottes Reich.“
„Um Gottes willen!“ flüsterte Bärdel entgeistert.
„Nun fang du nicht auch noch so an!“ fauchte Kulle. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, erstens. Wir können solche Typen hier oben nicht brauchen, zweitens. Und jetzt ist es Zeit zum Frühstücken.“

 

Identitätsdiebstahl

 

Versammlungsplatz
Manfred war glücklich. So glücklich, daß er in infantile Gewohnheiten zurückfiel und sich ertappte, wie er ein dummes altes Kinderlied vor sich hinbrummte: „Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.“ Dabei drückte er seinen neuen Laptop fest an sich. Die größte Hürde war genommen.
„Wo hast du das Ding denn her?“ wollte Bärdel mißtrauisch wissen, als er den flachen schwarzen Kasten zum ersten Mal zu Gesicht bekam.
„Den habe ich geschenkt bekommen“, sagte Manfred mit der unschuldvollsten Miene, zu der er fähig war. Das war fast gar nicht gelogen,1 Bärdel hatte dennoch das Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmte, aber er war klug genug, vorsichtshalber nicht genauer nachzufragen.
Mit Hilfe des Laptops und seines „Text to Speach“-  Programms lernten die Bären Englisch. Ihre hauptsächliche Hilfe dabei war allerdings Athabasca, die unermüdlich ihre Aussprache korrigierte und ihnen half, auch das kleinste Detail ihrer neuen Umgebung richtig zu benennen. Dabei lernte sie selbst übrigens ausgezeichnet Deutsch.
Natürlich hatten Manfred und seine Freunde den Computer nicht hauptsächlich deshalb „organisiert“, wie sie das nannten, um Englischlektionen abzuhalten. Er war der erste Baustein für den umfassenden Kontakt zur Außenwelt, den die Bären in Dehland gehabt hatten und den sie sich hier wieder wünschten. Einige Besuche in den umliegenden Siedlungen hatten die technische Ausrüstung um elektrische Leitungen, Glühbirnen und Steckdosen ergänzt, und Manfred hatte den nächstgelegenen Transformator angezapft.

Auch in Dehland war das die gängige Methode gewesen, Bedarfsartikel von geringem Wert zu besorgen, aber hier galt es, wesentlich vorsichtiger zu sein, das bemerkten die Bären bald. Die wenigen Menschen, die hier lebten, hatten zwar alle eine gut ausgestattete Werkstatt, aber das gesamte Inventar darin war so sorgfältig sortiert, daß jeder fehlende Gegenstand schnell auffallen mußte. Wer so ordentlich war, war entweder ein analer Charakter oder arm – für die Bären kam beides auf das gleiche heraus. Deshalb rief Manfred eines Nachmittags seine Freunde zusammen. Er kündigte an, es gebe Wichtiges zu besprechen, und so kamen alle. Auch Athabasca gesellte sich neugierig dazu.
„Das hier wird uns helfen, unsere Probleme zu lösen!“ verkündete Manfred der Versammlung. „Das hier“ war eine Büroklammer, eine verbogene Büroklammer, die er für alle sichtbar hochhielt.
Unwilliges Brummen und auch amüsiertes Kichern wurden laut. Da Manfred dergleichen erwartet hatte, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Das soll kein Witz sein“, erklärte er geduldig. „Mit so einem kleinen Ding kann man hervorragend einfache Schlösser öffnen, ohne daß sie Schaden nehmen. Ich werde es euch zeigen!“
Kulle

„Das brauchst du uns nicht zu zeigen, das weiß doch nun wirklich jeder!“ knurrte es unwillig aus einer Ecke. Manfred suchte den Sprecher, der erst jetzt den Kopf in die Höhe reckte, und entdeckte Kulle. Er seufzte. Kulle, der immer besserwisserische Kulle, würde seine Aufgabe nicht gerade erleichtern.
„Also ich weiß zum Beispiel nicht, wie man das macht!“ Athabasca kam Manfred zu Hilfe. Aber der freute sich zu früh, denn sie fuhr fort: „Man braucht das auch nicht zu wissen. Niemand hier schließt sein Haus ab, das sollte euch inzwischen aufgefallen sein. Warum also soll man Schlösser knacken?“
Überall in der Runde nickten die Bären mit dem Kopf. Atti hatte völlig recht – sie hatten ihre kleinen Diebstähle begehen können, ohne durch irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen behindert worden zu sein.
Manfred unterdrückte seinen aufkommenden Unwillen. „Schön und gut“, sagte er. „Aber, Atti, hast du schon mal einen Briefkasten aufgemacht?“
„Natürlich nicht. Warum sollte ich auch? Papier kann man nicht essen, oder ist das in Dehland anders?“ Wieder hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.

Wortlos holte Manfred einen Stapel Papier hinter seinem Rücken hervor und warf ihn schwungvoll in die Versammlung. Briefe, Karten, Hefte und Faltblätter lösten sich voneinander und flatterten durch die Luft. Die wenigsten fielen zur Erde, denn die meistern wurden von den neugierigen Bären aufgefangen. „Das ist der typische Inhalt eines Briefkastens hier in der Gegend“, erklärte er. „Essen kann man den selbstverständlich nicht. Aber seht ihn euch doch mal an – vielleicht ist etwas Interessantes dabei!“
Eine Weile lang war nur noch das Rascheln von Papier zu hören. Dann mischte sich das eine oder andere unterdrückte Kichern darunter. Noch nie zuvor hatten die Bären Post gesehen, die zu über neunzig Prozent aus Überflüssigem bestand, nämlich aus Werbung. Besonders bunt und umfangreich stachen die Gartenkataloge hervor, aber auch die Hersteller von Werkzeugen und elektronischen Artikeln priesen ihre Produkte prahlerisch an. Daneben warben die regionalen Geschäfte mit ihren Sonderangeboten, von denen eines angeblich immer sensationeller und günstiger war als das andere. Wesentlich seriöser gab sich dagegen die Finanzwelt: Versicherungen gegen und für alles wie auch Geld machten das Leben angeblich kalkulierbar, angenehm und sorgenfrei.
„Guck mal hier, ein Plastikbär als Dekoration für den Garten!“
„Toll – auf diesen Fernseher für 69$ gibt es 99$ Rabatt!“
„Hmm, eine Platinum-Kreditkarte, für die man ein Jahr lang keine Gebühren zu zahlen braucht – die hätte ich gerne!“
„Ich auch“, erklärte Manfred. Und deshalb brauchen wir die da!“ Jetzt hielt er nicht nur eine, sondern mehrere verbogene Büroklammern hoch.
Kulle schüttelte enttäuscht den Kopf. Mit Manfred hatte er sich viel Mühe gegeben, sehr viel Mühe sogar. Er war ja auch ein intelligenter Bursche. Aber mit der Logik haperte es bei ihm, wie sich auch jetzt wieder zeigte. „Manfred“, sagte Kulle und legte all die Geduld in seine Stimme, zu der er fähig war – also gar keine. „Manfred, dieses Kreditkartenangebot ist nicht für dich, sondern für…“ Er griff nach dem Briefumschlag. „…für Michael A. Pratt in Castle Valley.“
Wortlos nahm Manfred ihm das Papier aus der Hand, zog einen Kugelschreiber hinter dem Ohr hervor und füllte einige Spalten aus. Dann gab er Kulle alles zurück, immer noch schweigend. Während Kulle las, murmelte er vor sich hin.
„Ja! Ich, Michael A. Pratt, will…Angebot annehmen…keine weiteren Verpflichtungen…keine Jahresgebühr…Castle Valley…Michael Pratt.“ Er holte tief Luft. „Urkundenfälschung!“ brummte er empört.
„Genau: Urkundenfälschung! Na und?“ Manfred ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich verstehe das alles nicht“, beschwerte sich ein Jungbär, der sich gerade erst von seiner Mutter getrennt hatte – genau genommen, hatte sie ihn weggejagt, weil er ihr lange genug am Fell gehangen hatte. Er hieß Del. Jetzt war er zum ersten Mal bei einer Erwachsenenversammlung, worauf er mächtig stolz war. Er hatte sich vorgenommen, sich ganz cool zu geben, und bis eben hatte das auch geklappt.

Als Del sich auf einmal im Mittelpunkt des Interesses bemerkte, wurde er blaß um die Schnauzenspitze, aber er sprach tapfer weiter. „Dieser Michael Pratt bekommt aufgrund von Manfreds Urkundenfälschung demnächst eine Kreditkarte zugeschickt – und was haben wir davon?“
„Manfred hielt seine Büroklammer zum dritten Mal hoch. „Wir klauen ihm die Kreditkarte, und dann haben wir sie, und dann können wir damit einkaufen.“ Er lächelte und war erkennbar stolz auf sich.
„Erst Urkundenfälschung und dann noch Betrug! Schwerer Betrug! Junge, wer hat dir das eigentlich beigebracht?“ Kulle war aufgesprungen, gestikulierte wild und zupfte an seiner Fliege. Er bot ein Bild reinster Empörung.
„Du“, antwortete Manfred seelenruhig. „Nein, natürlich nicht diese Aktion hier konkret.“ Er streckte vorbeugend den Arm aus, um Kulle notfalls abwehren zu können, falls der sich auf ihn stürzen wollte. „Aber abstrakt schon. Wer hat mir denn beigebracht, daß die Expropriateure expropriiert werden müssen? Genau das mache ich hier. Mr. Pratt passiert gar nichts. Wenn er seine erste Kreditkartenabrechnung bekommt, wird er der Firma mitteilen, daß er die entsprechende Karte gar nicht besitzt. Das war‘s. Geschädigt ist die Bank, und die hat nichts Besseres verdient. ‚Was ist der überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer Bank‘, sagt Brecht. Und wer hat mich den Spruch gelehrt? Kulle!“
Kulle sank in sich zusammen und wieder auf den Boden zurück. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich in seinem Gesicht. Zwar fühlte er sich gedemütigt, aber er war auch mächtig stolz auf seinen Schüler Manfred.
„Aber…“, begann Del schüchtern.
„Ja?“ fragte Manfred geduldig.
„Wenn dieser Mr. Pratt der Bank geschrieben hat, dann ist die Karte bestimmt ungültig oder steht auf einer schwarzen Liste, und wer damit einkauft, wird verhaftet. Oder täusche ich mich?“
„Du hast völlig recht. Diese eine Karte können wir nur für kurze Zeit gebrauchen, dann müssen wir sie wegwerfen. Aber es gibt hier viele Briefkästen und viele Kreditkartenangebote. Wir müssen sie nur nutzen. Und dafür brauchen wir diese Büroklammern. Kulle wird euch zeigen, wie man sie ansetzen muß. Er hat vorhin ja gesagt, daß er Experte darin ist.“
„Nun, Experte nicht gerade“, knurrte Kulle, ob des Lobes schon wieder ein wenig mit Manfred versöhnt. „Aber selbstverständlich kann ich…“ Er griff mit der rechten Pfote nach dem Drahtstück, ohne den Satz zu beenden, und faßte mit der anderen das einfache Schloß, das Manfred ihm hinreichte. Aller Augen folgten ihm gebannt, als er die Klammer ins Schlüsselloch einführte, ruckartig hin- und herbewegte – und abbrach. „Das…das ist…ein unbekannter Mechanismus, der…“
Athabaska

Athabasca erlöste ihn aus der peinlichen Situation. Mit spitzen Zähnen zog sie das eingeklemmte Drahtstück aus dem Schloß heraus, bog sich den Rest der Büroklammer zurecht, stocherte ein bißchen – und das Schloß war entriegelt. „Geht wirklich ganz leicht, wenn man die entsprechenden geschickten Finger hat“, kommentierte sie und lächelte spitzbübisch. „Frauenfinger. übrigens Frauen – ich nehme an dieser Versammlung im Auftrag aller jungen Bärinnen teil, um euch zu sagen, daß wir beim nächsten Mal ebenfalls alle kommen werden. Ich bin authorisiert zu sagen, daß wir auch die halbe Wache an den Briefkästen übernehmen und die Hälfte aller Unterschriften fälschen. Und wir fordern einen Computerkurs. Langfristig wollen wir programmieren lernen, zunächst aber werden wir uns mit einer Einführung ins Internet zufriedengeben. Dann können wir nämlich ebenfalls mit ‚unseren‘ Kreditkarten einkaufen.“
Das Brummen der Bären, das jetzt laut wurde, übertönte so manches Zähneknirschen. Aber die Ablehnung blieb versteckt, denn Athabascas Forderungen waren nur gerecht, und Bären geben Fairneß immer den Vorzug, auch wenn eigene Privilegien dadurch gefährdet werden. Kulles und Manfreds Zustimmung waren dagegen uneingeschränkt.
Kulle beschloß, Atti ein wenig theoretisch zu unterweisen, und hatte dabei ‚Die Entstehung der Familie, des Privateigentums und des Staates‘ von Engels und ‚Die Frau und der Sozialismus‘ von Bebel im Sinn. Manfred grinste übers ganze Gesicht und freute sich darauf, Athabasca zu unterrichten. Er war so begeistert von der Idee, daß er völlig vergaß, daß sie nicht allein sein würden.

Kulles Wahl

Heuschrecke, Hase, Erdhörnchen, Luchs und Coyote hockten zusammen und beratschlagten. Da kam Kulle des Wegs. Er grüßte höflich und fragte, ob er sich ihnen zugesellen dürfe. Die Fünf schauten einander an, nickten sich zu, lächelten geheimnisvoll und wiesen auf einen Baum direkt vor ihnen.
„Wir haben uns hier getroffen, weil wir jemanden brauchen, der für uns auf diesen Baum klettert“, zirpte Heuschrecke.
„Allerdings darf nicht jeder dort hinauf!“ ergänzte Erdhörnchen.
Falscher Hase „Nein, keineswegs jeder!“ lispelte Hase und wackelte aufgeregt mit den Ohren. „Nur der, dem wir es erlauben.“
„Nur der, der unsere Fragen zufriedenstellend beantwortet hat“, konkretisierte Luchs.
„Unsere keineswegs einfachen Fragen!“ blinzelte Coyote geheimnisvoll.
Kulle fühlte sich geschmeichelt. Natürlich wollte er gerne für die Versammelten auf diesen Baum klettern, und sei es nur, um ihnen zu beweisen, daß er ihre komplizierten Fragen beantworten konnte. Dennoch ließ ihn seine gute Erziehung zögern.
„Warum braucht ihr einen Fremden für diese Aufgabe?“ wollte er wissen. „Jeder von euch kann auf diesen Baum klettern, denke ich, denn er ist sehr schief gewachsen, und auch Hase und Coyote können auf seinem Stamm emporwandern. Und wer schwierige Fragen stellen kann, wird auch schwierige Antworten wissen.“
„Ja, das stimmt schon!“ gab Luchs zu. „Ich habe aber gerade drei kleine Kinder, die ich versorgen muß. Und wenn ich oben auf dem Baum bin, kann ich nicht für sie jagen.“
„Ich mache lieber hier unten Musik, um eine Frau zu finden, und verstecke mich dabei zwischen den Grashalmen“, flötete Heuschrecke. „Oben in den Bäumen gibt es entsetzlich viele Vögel, die in mir nur eins sehen: ein Nahrungsmittel!“
„Ich interessiere mich nicht für Bäume!“ mümmelte Hase. Erdhörnchen nickte energisch und schloß sich seiner Meinung an.
Kulle registrierte, daß Coyote schwieg. Er sah ihn auffordernd an, jedoch erfolgte keine Reaktion. Also mußte er fragen: „Und warum kletterst Du nicht auf den Baum?“
„Ich bin farbenblind“, sagte Coyote.
Kulle zuckte die Schultern. Natürlich war Coyote farbenblind. Alle Coyoten sind farbenblind, das weiß jedes Biologiebuch. Coyote benutze offenbar eine billige Ausrede, wie die anderen auch.
„Na schön. Keiner von Euch will auf den Baum, also werde ich für Euch raufklettern“, sagte er.
„Halt!“ Alle riefen wie aus einem Mund. „Halt! Wir haben Dir doch gesagt, daß Du erst hinauf darfst, nachdem Du unsere Fragen beantwortet hast!“
Kulle hatte diese Bedingung vergessen, beziehungsweise hatte er nicht mehr an sie geglaubt, nachdem er festgestellt hatte, daß niemand auf den Baum klettern wollte.
„Also gut! Fragt!“ sagte er. Kulle war ein geduldiger Bär.
„Bist Du Demokrat oder Republikaner?“ wollte Hase wissen.
Kulle fand, daß diese Frage indiskret war. Er hatte nicht die geringste Lust, jemandem, den er kaum kannte, seine innerste politische Überzeugung zu verraten. Außerdem verriet die Frage einen äußerst beschränkten politischen Horizont. Er ließ sich jedoch nichts anmerken.
„Ich bin Republikaner“, sagte er und entschied sich damit entsprechend der politischen Theorie für die weitergehende Variante, denn sie schloß immerhin die Existenz einer Monarchie aus.
„Schade!“ sagten Hase, Heuschrecke und Erdhörnchen.
Falscher Hase „Wir haben eigentlich immer Demokraten gewählt“, sagte Heuschrecke zur Erklärung, als Kulle verwundert guckte.
„Nicht immer!“ korrigierte Hase.
„Nein, natürlich nicht immer, Aber immer dann, wenn wir gewählt haben!“ konkretisierte Erdhörnchen. „Weil die Demokraten die besseren Sozialprogramme haben.“
Kulle hatte keine Zeit, um die Stirn zu runzeln, die geballte Faust auf ein imaginäres Rednerpult fallen zu lassen und seinem Publikum eine Grundsatzerklärung über politische Partizipation zukommen zu lassen. Er war vollauf damit beschäftigt, Luchs‘ nächste Frage zu beantworten.
„Was wirst Du für mich tun, nachdem ich Dich gewählt habe?“
„Nachdem Du mich gewählt hast, werde ich Deine Interessen vertreten“, sagte Kulle so langsam, als ob er den Satz aus einm Schulbuch ablesen würde. „In Deinem Fall heißt das, daß Du so viele Tiere jagen kannst, wie Du willst. Für den Fall, daß Dir Fleischfasern im Gebiß hängen bleiben, die Du mit Deiner Zunge allein nicht beseitigen kannst, werde ich einen Fonds einrichten, aus dem Deine möglichen Kosten für einen Zahnarzt bezahlt werden.“
Luchs nickte zufrieden und machte Hase Platz. Wie Kulle erwartet hatte, wollte auch Hase nur das eine von ihm wissen.
„Was wirst Du für mich tun, nachdem ich Dich gewählt habe?“
„Du sollst so viele grüne Wiesen haben, wie Du nur willst. Ich werde alle saftigen Wiesen einzäunen und unter Naturschutz stellen lassen, damit Du immer genug zu mümmeln hast. Raubtiere, die Dich bedrohen, werden erschossen; dafür wird eine Behörde sorgen, die ich einrichten werde.“
Kulle schaute sich um und wartete auf eine Reaktion, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen stellte Heuschrecke ihm die Frage, die er inzwischen sehr gut kannte.
„Für Dich werde ich ein Verbot aller Insektenvertilgungsmittel durchsetzen. Du darfst so viel Gras und sogenannte Nutzpflanzen und Wildkräuter fressen, wie Du möchtest.“
„Danke“, sagte Heuschrecke. „Ich glaube Dir übrigens kein Wort!“
„Na endlich!“ Kulle war ungemein erleichtert. „Ich habe schon befürchtet, daß Ihr hier alle völlig debil seid. Erstens widersprechen sich alle meine Versprechungen, oder, um es kurz zu machen, sie sind antagonistisch, wenn Ihr versteht, was ich meine. Zweitens wäre es völlig hirnrissig zu glauben, daß jemand, der auf einem Baum sitzt, etwas verändern oder veranlassen soll. Er hat von dort oben doch eine völlig falsche Perspektive und sieht nicht, welche Probleme es tatsächlich gibt. Ich bin froh, daß das dumme Spiel hiermit vorbei ist. Jetzt solltet Ihr mir mal erzählen, wass Ihr wirklich von mir wollt!“
„Wir möchten, daß Du für uns auf diesen Baum kletterst!“ sagte Coyote. „Ernsthaft! Wir alle sind nämlich sehr überzeugt von Dir. Natürlich wissen wir, daß Du deine Versprechen nicht halten kannst. Luchs, Hase und Heuschrecke haben entgegengesetzte Interessen, Du kannst einfach nicht jeden zufriedenstellen. Auch wird bestimmt niemand Lust haben, Luchs eine Krankenversicherung für seinen Zahnarzt zu bezahlen. Das alles wissen wir. Aber Du hast überzeugend gesagt, was eigentlich gut für jeden von uns wäre. Vielleicht nicht gut für uns alle. Um das herauszufinden, müßten wir uns mal ernsthaft zusammensetzen. Das würde bestimmt lange dauern und uns davon abhalten, zu jagen und Musik zu machen und Gras zu fressen und was es sonst noch für wichtige Dinge gibt. Das schaffen wir nicht, und deshalb übertragen wir es Dir, für unser Wohl zu sorgen, obwohl wir wissen, daß Du es nicht kannst. Und jetzt rauf mit Dir – Du hast keinen Gegenkandidaten!“
Coyote bleckte die Zähne, und Kulle, der sich zu den klugen, aber nicht unbedingt zu den tapferen Bären zählte, schlug seine Klauen in die Baumrinde und stieg langsam am Stamm hinauf. Coyote, Hase, Heuschrecke, Luchs und Erdhörnchen begleiteten seinen Aufstieg mit Beifall.
„Es lebe unsere neue Regierung!“ riefen sie im Chor.
Kulle suchte sich eine bequeme Astgabel und versuchte, es sich gemütlich zu machen und nach dieser Überraschung erst mal erholsam zu schlafen. Über ein Programm zu Erziehung der hiesigen Bevölkerung würde er nachdenken, wenn er wieder wach war.

Kulle

Mountainbiking in Moab

Biker

„Hallo?“
„Hi John, hier ist Jim. Störe ich?“
„Überhaupt nicht, ich habe deinen Anruf doch erwartet. Na, was macht unser Patient?“
„Physisch geht es ihm wieder gut. Das Kerlchen ist zwar ein Bürohengst, aber eben beneidenswerte 25 Jahre jung. Er hat viel zu trinken bekommen und eine Kochsalzinfusion, das hat ihn wieder auf die Beine gebracht. Darüber hinaus habe ich ihn komplett untersucht, mit allen Schikanen – wäre zwar nicht nötig gewesen, ist aber, unter uns gesagt, gut für mein Budget. Der Knabe ist übrigens luxuriös krankenversichert, das weiß du doch sicher, oder?“
„Nein, wie sollte ich? Er war bei uns im Büro, um Anzeige zu erstatten. Auch wenn wir ihn für verrückt halten – das ist kein Grund, ihn zu filzen. Ist er nun verrückt, oder nicht?“
„Ehrlich gesagt, John, ich weiß es nicht. Er arbeitet bei den Feds in D.C., die entsprechenden Papiere hat er mir gezeigt. Jetzt hat er sich hochgearbeitet und seit Jahren den ersten nennenswerten Urlaub – und was macht er? Kauft sich das teuerste Mountainbike, das auf dem Markt ist, obwohl er überhaupt noch nie auf einem Fahrrad gesessen hat, um auf unseren berühmten Slickrockrouten herumzugondeln. Alles das natürlich mitten im Sommer, wenn wir Temperaturen von über 100 Grad Fahrenheit und 15% Luftfeuchtigkeit haben. Völlig untrainiert will er über Stock und Stein und mal so eben 3000 Fuß rauf und dasselbe wieder runter. Ich finde, das ist verrückt.“
„Komm, Jim, laß die dummen Scherze. So verrückt sind sie alle, und wenn sie es nicht wären, dann könnten wir unser schönes Moab, Utah vergessen und einen Zettel an den Straßenrand kleben: ‚Seit dem Uranboom in den 50er Jahren ist die Stadt leider bis auf weiteres geschlossen‘. Du weißt genau, was ich von dir wissen will!“
„Entschuldige. Also, der Junge ist in Grenzen intelligent. Er hatte Wasser mit auf seiner Tour durch die La Sals. Die LaSals Allerdings zu wenig. Stattdessen hat er den technischen Kram mitgeschleppt, den man wohl für wichtig hält, wenn man ein Bürohengst aus D.C. ist. Seinen Pager zum Beispiel. Als ob er damit hier in der Wildnis für irgend jemanden erreichbar wäre. Und seinen Laptop. Das war gar nicht mal so dumm.“
„Aber genau da fängt die Sache für mich an, blödsinnig zu werden, Jim. Was will jemand mit einem Computer auf einer Radtour in Südostutah, auf der er vermutlich keinen Menschen treffen wird, bestimmt aber keine Steckdose?“
„Entschuldige, aber als Sheriff solltest du schon wissen, was diese kleinen Wundermaschinen inzwischen können. GPS zum Beispiel. Global Positioning System. Du schaltest deinen Laptop ein, und der sagt dir, wo du gerade bist. Er zeigt dir Deinen Standpunkt auf einer Karte. Damit kommen selbst Deppen zurecht, die sich alleine mit Karte und Kompass nicht zurechtfinden. Es ist ganz einfach das ideale Orientierungssystem.“
„Quatsch! Ja, du hast schon recht, dieser technische Schnickschnack interessiert mich nicht genug. Vor der nächsten Wahl muß ich mich da noch ein bißchen – wie heißt das doch? – updaten. Kannst mir ja vielleicht helfen. Aber auch wenn ich ein technischer Idiot bin – es ist unmöglich, daß ich einen simplen Computer frage, wo ich bin, ohne daß der Computer seinerseits jemanden fragt, der es wissen muß. Woher soll ein kleiner schwarzer Plastikkasten wissen, wo er ist? Oder bin ich blöd?“
„Nein, John, du bist nicht blöd, sondern ich habe blöd erklärt. Du hast völlig recht. Der Laptop fragt jemanden, der es wissen muß, nämlich den GPS-Empfänger. Der erhält Signale von zwei Satelliten mit bekannter Position. Der Rest ist Geometrie. Wenn der Laptop darüber hinaus noch ein GSM-Modem hat, kann sein Besitzer sogar ohne Telefonkabel den Sheriff um Hilfe anmailen, falls er immer noch nicht alleine zurechtkommen sollte. Bis dann die Posse kommt, kann er sich die Zeit im Internet vertreiben.“
„Und das hat unser Patient gemacht, ja? Dir hat er das auch erzählt? Er hat seinen Laptop aus dem Rucksack geholt und seine Position bestimmt?“
„Genau das hat er mir erzählt.“
„Und dann?“
„Aber das weißt du doch schon alles.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Manche Menschen belügen die Polizei, aber einem Arzt sagen sie die Wahrheit. Also, wie geht die Geschichte weiter?“
„Er wollte seinen Laptop gerade wieder einpacken, als ihn eine Gruppe von Bären umringte. Fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Tiere. Ein Bär erklärte ihm höflich, sie wollten nur seinen Computer, sonst nichts. Da er sich hoffnungslos unterlegten fühlte, tat er ihnen ihren Willen. Ohne GPS-Orientierungsmöglichkeit verfuhr er sich danach und kam dehydriert ins Sheriffsbüro, wo er Anzeige erstattete.“
„Glaubst du ihm?“
„Den ersten Teil ja, die Sache mit der Orientierung. Der Rest ist Unsinn. Bären in den La Sals werden ab und zu gesehen, aber immer als Einzelgänger, und natürlich können Bären nicht sprechen.“
„Was machst du jetzt mit ihm?“
„Solange er hier ist, bekommt er Beruhigungsmittel. Und meine eingehende Generaluntersuchung hat eine medizinisch interessante Gemengelage ergeben, die dazu führt, daß unser junger Freund unter extremer Belastung zu halluzinogenen Zuständen neigt – wer tut das nicht. Ich werde ihm das bescheinigen, er will schließlich etwas sehen für sein Geld. Wahrscheinlich hatte er wirklich ein Blackout, bedingt durch Dehydrierung, und hat den Laptop in die Büsche geworfen. Wenn sein Arbeitgeber das Gutachten in die Finger bekommt, ist er gefeuert. Schade für ihn, aber wir haben hier schließlich einen touristischen Ruf zu verteidigen.“
„Jim, ich danke dir!“
„Nichts zu danken, John. Ist schließlich alles für unsere geliebte Heimatstadt, nicht wahr?“

 

Der erste Tag

Die Bären, der Frosch und das Schwein hatten sich für die erste Nacht gemütlich eingerichtet, und die meisten hatten auch gut geschlafen. Einige allerdings, vor allem die jungen, zeigten am Morgen leicht rot geränderte Augen. Sie waren nachts neugierig aus der Höhle nach draußen gewandert und hatten sich an dem fremden Sternenhimmel, der so ungewohnt klar war und an dem der Halbmond auf dem Rücken lag, lange nicht sattsehen können. Aber auch sie krochen früh aus den Schlafecken – der erste Tag lag vor ihnen, und sie wollten keine Sekunde von ihm versäumen.
Wortlos häuften die Bärenfrauen kleine Beerenhügel in der Mitte der Höhle auf, aber sie wurden unangenehm laut, als einige Jungmänner sich auf die Nahrung stürzen wollten, als sei deren Bereitstellung eine Selbstverständlichkeit.
„Stop!“ sagte Dina. „Zuerst mal heißt das: ‚Danke!‘ Und zweitens möchte ich, daß wir jetzt alle zivilisiert gemeinsam frühstücken und sich nicht jeder heimlich irgendwohin verkrümelt und plötzlich verschwunden ist!“
„Danke!“ sagte Bärdel beschämt, und auch viele andere murmelten ähnliches oder nickten mit gesenkten Blicken. Sie schämten sich, weil die Frauen für sie alle gearbeitet hatten und weil Dina genau ihre Gedanken gelesen hatte. „Danke!“ wiederholte Bärdel. „Wo habt Ihr denn in der fremden Umgebung so schnell die vielen Beeren finden können?“
Ramses „Ramses hat sie uns gezeigt. Sie wachsen massenhaft gleich hier hinter der Höhle. Serviceberries hat er sie genannt. Er sagt, es gebe viel davon, und alle Tiere liebten sie. Das Zeug schmeckt ziemlich sauer, aber das spricht für seinen hohen Gehalt an Vitamin C. Also: Laßt es euch schmecken!“
„Hmhm“, machte Bärdel, nachdem er die erste Handvoll gegessen hatte und sich bemühte, nicht das Gesicht zu verziehen. Die Beeren war nicht nur ziemlich sauer, sie waren sehr sauer. „Interessant! Ein völlig neuer Geschmack! Wir sollten uns also auch bei Ramses für die leckere Mahlzeit bedanken.“
Die Mienen der meisten Bären drückten aus, daß sie die Bewertung „lecker“ keineswegs für zutreffend hielten, aber niemand widersprach. Stattdessen sahen sich alle suchend um – wo war Ramses?
„Ramses ist draußen“, sagte Tumu. „Er hat uns erklärt, daß er es als Frosch nicht gewohnt ist, sich in Höhlen aufzuhalten. Aber wir sollen ihn jederzeit rufen, wenn wir ihn brauchen.“ Sie behielt für sich, daß die Körperausdünstungen der Bären und des Schweins für den kleinen Frosch offenbar alles andere als angenehm waren.
Bärdel tappte zum Eingang und bat Ramses hereinzukommen. „Danke, daß du uns zu einem so … gesunden Frühstück verholfen hast. Wir hoffen, daß wir bald selbständiger werden und deine Hilfe nicht mehr ständig beanspruchen müssen. Den heutigen Tag werden wir für erste Erkundungen der näheren Umgebung benutzen. Gibt es etwas, worauf wir achten sollten?“
Hinter der Stirn des kleinen Frosches arbeitete es sichtbar. „Bewegt euch nicht so schnell, wie ihr möchtet“, sagte er schließlich. „Es wird ein paar Tage dauern, bis ihr euch an die dünne Luft hier oben gewöhnt habt. Trinkt viel – die Luftfeuchtigkeit ist hier viel geringer als in Dehland. Und sonst? Erschreckt keine Kuh, erschreckt vor keinem Cougar und hütet euch vor den LDS. Das war’s eigentlich schon.“
„Was ist ein Cougar?“
„Ich nehme sowieso keine Drogen.“
Was sind LDS?“
„Ich kenne nur LSD!“
Fragen und Kommentare purzelten durcheinander.
Ramses wedelte mit seinen Froscharmen, und Ruhe kehrte ein. „Entschuldigung! Ein Cougar ist ein Berglöwe, korrekter ein Puma. Ein paar von ihnen gibt es her oben. Wenn man sie stört, werden sie meist unangenehm. Sie schlafen tagsüber hoch oben in den Bäumen und jagen nachts. Eigentlich solltet ihr euch also nicht begegnen. LDS sind merkwürdige Heilige. Ich erkläre euch das besser später. Ich hätte sie jetzt noch gar nicht erwähnen sollen. Hütet euch vor den Menschen, wollte ich sagen – auch von denen gibt es ein paar hier oben.“
Die Neuankömmlinge waren mit Ramses‘ Erklärung zwar keineswegs zufrieden, denn sie wollten immer alles ganz genau wissen, aber da der Frosch deutlich machte, daß er im Moment mehr nicht sagen würde, gaben sie sich zufrieden, brummten und quiekten ihren halbwegs höflichen Dank in seine Richtung und verließen dann die Höhle, um endlich ihre Neugierde zu befriedigen.
Tumu blieb als letzte und beseitigte seufzend die wenigen Frühstücksreste. Neue Welt hin oder her – die alten Gewohnheiten hatten die Bärenlebener leider mitgebracht. Alle anderen waren ihr deshalb schon weit voraus, als sie endlich nach draußen trabte und schnuppernd den Kopf hob. Sofort stieg ihr den Geruch von Honig in die Nase. Die Quelle konnte nicht weit entfernt sein. Vorsichtig und nach allen Seiten witternd setzte sie sich in Bewegung.
Die anderen Bären hatten es so eilig gehabt, ihre neue Umgebung zu erforschen, daß sie von dem verführerischen Duft direkt vor ihrer Tür nicht das Geringste wahrgenommen hatten. Nur das Schwein hatte die süßen Düfte erschnüffelt, sich aber nicht weiter darum gekümmert, da Honig nicht zu den schweinischen Grundnahrungsmitteln zählt. Jetzt stakte es zögernd vorwärts und suchte hinter jedem Baum und Busch, ja selbst im hohen Gras Tarnung. Menschen gab es hier oben, Menschen und Kühe, hatte Ramses gesagt. Die Kühe mußten den Menschen gehören; die Menschen schlachteten die Kühe, und wer Kühe schlachtet, schlachtet auch Schweine. Das Schwein fürchtete sich und hatte das Gefühl, die weite Reise völlig umsonst gemacht zu haben.
Kulle stapfte im Sturmschritt dahin, so daß seine Fliege im selbst erzeugten Winde wehte, und achtete nicht auf Weg und Steg. Das war eigentlich kein Fehler, denn es gab dort, wo er entlanglief, weder Weg noch Steg.
RamsesAber Kulle achtete auch nicht auf die Richtung, in die er ging, er sah sich nicht nach Wasserquellen um, er war einfach blind für seine Umgebung. Erst jetzt, nein, exakt erst heute in den frühen Morgenstunden, war ihm klargeworden, was der Exodus aus Bärenleben für ihn bedeutete. Seine gesamte Bibliothek hatte er zurücklassen müssen, aber das war nicht das schlimmste. Dank seines hervorragenden Gedächtnisses kannte er die meisten wichtigen Werke auswendig. Das Schlimmste war, daß er, der bedeutende Wissenschaftler, in einen einsamen Gebirgsstock in einem unbekannten Land verbannt war, über dessen politökonomische Grundlagen er konkret kaum etwas wußte. Er wußte nur eines sicher: Wenn es ein Land auf der Welt gab, in dem keine sozialistische Revolution stattfinden würde, dann waren das die USA. Wütend über sich und seine Lage köpfte er die Blumen am Wegesrand, wohl wissend, daß der junge Goethe über ihn lachen würde, weil er sich genauso ohnmächtig zornig benahm wie Zeus, an den Prometheus nicht mehr glaubte, und das Wissen um sein unnützes Wissen machte ihn um so gereizter.
Manfred fühlte sich wesentlich glücklicher. Es galt, einen neuen Kontinent zu erforschen und sich mit den Mitteln des Technikers darin einzurichten. Er begutachtete seine Umgebung und entschied sich für den anstrengendsten Weg – bergauf, möglichst weit bergauf. Denn wer oben auf einem Berg stand, der konnte hinunter in die Täler schauen, und genau darauf kam es Manfred an.
Bärdel schien sich mit dem Schwein abgesprochen zu haben, was das Verhalten betraf, obwohl beide nichts voneinander wußten. Äußerst vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und achtete darauf, ständig in Deckung zu bleiben. Er fürchtete sich vor einer Begegnung, vor einem Wiedersehen, obwohl er nie endgültige Klarheit darüber gewonnen hatte, ob das Treffen, an das er sich erinnerte, wirklich stattgefunden hatte. Bärdel erinnerte sich an seine erste Reise nach Amerika. (vgl. „Bärdel meets Smokey“.)
Dina hatte im Gegensatz zu ihm überhapt keine Sorgen. Sie war jung und hatte sich problemlos an die Höhe gewöhnt. Unbekümmert stöberte sie durch Wald und Gebüsch und stromerte über blumenbedeckte Wiesen, bis sie sich schließlich an einem blitzblanken springlebendigen Bergbach satt trank, sich auf den Rücken warf und in den blauen Himmel träumte.

Manfreds Herz hüpfte. Keine fünfzig Meter unter ihm stand eine Radiostation, und nicht weit davon entfernt ragten die Masten einer Hochspannungsleitung empor. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Manfred vermutete, daß sich das erst dann ändern würde, wenn irgendwo eine Fehlfunktion auftrat. Er grinste. Seinetwegen würden die Menschen nicht kommen müssen.
Bärdel griff sich an die Brust. Er hatte noch nie in seinem Leben Herzschmerzen gehabt und wußte nicht, wie sie sich anfühlten, aber jetzt war er sicher, daß er welche hatte. Dieser stechende, lähmende Schmerz konnte nur einen schweren Herzanfall bedeuten. Bewegungslos stand er vor einem Plakat, das flüchtig an eine Anschlagtafel geheftet war. „No Campfires“, sagte es, und für den Fall, daß jemand nicht lesen konnte, zeigte es das Bild eines Lagerfeuers, das von dicken roten Balken durchkreuzt war. Eine Ecke des Plakats war lose und flappte sanft im schwachen Wind. Darunter war immer dann, wenn die Ecke nach unten klappte, ein Feuerwehrhelm zu erkennen.
Dinas Herz schien einen Sprung zu machen und dann stillzustehen, als sie direkt neben sich plötzlich ein lautes Knacken und Rascheln hörte. Sie zwang sich, bewegungslos liegenzubleiben. Ob das die Menschen waren oder die LDS, von denen Ramses so geheimnisvoll gemurmelt hatte? Oder vielleicht ein Cougar, der heute beschlossen hatte, nicht tagsüber zu schlafen, sondern statttdessen neu angekommene Bärinnen zu fressen? Sie hielt die Augen fest geschlossen und war überzeugt davon daß niemand sie sehen konnte, denn sie selbst sah ja auch niemanden. Sie blinzelte auch kein kleines bißchen, als sie neben ihrem Ohr ein lautes Brummen hörte.
Das Schwein faßte sich nach langem Zögern ein Herz und näherte sich einer gemütlich aussehenden schwarzen Kuh mit weißem Kopf, die gemeinsam mit ihrem Kalb auf einer Waldlichtung graste. Ohne seine Deckung aufzugeben, erkundigte es sich nach den hiesigen Menschen und deren Verhalten. „Menschen?“ brummte die Kuh. „Kenn‘ ich nich‘.“ „Aber…“ wollte das Schwein einwenden, jedoch die Kuh schnitt ihm das Wort ab. „Hier gibs nur Mütter unn Kinner, unn Stiere natürlich. Wolln immer bloß das eine, die unverschämten Kerle. Unn Cowboys. Die sinn gefährlich, weil se dich nämlich verbrenn. Oder se machn dirn Loch ins Ohr ohne Betäubung, wie bei mir. Siehste?“ Sie wendete den Kopf, so daß das Schwein ihr rechtes Ohr sehen konnte, in dem ein rotes Plastikdreieck steckte, auf dem „77“ stand. „Aba die komm nur ganz selten. Unn so ne halbe Portion wie du kümmert die bestimmt nich.“ Damit schien die Konversation für die Kuh beendet zu sein, denn sie gab ihrem Kalb das Euter, als seien die beiden völlig allein auf der Welt. Schamhaft wandte das Schwein sich ab. Diese Kuh machte zwar einen ungebildeten Eindruck, aber vermutlich konnte man ihren Auskünften trauen.
Tumu sah sich den Bienenstock, den sie entdeckt hatte, lange an und bewegte dabei Kochrezepte in ihrem Herzen. Nach und nach versammelte sie ältere Bärinnen um sich, die sich in der näheren Umgebung aufgehalten hatten und schon bald wieder zur Höhle zurückkamen. Sie hatten, wie Tumu auch, nach den praktischen Dingen Ausschau gehalten, die für einen funktionierenden Haushalt notwendig sind. Sie tauschten ihr Wissen aus, schlugen einander kräftig auf die Schultern und machten sich dann daran, für den ersten Abend ein Festmahl zu improvisieren.
Als der Tisch nach stundenlanger Arbeit gedeckt war, brach auch schon die Dämmerung herein, und bevor es dunkel war, hatten sich alle wieder bei der Höhle versammelt. Hungrig waren die meisten, bärenhungrig, aber Tumu bestand darauf, daß sich alle sorgfältig die Pfoten wuschen, bevor sie das Essen anfaßten.
„In Dehland konntet ihr euch darauf berufen, daß das Wasser im Bach verschmutzt war, aber hier nicht!“ erklärte sie, und ihre Stimme war so entschlossen, daß niemand zu widersprechen wagte. Erst als alle fertig waren, wünschte sie „Guten Appetit“, und alle langten kräftig zu.
„Na, wie ist es dir ergangen?“ fragte Tumu ihren Mann zwischen zwei Bissen. „Oder willst du das erst später erzählen, bei der Versammlung, weil es von allgemeinem Interesse ist?“
Bärdel schüttelte den Kopf. „Später ganz bestimmt nicht, und am liebsten dir auch nicht. Ich habe Smokey gesucht. Nein, falsch, ich habe nach Beweisen dafür gesucht, daß es ihn nicht gibt. Aber es gibt ihn. Er ist immer noch überall auf den Plakaten, obwohl die zum Teil überklebt sind. Er trägt immer noch seinen komischen Hut oder einen Helm und sagt: „Only you can prevent forest fires!“ Wenn ich an mein Erlebnis von damals denke, dann wird mir ganz angst…“
Tumu seufzte. Sie wußte, daß Bärdel seine Halluzinationen von damals nach wie vor nicht richtig einordnete, daß er nicht wußte, ob sein Treffen mit Smokey Traum oder Realität gewesen war. Wenn sie ihm sagte, daß er krank war, phantasiert hatte, nickte er zwar immer, aber ohne Überzeugung. Sie mußte ihm einfach Zeit lassen. Hier würde er sich selbst davon überzeugen, daß Smokey nichts war als das Bild eines häßlichen, nicht existierenden Bären. Sie drückte seine Hand, schmiegte sich an ihn und schwieg.
„Die Kuh hat mir erzählt, daß es hier nur Cowboys gibt, keine Menschen, und daß die für mich ungefährlich sind“, hörte sie das Schwein sagen und schmunzelte. Nach wenigen Serkunden aber wurde sie unruhig. Eine solche Bemerkung konnte Kulle unmöglich unkorrigiert lassen, aber Kulle sagte nichts. Es paßte nicht zu Kulle, nichts zu sagen, wenn er die Chance dazu hatte.
Tumu setzte sich aufrecht. „Kulle?“ fragte sie. Niemand antwortete. „Kulle?“ Wieder nichts. „Kulle fehlt!“ rief Tumu und sprang auf.
„Unmöglich“, brummte die älteste Bärin, “ es sind alle da! Ich habe für jeden ein Stück Honigkuchen gebacken, und jetzt ist keines mehr da.“ Drohend hob sie die Stimme: „Oder hat jemand etwa zwei gegessen?“
Zuerst meldete sich niemand, aber dann schob Dina sich zögernd nach vorne. „Du?“ Tumu wollte es nicht glauben. Unsoziales Verhalten paßte nicht zu ihrer Freundin.
„Nein, ich nicht. Aber sie. Ich wollte sie als Überraschung bis nachher verstecken, aber das geht jetzt wohl nicht mehr. Darf ich vorstellen: Athabasca. Wir haben uns vorhin getroffen, oder besser, sie hat mich gefunden. Sie wohnt hier.“ Dina zog eine junge Schwarzbärin mir seidig glänzendem dunkelbraunen Fell an ihre Seite, die von allen überrascht angestarrt wurde und die höflich: „Guten Abend!“ sagte.

Am auffälligsten starrte Manfred. „Beim Himmel, dieses Kind ist schön“, murmelte er vor sich hin, ohne eine Ahnung zu haben, woher er diesen Spruch kannte.
Bärdel erwachte aus seinen Grübeleien und erinnerte sich an seine Pflichten und vor allem an seinen Freund.
„Guten Abend im Namen aller, Athaca…“ begann er und verhedderte sich in dem fremden Namen.
„Athabasca“, sagte die Fremde freundlich. „Meine Freunde nennen mich Atti, das ist leichter. Danke für das Willkommen. Aber jetzt sollten wir zuerst an den Vermißten denken und ihn suchen. Das Gelände hier ist nicht ganz ungefährlich, wenn man sich nicht auskennt. Wohin ist er gegangen?“
Die Bären sahen einander fragend und anerkennend an. Noch nie war ein Neuankömmling so selbstbewußt aufgetreten, und schon gar keine Frau. Aber niemand von ihnen wußte, wohin Kulle gegangen war, und auch das Schwein und Ramses gaben ihre Unkenntnis zu.
„Bestimmt nach oben“, murmelte Bärdel schließlich. „Ich weiß nicht, wohin er ist, aber wenn er die Möglichkeit hat, wird Kulle immer nach oben gehen.“
„Dann sollten wir uns beeilen. Wenn ein paar von euch mit mir kommen könnten, wäre das gut. Aber jung und sportlich solltet ihr schon sein. Notfalls schaffe ich es übrigens auch alleine, denke ich.“ Athabascas Stimme war ganz ruhig, ganz anders als ihr Körper. Sie hatte sich bereits umgedreht und war fertig zum Losrennen.
Bärdel, Tumu und viele andere Ältere, die schon aufgesprungen waren, ließen sich wieder niederplumpsen. Sie kannte ihre Grenzen. Manfred dagegen war mir einigen anderen Jungbären sofort an Athabascas Seite. Die sah sich das Aufgebot an Freiwilligen an, nickte zustimmend und fegte wortlos wie ein dunkler Blitz davon in die Nacht, gefolgt von den anderen.
Auf dem Platz vor der Höhle kehrte Stille ein. Niemand aß mehr, obwohl noch genug Leckereien warteten. Sie hatten keinen Hunger. Wortlos starrten sie vor sich hin, auf die dunkle Erde oder in den Himmel. Viele rückten zusammen und suchten beieinander Trost. Sie konnten sich aneinander wärmen, während Kulle da draußen war, einsam und in Gefahr.
„Wenigstens scheint der Mond“, murmelte Bärdel schließlich. Nicht weit von ihm entfernt hockte Ramses wie ein Häufchen Unglück; sein Bauch schimmerte hellgelb im fahlen Licht. „Sag mal, du kennst dich doch hier aus, oder nicht? Wohin ist Kulle gegangen, wenn er aufwärts gegangen ist?“
Ramses schien sich zu winden. „Auf den Berg…“ Er merkte, wie dumm seine Antwort war. „Die meisten Berge hier bestehen in Gipfelnähe aus losem Fels. Talus sagt man hier. Meist sind das scharfkantige Platten ohne stabiles Gleichgewicht, die unter dem Gewicht eines Bergsteigers nachgeben. Die Lehne zwischen zwei Bergen ist manchmal sehr schmal, weniger als 30 Zentimer, und wenn sie aus solchen Platten besteht, dann nennt man das hier die „Rasiermesserfalle“. Wenn Kulle von hier aus aufgestiegen ist, dann läuft er genau auf so einen „razorfang“ zu…“ Ramses‘ Stimme war immer leiser georden, und als er verstummte, herrschte Totenstille.
Lange. Sehr lange. Bis endlich in der Ferne Zweige knackten, Füße tappten, Bären brummten und schimpften. Die Zurückgebliebenen sprangen auf und starrten ihnen entgegen. Athabasca erschien als erste, überhaupt nicht angestrengt und fröhlich lächelnd.
„Wir haben ihn rechtzeitig gefunden“, sagte sie. „Was er jetzt braucht, sind ein paar ordentlich adstringierende Blätterkompressen für seine aufgeschundenen Pfoten und viel zu trinken. Und der Rest der Rettungsmannschaft hat auch ein bißchen Pflege nötig, wie es scheint.“
Hinter ihr tauchte jetzt Kulle auf, gestützt von zwei asthmatisch keuchenden Jungbären. Als sie ihn losließen, schwankte er und setzte sich vorsichtshalber schnell auf die Erde. Seine beiden Helfer taten es ihm nach.
„Entschuldigung!“ brummte Kulle. Alle horchten auf, denn es gehörte zu den ungewöhnlichsten Vorkommnissen in ihrem Gemeinschaftsleben, daß Kulle sich entschuldigte. Und er wiederholte sich sogar!
„Entschuldigung! Es tut mir leid, daß ich euch Mühe bereitet habe. Ich bin ein Dummbär, weil ich ohne zu überlegen losgerannt bin. Wenn sie nicht gewesen wäre… Aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie nicht gekommen wäre. Wozu bin ich denn hier nutze? Entwurzelt, meiner gesellschaftlichen Basis entkleidet! Ein Forscher ohne Gegenstand! Faux frais für euch! Ein leerer Spiegel, der die Wirklichkeit nicht zu spiegeln vermag! Ein…“
Bärdel war dankbar, daß Kulle schnell wieder in sein unverständliches soziologisches Kauderwelsch verfiel, weil er sonst wohl zu weinen angefangen hätte. Aber er verstand, was seinen Freund bewegte, und er litt darunter, daß er nicht wußte, wie er ihm helfen sollte. Da meldete sich Manfred zu Wort.
Manfred war zerschunden, seine Pfoten bluteten kaum weniger als die Kulles, und er war noch immer außer Atem. Trotz seines Kummers mußte Bärdel insgeheim schmunzeln. Sein Sohn hatte sich erkennbar nicht geschont, um der neuen Schönheit zu imponieren. „Wir sollten Kulle dankbar dafür sein, daß er heute für uns alle die Frage gestellt hat, um die wir uns ohne ihn vielleicht noch eine Weile lang herumgedrückt hätten. Die Frage lautet: Was wollen wir hier? Wollen wir uns verstecken?“
Die Versammlung nickte heftig – genau deshalb waren sie hergekommen.
„Ja, natürlich wollen wir uns verstecken, aber ist das alles? Wollen wir dumpf jeden Morgen erwachen, jeden Abend ins Bett gehen und zwischendurch darauf achten, daß wir nicht wahrgenommen werden? Soll das alles sein?“
Das Schwein nickte begeistert, aber die meisten Bären schüttelten verneinend den Kopf.
„Nein, das kann nicht alles sein. Wir Bären – und alle, die gemeinsam mit uns leben wollen – sind intelligente Wesen, neugierige Wesen. Wir wollen lernen, Wissen erwerben und Wissen weitergeben. Wir wollen die kritische Auseinandersetzung. Zu all dem haben wir seit gestern eine völlig neue Chance, denn wir sind wie neu geboren, sind in eine unbekannte Umgebung geworfen. Wir können, ja, wir müssen sie studieren, bewerten, vielleicht auch korrigieren, wenn die objektiven Umstände es erfordern. Wir haben gar keine andere Wahl!“
Die meisten Mitglieder der Versammlung hingen mit glühenden Augen an Manfreds Lippen. Bärdel allerdings blickte skeptisch. Er hatte das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte, wußte allerdings nicht, was. Tumu nahm sich fest vor, ihrem Sohn mal wieder den Hintern zu versohlen, auch wenn er diesem Alter eigentlich längst entwachsen war.
Und Kulle hatte all seine Schmerzen vergessen und grinste – georgische Rhetorik konnte der Junge jetzt, das bewies er nicht zum ersten Mal. Es war Zeit, daß er ihn in die höheren Weihen einführte.
„Wir leben inmitten von Menschen, wie bisher. Auch wenn die Bevölkerungsdichte hier geringer ist, Menschen bestimmen unsere Lebensbedingungen. Wir brauchen Kenntnisse über die Menschen, wie bisher. Diese Kenntnisse werden uns überleben lassen und unsere Neugier befriedigen, und diese Kenntnisse werden den Intellektuellen unter uns – wie Kulle – wieder das Selbstwertgefühl verleihen, das…“
„Schluß!“ sagte Kulle. Er sagte es ungewohnt gemütlich, aber Manfred verstand das Signal nur zu gut. Er hatte irgend einen Fehler gemacht, sonst wäre sein Rhetoriklehrer ihm nicht in die Parade gefahren. Er wußte allerdings nicht, welchen.
„Schluß! Ich sehe, hier ist noch viel zu essen, und ihr seid bestimmt hungrig. Ich übrigens auch. Wir sollten also besser essen, anstatt lange Reden zu halten. Und dann sollten wir vielleicht schlafen. Ich zumindest. Ich bin hundemüde, oder besser bärenmüde, das wird mir wohl jeder von euch glauben. Nach dem Essen oder morgen – wie ihr wollt – könnt ihr dann überlegen, wie wir hier unser Informationsnetz aufbauen. Manfred hat da bestimmt schon Ideen, wie ich ihn kenne. Aber jetzt erstmal: Guten Appetit!“
Niemand widersprach. Erleichtert machten sich alle über das Essen her, bis auch kein Krümel mehr übrig war, und danach ging einer nach dem anderen schlafen.
Ramses, den das Buffett nicht reizte, schnappte sich ein Glühwürmchen, das über die Wiese tanzte, und sog gedankenvoll an einem Flügel. Tussi hatte ihm gesagt, daß die Entscheidungen in Bärenleben anarchisch gefällt werden, und er wunderte sich über diese Aussage, bis auch er schließlich einschlief.

 

Exodus

EXODUS
Der Brief
„Oh nein!“, seufzte Bärdel, als er mitten im schönsten Morgenspaziergang ein weißes Rechteck aus Papier säuberlich auf einen Brombeerstrauch aufgespießt fand. Sollten die Menschen ihren Müll lassen, wo sie wollten, aber bitte nicht in Bärenleben! Mit spitzen Fingern – soweit Bären spitze Finger machen können – löste er das häßliche Ding vom Busch, hielt es angeekelt so weit wie möglich von sich fort und überlegte, wo er diesen Abfall am besten lagern könnte. Trotz aller Distanz aber musterte er den Gegenstand genauer und stellte fest, daß das kein Müll war. Leider nicht. Es war ein Briefumschlag, und er trug eine Adresse. In säuberlicher, nicht ausgeschriebener Schrift stand da:
Herrn Bär
Bärenleben
Falls unzustellbar – zurück!

Bärdel wußte natürlich, daß die Menschen Vornamen hatten, daß sie in Häusern mit Hausnummern wohnten und daß eine Behörde den Orten, in denen sie wohnten, fünfstelligen Nummern gegeben hatte, damit die Briefe, die sie einander schickten, auch tatsächlich ankamen. All das fehlte hier. Also mußte ein besonders intelligenter Briefträger für den Bezirk Bärenleben zuständig sein, wenn er sein Ziel auch ohne diese Hilfen gefunden hatte. Aber das war nicht das Hauptproblem.
Um Bärenleben zu finden, mußte der Briefträger wissen, daß es Bärenleben gab. Um einen Brief nach Bärenleben zu schreiben, mußte der Absender wissen, daß Bärenleben existierte. Er mußte ebenfalls wissen, daß Bärdel – oder andere Bären – dort wohnten, deren Namen er allerdings nicht kannte. Vielleicht vermutete der Absender das alles auch nur. Warum sonst sollte auf dem Umschlag stehen: „Falls unzustellbar – zurück!“?
Aber auch eine vermutete Existenz von Bärenleben war schlimm genug – bisher hatten seine Bewohner geglaubt, sich perfekt unsichtbar gemacht zu haben.
Er untersuchte den Brief genauer. Neben der ordentlich entwerteten Briefmarke war ein Stempel sichtbar, schlecht und flüchtig aufgedrückt, aber mit Mühe doch zu entziffern. „Finanzamt Nord-Dehland“ buchstabierte Bärdel zusammen. Finanzamt? Das nächste Rätsel war gegeben: Was hatten die Bewohner von Bärenleben mit Steuern zu tun? Wie alle Bären war natürlich auch Bärdel extrem neugierig und wäre deshalb beinahe dem Impuls gefolgt, den Briefumschlag aufzureißen, aber er beherrschte sich im letzen Moment. Wenn er den Brief öffnete, würde er ihn akzeptieren – und er wußte nicht, ob das klug wäre.
Er wollte das nicht allein entscheiden. Deshalb machte er sich auf die Suche nach Kulle.
Kulle hatte ähnliche Gewohnheiten wie er selbst.
Während alle anderen Bären noch gemütlich in der Höhle pennten und erst draußen erschienen, nachdem die Sonne der norddehländischen Tiefebene
wenigstens ein bißchen Wärme spendiert hatte, genoß Kulle ebenso wie er selbst gerne die Dämmerung, beobachtete, wie sich Farben aus dem Grau schälten, wie die Tautropfen auf den Blättern in allen Regenbogenfarben
zu funkeln begannen und wie die Mittiere des Waldes den Tag begrüßten. Bei ihren Morgenspaziergängen gingen sie einander gewöhnlich aus dem Weg, weil jeder von ihnen allein sein wollte. Wollte man einander erfolgreich aus dem Weg gehen, dann mußte man wissen, wo der andere war. Selbstverständlich kannte Bärdel Kulles Route, und deshalb fand er ihn schnell.

Kulle
„Guten Morgen, Kulle!“ grüßte er höflich. Kulle grunzte nur und tat so, als habe er ihn nicht gesehen. Bärdel konnte das zwar gut verstehen, aber jetzt gab es Wichtigeres, als lieb gewordene Rituale zu praktizieren. Kurzerhand stellte er sich Kulle in den Weg.
„Guten Morgen!“ sagte er nochmals. „Ich weiß, daß ich Dich störe, aber Du mußt Dir das hier unbedingt ansehen.“
Damit streckte er Kulle den Brief entgegen. Der blieb unwillig stehen und starrte nicht den Brief, sondern Bärdel böse an.

Baerdel
„Ich war gerade dabei, die schwierige Frage zu lösen, warum wir Bären die Vorstellung von einem persönlichen Gott für absoluten Unsinn
halten! Das liegt nämlich daran, daß…“ „Entschuldige!“ unterbrach Bärdel ihn. „Aber wenn ich diesen Brief, den ich hier in der Hand halte, richtig bewerte, dann sind Deine Überlegungen vielleicht bald überflüssig, weil es keine
Bären mehr geben wird. Wir haben ein reales Problem, kein philosophisches! Man hat uns entdeckt!“
„Unmöglich!“ Kulle ärgerte sich sofort über seine von Emotionen und nicht von Vernunft gesteuerte Reaktion und fragte schnell weiter, um sein ungeschicktes Verhalten zu zu vertuschen: „Wer?“ „Das Finanzamt. Wahrscheinlich jedenfalls.“
Zum zweiten Mal reichte er Kulle den Brief, und diesmal nahm der ihn und beäugte ihn ebenso mißtrauisch, wie Bärdel es wenige Minuten zuvor getan hatte.
„Ich wollte Dich fragen, ob wir ihn aufmachen sollen“, sagte Bärdel.
Kulle wiegte seinen dicken Kopf und strich dabei mit seiner rechten Pranke über seine Fliege, bei ihm ein Zeichen höchster Konzentration. Es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
„Es gibt mehrere Möglichkeiten. Wir können den Brief vernichten und ihn vorher lesen oder auch nicht. Damit stellen wir uns tot, wobei wir entweder wissen, was man von uns will, oder nicht. Wissen ist immer gut, also sollten wir, wenn wir uns für diese Möglichkeit entscheiden, den Brief aufmachen,
bevor wir ihn vergraben oder verbrennen. Die Gefahr bei diesem Verfahren ist, daß wir einen zweiten Brief bekommen und dann wieder vor demselben Problem stehen. Bei der Menschenpost gehen schon mal Briefe verloren, aber daß das zweimal hintereinander passiert, ist wenig wahrscheinlich. Beim zweiten Brief müßten wir also irgendwie reagieren. Wir haben natürlich noch eine andere Möglichkeit: Wir machen diesen Brief auf und reagieren darauf.“
Weder Kulle noch Bärdel hatten eine Ahnung, wie eine solche Reaktion aussehen könnte. Momentan war diese Frage auch zweitrangig. Sie sahen sich an und nickten sich zu. Der Brief würde geöffnet werden, und zwar sofort.
Kulle zerrupfte das Kuvert und zog einen einzelnen Bogen Papier hervor. Er begann stumm zu lesen, aber Bärdel knuffte ihn unsanft in die Flanke.
„Halt den Brief gefälligst so, daß ich mitlesen kann, oder lies vor!

„Sehr geehrter Herr Bär,

der Steuererklärung des Verbandes der Chemischen Industrie aus 1996 haben wir entnommen, daß Sie von diesem Verband Geldmittel in Höhe von DM 10 000 000,00 erhalten haben. Bisher haben Sie diese Summe unseren Unterlagen gemäß nicht versteuert. Hiermit
werden Sie aufgefordert, die steuerliche Veranlagung
der o. g. Einkünfte binnen einer Frist von 30 Tagen vorzunehmen. Es gilt das Datum des Poststempels.
Im Auftrage
Beutler
Finanzinspektor“

„Hm!“ brummte Bärdel. „Diese Menschen!“

Wäre Bärdel ein Mensch, hätte er sicherlich „Diese Schweine“ gesagt. Er meinte den Verband der Chemischen Industrie. Der hatte also damals, als die Menschen Bärenleben zu nahe rückten, weil Dehland in einer Wirtschaftskrise steckte, und als Bärdel mit einem Trick Geld besorgte, mit dessen Hilfe sie auf Distanz gehalten werden konnten (vgl. „Außerordentliches Beispiel…“) , die zehn Millionen nicht aus irgend einer schwarzen Kasse genommen, sondern offiziell als Ausgaben verbucht.
Ratlos sah er Kulle an. „Und? Was machen wir jetzt?“
Kulle zerknautschte seine Fliege, so daß ihm schließlich nur noch ein zerrupfter Stofffetzen um den Hals hing.
Ein besseres Zeichen dafür, daß ihm auf diese Frage keine Antwort einfiel, konnte es nicht geben.
„Also Bärenrat!“ sagte Bärdel energisch.
„Und nicht erst heute Abend, zur gewohnten Stunde, sondern sofort!“
Kulle nickte wortlos und ging nach links. Bärdel wandte sich deshalb nach rechts. Die anderen Bären und das Schwein mußten inzwischen aufgewacht
und ausgeschwärmt sein. Wenn sie in entgegengesetzten Halbkreisen auf Bärenleben zugingen, würden sie sie alle treffen.
Eine halbe Stunde später war die Versammlung vollzählig.
Unruhiges Gemurmel füllte die große Höhle. Alle spürten, daß etwas Außerordentliches, etwas Bedrohliches geschehen sein mußte, wenn
sie zur besten Frühstückszeit vom Beerensammeln abgehalten wurden.
Bärdel berichtete von dem Brief des Finanzamts und erzählte für die Jüngeren dessen Vorgeschichte.
„Wir sind also entdeckt,“ schloß er.
„Ich weiß zwar nicht, wie das geschehen konnte, aber Bärenleben ist enttarnt. Wir können noch eine Weile die Augen davor verschließen, uns totstellen, indem wir zum Beispiel so tun, als hätten wir diesen Brief nie erhalten, aber es wird ein zweiter Brief folgen, wie ich die Menschen kenne. Und ein dritter. Danach kommt dann die Polizei, die Krisenreaktionskräfte, was weiß ich.
Danach kommt der Tod.“
Melodramatische Auftritte hatten bisher nie zu Bärdels Repertoire gehört. Um so beeindruckter war die Versammlung von seinen letzten Worten. Ein langes Schweigen folgte.
„Könntet ihr…“ das Schwein räusperte sich und entfernte den Kloß aus seiner Kehle.

Piggy

„Könnten wir denn nicht einfach bezahlen und danach wieder unsere Ruhe haben?“
„Können wir nicht!“ antwortete Manfred.
Da er für die meisten Innovationen in Bärenleben verantwortlich war, die sich nicht sämtlich mit Hilfe von „Anleihen“ bei den Menschen realisieren ließen, war er zum Schatzmeister des Dorfes ernannt worden.
„Von der milden Gabe der chemischen Industrie damals haben wir fünf Mark auf unserem Konto gelassen – für alle Fälle, wie wir damals dachten. Heute zeigt sich, daß wir dabei mindestens einen Fall vergessen haben. Darüber hinaus liegen in meiner Kasse einhundertundsieben Mark und zweiundfünfzig Pfennige, über deren Herkunft ich im Moment keine Rechenschaft geben kann.“
Trotz der angespannten Situation schmunzelten die Bären – jeder wußte, wie leicht es war, von einem zufälligen Besuch in den Häusern der Menschen ein bisschen Kleingeld mitzubringen.
„Abgesehen davon,“ warf Kulle ein, „änderte eine Zahlung unsererseits nichts an der Tatsache, daß man uns entdeckt hat.“ Er hatte seine Fliege wieder geglättet und schien sich ein wenig gefaßt zu haben.
„Was machen wir also?“ Tumu bemühte sich um Ruhe, aber ihre Stimme zitterte bei der Frage.
„Patria o muerte!“ brüllte einer der jungen Bären plötzlich los. Er war ein intelligenter Bursche, was Kulle veranlaßt hatte, ihm in seiner freien Zeit ein paar Lektionen in kommunistischer Theorie zu erteilen. Jetzt zog der Lehrer indigniert die Augenbrauen hoch.
„Dummer Junge!“ brummte er. „Kampf ist nicht Selbstmord – ich dachte, ich hätte dir das beigebracht!“
Der Jungbär sank in sich zusammen, und Schweigen breitete sich aus.
„Was machen wir also?“ Bei der Wiederholung ihrer Frage zitterte Tumus Stimme noch stärker, aber sie fuhr tapfer fort.
„Ich weiß jetzt, was wir alles nicht machen können: Wir können uns nicht verstecken, wir können nicht zahlen, und wir können nicht kämpfen. Was also können wir?“
Wieder herrschte Schweigen, langes Schweigen. Schließlich quiekte das Schwein in die lastende Stille: „Als die Menschen mich verfolgt haben und mich aufessen wollten, da bin ich weggelaufen. Bei euch habe ich Schutz gefunden. Könnten wir nicht alle zusammen weglaufen und bei irgend jemandem Schutz finden?“
Brummen erfüllte die Höhle. Es war ein Brummen der Nachdenklichkeit. Viele Bären hatten dem Schwein, dem politischen Asylanten, bisher lediglich höfliche Neutralität entgegengebracht. Aber das Schwein schien gar nicht dumm zu sein. Vielleicht bedeutete seine Idee die Rettung.
„Wohin denn weglaufen?“ wollte ein alter griesgrämiger Bär schließlich wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, woanders als in Bärenleben zu leben.
Die Frage schien einen Damm einzureißen. Viele Bären unternehmen in ihren Tagträumen gerne Fantasiereisen, und seit die Bärenlebener Kontakt
zu den Menschen hatten, lasen sie mit Genuß Reiseprospekte. An attraktiven Zielen mangelte es also nicht.
„Auf die Malediven…“
„Nach Kanada…“
„Ich wollte schon immer mal in die Namib…“
„Outback Australia, da findet uns niemand…“
„Lieber Neuseeland, das ist gleich nebenan…“
„Also ich…“
„Stop!“
Der Ruf kam gleichzeitig von Tumu, Manfred, Kulle und Bärdel, und nur weil sie gleichzeitig schrien, konnten sie sich gegen das Stimmenwirrwar durchsetzen.
„Stop!“ sagte Kulle nochmals und sah seine drei Mitrufer an, um die Stimmung zu testen. Tumu schaute hoffnungslos, Manfred abenteuerlustig, Bärdel resigniert.
Kulle ließ sich nichts anmerken, als er fortfuhr:
„In Outback Australia findet uns jeder, weil dort keine Bären leben. Ebensowenig in der Namib, in Neuseeland oder auf den Malediven. Kanada ist schon besser. Als erstes ist es also wichtig, uns ein Ziel auszusuchen, und zwar ein realistisches. Also Kanada, die USA, vielleicht die Karpaten. Ich nehme nicht an, daß wir noch einmal unser Glück in so enger Tuchfühlung mit den Menschen versuchen wollen wie hier. Das sind also die möglichen Ziele. Damit verbunden ist ein weiteres Problem, nämlich das des Transports. Wir müssen überlegen, wie wir ein mögliches Zielgebiet erreichen können. Ich schlage deshalb vor, drei Arbeitsgruppen einzurichten, und jeder Bär nimmt an einer teil:

  • Nahrungssuche
  • mögliche Zielgebiete
  • mögliche Wege dorthin.

Gibt es andere Vorschläge?“
Es gab keine anderen Vorschläge, wohl aber zwei Fragen.
Das Schwein wollte wissen, bei welcher Arbeitsgruppe es mitarbeiten solle, und erhielt die Antwort, es könne sich eine aussuchen.
Tumu fragte besorgt, ob sie denn für ein solch sorgfältiges Vorgehen genügend Zeit hätten, und Bärdel antwortete: „Sankt Bürokratius arbeitet manchmal sorgfältig, aber immer langsam.“
Tumu verstand die Antwort zwar nicht recht, aber weil sie ihrem Mann vertraute, beruhigte sie sich. Zwei Tage später traf sich die Sippe wieder in
der Höhle. Alle waren hungrig. Zwar hatte die Arbeitsgruppe „Nahrungssuche“ bis zur Erschöpfung gearbeitet, aber das Futter reicht einfach nicht aus, wenn ein Bär zwei andere ernähren muß.
Dennoch beklagte sich niemand. Alle wußten, daß jetzt geistige Anstrengungen Vorrang hatten, wenn sie es schaffen wollten, aus ihrer gefährlichen Lage herauszufinden.
Tumus beste Freundin, Dina, erstattete Bericht für die AG „Zielgebiete“:
„Als Braunbären kommen für uns weder extreme Höhenlagen noch tropische Gebiete in Frage. Ebenfalls sollte unser künftiges Siedlungsgebiet
eine kleine Menschenpopulation aufweisen, um Problemen wie denen, mit denen wir in Bärenleben konfrontiert sind, aus dem Weg zu gehen. Entsprechend diesen Kriterien hat unsere Arbeitsgruppe sich näher mit den Zielgebieten Kanada, USA, Karpaten, Alpen und Pyrenäen befaßt.

Kanada ist zweifellos das menschenleerste Territorium, aber es gibt zunehmend ein Nahrungsproblem. Neben der üblichen pflanzlichen Kost, die aufgrund der kurzen Sommer recht beschränkt ist, muß man sich als Bär überwiegend von Lachsen ernähren,…““Igitt!“ murmelte jemand aus dem Hintergrund, „…aber aufgrund des menschlichen Raubbaus an der Natur haben die Lachse extrem abgenommen. Wir würden also in ein Hungerland ziehen.
In den Alpen und den Pyrenäen versuchen die Menschen gerade ein Wiederansiedelungsprogramm für Bären und auch Wölfe – eigentlich also ideale Bedingungen.
Leider aber sind diese Gebirge in der Mitte Europas zu dicht besiedelt. Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Bauern, die sich nicht scheuen, ihr Gewehr zu gebrauchen. Deshalb können wir diesen Siedlungsraum nicht empfehlen.
Die Karpaten sind zwar recht menschenleer, es handelt sich bei ihnen aber um ein politisch instabiles Gebiet. Wir rechnen damit, daß es dort in Kürze zu kriegerischen Handlungen kommen wird.
Bleiben die USA. Dort sind Bären eine geschützte Spezies – in den Nationalparks, aber auch in anderen ausgewiesenen Gebieten. Das sind zwar begrenzte, aber zum Teil riesige Territorien – die gesamten Rocky Mountains zum Beispiel. Es gibt eine Fülle einzelner großer Gebirgsstöcke, an die 3000 Meter hoch und menschenleer, in denen Bären sich je nach Jahreszeit in unterschiedlicher Höhe aufhalten und ihre Bedürfnisse befriedigen können. Wenn man als Bär nicht gerade eine Mülltonne leert – was in Anbetracht der dortigen bärengeschützten Mülltonnen fast unmöglich ist – oder ein Touristenzelt aufschlitzt, ist man dort völlig sicher und satt. Wir empfehlen die USA!“
Die Versammlung bedankte sich mit lautem Grunzen und Brummen für die positive Nachricht. Nur Bärdel schwieg skeptisch – er erinnerte sich nochgut an seine USA-Reise (vgl. „Bärdel meetes Smokey the Bear“).
„Tja!“ sagte Tumu und nickte ihrer Freundin zu. Bei der aktuellen Arbeitsteilung hatten hauptsächlich die Frauen die Kopfarbeit übernommen, in der Hoffnung, daß die kräftigeren Männer hinreichend Nahrung herbeischaffen würden. Nur Kulle hatte sich dieser Arbeitsteilung verweigert, er war Mitglied der AG „mögliche Wege“. Aber Tumu legte wert darauf, daß sie diese Arbeitsgruppe leitete.
„Tja. Leider paßt unser Bericht nicht so recht zu dem, was wir eben gehört haben. Ihr könnt euch sicher denken, daß wir uns Wanderrouten
in die Alpen, die Pyrenäen und sogar die Karpaten überlegt haben. Realistische Routen, meiner Meinung nach, auf denen wir nicht entdeckt worden wären und genug zu fressen gefunden hätten. Aber da wollen wir ja nicht hin. Kanada, USA – für unsere Überlegungen waren beide Ziele gleichwertig. Zwischen uns und beiden Ländern liegt Wasser, viel Wasser,
so viel Wasser, daß wir es nicht durchschwimmen können. Wir brauchten ein Schiff oder ein Flugzeug, um dorthin zu kommen. Beides kostet Geld, und das haben wir nicht.“
Tumu holte tief Atem.
„Mir persönlich, und vielleicht auch vielen oder allen anderen, erscheint die Empfehlung, in die USA umzuziehen, plausibel. Aber ich weiß nicht, wie wir das bewerkstelligen sollten.“
„Es gab da mal einen Menschen namens Thor Heyerdahl, der ist noch gar nicht so lange tot. Der hat ein Floß aus Balsaholz gebaut und ist nach Westen gesegelt, um zu beweisen…“
Unwillig unterbrach Bärdel seinen Sohn.
„Ja, Heyerdahl wollte beweisen, daß eine Schiffspassage über den Atlantik mit bestimmten einfachen Mitteln zu bewältigen ist. Er wollte und er konnte nicht beweisen, daß eine solche Reise immer klappt. Das aber sollte uns wichtig sein – wir wollen schließlich alle ankommen. Deshalb ist die Methode Heyerdahl für uns indiskutabel.“
Manfred fühlte zwar die mentale Ohrfeige, gab aber nicht auf.
„Hijacking?“
„Death sentence?“ hackte Bärdel.
„Was heißt das denn?“
„Wenn man mit illegalen beziehungsweise äußerst fragwürdigen Methoden in die USA einreisen will, sollte man zumindest wissen, was ‚Todesstrafe‘ heißt,“ knurrte Bärdel.
„Schluß jetzt!“ mischte Tumu sich energisch ein. „Ein Familienkrach ist wohl das letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Aber Bärdel hat Recht, abenteuerliche, risikoreiche Methoden sind für uns garantiert ungeeignet.“ Nach einer Denkpause fuhr sie fort: „Wenn uns alleine keine Lösung einfällt, sollten wir überlegen, ob wir jemanden kennen, der uns vielleicht helfen kann!“
„Zum Beispiel dieser alte Kotzbrocken!“ schimpfte eine alte Bärin vor sich hin.
Zuerst wußte niemand, wen sie meinte. Aber dann kam die Erinnerung – die Alte hatte damals bis zur Erschöpfung gearbeitet, gekocht, gebacken, gefegt, ein luxuriöses Bett aufgeschlagen – alles umsonst.
Damals, als Grizzy Bärenleben besuchte (vgl. „Bärenbesuch“).
Grizzy, der Grizzly, der einen Plan zur Vernichtung der Menschen verfolgte und sich stoisch gab, der aber Tumus unbändigem Lebenswillen unterlag und seine Aktivitäten einstellte. Grizzy, der seit seinem Besuch bei ihnen verschwunden war, obwohl sie ihn eingeladen hatten, bei ihnen zu bleiben.
„Weiß eigentlich jemand, wo der Klugscheißer ist?“ brummte die Alte.
„Nein!“ sagten Kulle und Manfred im Chor.
Wenn jemand wissen könnte, wo sich Grizzy aufhielt, dann sie. Sie hatten genau recherchiert, aber Grizzy hatte keine Web-Adresse mehr, gab keine Interviews, nahm nicht mehr an internationalen Konferenzen teil.
Er schien wie vom Erdboden verschluckt. Nur Dina hatte eine Vision, sah kurz ein Bild vor Augen: Grizzy saß in der Abenddämmerung auf der Dritten Mesa und malte ein Sandbild. Mitten unter den Hopi war er nach Navajoart in hozro, in Einklang mit sich und der Natur.
Sie behielt die Erscheinung für sich – dieser meditierende Bär war wohl glücklich, aber keine Hilfe für Bärenleben.
Schweigen breitete sich aus. Wenn Hilflosigkeit einen Geruch hatte, dann war die Höhle erfüllt von ihrem Gestank.

Das Schwein
„Quiek!“ sagte das Schwein endlich. Ihm war unbehaglich zumute – Schweine sind schrecklich sensibel.
Die Steckdosenschnauze zuckte aufgeregt, die wenigen Haare waren gesträubt, der Ringelschwanz hatte sich ganz eng zusammengezogen. Es konnte die resignative Stille nicht länger ertragen. Seiner Meinung nach
war es Zeit für ein bisschen Entspannung, vielleicht auch Hilfe.
„Wißt ihr, ich fühle mich wohl hier in Bärenleben, unter Bären. Ich will immer bei Euch bleiben!“
Die Aussage wurde mit vereinzeltem zustimmendem Gebrumm
kommentiert, das dem Schwein Mut machte. Bären lassen sich gerne schmeicheln.
„Ihr seid so – gemütlich. Viel gemütlicher als andere. Glaubt mir, ich kann das beurteilen. Ich kenne nämlich viele Tiere, hauptsächlich natürlich Schweine. Aber auch andere. In meiner Jugend war ich in einem Streichelzoo. Wißt Ihr,
was ein Streichelzoo ist?“
Die meisten Bären wußten es nicht und verlangten nach einer Erklärung. Das Schwein schien ein Märchen erzählen zu wollen, und sie ließen sich
nur zu gerne für eine Weile von den unangenehmen Problemen der Wirklichkeit ablenken. Nur Kulle runzelte ärgerlich die Stirn und öffnete schon den Mund, um zu unterbrechen, aber im letzten Moment fing er einen Blick von Bärdel auf und schloß ihn wieder.
„Ein Streichelzoo ist eine Abteilung in einem Zoo, in der viele verschiedene junge Tiere leben. Tagsüber werden die Tiere auf eine Wiese geschickt, und die Kinder der Menschen kommen, um die Tiere zu streicheln – oder das zu machen, was sie unter Streicheln verstehen. Dabei gibt es so manchen blauen Fleck!“
Die Bären knurrten zornig, aber das Schwein winkte ab.
„Wir wollen jetzt nicht schon wieder über Menschen reden – sie sind eben entweder dumm oder grausam!
Der Vorteil dieses Streichelzoos war, daß ich viele verschiedene Tiere kennenlernen konnte – Ziegen, Hasen, Hühner und sogar einen Gorilla!“

Bobbo
„Der wohnt doch in Afrika!“ brummte eine junge Bärin ungläubig.
„Stimmt, der lebt eigentlich in Afrika. Aber die Menschen, die Zoos einrichten, nehmen auf so etwas keine Rücksicht. Jedenfalls, die Ziegen waren zickig und wollten mich immer auf die Hörner nehmen, die Hasen liefen ständig vor mir weg, und die Hühner hackten nach mir. Keiner war gemütlich, so wie ihr, auch nicht der Gorilla. Der wollte dauernd mit mir boxen. Trotzdem habe ich mich mit ihm angefreundet.
Wir haben neben den Boxkämpfen über meine Zukunft als Koteletts geredet, und er hat mir Gorillamärchen erzählt ((vgl. „Grimmis Buch vom Gorillasee“)).
Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der die Gorillas von den Menschen bedroht wurden. Alles sah so aus, als würden sie ausgerottet. Aber eine sagenhafte riesige Fröschin hat sie gerettet, die Menschen vernichtet und schließlich eine neue Welt geschaffen.“
Jetzt platzte Kulle endgültig der Kragen. „Welch ein Unsinn! Märchen, schön und gut! Aber die Welt ist wissenschaftlich beherrschbar, nur wissenschaftlich, das erzähle ich Euch seit Jahren! Riesige Fröschinnen, die eine neue Welt schaffen! Pah! Der flüchtige Rauch einer Zigarre
(vgl. „De rerum tabbaccorum“) ist realistischer als das! Schluß mit dem Unsinn! Laßt uns lieber überlegen, wie wir Geld besorgen – in der Welt der Derivate, der sogenannten Wertschöpfung aus dem Nichts, der Welt des Computerhandels und der Fakes dürfte das doch keine unüberwindliche
Schwierigkeit darstellen! Manfred kann bestimmt…“
Jeder Satz ein Ausrufezeichen, aber trotzdem wurde Kulle gebremst, und zwar ausgerechnet durch Manfred. Bärdel hatte schon tief Luft geholt, aber er brauchte gar nichts zu sagen.
„Moment mal!“ meinte Manfred nachdenklich.
„Ich kenne die Story, die das Schwein erzählt. Das muß ein alter Gorillamythos sein. Ich habe ihn im Internet gefunden, herausgegeben von einem würdigen Silberrücken namens Grimmi Gorilla. Ich glaube nicht, daß der alte Herr schwindelt. Wollt Ihr die Geschichte lesen?“
Natürlich wollten sie. Zwar war es inzwischen später Abend, und sie hatten nichts gegessen, aber kein Bär kann einer Geschichte widerstehen, schon gar nicht einer guten. Also installierte Manfred flugs seinen größten Monitor, lud die Geschichte, und dann lasen, sahen und hörten sie. Stundenlang,
bis helles Sonnenlicht in die Höhle sickerte.
Dennoch schien kein Bär müde zu sein, und auch das Schwein hielt seine Äuglein tapfer weit offen.
„Und das soll stimmen?“ fragte Tumu endlich skeptisch.
„Ob es stimmt oder nicht, kann uns egal sein,“ sagte Manfred. „Diese Tussi hat zur Lösung aller Probleme eine neue Welt geschaffen, eine Welt ohne Menschen, aber voll von Schlampanski – was immer das auch ist. Wir leben jedoch leider in einer Welt mit Menschen. Also lebt Tussi in einer anderen Dimension als wir, also kann sie uns nicht helfen.“
Ach ja, Stinker?
Direkt vor dem Monitor, den sie völlig verdeckte, saß plötzlich eine riesige Fröschin, deren Farben ständig zu wechseln schienen – bald hatte sie einen grünen Rücken mit gelbem Bauch, einen Moment später schien sie schwarz
und weiß gefleckt zu sein. Unverändert starr aber sah sie Manfred aus dreieckig geschlitzten Pupillen an.
Noch starrer als der Blick waren die Bären.
„Puh!“ sagte die Fröschin. „Ich bin von den Gorillas zwar einiges gewohnt, aber Ihr stinkt noch besser, das muß ich zugeben. Ich schick Euch demnächst mal einige meiner Kinder zur Darmreinigung vorbei, die können das hervorragend – habt ihr ja gerade gelesen. Im Übrigen seid Ihr ziemlich kleinkariert – glaubt Ihr ernsthaft, daß jemand, der den guten alten Christengott nach Strich und Faden fertigmacht, nur in einer Welt zu Hause ist?
Und Du“ – jetzt fixierte sie Kulle – „Dir will ich mal speziell was sagen. Die Antiquiertheit des Menschen – und auch des Bären, hihi – läßt eine rein rationale Erfassung der Welt nicht zu. Punktum. Abgesehen davon, daß ich meinerseits eine rein rationale Erfassung der Welt nicht zulassen will. Will, verstehst Du? Die Welt als Wille und Vorstellung… So, genug der Grundsatzerklärungen. Die Menschen haben Euch entdeckt, Ihr müßt hier weg. Ich helfe Euch. Wollt Ihr in die Neue Welt, oder wollt Ihr bloß einen Lift?“
Unter dem Worthagel krümmten sich die Bären zusammen. Kulle hatte sich zu einer vollkommenen Kugel gerollt, Bärdel streckte lediglich den Kopf hervor und kam sich dabei ungeheuer mutig vor, Manfred hielt die Augen geschlossen und tastete blind nach irgendeinem Knopf zum Ausschalten. Alte und junge Bärinnen und Bären bildeten im Hintergrund der Höhle
zwei schwer entwirrbare Knäuel. Nur Tumu und Dina wagten es, in die dreieckigen Pupillen zu blicken.
„Du bist…?“
„Tussi, wer sonst?“
„Du bist wirklich?“
Die riesige Fröschin wurde ungeduldig. „Wenn ihr wollt, könnt Ihr mich ja kneifen. Ich hab nicht ewig Zeit. Draußen, da, wo ich jetzt sein sollte, vergeht gerade eine Ewigkeit. Also beeilt Euch. Ich brauche eine Entscheidung. Neue oder alte Welt?“
Tumu tastete nach Dinas Hand und fühlte einen Druck.
Sie wußte nicht genau, was der bedeuten sollte, aber mit einer Sicherheit, die sie selbst überraschte, sagte sie: „Alte Welt.“
„Na gut!“ sagte Tussi. „Des Bären Wille ist sein Himmelreich. Wann soll ich Euch abholen? Ich schätze, zwei Wochen Zeit habt Ihr bestimmt.“
Tumu fragte nicht nach, was ‚abholen‘ hieß. Auch wollte sie kein Risiko eingehen.
„In drei Tagen,“ antwortete sie.

Tussi nickte wortlos und verschwand.
Allmählich erwachten die Bären aus ihrer Starre.
Die meisten kamen aber nicht zu Bewußtsein, sondern grunzten nur und verfielen sofort in den wohl verdienten Schlaf.
Am dritten Tag hatten alle ihre Habseligkeiten gepackt.
Als sie am Morgen aus der Höhle trotteten, betrachteten sie staunend das glänzende Tussimobil, das davor parkte.
Tussi saß hinter der Steuerkonsole.
„Where to?“ fragte sie und spielte mit den Hebeln.
„In die USA“, sagte Tumu und wagte sich entschlossen als erste in das unbekannte Gefährt. Zunächst zögernd, dann aber immer weniger zurückhaltend folgten ihr die anderen Bärenlebener. Bärdel vergewisserte sich, daß alle in dem glitzernden Ding verschwunden waren, und stieg als letzter ein. Innen war Tussis Gefährt viel geräumiger, als es von außen aussah – es bot Platz für eine gemütliche Höhle, neben der ein Bach
plätscherte. Alles, was Bärenmägen begehren konnten, wuchs in ungewohnter Fülle auf engem Raum. Selbst ein extra Eichelberg für das Schwein war liebevoll in einer Ecke aufgehäufelt worden.
Alle Bären brummten begeistert und machten es sich gemütlich, ohne der Angelegenheit auf den Grund gehen zu wollen. Manfred konnte seine Neugierde jedoch nicht bezähmen.
„Tussi“, sagte er, „entschuldige bitte, aber mir ist aufgefallen, daß dieses Ding hier innen viel größer ist als außen. Das widerspricht physikalischen Gesetzen. Du mußt wissen, daß ich mich sehr für Naturwissenschaften…“
Tussi sagte nur: „Später!“, ohne den Kopf zu wenden, während sie sich auf andere Probleme konzentrierte. „Hätte Dich beinahe weggedacht,
hihi! Wollte ich gar nicht. Habe jetzt aber keine Zeit für ABC-Schützen-Fragen. Was meint deine Mutter übrigens, wenn sie USA sagt? New Jack?“
Was oder wo, verflixt, war „New Jack“? Manfred hatte keine Ahnung.
„Ich denke, meine Mutter möchte dahin, wo wir Bären leben können“, sagte er schlicht.
„Na gut, New Jack lassen wir ausfallen, hihi. Rockies? Darauf spekuliert ihr wohl, was? Nee, machen wir auch nicht. Zu voll. Da leben schon zu viele andere Bären, nette Kerle übrigens, und abgesehen davon seid ihr für diese Gegend zu verweichlicht. Bei fünf Meter Schnee innerhalb von zwei Tagen kommt ihr doch vermutlich zu dem Schluß, der jüngste Tag sei gekommen, oder?“
Manfred mußte gegen seinen Willen nicken, und Tussi fuhr befriedigt fort.
„Sag ich doch. Wir lassen die Sache also ein bißchen niedriger angehen, und ein bißchen leerer. Ich dachte an Utah. Dünn besiedelter Staat mit hohem Bevölkerungswachstum, aber trotzdem genau das richtige für euch. Derzeit cirka 1,8 Millionen Menschen auf 212.000 Quadratkilometern, wenn Du’s genau wissen willst. Jede Menge Nationalparks, National Monuments,
Wilderness Areas, Primitive Areas, Wildlife Reserves.
Tendenz eher steigend. Alles so zwischen 700 und gut 3000 Metern hoch. Arides Klima: kalte Winter, heiße Sommer. Wasser ist manchmal ein Problem, aber nicht in den Bergen, und die Berge sind einsam. Einverstanden?“
Manfred sah sich um. Kein Bärenlebener kümmerte sich um ihn oder Tussi. Hinter seinem Rücken fand ein Festmahl statt, von dem er bisher nichts bemerkt hatte. Jetzt allerdings stiegen auch ihm verführerische Düfte in die Nase – heiße Brombeeren mit Honigsoße, der Vanille zugesetzt worden war, konnten jeden Bären um den Verstand bringen, beinahe auch ihn selbst. Aber er nahm sich zusammen.
„In Bärenleben treffen wir alle wichtigen Beschlüsse gemeinsam, das habe ich von meinem Vater gelernt!“
„Ich weiß!“ sagte Tussi. „Aber ihr seid nicht mehr und noch nicht wieder in Bärenleben. Du mußt jetzt entscheiden, du allein. Genau so allein, wie ich immer entscheide.“
„Einverstanden!“ Manfred wußte, daß er nichts entschieden, sondern sich einem vorgefaßten Entschluß Tussis gebeugt hatte. Er bemerkte, daß das Tussimobil das weiße Licht verließ, in dem es während ihrer Unterhaltung verharrt hatte. Blauer Himmel über vereinzelten weißen Wolken wurde sichtbar. Das Gefährt sank schnell tiefer, tauchte durch Kumuli und steuerte auf einen imposanten Gebirgsstock zu. Als es inmitten eines Birkenhaines
zum Stillstand kam, spürte Manfred keinen Bodenkontakt, aber er wußte, daß sie gelandet waren.
„Das sind übrigens keine Birken, sondern Aspen“, sagte Tussi, die mühelos seine Gedanken las. „Macht nichts – auf den ersten Blick ist manches hier genauso oder aber ganz anders als in Dehland. Das meiste ist ähnlich, das wirst du merken. Aber ihr wolltet es ja so haben. Keine New World, sondern nur einen Lift.“
Tussi öffnete die Luke – oder wie sonst nannte man die Türöffnung eines Tussimobils? – und hüpfte auf eine sattgrüne Waldwiese. Ihre Passagiere taten es ihr nach und purzelten in die neue Heimat, die meisten äußerst ungeschickt, weil sie sich überfressen hatten. Bärdel gab sich Mühe, gemessenen Schrittes auszusteigen, aber irgendwie verhedderte auch er sich und stolperte.
Tussi beobachtete das alles schmunzelnd.
„Okay, here we are. Die Sprache werdet ihr hoffentlich ohne mich lernen. Manches andere ist ein bißchen komplizierter. Er wird euch helfen. Ich lasse ihn da. Das meiste, was ihr braucht, kann er euch beibringen.“
Tussi griff sich an die Hüfte. Bärdel hatte den Eindruck, daß sie einen Reißverschluß an ihrem Körper aufzog, aber das konnte natürlich
nicht sein. Das Geräusch jedenfalls war ähnlich, und als es verklungen war, hockte ein ziemlich kleiner Frosch, der aus einer blauen Blase zu kommen schien, vor ihm und lächelte ihn schüchtern an. Abgesehen von einem gelben Bauch war er leuchtend grün.

Außer den Bären, dem Schwein und dem kleinen Frosch war plötzlich nichts mehr auf der Wiese.
Tussi und ihr Tussimobil waren verschwunden. Bärdel hatte es aufgegeben, sich über irgend etwas zu wundern. Er besah sich den kleinen Kerl genauer und begrüßte ihn zwar distanziert, aber mit freundlichem Brummen.
„Guten Tag“, sagte er.
„Guten Tag!“ antwortete der kleine Frosch.
Sein Lächeln wurde breiter. „Guten Tag! Ich heiße Ramses.“
Bevor Bärdel antworten konnte, spürte und hörte er hinter sich eine Bewegung. Etwas näherte sich, tastend, stolpernd, aber beharrlich. Anscheinend war einer von Tussis Passagieren aus seiner postgourmandisen Lethargie erwacht und schickte sich jetzt an, seine neue Heimat zu begrüßen. Oder sich zu übergeben. Bärdel wunderte sich über sich selbst. Sarkastische Gedanken waren sonst nicht seine Sache. Sie waren ein Zeichen dafür, daß er sich überfordert fühlte. Mit der rechten Tatze strich er sich – konsequent im Gegenuhrzeigersinn – über den Solarplexus und dachte dabei im Uhrzeigersinn an gar nichts. Das seit Urzeiten tradierte Bärenberuhigungsmittel half – als er sich nach der Quelle der Bewegung umsah, war er völlig entspannt und keineswegs überrascht, Kulle zu sehen.
„Ramses!“ Kulle war vollgefressen und aus dem Gleichgewicht geraten, deshalb klang seine Stimme heiser und schrill. „Ramses!“ Kulle wollte
kichern, produzierte aber nur ein ersticktes Kieksen.
„Ramses! Welcher denn?“ Kulle mußte husten und schluckte angestrengt, weil es ihm offenbar ein Bedürfnis war weiterzusprechen.
„Welcher denn? Ramses I., 1292 – 90 vuZ., Begründer der 19. Dynastie, General und Wesir des kinderlosen Horemheb? Oder Ramses II., manchmal genannt der Große, 1279 – 13, übrigens die zweitlängste Regierungszeit
ägyptischer Pharaos überhaupt? Falls du das bist, kannst du mir bestimmt einiges über deine Kriege gegen die Hethiter und Libyer erzählen – die Geschichtsbücher sind da sehr zürückhaltend. Vielleicht bist du aber auch Ramses III., der…“
„Schluß!“ sagte Bärdel. „Schluß.
Schluß. Schluß. Ich bezweifle nicht, und unser junger neuer Freund wird bald meiner Meinung sein, daß du uns auch noch etwas über die Ramsesse Nummer Vier-bis-ich-weiß-nicht-wieviel erzählen kannst, aber erstens wollen wir das in diesem Moment nicht wissen, und zweitens finde ich, daß jetzt nicht die Zeit für eine deiner ich-bin-ein-wissenschaftlich-gebildeter-Bär Einschüchterungsshows ist. Wir sind gerade auf einem uns unbekannten Kontinent gelandet und sollten uns vernünftiger benehmen als Kolumbus. Wie wäre es, wenn du das neue Mitglied unserer Gemeinschaft einfach mal ganz schlicht begrüßtest?“
Kulle schaute verwirrt drein, aber der Frosch blickte heiter in die Gegend. Er strahlte Kulle geradezu an.
„Ich bin Ramses“, sagte er. „Einfach nur Ramses. Und du mußt Kulle sein. Ich erkenne dich an der Fliege. Tussi hat mich vor dir gewarnt. Bestimmt hat sie Grund dazu, aber ich finde dich nett. Über diesen Horemheb zum Beispiel müssen wir noch mal ausführlich diskutieren – schließlich hat er den alten Kult der Naturgottheiten wieder eingeführt, und Frösche haben…“
„Schluuuusss!“ Bärdel spürte, wie die beruhigende Wirkung seiner Solarplexusmassage sich in Nichts auflöste. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, daß sich inzwischen ganz Bärenleben um Kulle und Ramses versammelt hatte. Die meisten hatten staunend den Mund geöffnet, denn sie wußten nicht, daß es neben Tussi noch einen Frosch gab, der sprechen konnte.
„Schluß!“ sagte er energisch zum fünften Mal. „Zumindest vorerst: Schluß. Über diesen Haremskerl könnt Ihr Euch später streiten. Jetzt ist Zeit für eine offizielle Vorstellung.“
Er trat zwei Schritte zurück. „Das ist Ramses, den Tussi uns dagelassen hat, um uns zu beraten, wenn wir Probleme haben. Ramses, wir danken Dir alle, daß Du zu uns gekommen bist!“
Die Bären klopften die Pfoten gegeneinander und brummten, das Schwein quiekte im Takt dazu genau eine Oktave höher, und Ramses gelber Bauch lief sanft rot an. „Danke!“ sagte er erkennbar verlegen.
„Ich hoffe, ich kann Euch helfen, wann immer es nötig ist!“
„Ich fürchte, Deine Hilfe habe ich gerade sehr nötig!“ japste das Schwein. Seit wir hier sind, habe ich das Gefühl, daß ich ersticke. Ist hier etwa die Luft vergiftet?“
Das Schwein war nicht allein mit seinem Problem. Auch viele Bären griffen sich an die Kehle oder an den Kopf und machten einen unglücklichen Eindruck.
Ramses schüttelte den Kopf. „Nein, die Luft ist hier bestimmt sauberer als da, wo ihr herkommt. Aber sie ist dünner. Wir sind hier ungefährt 9500 Fuß hoch.“
„Aber dann müssen wir alle ersticken!“
„Die Luft ist doch im Himalaya schon viel zu dünn!“
„Tussi will uns umbringen!“
„Hat jemand Sauerstoffmasken mitgebracht?“
Einige Bären kreischten hysterisch durcheinander. Andere ließen sich von ihrer Unruhe anstecken, und auch Bärdel und Kulle  sahen sich verunsichert an. Tumu und Dina hielten einander fest an den Händen. Manfred dagegen war die Ruhe selbst. Als naturwissenschaftlich denkender Bär war er daran gewöhnt, auf die Einheiten zu achten.
Ramses war über die Reaktion, die er hervorgerufen hatte, sehr erschrocken und schien davonhüpfen zu wollen, aber Manfred hielt ihn fest und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Keine Panik!“ sagte er. „Wir Bären sind nun mal Feuerköpfe,immer gleich aufgeregt, daran wirst du dich gewöhnen müssen. Am besten ist es zu warten, bis alle sich beruhigt haben, und die Sache dann zu erklären.“
Ramses folgte seinem Rat und sah sich wenig später von skeptischen und fragenden Blicken durchbohrt. „Also“, sagte er und schluckte, „also, das sind doch 9500 Fuß! Fuß, nicht Meter! Ein Fuß entspricht gut 30 Zentimetern. Wir sind hier ungefähr 3000 Meter hoch. Daran werdet ihr euch schnell gewöhnen, auch wenn ihr jetzt erstmal Atemnot und Kopfschmerzen
habt. Vielleicht ist einigen auch übel. Aber in einer halben Stunde ist das vorbei.“ Er nickte bekräftigend und hüpfte genau 30,48 cm hoch
in die Luft, um seine Worte zu unterstreichen. In dieser Höhe blieb er länger, als er eigentlich vorgehabt hatte, denn das Luftpolster, das die erleichtert prustenden Bären unter ihm bildeten, trug ihn tatsächlich dreißigeinhalb Sekunden lang.
„Was ist das denn für eine bescheuerte Idee, in Füßen zu messen?“ Ein alter Bär, den seine Kopfschmerzen noch granteliger machten, als er ohnehin schon war, betrachtete skeptisch seine hinteren Extremitäten. „Mein Fuß ist ungefähr 21 cm lang, schätze ich, und der von meiner Frau 17. Alles krumme Zahlen, alles unterschiedliche Füße. Kann mir das mal jemand erklären?“
„Selbstverständlich!“ Kulle drängelte sich in den Vordergrund, rückte seine Fliege zurecht und schien vollkommen vergessen zu haben, daß er vor wenigen Sekunden noch unter starkem Schwindelgefühl gelitten hatte. „Selbstverständlich! Die Entwicklung der Maßeinheiten in der Geschichte des sogenannten Homo sapiens sapiens entspringt dem objektiven Bedürfnis von sozial lebenden und zumindest teilintelligenten Individuen, sich…“
„Kulle!“ Obwohl Bärdel nur flüsterte,hörte Kulle sofort auf zu sprechen. Diesen Ton kannte er: Bärdel stand kurz vor einer Eruption,wenn er ihn benutzte.
„Entschuldigung“, murmelte Kulle. „Ich wollte doch nur…“
„Ja, ich weiß“, sagte Bärdel müde und rieb sich seine schmerzende Stirn. „Aber überlaß das doch erst mal Ramses. Tussi hat ihn genau deswegen hier gelassen, denke ich.“
„Das metrische System, an das ihr von Europa her gewohnt seid und das heute fast überall auf der Welt gilt, ist noch nicht sehr alt. Bevor es entwickelt wurde, haben die Menschen alle möglichen Maße benutzt, auf die sie sich irgendwie geeinigt haben. Solche alten Maßeinheiten gelten noch hier in den USA und außerdem in Burma und Brunei. 1975 wollte man auch hier zum metrischen System übergehen, aber dann wurde ein konservativer Präsident namens Reagan gewählt, und der hat 1981 dafür gesorgt, daß alles beim alten blieb.“
Ramses sprach sachlich und bescheiden, und Kulle zog sich lautlos in den Hintergrund zurück. Bärdel hatte den Eindruck, daß sein Fell eine Schattierung dunkler war als gewöhnlich, aber er war sich nicht ganz sicher.
„Na schön“, meinte Tumu. „Ungewohnte Höhenlage, andere Maße und Gewichte – da habe ich uns ja was eingebrockt. Und das ist doch bestimmt
noch nicht alles, oder?“
„Bestimmt nicht!“ Ramses schmunzelte. „Manches ist sicher viel schöner, als ihr es gewohnt seid.
Schaut euch doch nur mal um!“
Erst jetzt bemerkten die Neuankömmlinge, daß noch keiner von ihnen auf die Idee gekommen war, die weitere Umgebung in Augenschein zu nehmen. Die Wiese, auf der sie standen, wurde von Laubbäumen mit hellen Stämmen – „Aspen“, erklärte Ramses – und Tannen und Fichten begrenzt. Von ihrem Standort aus waren drei hohe Gipfel erkennbar, kahle, graue steinige Kegel, auf denen noch Schneereste lagen. Der Himmel darüber war makellos blau, die Kumuli darin ebenso makellos weiß. An einer Seite öffnete sich der Blick in die Ebene, die weißlich und rötlich in der Hitze flimmerte.
Tumu suchte Bärdels Hand und fand sie. Staunend stand sie da, und auch die anderen blinzelten überwältigt in die Landschaft. Selbst Kulle war beeindruckt von all der Schönheit, die sie umgab, und merkte, daß ihm Tränen in die Augen treten wollte. Sentimentalität, fand er, paßte aber ganz und gar nicht zu einem wissenschaftlich denkenden Bären.
„Der Bär definiert sich durch Arbeit“, brummte er deshalb und wandte sich Ramses zu. „Du hast doch bestimmt schon eine Höhle für uns
entdeckt, oder? Also, Bärinnen und Bären, Schwein und Frosch: Fegen, Betten bauen, Beeren etc. sammeln! Statt Gutenachtgeschichte veranstalte ich heute Abend einen Einführungskurs: Basic Facts above the USA.“
„Eine gute Idee!“ lobte Ramses. „Vor allem der Einführungskurs: Basic Facts about the USA. Kommt, ich zeige euch die Höhle!“
Erst auf dem Weg zur Höhle merkte Kulle, daß Ramses ihn korrigiert hatte, aber er ließ sich seine gute Laune dadurch ebensowenig verderben wie alle anderen. Niemand hatte mehr Kopfschmerzen. Alle freuten sich auf ein neues Leben. Nur das Schwein runzelte noch einmal kurz die Stirn.
„Sag mal, Ramses, wie heißt die Gegend hier eigentlich?“
„Ihr seid in den La Sal Mountains, und das hier ist eure Höhle. Herzlich willkommen!“

Der proteische Mensch

Dr. phil. Kulle, P.D.

Inhalt:

  1. Vorwort
  2. Proteus
  3. Die Moderne
  1. Der Begriff der Moderne
  2. Der Mensch der Moderne
  1. Die Postmoderne
  1. Geistesgeschichtliche Hintergründe
  2. Merkmale der Postmoderne
  3. Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch
  1. Nachbemerkung

Vorwort

Ein Gespenst geht um 1, nicht nur in Europa, sondern in der gesamten so genannten zivilisierten, also vulgo industrialisierten Welt. Es handelt sich um den proteischen Menschen. Dieses Phantom geistert durch die Köpfe vieler menschlicher Männer 2 , die sich selbst als postmoderne Philosophen bezeichnen oder gerne bezeichnen lassen. Dieses Gespenst bereitet mir, anders als das Gespenst des Kommunismus, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 beschworen haben, keine Hoffnungen. Dieses Gespenst des 19. Jahrhunderts war nämlich real und verhieß eine lebenswerte Zukunft. Das neue Gespenst bereitet mir auch keine Furcht. Es existiert nämlich nicht. Was zu beweisen sein wird.

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Proteus

Wer oder was war oder ist der Namensgeber des angeblich existierenden proteischen Menschen? Auszuschließen sind der sechste gleichnamige Mond des Planeten Neptun, Proteus anguinus, der Grottenolm, und ebenso die Proteusbakterien, die im menschlichen Körper schwere Blasen- und Nierenbeckenentzündungen verursachen können 3. Auch ein Flugzeug der Firma Scaled Composites kommt nicht in Betracht, ebenso wenig wie manches andere 4. Näher kommen wir der Antwort auf unsere Frage, wenn wir einen Blick auf die Homer zugeschriebene “Odyssee” werfen. Dort begegnen wir Proteus, einem alten, weisen und wandlungsfähigen Meeresgott, der auf der Insel Pharos als Robbenhüter lebt. Im Zentrum und auf dem Gipfel der griechischen Mythologie, auf dem Olymp, finden wir schließlich den wahren Proteus, den Ur-Proteus als Glied der zeusschen Götterfamilie. Er ist ein Meister der Verwandlung und kann jede beliebige Gestalt annehmen.

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Die Moderne

Der Begriff der Moderne

Mir als seriösem Wissenschaftler ist der Begriff “Moderne” zutiefst zuwider, stammt er doch aus einem Bereich des gesellschaftlichen Überbaus, dem naturgemäß ein Übermaß an Freiheit und Kreativität, damit auch an Unernsthaftigkeit, zugesprochen wird, nämlich aus der Kunst bzw. der Kunstgeschichte. Wie dem auch sei, der Begriff wurde allmählich auch von ernsthaften Wissenschaften wie der Soziologie adaptiert und so zur Quantité non négligeable.
Die Vorstellungen von Anfang und Ende dieser Epoche sind jedoch bis zum heutigen Tag ebenso unscharf wie der Epochenbegriff selbst. Begann die Moderne 1789 mit der Französischen Revolution oder erst am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen des Naturalismus in Deutschland? Endete sie 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 5, 1990 mit dem Ende der Bipolarität, oder dauert sie noch an? Das ist alles umstritten.
Ich erspare es mir und dem Leser, an dieser Stelle die angeblichen oder tatsächlichen Merkmale dieser so genannten “Epoche” aufzulisten – das lässt sich ebenso gut bei Wikipedia 6 oder in anderen Lexika nachlesen. Zentral und unbestritten ist jedoch, dass dieser wie auch immer definierte Zeitabschnitt der Menschengeschichte von einem bisher unbekannten und revolutionären Wirtschaftssystem dominiert wurde, nämlich dem Kapitalismus 7. Ja, revolutionär. Zwar stellte der Kapitalismus die Welt nicht vom Kopf auf die Füße 8, aber er verpasste ihr eine ordentliche Drehbewegung.

Der Mensch der Moderne

Welches Menschen bedarf ein Wirtschaftssystem, das auf Privateigentum an Produktionsmitteln basiert und nur ein Ziel verfolgt, das der Profitmaximierung? Hier gilt es zu differenzieren.
Der Mensch im Kapitalismus, sei er Bourgeois oder Proletarier, ist ohne Arbeitsethik nicht überlebensfähig, ob er sie sich nun freiwillig aneignet wie die protestantische Ethik 9 oder von der “Peitsche” des “Aufsehers” bei Strafe seiner Entlassung dazu gezwungen wird. In der Phase der ursprüngliches Akkumulation ist daneben die Bereitschaft zu bescheidenem Lebenswandel gefordert – knappes Kapital muss reinvestiert werden, mit Hungerlöhnen müssen große Familien ihr Leben fristen. Anders stellt sich die Lage dar, wenn der Kapitalismus in die Phase der Massenproduktion von Waren nicht nur mit Maschinen, sondern auch durch Maschinen eingetreten ist – dann ist nicht mehr Asketentum erwünscht, sondern Konsum; dann wird die Warenwelt weiter und weiter entfaltet, so dass alle tatsächlichen oder von den Marketingabteilungen der Unternehmen vorgegaukelten materiellen Bedürfnisse befriedigt werden können. Zumindest theoretisch. Die Kehrseite der Produktion von Waren und auch Dienstleistungen durch Maschinen besteht darin, dass die menschlichen Produzenten und Dienstleister ihre Arbeit verlieren, ihrer gewünschtern Rolle als Konsumenten also nur noch äußerst eingeschränkt gerecht werden können, was wiederum der Produktion Grenzen setzt.

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Die Postmoderne

Geistesgeschichtliche Hintergründe

In Bezug auf die Moderne wird immer wieder behauptet, sie sei von einem großen Fortschrittsglauben geprägt worden. Für das 19. Jahrhundert ist das zweifelsohne der Fall. Wenn allerdings die Erosion oder gar das Ende des Fortschrittsvertrauens auch das Ende der Moderne eingeläutet oder bedeutet haben sollte, dann müsste das bereits 1912 der Fall gewesen sein, als die “unsinkbare” Titanic von den Fluten des Atlantiks verschlungen wurde. Aber lassen wir das.
Fortschrittsglaube, menschlicher Fortschrittsglaube impliziert die Vorstellung, die Welt erkennen und beherrschen zu können. Verfechter der These, die menschliche Gesellschaft befinde sich heute nicht mehr in der Phase der Moderne, sondern in der der Postmoderne, argumentieren gerne damit, beides habe sich als Illusion erwiesen, und zitieren zum “Beweis” mit Vorliebe den Physiker Werner Heisenberg oder den Mathematiker Kurt Gödel. Beide haben in der Tat erkannt, dass Termiten an ihren jeweiligen wissenschaftlichen Gebäuden nagen.
Heisenberg kam zu der Feststellung, dass im Quantenraum eine objektive Beobachtung unmöglich ist, weil der Beobachter das Experiment beeinflusst. Wohlgemerkt, im Quantenraum, also im Picobereich – das bedeutet 10-12 m und kleiner. Postmoderne “Wissenschaftler” weisen unter Berufung auf diese Heisenbergsche Unschärferelation die Idee einer festen, objektiven Realität zurück. Bei Rifkin heißt es:
“Die Welt ist den Postmodernisten zufolge ein menschliches Konstrukt”. 10
Rifkin zitiert Heisenberg:
“Unsere wissenschaftliche Arbeit in der Physik besteht darin, Fragen über die Natur zu stellen in der Sprache, die wir besitzen.” 11
Die Sprache der Physik ist die Mathematik, das steht schon bei Galilei, und in mehr als 400 Jahren hätte man das lernen können. Aber welche Folgerungen ziehen postmodernefreundliche Bestsellerautoren aus dieser Aussage?
“Realität ist damit also eine Funktion der Sprache.” 12
Hier liegen nicht nur Leseschwäche und ein kapitaler wissenschaftlicher Lapsus in Bezug auf Schlussfolgerungen vor, sondern auch ein Rückfall in subjektiven Idealismus, ja mehr, in Solipsismus. Anstatt eines bärischen Wutausbruches über so viel Dummheit lasse ich lieber Goethe sprechen, der einen Solipsisten sagen lässt:
“Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein.”, worauf ihm Mephisto, der Teufel, antwortet:
“Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein.” 13
Jedenfalls ist mit derlei “Theorie” keine neue Epoche zu machen.

Merkmale der Postmoderne

Wie wir gesehen haben, ist es um die theoretische Legitimation der Postmoderne schlecht bestellt. Wie viel schwerer haben es deren Verfechter da erst auf der materiellen Ebene angesichts der Tatsache, dass die grundlegenden Produktionsverhältnisse des Kapitalismus dieselben geblieben sind, ja, sich sogar nach der Implosion des so genannten “real existierenden Sozialismus” auf den gesamten Globus ausweiten konnten! Aber sie begreifen dergleichen keineswegs als Fortschreibung des alten, sondern erfinden flugs einen neuen Kapitalismus.
Wir haben es angeblich mit einer neuen Ära zu tun, der des kulturellen Kapitalismus, in der nur noch die Verfügbarkeit, der Zugang, zählten, wohingegen das Eigentum immer bedeutungsloser werde 14. Dinge herzustellen, auszutauschen und Eigentum zu akkumulieren, sei nebensächlich geworden 15. Dieser neue Kapitalismus habe Zeit, Kultur und gelebte Erfahrungen warenförmig gemacht. 16
Immerhin – Lyotard, Baudrillard und wie sie alle heißen, geben zu, dass sie im Kapitalismus leben. Sie meinen, eine neue Qualität des Kapitalismus zu benennen, und verkennen, dass es sich lediglich um eine quantitative Verschiebung des Systems handelt. Niemand leugnet, dass moderne kapitalistische Gesellschaften Dienstleistungsgesellschaften sind, dass sie also, wie Rifkin formuliert, Zugang und Verfügbarkeit ermöglichen. Angesichts einer immer stärkeren Vernetzung der Menschenwelt einerseits – niemand kann sich das Internet kaufen, jeder kann sich nur gegen eine Gebühr einloggen – und der durch Arbeitslosigkeit und Lohndumping auf internationaler Ebene prekären finanziellen Situation der abhängig Beschäftigten in den Industrieländern andererseits ist ein anderer Weg unrealistisch. Daraus aber die Schlussfolgerung zu ziehen, der Kapitalismus habe sich dergestalt gewandelt, dass Eigentum und die Herstellung von Produkten nicht zählten, ist völlig falsch. Eine solche Argumentation betrachtet nur die Konsumentenperspektive und nicht die der Produzenten, die immer noch all das herstellen und über dessen Qualität verfügen, was die Massen in Abhängigkeit hält: Kühlschränke, MTV, Soap Operas und Autos, oft auf der Basis von Nutzungsverträgen. Nicht zuletzt verfügen die Besitzer der Produktionsmittel über das (Aktien-) Kapital, an dessen Mehrung sie interessiert sind.

Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch

Wie wir oben gesehen haben, ist der griechische Gott Proteus ein Formwandler. Ähnliche Fähigkeiten werden von den Postmodernisten auch dem proteischen Menschen zugesprochen. In der Postmoderne verändern die Menschen angeblich zwar nicht ihre äußere Form, wohl aber ihre Persönlichkeit zu Persönlichkeiten 17. Rifkin versteigt sich gar zu der Formulierung:
“Ein neuer menschlicher Archetyp wird gerade geboren. Einen Teil des Lebens bequem in virtuellen Welten des Cyberspace verbringend, vertraut mit den Funktionsweisen einer vernetzten Wirtschaft, weniger daran interessiert, Dinge zu sammeln als daran, aufregende und unterhaltsame Erfahrungen zu machen, fähig, simultan in parallelen Welten zu interagieren, rasch dabei, die eigene Persönlichkeit zu ändern, um sie irgendeiner neuen Realität, die ihnen – ob simuliert oder echt – begegnet, anzupassen …” 18
Große Worte, in der Tat. Dem angeblich so großen Neuen kann man analytisch-theoretisch und empirisch zu Leibe rücken.
Der proteische Mensch ist, glaubt man Rifkin, souverän. Angelehnt an Freud’sche Kategorien formuliert: Er besitzt “Iche-Stärken”. Ich-Stärke kann er nicht haben, denn er hat keine Persönlichkeit mehr, wohl aber Persönlichkeiten. Für Menschen ist es nicht leicht, angesichts der widerstreitenden Forderungen von “Es” und “Über-Ich” überhaupt ein angemessen starkes “Ich” auszubilden – nun soll dieser Prozess auf einmal multifunktional ein Kinderspiel sein? Die traditionelle Soziologie kennt den Begriff der Rollenambiguität – in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft muss der Mensch sein Handeln, seine Rolle gemäß seiner Position modifizieren. Schon diese Anforderung überfordert die meisten Menschen – woher soll also die Fähigkeit zur Ausbildung multipler Persönlichleiten kommen? Eine Mutation ist jedenfalls nicht in Sicht…

Betrachtet man den real existierenden Menschen, zum Beispiel in Dehland, so stellt man Folgendes fest:

  • er hat überwiegend Angst um seinen Arbeitsplatz oder ist arbeitslos
  • er hat keine Zeit, sich bequem in den virtuellen Welten des Cyberspace zu tummeln, oder er hat keinen Internetzugang. Wenn er sich einloggt, ist das häufigste Suchwort “Sex” – das ist nicht gerade ein Beweis für Bequemlichkeit und Souveränität.
  • Er sieht intensiv und viel zu lange fern und lässt sich von geschauspielerten Pseudopersönlichkeiten gefangen nehmen, die mit der Realität und ihm selbst nichts zu tun haben, obwohl er sich mit ihnen identifiziert
  • Er versteht nichts von der Wirtschaft und deren Funktionsmechanismen
  • er will selbstverständlich aufregende und unterhaltsame Erfahrungen machen (Ist das eigentlich “selbst verständlich”?), landet aber im Urlaub, so er sich diesen leisten kann, auf Mallorca oder in der Dominikanischen Republik – all inclusive, selbstverständlich, und ist dort auf sich selbst zurückgeworfen.
  • Seine eigene Persönlichkeit, falls vorhanden, ändert er mitnichten, weil er froh ist, wenigstens etwas zu haben, woran er sich festhalten kann.

Der proteische Mensch, vielleicht gedacht als innengeleitetes Individuum 19 , ist eine schöne Idee, die aber weder der gesellschaftlichen Realität noch den in ihr zum Leben gezwungenen Menschen gerecht wird.

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Nachbemerkung

  1. Qed.
  2. Ich erspare mir dieses Mal ein Fazit – es wäre zu deprimierend, weil es den bisherigen aufs Haar gliche. Allerdings ist es mir ein Anliegen, meiner abgrundtiefen Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass etliche Menschen, denen noch nicht einmal ich die prinzipielle Fähigkeit zum Denken absprechen will, ihre geistigen Kapazitäten darin erschöpfen, angebliche neue Epochen zu erfinden, anstatt ihr Gehirnschmalz darauf zu verwenden, über die Rettung unseres Planeten nachzudenken, was überfällig, wenn nicht bereits zu spät ist, jedenfalls aus bärischer wie menschlicher Perspektive betrachtet.
  3. Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich diesmal (fast) ernsthaft war.
  4. Falls Jeremy Rifkin meine bescheidenen Anmerkungen lesen und sich ärgern sollte, würde ich mich freuen, aber ich weiß, dass er nicht Deutsch kann.
  5. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.
PD Kulle


Fußnoten:

Wenn Sie sie Maus kurz über einer Fußnote stehen lassen, erscheint der Text. Falls das nicht klappt: hier sind noch einmal alle Fußnoten im Zusammenhang:

  1. Ich bitte um Entschuldigung. Natürlich bediene ich mich eines gängigen Zitats, aber das ist unumgänglich. In dem Fall, den wir zu untersuchen haben, handelt es sich tatsächlich um ein Gespenst.
  2. Falls ich übersehen haben sollte, dass es auch philosophisch dilettierende Frauen gibt, die dem Phänomen des proteischen Menschen nachjagen, dann möge man mir Kenntnis davon geben – meine email-Adresse ist bekannt (kulle@baerdel.de).
  3. Der Glaube an den proteischen Menschen affiziert dagegen eher das Gehirn.
  4. Ich verweise hier nur auf die Riesenschildkröte in: Goethe, “Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ und auf den ägyptischen König Proteus in Euripides‘ “Helena“.
  5. Diese Meinung vertritt Amitai Etzoni, was ich für völligen Unsinn halte. Entweder hat die Moderne die faschistische Barbarei verdaut und überstanden, oder sie hat mit deren Beginn geendet.
  6. http://www.wikipedi.org
  7. Mehr dazu bei Karl Marx.
  8. Das wird, was unmittelbar einleuchtet, erst eine kommunistisch-anarchisch organisierte Assoziation freier Produzenten leisten können.
  9. Vgl. Max Weber
  10. vgl. Jeremy Rifkin, Access, Frankfurt 2000, S. 256, 260
  11. nach Angaben von Rifkin aus: Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Frankfurt/Berlin 1990, S. 40
  12. vgl. Rifkin, ebd., S. 261
  13. Goethe, Faust II, V. 6791f
  14. vgl. Rifkin, ebd., S. 183. Im Übrigen wäre zu klären, was Kapitalismus mit Kultur zu tun hat, aber das ist schon wieder ein anderes Thema.
  15. Vgl. ebd., S. 263
  16. Vgl. ebd., S. 252
  17. vgl. ebd., S. 283
  18. ebd., S. 250
  19. vgl. David Riesman, The Lonely Crowd, New York 1950

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Kulles Schöpfung

Kulles Überlegungen zum menschlichen Selbst- und Weltverständnis

Aufgrund meiner zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten verzichte ich darauf, die hier vorliegende als wissenschaftliche Veröffentlichung zu katalogisieren, zumal der Gegenstand kein wissenschaftlicher ist. Es ist mir allerdings, das möchte ich vor allem gegenüber meinen menschlichen Kollegen betonen, ein Vergnügen, meine Reflektionen zu veröffentlichen.

Die Schöpfung

2

Der Anfang von allem war niemals, weil alles immer schon war, oder irgendwann, falls es damals eine Zeit gab und oder oder es jetzt einen Verstand gibt, der diesen Zeitpunkt bestimmen kann, und vielleicht vor der Materie, die es seitdem gibt und vielleicht vorher nicht oder doch. Niemand weiß das 3 , aber es gibt sie, die Zeit und die Materie, und daraus ward das vergängliche Leben, und alles Sein ist ein Teil von ihr und von ihm, auch der Mensch.
Dem Menschen, der seinen Charakter erkannte, weil er mit der unheilvollen und heilsamen Gabe der Denkfähigkeit ausgestattet war, war es unheimlich ob seiner Bösartigkeit, und er erfand sich ein moralisches Gesetz, das über ihm steht und unerreichbar ist, weil er selbst unfähig ist, sich Gesetze zu geben, die er auch einhält. Dieses Gesetz nennt er Gott.
Und weil er nicht wusste und weiß, woher er kommt und was sein Lebenszweck ist, musste er die Geschichte seines Werdens erfinden. Er hat nicht genug Selbstvertrauen, deshalb schiebt er den Vorgang seinem Gott, seinem Gesetz in die Schuhe.
In der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte zum Beispiel hat der Mensch – wer sonst? Oder spricht Gott von sich in der 3. Person Singular? – geschrieben:
“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“
Dieser Satz wirft ein schlagschattenklares Bild auf den Menschen, denn da er über seine Herkunft keine Auskunft geben kann, erfindet er eine höheres Wesen, das für die Schöpfung verantwortlich gemacht wird und über dessen Herkunft folglich das Geschöpf 4 auch keine Auskunft geben muss. Klug ist er, der dumme Mensch! Die Klugheit beweist sich auch in den beiden ersten angeblichen Schöpfungen: Himmel und Erde. So hat der Mensch zwei Fakten benannt, die sein Leben bestimmen: Die Erde, auf der er steht, und den gestirnten Himmel 5 , der sich über ihm wölbt.
Aber wie geht es weiter? Die nächsten Verse lauten:
“Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“
Nun gut, wir nehmen das zur Kenntnis. Am Ende des ersten Schöpfungstages haben wir Licht. Es ist ja auch durchaus positiv, wenn der Schöpfer, der offenbar auf Augen angewiesen ist, etwas sehen kann. Da die Elektrizität noch unbekannt ist, da der Mensch noch nicht einmal das Feuer entdeckt hat, um es sich nutzbar zu machen, da noch nicht einmal vom Menschen die Rede ist, müssen wir annehmen, dass das benannte Licht das Licht der Gestirne ist.
Merkwürdig jedoch, dass wir weiter hinten lesen:
“Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf Erden. Und es geschah also. Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.“
Aus diesem Zitat lassen sich mehrere Erkenntnisse ziehen.
Erstens ist der hier sprechende Gott – oder der Mensch, der sich stammelnd göttliche Kompetenz anmaßt – ein “Meister“ der Redundanz, ja, der direkten Wiederholung. Mehrmals scheiden die Lichter Tag und Nacht und sind gleich dreimal an der “Feste des Himmels“ befestigt – auf welche Weise auch immer.
Zweitens steht der Autor dieser Zeilen auf Kriegsfuß mit dem Konjunktiv 6 .
Drittens, und das ist das eigentlich Gravierende, ist dieser Schöpfergott vermutlich ein richtiger Chaot. Merkt er denn nicht, dass er seine Schöpfung dupliziert? Hat er vergessen, dass er erst vor drei Tagen sein “Fiat lux!“ gesprochen hat 7 ? Da es schon tagsüber hell ist, ist die Sonne ein überflüssiges Gestirn, und nachts sollte es nach der Planung des ersten Schöpfungstages eigentlich dunkel sein.
Vielleicht ist der Schöpfer aber einfach nur erschöpft. Muss er sich doch, nach nur sechstägiger Arbeit, bereits am siebenten Tage ausruhen. Auch eine andere Textstelle lässt darauf schließen, dass der Schöpfer nicht im Vollbesitz seiner physischen Kräfte ist:
“Und sie 8 hörten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war.“
Sollte ein Schöpfer in der Blüte seiner Jahre seine Geschöpfe nicht auch in der Mittagshitze besuchen können, anstatt sich wie ein Rentner in der Dämmerung im Park zu ergehen, und noch nicht einmal wissen, wo sich die “Krone“ der von ihm geschaffenen Welt aufhält, sondern fragen muss, wo der Mensch ist? 9

Der Mensch

Der Mensch als Autor einer Schöpfungsgeschichte der Erde – und wir behaupten inzwischen mit hundertprozentiger Sicherheit, nicht nur aus ideologischen Gründen 10 , dass der Mensch Autor des ersten und auch der folgenden Bücher Moses ist, denn ein Schöpfergott würde sich nicht als senilen schonungsbedürftigen Greis darstellen – der Mensch als Autor seiner Schöpfungsgeschichte stellt sich gewiss in den Mittelpunkt, und zwar als positiven Helden. Wir werden untersuchen, ob das zutrifft. Unser Untersuchungsgegenstand ist zunächst der sechste Schöpfungstag.
“Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.
Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.
Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise,
und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das da lebt auf Erden, dass sie allerlei grünes Kraut essen. Und es geschah also. 11

Wir wollen uns nicht ein zweites Mal über Redundanzen, Wiederholungen und grammatische Schwächen mokieren, sondern nehmen nur zur Kenntnis, dass sie in diesem Werk der Fiktion unvermeidlich zu sein scheinen. Konzentrieren wir uns auf die Inhalte. Folgendes ist dabei festzustellen:

  • Der Mensch ist als Ebenbild Gottes konstruiert worden, und zwar zweigeschlechtlich; die Erschaffung von Mann und Frau fand, wenn wir den Text beim Wort nehmen, zeitgleich statt. Die Ebenbildhaftigkeit dürfte kaum rein äußerlich zu verstehen sein, zumal Informationen über die Physiognomie des Schöpfergottes völlig fehlen, vielmehr ist anzunehmen, dass eine Art Seelenverwandtschaft intendiert ist.
  • Der so beschaffene Mensch wird mit einem doppelten Arbeitsauftrag versehen: Er soll über alles tierische Leben auf der Erde herrschen, wobei ein Ziel dieser “Herrschaft“ nicht formuliert wird. Um Domestikation zum Zwecke der Nutztierhaltung kann es nicht gehen, sind doch Menschen wie auch alle Tiere Vegetarier, was übrigens eine sehr positiv zu bewertende Idee ist. An pflanzlicher Nahrung scheint kein Mangel zu bestehen, Raubtiere, die eventuell den Menschen bedrohen, gibt es nicht. Zweckfreie Herrschaft hat keinen Inhalt, erfüllt keinen Zweck, das Bedürfnis danach drückt aber sehr wohl eine Haltung aus, einen Charakterfehler, und wir müssen konstatieren, einen Charakterfehler sowohl dieses hier angeblich sprechenden Gottes als auch des tatsächlich schreibenden Menschen, nämlich schiere Machtgier. Der zweite Teil des Arbeitsauftrages, Bedingung des oben betrachteten, besteht darin, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Letzteres haben, wie Bibel- und Geschichtskenner wissen, nicht nur Adam und Eva, sondern auch die meisten ihrer Nachfahren mit erschreckendem quantitativem Erfolg getan. Allerdings wissen Soziologen und Politologen auch, dass Menschen primär dann unkontrolliert Nachwuchs zeugen, wenn ihre Lebensumstände tierunwürdig 12 sind. Der status quo im beginnenden Jahr 2005 verzeichnet weit über sechs Milliarden Menschen – legt man die biblische Zählung zu Grunde, die die Schöpfung zwischen 4000 und 5000 vor der christlichen Zeitrechnung beginnen lässt, bedeutet das im Schnitt nur knapp 2,2 Kinder von jeder Frau, davon die Hälfte Töchter, die auch das geburtsfähige Alter erreichen und ihrerseits ihre Fortpflanzungspflicht tun – keine sonderlich beachtliche Fertilität, wohl aber eine bedrohliche!
    Aber diese mathematische Geburtenrate 13 setzt wahrhaft paradiesische Zustände voraus, und die sind mitnichten gegeben. Hat der Schöpfer doch der Menschenfrau in seinem Zorn geflucht:
    “du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“ 14
    und dem Menschenmann gedroht:
    “verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.“ 15
    Hinter den “Schmerzen“ und dem “Kummer“ verbergen sich in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag Kindersterblichkeit, Hungersnöte, Epidemien, Genozid und Kriege, häufig miteinander verwoben. Das hat die überlebenden Frauen der Menschheit zu einer weit höheren, mathematisch kaum messbaren Fertilität gezwungen.

So weit, so schlecht. Aber der Ungereimtheiten sind noch nicht genug. Es gibt nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft, im zweiten Kapitel des ersten Buches Mose, einen zweiten Schöpfungsmythos, der nicht das uns sattsam bekannte und letztlich harmlose Kriterium der Redundanz erfüllt, sondern völlig neue Inhalte präsentiert. Dieser Version zufolge hat Gott am siebenten Tage geruht und kommt erst danach auf die Idee, den Menschen zu machen, weil er offenbar gewahr wird, dass es niemanden gibt, der das Land bebauen kann 16. Welch auffälliges Misstrauen des Schöpfers gegenüber der soeben von ihm kreierten Pflanzenwelt! Jeder Wald überall auf der Welt spricht diesem Misstrauen Hohn. Wie dem auch sei, Gott geht, übrigens hier ohne explizit formuliertes Leitziel, ans Werk:

„Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also war der Mensch eine lebendige Seele.“ 17
Wie erfrischend kommt das daher! Eine lebendige Seele begegnet uns, ein fühlendes Wesen, vielleicht gar mit einem Gewissen ausgestattet, denken wir, mit einem Gespür für Falsch und Richtig; aber, wie sich weisen wird, weit gefehlt. Was wir gewiss wissen, ist, dass dieses Geschöpf einsam ist, eine Partnerin ist ihm nicht beigegeben.
Machen wir das Folgende kurz! Der Schöpfergott macht anschießend ein Biotop für sein Menschlein, den Garten Eden, und “setzt“ 18 es hinein. Auch hier geht es nicht ohne Arbeitsauftrag ab:
„Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn baute und bewahrte.“ 19
Respekt, Respekt! Der Gedanke der nachhaltigen Entwicklung anstelle von Herrschaft und Ausbeutung – ich muss gestehen, dass der Schriftstellerkollege, der für diesen Gedanken verantwortlich ist, mir durchaus imponiert.
Der “lebendigen Seele“, dem Menschlein, wird sogleich ein erster Verhaltenskodex gegeben, auf den wir gleich noch eingehen werden. Wichtig ist: Er wird nur dem noch einsamen Mann mitgeteilt. Erst danach, nachdem der Mensch die Aufgabe erledigt hat, allen Tieren, die ihm anscheinend paarweise vorgeführt werden, Namen zu geben, wird festgestellt, dass allein für den Menschen “keine Gehilfin“ 20 vorhanden war. Bereits aus dieser Wortwahl wie auch aus dem folgenden Schöpfungsakt wird die intendierte inferiore Stellung der Menschenfrau ersichtlich:
“Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloss die Stätte zu mit Fleisch.
Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 21

Da haben wir also die Frau, nach der ersten Version Ebenbild Gottes und gleichzeitig mit dem Mann geschaffen, nach der zweiten Variante lediglich “Gehilfin“, aus dem Körper des Mannes erschaffen. Es wird nicht davon gesprochen, dass auch dieses weibliche Wesen eine “lebendige Seele“ sei. Beiden Frauen ist jedoch eines gemeinsam: Sie wissen nichts von einem göttlichen Verbot – nur der Mann hat dieses vernommen. Es lautet:
“Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten;
aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.“ 22

Schau, schau! Das “Ebenbild Gottes“ soll über keine moralischen Kriterien verfügen! Es wird gar mit dem Tode bedroht, wenn es sich diese erwirbt. Welches egoistische Interesse hat der Schöpfer an diesem Verbot? Die Bibel gibt auf diese Frage keine Antwort, der geneigte Leser denke sich sein Teil.
Die Frau, das Weib, die “Männin“ 23 erfährt jedoch auf nicht bekannte Weise von dem Verbot, wenn auch nur rudimentär, denn sie sagt zur Schlange:
“Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret’s auch nicht an, dass ihr nicht sterbet.“ 24

Interessant, dass der “inferioren“ Frau das Verbot ohne kausale Begründung mitgeteilt worden ist. Interessant auch, dass auf einmal eine “Schlange“ auftaucht. Sie wird beschrieben als “listiger denn alle Tiere auf dem Felde“ 25. Wozu brauchen die Tiere des Schöpfungsberichtes List? Wozu braucht eines gar besonders viel? Wie oben bereits erläutert, herrscht Vegetarismus. List benötigen Tiere zum Täuschen und in Sicherheit wiegen, zum Überwältigen ihrer Beute. Pflanzen allerdings pflegen nicht wegzulaufen, wenn sie gefressen werden sollen. Hat der Schöpfergott die notwendigen intellektuellen Kapazitäten seiner Geschöpfe nicht hinreichend reflektiert? Hat er Tiere mit Fähigkeiten ausgestattet, die sie zu ihrem Leben gar nicht benötigen, und das Leittier, den Menschen, mit Möglichkeiten, die er als Schöpfer nicht realisiert sehen möchte – wie anders ist das Verbot zu erklären?
Wie dem auch sei, mit der Schlange ist das in der Welt, was Theologen “das Böse“ zu nennen pflegen. Aber das “Böse“ obsiegt zu Recht – die Menschenfrau kennt keine Begründung für das göttliche Verbot, die Schlange bietet ihr aber einen sehr plausiblen Grund dafür, es zu brechen:
“Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ 26

O göttliches Weib! Was dem Mann Grund war, das Verbot zu akzeptieren, ist der Frau Grund, es zu brechen. Sie bekam Lust auf die Früchte des Baumes, “weil er klug machte“ 27.
Die Antwort der Bibel auf diesen “Sündenfall“ ist erschreckend peinlich. Angeblich entdeckten Mann und Frau nach dem Verkosten der Erkenntnisfrucht ihre Nacktheit und begannen, sich zu schämen und ihre Blöße mit Feigenblättern zu bedecken. Welch intellektuelles Armutszeugnis, welch literarisches Feigenblatt!
Erklären lässt sich dies nur durch den krampfhaften Versuch der Autoren der Bücher Mose, ihren Gott, der doch im Zentrum des Geschehens stehen soll, positiv darzustellen. Das gelingt nur in Grenzen. Nach unbefriedigender Klärung der “Schuldfrage“ stößt Gott eine Philippika von Verwünschungen und Drohungen aus, die auf seinen Charakter und sein Selbstbewusstsein ein nicht gerade gutes Licht werfen. Bevor die beiden “Sünder“ aus dem “Garten Eden“ geworfen werden, gibt es immerhin eine göttliche Geste guten Willens – offenbar ist dem Schöpfer an der Weiterexistenz seiner Kreaturen, die nun unter widrigen Umständen leben müssen, gelegen:
“Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie.“ 28
Wahrlich nett, wenn man bedenkt, dass “Gott der Herr“ zuvor der Frau Schmerzen, sexuelles Verlangen und Unterordnung unter den Mann, dem Mann schwere körperliche Arbeit, Mangel und Tod “versprochen“ hat. Der Eindruck, dass dieser Gott erratisch handelt und nicht weiß, was er tut, verdichtet sich immer mehr. Allerdings erhärtet sich auch, dass dieser Gott Geschöpfe braucht, weil er sich sonst seiner selbst nicht vergewissern kann.
Kommen wir zum Schluss. Dieser eifersüchtige Gott, der seine Kreatur unterschätzt hat, kennt zumindest am Anfang der menschlichen Existenz noch Mittel und Wege, einen knappen Vorsprung zu behalten:
“Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!
Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden…“ 29

Wir stellen fest, dass es dem Menschen, dem Verfasser oder den Verfassern der ersten Kapitel des Alten Testaments, nicht nur nicht gelingt, seinen Gott positiv darzustellen, sondern auch sich selbst nicht. Vielleicht ist letzteres Absicht: Nur wer fehlerhaft ist, braucht einen Gott, der strafen kann. Aber immerhin – der Mensch behält sich einen Joker vor – die göttlich formulierte Möglichkeit des ewigen Lebens. 30
Wie dem auch sei mit der Schöpfung: Wir 31 sind alle draußen aus dem Paradies. Schön ist es hier nicht. Aber war es das im “Garten Eden“, schön, widerspruchsfrei, logisch, berechenbar? Für Menschenfrauen und Schlangen jedenfalls nicht. Vielleicht für Menschenmänner. Die benehmen sich, was Logik und Rationalität angeht, auch hier draußen bis zum heutigen Tag wie Gott der Herr bei der Schöpfung.

Schlußwort: Ich danke – wie immer – meiner Sekretärin!


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Ausbeutung

Einige Bemerkungen zur Entwicklung der Ausbeutung vor unserer Zeitrechnung

von P. D. Kulle

Kulle

Inhalt

 

  1. Persönliche Vorbemerkung
  2. Der Begriff der Ausbeutung
  3. Die Klassengesellschaft
  4. Entstehung
  5. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
  6. Die Sklavenhaltergesellschaft
  7. Intellektueller Reflex
  8. Conclusio
  9. Persönliche Nachbemerkung

I. Persönliche Vorbemerkung

Wir, also ich und meine Sekretärin, werden uns bemühen, meine Forschungsergebnisse in Bezug auf menschliches Verhalten in gewohnt prägnanter und präziser Weise zu Papier zu bringen, obwohl der Verfasser unter einer tiefen Depression leidet. Dieser Gemütszustand resultiert aus der Erkenntnis, dass vermutlich1 Ausbeutung keine notwendige, sondern eine Glück2 retardierende Bedingung menschlichen Zusammenlebens ist und dass Alternativen zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen existieren, dass das Wissen darum in der Geschichte dieser Spezies aber immer nur kurzfristig aufblitzte und gegenwärtig praktisch nonexistent ist.
Diese Depression hat auch zur Folge, dass wir uns trotz großer Bedenken entschlossen haben, den Gegenstandsbereich unserer Untersuchungen mit Rücksicht auf unsere begrenzten Kräfte unzulässig einzuengen und auf Europa und dessen näheres Umfeld zu beschränken3. Dagegen betrachten wir es als legitim, unsere Forschungen auf den Zeitraum zu beschränken, den meine abendländischen menschlichern Historikerkollegen gemeinhin als „vor Christus“ bezeichnen. In den für unser Thema relevanten annähernd drei Jahrtausenden vor der Hinrichtung jenes Handwerkersohnes, der nicht zuletzt deshalb sterben musste, weil ihm Besitz und Kirchenfrömmigkeit verabscheuenswürdig waren, ist alles Entscheidende geschehen. Unserem psychischen Zustand ist die Tragödie gemäß, nicht die Farce.4

II. Der Begriff der Ausbeutung

Trotz meiner hohen Wertschätzung für die Forschungsergebnisse des Kollegen Marx definiere ich „Ausbeutung“ nicht als Resultat eines Prozesses, der die private Aneignung der materiellen Differenz von Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft beinhaltet, sondern als Aneignung der Arbeitsergebnisse anderer qua materieller Macht.5

III. Die Klassengesellschaft
a. Entstehung

Die Klassenspaltung einer Gesellschaft ist nur möglich in einer sogenannten Hochkultur.6 Ihre Teilung in Besitzende und Nichtbesitzende ist sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung der Ausbeutung, macht sie doch die Nichtbesitzenden davon abhängig, dass die Besitzenden ihrer bedürfen.7
In Stadtstaaten wie Ur, Uruk, Lagasch, Nippur und Kisch in Mesopotamien verzeichnen wir bereits im Jahr 2733 vor „unserer“ – i.e. der menschlichen – Zeitrechnung8 erstes Privateigentum9. 62 Jahre später ist im gesamten Zweistromland alles noch existierende Gemeineigentum privatisiert.
In Ägypten ist eine parallele Entwicklung nur wenig später zu beobachten: 2606 tritt Privateigentum an Grund und Boden an die Stelle des bisherigen „allen gemeinsamen Königsgutes“. In späteren Überlieferungen, z. B. aus Israel oder Griechenland, ist von Gemeineigentum schon gar nicht mehr die Rede.
Eigentumsverhältnisse erfordern juristische Verhältnisse, die ihnen entsprechen – es ist also nur logisch, dass weitere 50 Jahre danach, 2621, das Privateigentum in Mesopotamien für unantastbar und heilig10 erklärt wird.
Von solchen Entwicklungen profitieren Großgrundbesitzer, Händler, das Priestertum und das Königshaus – in der Regel in Personalunion.11 Da wir unsere Leser nicht unterfordern wollen, ersparen wir uns zu erklären, wer darunter leidet.

b. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
In einer sozial gespaltenen Gesellschaft ist Appeasementpolitik notwendig. So werden zum Zwecke des Verbraucherschutzes z. B. in Mesopotamien 2580 für Kupfer, Wolle, Korn und Öl Höchstpreise festgesetzt, 2379 wird ein Höchstzins festgelegt – 20% für Silber, 33% für Waren -; und 2365 werden die Begräbniskosten um 80% gesenkt. In Athen sorgt Solon um 550 für einen allgemeinen Schuldenerlass, durch den viele Bauern aus Schuldknechtschaft und Hörigkeit befreit werden.12
Die folgenden Beispiele zeigen jedoch, dass die herrschende Klasse keinen Spaß kennt, wenn es nicht nur um Peanuts,13 sondern um ihr Eigentum geht: König Agias von Sparta wird 240 wegen seiner radikalen Bodenreformen von den Ephoren erwürgt; Tiberius Gracchus wird 133 mit 200 Anhängern ermordet, weil er mit einer Bodenreform versuchte, die verarmte und entrechtete Landbevölkerung wieder zum Träger des Staates zu machen. Ähnlich liegt der Fall des Katilina, der als Politiker Bodenreform und Schuldenerlass anstrebte, bei Wahlen unterlag, den Aufstand probte und 62 mit seinen Verbündeten dabei ums Leben kam. Die Liste ist verlängerbar.
Auch benötigt eine solche Gesellschaft ein Straf- und Zivilrecht, das von den herrschenden Rechts- und Besitzverhältnissen ausgeht und bei den Beherrschten nicht etwa ketzerische Gedanken aufkommen lässt wie Konnotationen von Eigentum und Diebstahl.14 Dergleichen besorgte schon frühzeitig bekanntermaßen Hammurabi (1760 – 1686), Kaiser von Assyrien, aber vor ihm vermutlich viele andere Herrscher. Ähnlich wie Uru-Kagina15 2363 publizierte er seine Gesetze nicht als Produkte menschlichen Willens, sondern als göttliches Gebot, um ihnen mehr Gewicht zu verschaffen.16

IV. Die Sklavenhaltergesellschaft

Die Einführung der Sklaverei in einer Klassengesellschaft ist der zweite Schritt zum Untergang des Gemeinwesens, besagt sie doch, dass die Besitzenden der „freien“ Nichtbesitzenden nicht mehr bzw. immer weniger bedürfen. Sklaverei stellt also Sprengstoff im doppelten Sinne dar: Sie vertieft die soziale Spaltung der Gesellschaft, und die hohe Zahl der Sklaven mit ihrem Potenzial zum Widerstand bedroht die Gesellschaft insgesamt.
Sklaverei entwickelt sich in der Antike schnell – so umfasst die Mitgift der Mitanni-Prinzession Gilu in Mesopotamien im Jahre 1403 317 Sklavinnen17. Wenige Jahrhunderte später ist der Zerfall der Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten; er ist bedingt durch das schnelle Anwachsen der Zahl der Sklaven.18
Eine nur geringe Rolle spielt die Sklaverei in Ägypten und Israel, obwohl wir uns des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Geschichtsschreibung die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse nicht immer zureichend wiedergibt. Während zum Beispiel israelitische Überlieferungen19 voll sind mit Schilderungen von der qualvollen „Babylonischen Gefangenschaft“ des jüdischen Volkes, wird der Tatsache, dass eben diese Gefangenen, 42000 Köpfe stark, bei ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft im Jahre 537 7500 eigene Sklaven mitbrachten, in der Regel höchstens eine Fußnote gewidmet.
Eindeutig gravierend stellt sich das Problem der Sklaverei in Griechenland dar. Die Bedeutung der Sklavenfrage lässt sich unter anderem an wiederholten Bemühungen zu ihrer Lösung erkennen, vorrangig an den Versuchen, die Zahl der Sklaven zu begrenzen. So wird bereits 588 in Korinth die Anschaffung von weiteren Sklaven verboten, und 509 erhalten in Athen zahlreiche Sklaven Freiheit und Bürgerrecht. Diese Maßnahmen vermögen jedoch nicht zu verhindern, dass 450 in Korinth die Zahl der Sklaven die der freien Bürger übersteigt. 377 kommen in Athen zehn Sklaven auf einen Bürger.
Angesichts dieser Zahlen löst es Erstaunen aus, dass die Sklaverei keine Erosion der griechischen Poleis20 bewirkt hat. Die Annalen verzeichnen lediglich einen erfolglosen Sklavenaufstand (494) und die Flucht von 20000 Sklaven aus Athen (413). Erlaubt sei jedoch die Vermutung, dass der der griechischen Gesellschaft inhärente Sprengstoff sehr wohl explodiert wäre, wenn nicht ein Dritter vorher die Zerstörung übernommen hätte: das Römische Imperium.
Obwohl erst im Jahre 140 die Zahl der Sklaven die der Freien im Römischen Reich übersteigt, kommt es lange vorher zu Sklavenerhebungen. Schon 419 scheitert in Rom ein Sklavenaufstand; 198-196 vereinigen sich Sklaven in mehreren Teilen Italiens (Latium, Etrurien) zu aussichtslosen Freiheitskämpfen, 185 wird eine Erhebung in Apulien niedergeschlagen. Sucht man nach Gründen für dieses verzweifelte Aufbegehren einer schlecht ausgerüsteten Minderheit, so empfiehlt sich ein Blick in eines der Werke Catos des Älteren (234 – 149), „Über den Landbau“. Darin gibt er Ratschläge für Gutsherren und empfiehlt die rücksichtslose Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als wichtige Voraussetzung für Rentabilität.
Ernster wird der Fortbestand des römischen Staates zwischen 136 und 71 gefährdet. Wiederholt erschüttern Aufstände das Reich, nicht nur im italischen Kernland, sondern auch in den Kolonien, und die Aufständischen sind nicht nur Sklaven, sondern auch Proletarier, die sich zu Hunderttausenden vereinen und zum Teil jahrelang große Gebiete kontrollieren. Angesichts exzessiven Großgrundbesitzes und in Anbetracht riesiger Mengen importierten Getreides aus den Kolonien zum Nulltarif bleibt der Plebs ebenso wie den Sklaven nichts anderes als die Vision einer anderen Gemeinschaft. Aber eben daran, an der mangelnden Vision, scheitern diese Erhebungen; eben deshalb ist es den römischen Heeren möglich, selbst einen Aufstand wie den des Spartakus ohne Probleme zu beenden.21

V. Intellektueller Reflex

„Die Vornehmen sind voll Klagen und die Geringen voll Freude. Gold und Lapislazuli sind um den Hals der Sklavinnen gehängt und die einstigen Herren verrichten niederste Sklavenarbeit. Der Reiche schläft durstig, und wer ihn sonst um die Neige bat, trinkt jetzt starkes Bier. Diejenigen, die früher Gewänder besaßen, sind jetzt in Lumpen, die Armen aber besitzen Herrliches. Jede Stadt sagt: Lasst uns die Mächtigen aus unsrer Mitte vertreiben. Alles dreht sich wie eine Töpferscheibe.(Ipuwer , 2273 – 2188)

Revolutionäre Werke wie das des ägyptischen Dichters Ipuwer sind selten. Wesentlich häufiger sind Klagen über die herrschenden Zustände.22 Diesen Texten ist jedoch gemeinsam, dass sie Werke der Literatur sind.
Dichter bzw. Schriftsteller als Gesellschaftskritiker sind ebenso für das ägyptische Reich wie auch für das frühe Griechenland typisch. Wir erwähnen hier nur Hesiod (753 – 680), der als erster Dichter Griechenlands die bedrückte Lage der verarmten Bauernschaft thematisiert, Archilochos (705 – 637), Sohn eines Sklaven, der die Klassenteilung der Gesellschaft anklagt und – welch kühner Gedanke – die Forderung nach freier Entfaltung der Persönlichkeit erhebt, und schließlich Äsop (636 – 564), der sich in zahlreichen Fabeln für die Rechte der Armen einsetzt.23
In den griechischen Stadtstaaten werden die gesellschaftskritischen Dichter bald von anderen Intellektuellen abgelöst: den Philosophen. Anthistenes, Phaleas, Plato, Diogenes, Zeno, Euhemeros, Dikäarch und Chrysipp – welche eine illustre Reihe von Denkern vom 5. bis zum 3. Jahrhundert, welche eine Fülle von Ideen! Da stellt Dikäarch fest, dass die Existenz von Privateigentum einen Abfall vom Naturgesetz bedeute, und Plato kommt zu dem Schluss, Klassengegensätze und Privatbesitz seien die Ursachen für die Fehler einzelner wie auch der Gemeinschaft. Besitz und Genuss, ergänzt Anthistenes, seien die Hauptübel der Menschheit. Aus der Kritik erwachsen produktive Forderungen: Notwendig seien die Veränderung der Besitzverhältnisse (Phaleas) und Gütergemeinschaft (Diogenes). Ob das neue Gemeinwesen nun die Form eines Inselparadieses (Euhemeros) oder eines Weltreiches (Zeno, Chrysipp) annehmen soll – kommunistische Eigentumsverhältnisse und selbst-bewusste Menschen24 sind allen Utopien gemeinsam.25
Eine völlig andere Quelle der Gesellschaftskritik finden wir in Israel vor. Ahia, Elias, Elisa, Amos, Jesaja, Hesekiel – hier sind es die Propheten, die sich gegen die Reichen aussprechen und für die Rechte der Armen eintreten. Natürlich haben die oben Genannten einen deutlich engeren Denkhorizont als die griechischen Philosophen, die, wie z. B. Euphemeros, Götter als idealisierte Menschengestalten deuten. Die Propheten sind gefangen in der Überzeugung, einem Gott zu dienen, der exklusiv ein Volk, nämlich das, dem sie angehören, als das seine auserwählt hat, und betrachten es als ihre Aufgabe, dem Volk und dessen Herrschern den Willen dieses Gottes kundzutun. So verkündet etwa Amos (802 – 745), Jahwe sei der Herr der Welt und das Volk Israel dazu berufen, seine Herrschaft über die Erde zu verbreiten. Gleichzeitig tritt er für die Rechte der Armen ein – ein wenig einleuchtendes Doppelziel.26
Dichter, Philosophen, Propheten – vertreten sind damit Ästhetik, Ethik und Religion. Nota bene – Jahrhunderte lang, Jahrtausende lang treten die intelligentesten Vertreter der Menschheit27 einer unsinnigen Ökonomie auf Ebenen entgegen, die mit ihr nichts, aber auch gar nichts zu tun haben! Der Versuch, Ausbeutern ihr Verhalten mit der Vorhaltung der Menschenrechte auszutreiben, ist eher zum Scheitern verurteilt als Don Quichottes Kampf gegen die bekannten Windmühlenflügel. Nur eine korrekte wirtschaftswissenschaftliche Argumentation könnte hier Erfolg haben.28

Kulle

VI. Conclusio

Wir müssen zugegeben, dass wir die Unfähigkeit menschlicher Kritik nicht beweisen wollten, weil wir sie am Beginn dieser Arbeit noch nicht ins Kalkül gezogen haben, dass wir sie aber leider wissenschaftlich korrekt beweisen mussten. Also doch: QED.

VII. Persönliche Nachbemerkung

 

  1. Der Verfasser leidet immer noch unter Depressionen und zusätzlich unter Übelkeit.
  2. Ich danke dem Kollegen Peters für die Zurverfügungstellung29 etlicher Daten und Zusammenhänge.
  3. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

 


Fußnoten:

1 Diese Vermutungen beziehen sich selbstverständlich auf Menschen. Wir müssen zugeben, dass die menschliche Psychobiologie sich dem bärischen Verständnis weitgehend verschließt. Allerdings sind wir Bären in Hinblick auf unsere eigene mentale Gesundheit für dieses Faktum auch äußerst dankbar.

2 Selbstverständlich ist das bärische Interesse an menschlichem Glück marginal. Allerdings vermögen wir uns sehr gut vorzustellen, dass glückliche Menschen nicht auf die Idee verfallen, Bären zu jagen und zu töten, weil es ihnen Spaß macht.

3 Eine europazentrierte Sicht auf die Weltläufte ist zwar prinzipiell zulässig, sollte jedoch tunlichst unterlassen werden – die Kolonialgeschichte zeigt, wozu dergleichen führt!

4 Vgl. dazu meinen geschätzten Kollegen Karl Marx.

5 Mittels der Marx’schen Definition sind z. B. weder die ökonomischen Verhältnisse in der Sklavenhaltergesellschaft noch zahlreiche Erscheinungen der automatisierten Produktion und die Profitmaximierung im tertiären und quartären Sektor moderner Industriegesellschaften erklärbar. Genauere Erläuterungen hierzu müssen einer späteren wissenschaftlichen Arbeit vorbehalten bleiben.

6 Der Begriff der „Hochkultur“ bezieht sich ausschließlich auf von Menschen organisierte Gesellschaften. Er beschreibt ökonomische Beziehungen des ungleichen Austausches, bei denen der wertmäßig geringere Teil (z. B. Zauberheilung) als der wertmäßig/ideologisch höhere betrachtet und höher bewertet wird als zum Beispiel die Nahrungsmittelproduktion.

7 Dieses Abhängigkeitsverhältnis existiert natürlich auch vice versa, wird als solches in der Regel jedoch nicht wahrgenommen.

8 Im Folgenden werden wir in der Regel auf den Zusatz „vor unserer Zeitrechnung“ verzichten, wenn er selbstverständlich ist.

9 Mit Privateigentum ist hier selbstredend Privateigentum an Ressourcen gemeint, dessen Nutzung der Allgemeinheit dienlich sein könnte, also im weitesten Sinne an Produktionsmitteln, nicht privater Besitz.

10 Wir werden auch im Folgenden wiederholt feststellen, dass juristische und politische, also weltliche Belange religiöse Formen annehmen, und dergleichen ist auch im beginnenden 21.
Jahrhundert die Regel und mitnichten die Ausnahme. Wir überlassen es dem intelligenten Leser, nach geeigneten aktuellen Beispielen zu suchen.

11 So entsteht z. B. 2443 in Ägypten Großgrundbesitz. König Lugal-Anda von Lagasch (2449 – 2367), selbst Großgrundbesitzer und Großhändler, bedient sich der Priesterschaft, um die Bevölkerung effektiver ausbeuten zu können.

12 Parallelen zu aktuellen Formen moderner Sozialpolitik sind selbstredend nicht gegeben – schließlich gehört die freie Preisbildung zu den Grundpfeilern der Marktwirtschaft. (Ich glaube, der Chef meint das ironisch. Die Sekretärin)

13 vgl. den Flick-Bestechungsskandal

14 Vgl. Baboeuf (viel später)

15 2422 – 2360 König in Lagasch

16 vgl. Anmerkung 7

17 Tatsächlich spricht die uns vorliegende Quelle nur von weiblichen Sklaven. Der Prinzessin – wie auch unserer Fantasie – hätte es sicherlich besser gefallen, wenn auch männliche Sklaven zur Mitgift gehört hätten.

18 Dieses ursächliche Phänomen des Gesellschaftszerfalls wird uns auch im Folgenden noch begegnen. In Mesopotamien ist es unter dem Kaiser Asurbanipal zu beobachten, dessen übrigens lobenswerte bildungspolitische Anstrengungen – er veranlasste die erste planmäßig angelegte Bibliothek der Welt – die soziale Erosion seines Reiches nicht verhindern konnten.

19 Einschließlich des Alten Testaments

20 Das ist kein Tippfehler, sondern der Plural von Polis. Die Sekretärin.

21 Man könnte es allerdings als Problem bezeichnen, dass die Via Appia von Süditalien bis nach Rom danach im Abstand von 50 Metern von Gekreuzigten gesäumt war.

22 Vgl. Chun-Anup (2185 – 2123), Klage eines Bauern

23 Die wissenschaftliche Redlichkeit erheischt es leider, zumindest in einer Fußnote Tyrtaios (686 – 613) und Alkaios (639 – 562) zu erwähnen, die die Adelsherrschaft preisen und sich gegen jede Beteiligung des Volkes an der Regierung aussprechen.

24 Wir würden an dieser Stelle den Begriff der „allseits entwickelten Persönlichkeit“ verwenden, wenn er nicht durch den selbst ernannten „real existierenden Sozialismus“ bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden wäre.

25 In seiner Begeisterung hat der Chef bei diesem Absatz die sonst gewohnte historische Korrektheit mitunter vermissen lassen. Die Sekretärin.

26 An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob Schizophrenie nicht eine notwendige Voraussetzung für die Dienstpostenbeschreibung eines Propheten ist.

27 Selbstverständlich gibt es dabei mehr als graduelle Unterschiede, vgl. z. B. Anmerkung 26.

28 An diesem Sachverhalt hat sich bis heute kaum etwas geändert. Der geschätzte Kollege Marx hat sich zwar bemüht, ökonomischen Entwicklungen mit ökonomischen Argumenten zu begegnen, er hat sich aber leider a) immer wieder von diesem Gegenstand ablenken lassen und ist b) zu früh gestorben.

29 Dem Chef muss es wirklich schlecht gehen – er lässt sich auch mit den besten Argumenten nicht davon abbringen, dieses Wortungetüm zu benutzen. Die Sekretärin.

Kulles Kanzler-Interview

Kulles Kanzler-Interview

1

Kulle
Kulle:
Guten Morgen, Herr Kanzler. Haben Sie gut geschlafen?
Kanzler:
Danke, ausgezeichnet.
Kulle:
Das wundert mich. Denn die Gewinneinkommen sind in den vergangenen sechs Jahren um netto 44 Prozent gestiegen, und die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung netto um 3 Prozent. Der hohen Staatsverschuldung auf der einen Seite steht eine ungeheure Anhäufung der privaten Geldvermögen gegenüber. 30 Prozent des Geldvermögens waren 1996 auf drei Prozent der privaten Haushalte konzentriert. Und das läßt einen sozialdemokratischen Kanzler ruhig schlafen? „Kulles Kanzler-Interview“ weiterlesen

Der Mensch

Der Mensch

PD Kulle

von P. D. Kulle

  1. Annäherung an den Gegenstand
    1. Das Tier
    2. Der Raub
    3. Das Raubtier
  2. Der Mensch
    1. Die allgemeine biologische Natur des Menschen
    2. Der Raubtiercharakter des Menschen
    3. Die Bewusstheit des Menschen
  3. Conclusio
  4. Das Übliche

1. Annäherung an den Gegenstand

Wir gehen von der Hypothese aus, dass es sich beim Menschen um ein Tier handelt, obwohl dieser Tatbestand häufig von Angehörigen dieser Spezies geleugnet wird. Wir werden sehen.

1a.  Das Tier

Tiere sind Lebewesen, die sich heterotroph ernähren, also Konsumenten sind. Sie benötigen pflanzliche oder tierische Nahrung oder eine Mischung aus beidem. Die meisten Tiere sind frei beweglich, alle sind mit Sinnesorganen und einem Nervensystem ausgestattet. Grundmodul von Tieren ist die Zelle mit einer sehr dünnen Zellmembran. Tiere haben eine recht kompakte Form mit reich gegliederten inneren Hohlräumen, in denen der Stoffaustausch mit der Umgebung überwiegend stattfindet. Wegen des niedrigen Zelldrucks bilden Tiere Stützorgane in Form von Außen-, Innen- oder Hydroskeletten aus. Es gibt viele Arten, und die Anpassungsfähigkeit von Tieren ist hoch; so wurde auch die Besiedelung extremer Lebensräume möglich. Dazu trägt auch die zum Teil hoch entwickelte Brutpflege bei. – Nach sehr grober Schätzung sind 500 Millionen Arten von Tieren bisher ausgestorben.1 Der von den Menschen erfundene wissenschaftliche Name für die Tierkunde lautet „Zoologie“ und ist aus dem Griechischen abgeleitet.2 Die ebenfalls von den Menschen praktizierte Tier- oder Veterinärmedizin hat ihre Ursprünge im Altertum; entsprechende Papyri aus Ägypten sind überliefert. Diese auf die Heilung von Krankheiten gerichtete Wissenschaft konzentriert ihre Kräfte überwiegend auf Haus-, Nutz-, Versuchs-, Laboratoriums- und Zootiere; in freier Wildbahn lebende Tiere werden von ihr kaum beachtet.

1b.  Der Raub

Raub ist definiert als ein Diebstahl, bei dem die Wegnahme unter Androhung von Gewalt gegen eine Person oder unter Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erfolgt.3 Raub wird – unter Menschen – mit Freiheitsstrafe oder mit Körperstrafen bis hin zur Verstümmelung bestraft.

1c. Das Raubtier

Logisch geschlussfolgert, müsste ein Raubtier ein heterotrophes Lebewesen sein, das anderen heterotrophen oder autotrophen Lebewesen gewaltsam unter Drohungen etwas wegnimmt und dafür bestraft wird. Weit gefehlt! Raubtiere (Karnivoren) sind – Säugetiere! So definieren jedenfalls die Menschen diesen Begriff. Sie zählen etwa 250 Arten solcher Tiere, die tag- oder nachtaktiv sein können und in allen Lebensräumen vorkommen. Gemeinsam ist den Raubtieren ein Gebiss mit stark entwickelten Eckzähnen und meist scharfen Reißzähnen, das bei den meisten dem Töten und Aufreißen größerer Säugetiere dient. Allerdings gibt es auch Allesfresser, wie z. B. Braunbären und Grizzlies4, überwiegende oder fakultative Aasfresser (beispielsweise Schakale und Hyänen) und Pflanzenfresser wie den Bambusbären. Es sei die Bemerkung erlaubt, dass uns diese Klassifizierung als nicht überzeugend erscheint. Wo bleiben die Krebsszelle, der Alligator, der Hai? Aber sehen wir weiter! Genauere Studien ergeben, dass die menschliche Logik räuberisches Verhalten auch jenseits der Säugetiere entdeckt hat, wenn deren Protagonisten auch offenbar nicht wert sind, den Namen „Tier“ zu tragen. So sind Raubameisen bekannt, die Larven und Puppen aus fremden Nestern rauben und die daraus schlüpfenden Tiere als Sklaven für sich arbeiten lassen.5 Auch gibt es – in alphabetischer Reihenfolge – Raubbeutler, Raubfische, Raubfliegen, Raubmöwen, Raubspinnen, Raubvögel, Raubspinnen, Raubwanzen und den Raubwürger, einen Singvogel.

2. Der Mensch

Aufgrund der bisherigen Forschungen ist eine genaue Klassifikation des Menschen ein Kinderspiel. Pikant dabei ist, dass alle folgenden Schlussfolgerungen aufgrund menschlicher Aussagen gezogen werden können.

2a. Die allgemeine biologische Natur des Menschen

Zweifellos sind Menschen heterotrophe Lebenwesen, auf die alle weiteren oben genannten Merkmale zutreffen. Ebenso zweifellos ist der Mensch ein Säugetier, das lebende Junge zur Welt bringt und eine ausgiebige Brutpflege praktiziert. Selbst Menschen geben hin und wieder ihre Tiernatur zu, wenn auch nur widerwillig.6 Diejenigen, die das nicht tun, sind entweder dumm, also religiös verblendet7, oder formal ungebildet.8 Menschen sind überwiegend tagaktiv, können aber auch nachtaktiv sein.9 Das menschliche Gebiss hat sich zwar zurückgebildet, weil die Menschen Mechanismen der Nahrungsaufbereitung entwickelt haben, die ein Reißen mit den Zähnen weitgehend überflüssig machen. Der Mensch besetzt, aktuell und unter Hinterlassung seiner Artefakte, Lebensräume, die andere (Säuge-)Tiere aus gutem Grund meiden. Kein Pinguin besaß jemals die Unvernunft10, am Südpol eine Pinguinfahne zu errichten, und nur der Yeti11 mag ab und an Spaß daran haben, auf dem Mount Everest in den Überbleibseln zahlloser Trekking-Mahlzeiten zu stöbern.

2b. Der Raubtiercharakter des Menschen

Der Raubtiercharakter des Menschen kommt in der Gegenwart direkt nur noch bei sogenannten Kriminellen oder in (Hollywood-)Filmen unmittelbar zum Ausdruck. Der „Böse“ wird, sofern man seiner habhaft wird, aus dem gesellschaftlichen Verkehr gezogen; im Film stirbt er entweder eines spektakulären Todes, oder er entkommt, da er als Bösewicht für eine weitere kassenträchtige Filmfolge benötigt wird. Bei Jägern und Anglern ist das Raubtierverhalten bereits verdeckt, da das Beuteschlagen mittels Maschinen vollzogen wird, die die unmittelbare Beziehung zwischen Jäger und Opfer verdecken, da der Jäger nur noch in den seltensten Fällen selbst das Opfer konsumiert12 und da der Jäger erfolgreich Vorwände für sein Handeln konstruiert, indem er die Jagd z. B. als „Hege“ ausgibt13. Für den „normalen“ Bewohner eines industrialisierten Landes14 spielt die Jagd keine Rolle mehr. Seine Milch, seine Eier, seinen Käse kauft er im Supermarkt oder, als bewusster Verbraucher, im Bioladen. Er ist sich der Tatsache nicht bewusst, dass er Raub begeht, Raub an Kühen, Hühnern, Schafen und Ziegen. Wie sollte er auch: Die genannten Tiere sind in seinen Augen keine „Personen“, denen allein etwas gestohlen werden kann, und in seinem Alltagsleben begreift er sich nicht als Tier.15 Bei den genannten Beispielen handelt es sich „nur“ um Raub, bei den folgenden jedoch um Mord: Huhn, Ente, Gans, Kotelett, Rippchen, Bauchfleisch, Nackenbraten, Beinscheibe, Markknochen, Gulasch, Steak – alles ist Fleisch von Zuchttieren, von Tieren, überwiegend unter untierischen Lebensbedingungen zu einem einzigen Zweck am (kurzen) Leben erhalten: um getötet zu werden, um Fleisch zu liefern.16 Um die zarte Seele des Verbrauchers nicht zu belästigen, liegen diese Fleischfabriken aus gutem Grund abseits von Ballungsräumen.

2c. Die Bewusstheit des Menschen

Der Mensch weiß nichts von sich selbst.

3. Conclusio

Q. E. D.

4. Das Übliche

Da diese Arbeit etwas länger geworden ist, danke ich, wie immer, meiner Sekretärin, und zum wiederholten Male aufrichtig.

 

Noch ein Kulle!

Fußnoten:

1 Dieser Tatbestand gibt mehr Anlass zur Hoffnung als zur Besorgnis.

2 Man beachte die nahe Verwandtschaft zum Wort „Zoo“. Für Menschen scheint der Begriff „Tier“ eng mit „Gefangenschaft“ und „Voyeurismus“ konnotiert zu sein.

3 Nota bene: Dies ist eine menschengemachte Interpretation. Unter „Person“ wird daher immer und ausschließlich ein Mensch verstanden. Wir weisen diese unzulässige Einschränkung auf das Schärfste zurück!

4 Der Autor bekennt sich zu dieser Gruppe.

5 Möglicherweise wurde den Raubameisen die Bezeichnung“ Raubtier“ verweigert, weil ihre Strategie das Tier Mensch zu stark an eigenes Verhalten erinnert?

6 So heißt es in „Meyers Taschenlexikon“: „Aus unabweisbaren morphologischen, anatomischen, serologischen, psychologischen, selbst soziologischen Gründen (sic!) muss (sic!) eine Verwandtschaft zwischen Mensch und Menschenaffen vertreten werden.“

7 Dazu muss ich mich nicht weitergehend äußern. Mein geschätzter Kollege Ludwig Feuerbach hat dazu bereits alles gesagt.

8 Dieser Menschengruppe werfe ich ihre Ignoranz nicht vor, da ihr Status in der Regel das Resultat direkter physischer oder sozialer Gewalt ihrer Artgenossen ist.

9 Unter Zwang arbeiten sie nachts, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, im Schichtdienst; freiwillig gehen sie zur gleichen Tageszeit z. B. in die Disco, damit andere, die dort Schichtdienst leisten, ihren Lebensunterhalt verdienen können.

10 Menschen würden statt „Unvernunft“ „Ehrgeiz“ sagen.

11 Wissenschaftlich ist sein Vorkommen noch ungesichert.

12 Man betrachte z. B. die Arbeiter auf industriellen Fischfangschiffen.

13 Damit kaschiert er natürlich nur sein ökologisches früheres Fehlverhalten, als er die natürlichen Feinde z. B. des Rotwildes ausrottete.

14 Die wenigsten menschlichen Bewohner der Welt sind „normale Bürger eines industrialisierten Landes“, aber alle möchten es sein, zumindest dann, wenn sie bereits von der Existenz industrialisierter Länder erfahren haben. Sie wissen jedoch nicht, dass die von ihnen angestrebte Lebensweise ein optionales Gut ist – aber das ist schon wieder Gegenstand einer anderen Untersuchung.

15 Soweit zum „guten“ Vegetarier.

16 Weiterführende Literatur: Jeremy Rifkin, Das Imperium der Rinder.

Kulles Bildung

Gebildeter Kulle
  1. Um einem Begriff gerecht zu werden, empfieht es sich immer, einen Blick auf seinen etymologischen Werdegang zu werfen.
  2. Bil(d)
  3. Aus dem Germanischen ist der Wortstamm bil- bekannt, für den allerdings eine sichere Erklärung fehlt. Ausgangsbedeutungen wie: Zeichen, Sinnbild, Vorzeichen, angemessen, gerecht, trennen, unterscheiden, beurteilen, deuten, spalten, hauen erscheinen als wahrscheinlich. Gleichgültig, ob es sich um Nomen, Adjektiv oder Verb handelt: Alle Begriffe signalisieren Signifikanz, sind gerichtet auf die klare Heraustrennung eines Gegenstandes oder Bereiches aus der Diffusität der Welt.
  4. Einen Zusammenhang des Begriffs ’Bildung’ mit ’Bilanz’ schließen wir, die Wortentwicklung betrachtend, weitgehend aus. Semantisch allerdings sind durchaus Koinzidenzen zu beobachten, bedeutet ’Bilanz’ doch: vergleichende Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben. Bildungsprozesse bzw. deren Ergebnis lassen sich durchaus in den Kategorien von Input und Output bewerten. Dagegen hat der ’Bilch’, vulgo bekannt als Haselmaus oder Siebenschläfer, definitiv nichts mit Bildung zu tun, sondern bestenfalls, und auch dass nur in den Kategorien des Aberglaubens, mit mehr oder minder verregneten Sommern.
  5. Das Verb ’bilden’ dagegen hilft uns sehr viel weiter. Seine heutigen Bedeutungen, nämlich formen, gestalten, hervorbringen, darstellen, sein, erziehen, die geistigen Anlagen entwickeln, hatte es zum Teil bereits im 9. Jahrhundert.
  6. Die altenglischen und altsächsischen Bedeutungen des Wortes, nämlich Gemach zum Weben, Frauengemach unter der Erde sind völlig verloren gegangen.
  7. Geblieben und verbreitet sind die Bedeutungen Mist, Dünger.
  8. Folgerung: Bildung bedeutet, einen Gegenstand betrachtend zu isolieren und auf einem Misthaufen abzuladen.
  9. QED.
  10. Frage für künftige wissenschaftliche Untersuchungen: Warum beschweren sich Bildungspolitiker über die Ergebnisse der Pisa-Studie?

PS: Ich danke natürlich wie immer meiner Sekretärin, obwohl dieser Text so kurz und konzise ist, dass ich ihn eigenhändig getippt habe.

Krieg

„Jetzt reicht’s aber wirklich!“ sagte Tumu empört nach dem Ende der „Tagesschau“. Nein, nicht ganz nach dem Ende: Weder die Sportnachrichten noch den Wetterbericht wartete sie ab. Das war seltsam: Zwar interessierte sie sich überhaupt nicht für die sogenannten fairen Wettbewerbe der Menschen, aber dem Wetter der nächsten Tage widmete sie üblicherweise ihre volle Aufmerksamkeit, schätzte die witterungsbedingt zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel ein und stellte dementsprechend ihren Speiseplan zusammen.Wolken
Bärdel schüttelte zwar sanft tadelnd den Kopf, blieb aber ruhig sitzen und wunderte sich auch nicht, als er in der Nacht auf seinem Lager alleine blieb. Er hatte es aufgegeben, sich über Frauen allgemein und Tumu speziell zu wundern – am besten war es, wenn man ihnen ihre Launen ließ und sich nicht darüber aufregte.
Als Tumu am Morgen wieder auftauchte, machte er aber doch große Augen. Ihre dagegen waren ganz klein. Sie sah aus wie eine Bärenfrau, die die ganze Nacht lang nicht geschlafen hat. Wortlos drückte sie Bärdel ein sorgfältig gefaltetes großes weißes Tuch in die Pranken.

„Krieg“ weiterlesen

Manfred geht zur Schule

„Aua!“

Bärdel wischte sich die Pfote an der Hinterbacke ab, ohne nachzudenken. Von der Biene, die ihn gestochen hatte, blieb nur ein Brei aus Chitin und undefinierbaren Flüssigkeiten übrig. Er sah sich um.

Im Apfelbaum hinter ihm summte ein Bienenschwarm von mindestens einem Meter Durchmesser, der sich zusehends verkleinerte. Sie ließen sich nieder, drängten sich eng an eng um ihre Königin, um sie zu beschützen. Ein neuer Schwarm, ein Schwarm ohne Stock. In dieser Phase waren die Bienen immer aggressiv. Bärdel verstand jetzt, warum ihn eine gestochen hatte.

„Manfred!“

Manfred, der die Imkerei des Bärenstammes übernommen hatte, reagierte nicht. Er hatte ein paar leere Bienenkörbe eingelagert, um auf Situationen wie diese vorbereitet zu sein. Er wäre jetzt nützlich gewesen. Aber statt seiner tauchte Tumu auf.

„Manfred ist nicht da,“ erklärte sie schlicht.

„Immer dasselbe,“ brummte Bärdel. „Wir hätten jetzt gut eine neue Bienenheimat für einen neuen Stamm und dafür einen mutigen Imker gebrauchen können. Aber Manfred ist ja nie da, wenn es nötig ist. Wo ist er denn?“

„In der Schule,“ sagte Tumu, als sei das das selbstverständlichste von der Welt.

Bärdel runzelte die Stirn. Plötzlich tat seine Hand von dem Insektenstich wieder weh. Aber die Ursache war nicht die Biene, das wußte er genau.

„In welcher Schule?“ wollte er wissen.

„Es gibt nur eine Schule, das weißt Du so gut wie ich.“

„Die Menschenschule? Und Du bist damit einverstanden?“

„Ja. Er hat es sich gewünscht. Kulle findet das übrigens auch gut.“

„Kulle?“

„Kulle. Er muß es schließlich wissen, er hat seine Erfahrungen gemacht.“ (vergleiche: „Die Lehre“))

„Und wenn er entdeckt wird?“

„Er wird nicht entdeckt, das weißt Du genau. Schließlich hat er es schon einmal geschafft, sich als Mensch auszugeben. (vergleiche: „Jobsuche)„) Und Du hat doch auch schon unter menschlicher Maske agiert, nicht wahr?“ (vergleiche: „Menschenliebe„)

„Na ja“, brummte Bärdel. „Schön und gut, aber wer bändigt jetzt die Bienen?“

„Ich natürlich!“ sagte Tumu. „Schließlich habe ich Manfred die Imkerei beigebracht.“

In der Tat hatte Manfred zunächst keinerlei Probleme. Er trabte nach Lehrte – den Weg kannte er schließlich gut – und fand in der kleinen Stadt schnell das Gymnasium. Im Sekretariat zog er ein gut gefälschtes Zeugnis über den erweiterten Sekundarabschluß I aus der Tasche – übrigens auch mit guten Noten versehen. Er wurde freundlichst begrüßt, vom Direktor, der gerade, wie die meisten Gymnasialdirektoren, nichts zu tun hatte, zum Kaffee eingeladen, er füllte ein Anmeldeformular aus, und schon war „Manfred Bär“ Schüler der Klasse 11 B.

Manfred war noch in der Dunkelheit in Bärenleben aufgebrochen, aber der Anmarsch und die Formalitäten hatten Zeit gekostet. Es war jetzt später Vormittag. Er stand wieder auf dem Gang vor dem Sekretariat, als ein mißtönender Gong erschallte. Er begann mit einem harmonischen absteigenden Dreiklang – ding – deng – dong -, endete aber auf einer unpassenden Septime. Manfred fragte einen jungen Mann, der ihm entgegenkam, was das zu bedeuten habe.

„Eh, Alter, biste doof, eh? Das war der Gong nach der beschissenen dritten Stunde. In fünf Minuten kannste das Gleiche noch mal hören – dann klingelt’s zur noch viel beschisseneren vierten Stunde. Die wird ich übrigens abhängen und n Köfte einpfeifen – kein Bock auf Physik!“

Manfred hatte Mühe, den nuschelnden Typen zu verstehen. Das mochte am Kaugummi liegen, den er unentwegt zwischen seinen Zähnen zu zermalmen versuchte. Er hatte aber auch das Gefühl, daß zahlreiche Laute im Schirm der Baseballkappe hängen blieben, die der Junge tief in die Stirn gezogen hatte. Vielleicht verschwanden sie aber auch in seinem Hosenboden, der, für Manfred unverständlich, irgendwo zwischen den Kniekehlen hing.

Er verzichtete auf irgendwelche Nachfragen und wollte nur noch wissen: „Kannste mir sagen, wo die 11 B ist?“

Was zeigt, daß Manfred schnell lernt.

„Zweiter, letzte Tür. Gehörste dazu? Viel Spaß – die haben jetzt Geschichte.“

Geschichte
Manfred ergänzte ‚Stock‘ in seinem Hinterkopf, fand die richtige Tür und traf zugleich mit der Geschichtslehrerin in der Klasse ein. Bescheiden blieb er an der Tür stehen. Lange, fand er. Es dauerte einige Minuten, bis die dreiundzwanzig oder vierundzwanzig jungen Leute in dem Raum geruhten, die Anwesenheit der Lehrerin zur Kenntnis zu nehmen. Die schien das ganz normal zu finden. Sie schickte ihren Blick immer wieder in den Raum und beugte sich zwischendurch kurz über ein großes Heft, in das sie etwas eintrug.

„Zehn fehlen!“ stellte sie schließlich fest. Dann endlich entdeckte sie Manfred. „Und wer sind Sie?“

„Manfred Bär. Ich gehör jetzt dazu, kannste glauben.“

Manfred war sehr stolz darauf, daß er den Slang, den man hier offenbar sprach, so schnell gelernt hatte. Aber er mußte etwas falsch gemacht haben, denn das Gesicht der Lehrerin verzog sich ärgerlich.

„Wenn Sie sich weiterhin dieses Jargons bedienen, werden Sie bestimmt nicht lange dazugehören, das können Sie mir glauben! Setzen Sie sich!“

Manfred suchte sich einen freien Platz neben einer jungen Frau, die sofort demonstrativ ein Stück zur Seite rückte. Von seinem Hintermann hörte er ein leises „Cool!“ Er hatte keine Ahnung, worauf sich dieser Kommentar bezog und was er bedeutete. Kühl war es in diesem Klassenraum nicht gerade.

Der Ärger der Lehrerin war anscheinend noch nicht verraucht, denn sie nahm sich Manfred gleich noch einmal vor.

„Wir beschäftigen uns in dieser Phase des Unterrichts mit der griechischen Antike. Manfred, was wissen Sie darüber?“

Ach du liebe Tussi! Wie würde das wirken, wenn er jetzt erzählte, was er wußte? Er wußte nämlich eine Menge.

„Könnten Sie Ihre Frage bitte präzisieren?“

Immerhin, er hatte begriffen, daß er mit der Lehrerin eine andere Sprache sprechen mußte als mit seinen Mitschülern.

Die Klasse prustete los, und die Lehrerin wandte sich von ihm ab und der Klasse zu. Ihr Gesicht war jetzt zornrot.

„Danke, das reicht! Kann uns vielleicht sonst jemand helfen?“

Die Heiterkeit verschwand. Plötzlich hatte jeder Schüler etwas zu tun: suchte etwas in seiner Tasche, putzte sich die Nase, schrieb „Griechische Antike“ oben auf ein Blatt Papier oder schaute einfach nur auf die Tischplatte vor sich. Das Signal war eindeutig: Im Augenblick bin ich viel zu beschäftigt, um angesprochen zu werden.

Allmählich verstand Manfred. Niemand wußte etwas von der griechischen Antike. Die Lehrerin schien das gewußt zu haben, denn sie hatte seine Bitte um Präzisierung offenbar als Provokation verstanden. Aber warum hatte sie ihre Frage gestellt, wenn sie gar nicht mit einer Antwort rechnete? Merkwürdig! Aber er war ein Bär, und Bären sind nicht nachtragend. Manfred tat die Frau leid, wie sie so verloren vor der Klasse stand, die sie zu ignorieren versuchte. Er war bereit, ihr zu helfen.

Zaghaft hob er den Arm.

„Ja, Manfred?“

Trotz des drohenden Untertones in ihrer Stimme, der ihm rätselhaft blieb, legte Manfred tapfer los.

„In der griechischen Antike sind aus heutiger Perspektive vor allem die Aspekte Politik, Philosophie und teilweise auch Mathematik und Physik von Interesse. In den Poleis – Singular Polis – , in den Stadtstaaten also, finden wir mit Modifikationen bereits alle auch heute denkbaren Regierungsformen: Erbmonarchien, Diktaturen und Ansätze von Demokratie. Die griechischen Philosophen legten den Grundstein für Überlegungen, auf die bis heute noch keine allgemein anerkannten Antworten gefunden worden sind. Vom Solipsismus bis zum Materialismus ist dort alles vertreten.“

Manfred unterbrach sich selbst. Es war völlig still im Raum geworden. Nur durch die dünne Wand hörte man aus dem Nebenraum die dröhnende Stimme eines Mannes, der eine mathematische Formel zu erklären versuchte. Sowohl die Lehrerin als auch seine Mitschüler sahen ihn mit weit aufgerissenen Augen und zum Teil offenen Mündern an.

„Soll ich das näher erläutern?“ fragte er unsicher.

„Nein, danke.“ Die Lehrerin fing sich wieder und schenkte ihm ein anerkennendes Nicken. Sie griff in ihre Tasche und förderte einen Stapel Fotokopien zutage. „Sie haben mir ein Stichwort gegeben: Philosophie. Ich habe Ihnen einige wichtige Aussagen griechischer Philosophen zusammengestellt.“

Sie begann ihre Blätter auszuteilen.

Manfred las. Ganz oben stand der Satz: ‚Der Mensch ist das Maß aller Dinge.‘ (Protagoras)

„Das hätte ich mir denken können“, schoß es ihm durch den Kopf.

Was er sich nicht gedacht hatte, war, daß er die nächste Pause, die eine Viertelstunde dauerte, allein verbrachte. Zumindest fast allein. Er schien Luft für seine Mitschüler zu sein. Nur einmal rempelte ihn ein Junge unsanft an und sagte dabei:

Ey Du Arsch, wennde glaubst, dassde hier die Preise verderben kannst, denn kriegste ziemlichen Ärger, das versprech ich Dir. Bei uns is easy going angesagt, capito?“

Nein, Manfred kapierte nicht. Wie sollte ein kleiner Bär auch verstehen, daß Menschenkinder in einem Gymnasium ihre Energie hauptsächlich darauf verschwendeten, möglichst wenig zu lernen?

In der fünften Stunde stand Politik auf dem Lehrplan. Pünktlich mit dem Gong saß Manfred auf seinem Platz. Er blieb lange allein. Erst eine Weile später bummelten seine Mitschüler in den Raum, und der Lehrer, ein kleiner rundlicher Mann, der wohl ungefähr fünfzig Jahre alt sein mochte, erschien gemessenen Schrittes als letzter. Er seufzte – wohl anstelle einer Begrüßung -, ließ sich umständlich auf den Stuhl hinter dem Lehrerpult sacken, schaute freundlich in die Runde und fragte: „Was gibt es neues?“

„Anna hat’n neuen Freund!“ sagte ein Junge in der letzten Reihe.

„Sei ruhig, Du Arsch, was geht’n Dich das an!“ Das blonde Mädchen, das das sagte, war rot geworden. Vermutlich, dachte Manfred, war sie Anna.

„Interessant, interessant. Natürlich geht Paul das konkret sehr wenig an, es sei denn, er war Ihr voriger Freund, Anna. Aber uns alle, Sie alle geht das Problem an, das hier angesprochen worden ist: Wie finden junge Menschen in ihrem Alter den richtigen Partner beziehungsweise die richtige Partnerin? Ich halte es für eine gute Idee, heute darüber zu sprechen.“ Das war der Lehrer.

Die Klasse war nicht abgeneigt; es entwickelte sich sogar ein Gespräch, in dem vor allem die Jungen sich darin hervortaten, möglichst viel Gossenjargon zu produzieren. Manfred schwieg, denn er konnte als Bär zu diesem Problem wenig sagen, und lernte viel. Auch der Lehrer sagte kaum etwas, aber er war durchaus bei der Sache. Manfred erkannte das an seinen Augen, die dann zu glänzen begannen, wenn ein Schüler besonders konkret von seinen Erfahrungen berichtete. Das war ein guter Lehrer, fand er – anders als seine Kollegin in der Stunde zuvor verstand er es, seine Schüler zu motivieren.

Die Zeit bis zum Gong verging wie im Flug. Nachdem der Lehrer etwas in das große Heft auf dem Pult geschrieben hatte, verließ er das Zimmer. Erst jetzt merkte Manfred, daß er noch nicht einmal eine Tasche bei sich trug. Er ging zum Lehrertisch und betrachtete die neuesten Eintragungen. Erst jetzt erinnerte er sich, daß sie soeben Politik gehabt hatten. Hätten haben sollen. Neben die Fächerbezeichnung hatte der Lehrer geschrieben: Einführung des Euro. Aha.

Manfred fühlte sich ein wenig taumelig. Nicht nur die Schüler wollten nicht lernen, auch die Lehrer wollten also nicht lehren. Das hatte er sich alles ganz anders vorgestellt. Sollte er gleich wieder nach Bärenleben laufen oder noch die letzte, die sechste Stunde mitmachen? Morgen würde er bestimmt nicht mehr wiederkommen, soviel stand fest. Er beschloß zu bleiben, nachdem er einen Blick auf den Stundenplan geworfen hatte. ‚Biologie‘ stand dort. Das ging ihn als Bären einiges an.

Die alte weißhaarige Dame machte tatsächlich Biologieunterricht. Sie schaffte es sogar, einige Schüler mit ihrer Begeisterung anzustecken. Die Klasse mikroskopierte Pflanzenzellen, und die Schüler versuchten, das, was sie sahen, in einer Zeichnung festzuhalten. Die Lehrerin korrigierte die Ergebnisse freundlich, nannte die Namen der einzelnen Zellbestandteile – was die Klasse zum Stöhnen brachte – und erklärte dann, wie ein solches winziges Kraftwerk funktionierte. Sie sprach von Bewunderung für dieses Ergebnis der Evolution, das alle menschliche Technik weit in den Schatten stellte, ja sogar von Ehrfurcht.

Eine Biene hatte sich in den Fachraum verirrt. Sie schien das weiße Haar der Lehrerin mit einer Blüte zu verwechseln und steuerte darauf zu. Die Biologin gestattete ihr nur zwei Versuche, dann traf sie das Insekt gezielt mit dem dicken Lehrbuch, das sie in der Hand hielt. Zufrieden betrachtete sie ihr Zerstörungswerk und machte schon wieder den Mund auf, um weiter von der Faszination des Lebens zu schwärmen. In diesem Moment erklang der mißtönende Gong.

Zusammen mit den anderen verließ Manfred fluchtartig den Raum und machte sich auf den Weg nach Bärenleben. Unterwegs versuchte er, seine Eindrücke zu sortieren, aber alles wirbelte kunterbunt in seinem Kopf herum. Zu Hause schüttelte er als Reaktion auf Bärdels, Kulles und Tumus Fragen nach seinen Erlebnissen nur den Kopf und machte sich daran, einen unbehausten Bienenschwarm einzufangen – den zweiten des Tages. Allmählich wurde er dabei ruhiger, aber es dauerte noch Tage, bis er in der Lage war, der abendlichen Bärenversammlung alles zu erzählen. Nur mit Kulles Unterstützung glaubten ihm die anderen, daß er die Wahrheit sagte. Hätte Kulle nicht immer wieder versichert, daß er ähnliches erlebt hatte, die Dorfgemeinschaft hätte Manfreds Erzählung als Bärenmärchen abgetan.

 

Manfred

IWF

IWF
Bärdel
Wohlig drehte Bärdel sich von der rechten auf die linke Seite. Er hatte ein paar Stunden im Schatten eines Apfelbaumes geschlafen und beschloß nun, allmählich aufzuwachen. Sehr allmählich. Sein Magen sagte ihm, daß es später Nachmittag war. Höchste Zeit also, sich an ein ausgiebiges Abendmahl zu machen. Mit geschlossenen Augen malte er sich das Menu aus, auf das er Appetit hatte: Zuerst einen Apfel. Dann…

Fruits

Kulle störte ihn in seinen genießerischen Überlegungen. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte er durch die Gegend, ohne auf Weg und Steg zu achten. Er war vollauf damit beschäftigt, mal die eine, mal die andere Pranke zu heben, an das rechte oder linke Band seiner Fliege zu greifen und sich an den Kopf zu schlagen. Bei dieser merkwürdigen Beschäftigung stolperte er über Bärdel und fiel hin.
„Aua!“ sagte Bärdel. Kulle war auf seine Nieren gepurzelt.
„Was soll denn das?“
Bärdel setzte sich auf, und auch Kulle kam wieder auf die Füße.
„Entschuldige bitte. Ich war in Gedanken.“ Geistesabwesend zupfte Kulle schon wieder an seiner Fliege herum.
Bärdel schmunzelte. Eigentlich war die Sache mit Kulle ganz einfach: Wenn er eine Idee hatte, war er nicht davon abzubringen, und er verriet sie auch nicht, bis er meinte, daß er sie fertig entwickelt hatte. Wollte man vorher etwas aus ihm herausbringen, mußte man ihn ablenken, zumindest für eine Weile.
Bärdel klaubte zwei rotbackige Falläpfel auf, bot Kulle einen an und fragte dann:
„Lecker, nicht?“
Kulle biß in seinen Apfel, kaute und ließ von seiner Fliege ab. Bärdel wußte, daß er gewonnen hatte.
„Was brütest du denn aus?“ wollte er wissen.
Kulle schluckte süßen Apfelsaft hinunter, schlug in gut gespielter Bescheidenheit die Augen nieder und sagte:
„Ich habe ein neues Gesellschaftsspiel entwickelt.“
„Oh Gott!“ entfuhr es Bärdel. Er erinnerte sich gut an ‚Markt und Sozialstaat‚. Dieses sogenannte Spiel hatte Bärenleben beinahe zerstört. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als eine Neuauflage.
„Das verbiete ich!“ sagte er energisch. „Vergiß es. Erfinde stattdessen die ganz allgemeine Relativitätstheorie oder sonstwas – aber ich will kein neues gefährliches Gesellschaftsspiel in Bärenleben.“
„Es wird nicht gefährlich werden,“ antwortete Kulle. „Jedenfalls hoffe ich das. Diesmal sind nicht wir die Spieler. Ich habe ein Brettspiel gebastelt, mit ganz normalen Holzkegeln und vielen Ereigniskarten.“
„Und worum geht es dabei?“ erkundigte sich Bärdel.
„Um den IWF.“
„Was ist denn das für eine bescheuerte Idee?“ Manchmal war auch Bärdel nicht charmant.
„Das ist gar keine bescheuerte Idee. Wer hat denn darauf bestanden, daß wir die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ abonnieren? Du! Seit alle Bären dieses Blättchen lesen, werde ich täglich mit Fragen bombardiert, die sich auf die Wirtschaft beziehen. Und seit der sogenannten Asienkrise habe ich überhaupt keine Ruhe mehr. Alle wollen von mir wissen, was da passiert ist und was der Internationale Währungsfonds dabei für eine Rolle spielt.“
Auch Kulle klang jetzt recht ungehalten.
„Und warum erklärst du es ihnen nicht?“
„Das habe ich ja versucht. Immer und immer wieder. Aber sie kapieren es nicht. Deshalb habe ich mir gedacht, wir spielen das Ganze einfach.“
Bärdel biß ein zweites Mal in seinen Apfel.
„Gut“, sagte er nachdenklich. „Wahrscheinlich ist das eine gute Idee. Wenn ich’s mir genau überlege, kann ich diese wirtschaftlichen Zusammenhänge auch nicht erklären. Und was man nicht erklären kann, hat man nicht verstanden. Spielen wir also dein Spiel. Aber erst nach dem Abendessen. Was hältst du von ein paar Kartoffeln als Hauptgang und einer kleinen Honigwabe zum Schluß?“
Kulle hielt viel davon.

Nach Einbruch der Dunkelheit versammelte sich ganz Bärenleben in der großen Höhle. Aber dunkel war es dort nicht – schon seit einiger Zeit hatte Manfred

Tumu und Manfred
sich erlaubt, eine Fernleitung der Preußag anzuzapfen. Die Bären betrachteten diese ‚Spende‘, wie sie das nannten, als gerechten Ausgleich dafür, daß die Energieerzeugungsunternehmen das Stromeinspeisungsgesetz zu torpedieren versuchten. Selbstverständlich achteten sie darauf, daß ihr Verbrauch nur gering war – sie benutzten ausschließlich Energiesparlampen.

Kulle war ziemlich aufgeregt. Er war zwar daran gewöhnt, vor großem Publikum zu sprechen, aber er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, das Spiel, das er sich ausgedacht hatte, wirklich zu erproben. Dennoch gab er sich gelassen.
„Bären,“ sagte er, „willkommen zum schönsten Teil des Tages. Laßt uns etwas spielen.8 Kugel Billard Ich habe ein Spiel gebastelt, dem Leben nachempfunden, aber ich weiß nicht, ob es klappen wird. Aber auch im Leben gelingt längst nicht immer alles, wie wir wissen. Habt ihr Lust?“
Ein Brummen, so tief, daß es eher im Zwerchfell als in den Ohren klang, erfüllte den Raum. Oh ja sie hatten Lust.
„Gut,“ sagte Kulle. „Ein kleines Problem gibt es noch. Nicht alle von euch werden bei diesem Spiel gewinnen können. Deshalb werden wir die Spieler auslosen. Seid ihr einverstanden?“
Die Bären bekundeten Zustimmung, und Kulle holte daraufhin etliche klein gefaltete Zettelchen aus einer Nische und ließ jeden Bären einen auswählen. Dabei ermahnte er sie, keinem anderen zu verraten, welche Rolle er übernommen habe. Das werde sich erst im Spiel zeigen.
Als Kulle sah, daß jeder versorgt war, zog er drei Spielbretter aus seiner Geheimnische.
„Das Spiel ist ein bißchen kompliziert“, sagte er, während er die drei Papptafeln in drei Ecken der Höhle verteilte. Dabei justierte er jedes Spielbrett sorgfältig, bis es hörbar einrastete.
„Aber für alle gelten die gleichen Regeln: Würfeln und vorwärts ziehen. Wer auf ein Ereignisfeld gerät, muß eine Ereigniskarte nehmen und sich an deren Anweisungen halten. Jeder von euch hat auf dem Zettel, den er gezogen hat, zwei Informationen. Der erste Begriff sagt ihm, wer er ist und was er will oder tut, und der zweite, zu welcher Gruppe er gehört. Die Gruppenbegriffe sind ‚klein‘, ‚groß‘ und ‚Multi‘. Die ‚klein‘-Gruppe geht bitte an dieses Spielfeld, die ‚groß‘-Gruppe an das da hinten und die ‚Multi‘-Gruppe an das dritte.“
Dabei deutete er in die entsprechenden Richtungen. Es entstand eine kurze Unruhe, danach hockten die Bären in drei Gruppen zusammen.
„Jetzt könnt ihr anfangen“, sagte Kulle. “ Ihr könnt auswürfeln, wer den Anfang macht, oder es bleiben lassen. Ich glaube, es spielt keine Rolle, wer beginnt.“
„Alle drei Gruppen spielen gleichzeitig?“ fragte ein alter Bär, der in seinem Leben nie etwas anderes als ‚Bär-ärgere-dich-nicht‘ gespielt hatte.
„Natürlich. Alle drei Gruppen spielen gleichzeitig. Das ist ja das Spannende an der Sache.“
Der alte Bär war in der ‚Multi‘-Gruppe gelandet. Ohne die anderen zu fragen, griff er sich den Würfel und ließ ihn rollen. Er zeigte eine Drei. Er zog daraufhin seine Spielfigur gehorsam auf ein Ereignisfeld und nahm die oberste Karte. Er las und grinste.
„Du mußt laut vorlesen, was auf deiner Karte steht“, sagte Kulle.
„Wir alle wollen jederzeit wissen, was der andere macht, und warum er es macht. In der Wirklichkeit ist das weniger transparent, aber wir wollen die Wirklichkeit ja transparent machen.“
„Ich bin Eigentümer der Nippon United Bank und gewähre der Suharto Sons Kautschukproduktion AG sechs Milliarden $ Kredit“, las der alte Bär gehorsam vor, wobei seine Lesegeschwindigkeit und sein Tonfall deutlich verrieten, daß er überhaupt nichts verstand.
Nicht nur er begriff nichts, auch alle anderen – außer Kulle natürlich – waren deutlich überfordert. Das Würfeln dieser einen Drei, das Ziehen dieser bestimmten Karte schien Auswirkungen auf das gesamte Spiel zu haben. Ohne irgendwelches bärische Zutun drehten sich die Spielfelder, veränderten zum Teil ihre Farbe, und die Karten auf den Ereignisstapeln mischten sich neu.
Ein Murmeln erhob sich.
„Was ist hier los?“ fragte Tumu. Als ordentliche Bärin hielt sie natürlich viel von Frauenzauber, aber dieses merkwürdige Schauspiel jagte ihr Angst ein.
„Keine Angst, Mama!“ Das war Manfred.
„Ich habe nur Kulles neues Spiel ein bißchen verbessert. Er will bestimmte Mechanismen zeigen, die multikausal sind. Also habe ich der Technik Dialektik beigebracht. Veränderte Parameter erzeugen veränderte Reaktionsmuster.“
„Gut, du hast also ein Programm geschrieben“, sagte Tumu. „Und soweit ich informiert bin, haben Menschen ein so adaptives Programm noch nicht zustande gebracht. Glückwunsch, mein Sohn. Aber warum sollen wir noch spielen, wenn sich alles selbst generiert?“
„Das Programm hat keinen Zufallsgenerator, Mama.Es paßt sich lediglich den neuen Gegebenheiten an. Wir Bären bestimmen, welcher Zug als nächster folgt. Deshalb ist es immer noch ein Spiel, auch wenn wir seine Regeln nicht festlegen können.“
„Ich hasse das“, murmelte Tumu vor sich hin. „Bildet der Kleine sich etwa ein, die Antinomie von Voluntarismus und Determinismus mit Hilfe intelligenter Software zu lösen?“ Aber sie entschloß sich, jetzt und hier auf eine grundsätzliche Diskussion zu verzichten. „Ich hab’s verstanden!“ sagte sie laut. „Das klingt spannend. Spielen wir weiter.“
„Wer spielt als Nächster?“ wollte das Schwein wissen, das als erster und einziger politischer Asylant in Bärenleben natürlich Ehrengast der Runde war.
„Wer will“, sagte Kulle. „Es können auch mehrere gleichzeitig ziehen. Ihr müßt euch nur darauf gefaßt machen, daß das Spiel lebendig wird: Vielleicht ist der eine oder andere Zug nicht möglich, weil gerade jemand anders gewürfelt hat.“
„Ich begreife das noch nicht“, beklagte sich eine junge Bärin. „Laßt uns bitte langsam spielen, nicht gleichzeitig, und jeder erklärt so viel wie möglich von dem, was das Spiel mit ihm macht. Schließlich hat Kulle doch gesagt, daß es bei diesem Spiel darum geht, etwas zu verstehen, und nicht darum, zu gewinnen, oder?“
Brummende Zustimmung.
„Alle scheinen einverstanden zu sein“, stellte Tumu fest. „Dann mach du doch weiter!“
Dadurch ermutigt, würfelte die junge Frau. Sie gehörte zur Gruppe der ‚Großen‘. Ihre fünf Augen führten sie auf ein Ereignisfeld.
„Die Suharto Sons AG baut eine neue Kautschukplantage und rodet dafür 1000 Hektar Regenwald. Auf den neuen Besitz nimmt sie eine Hypothek auf und finanziert davon den Bau einer Fabrik für Fahrrad- und Autoreifen.“
„Gerecht soll es zugehen!“ forderte ein Bär aus der Gruppe der ‚Kleinen‘. „Jetzt sind wir dran!“
Er würfelte und erwischte ebenfalls ein Ereignisfeld.
„Ich bin Muhamad Argoto, Bauer auf Sumatra. Ich habe fünf Söhne – vier zuviel. Mehr als eine Familie kann von meinem Land nicht leben. Der Familienrat hat beschlossen, daß meine vier jüngeren Söhne mit ihren Frauen und Kindern nach Jakarta ziehen werden. Sie werden dort eine Arbeit finden – es gibt jetzt viele neue Fabriken. Sie werden gut leben können, anders als hier.“
Der Bär wollte seine Ereigniskarte an der dafür vorgesehenen Stelle ablegen, zuckte aber erschreckt zurück. Das Spiel machte sich selbständig. Hunderte, vielleicht sogar tausende Kärtchen wieselten auf die Markierung zu, die seiner Karte zukam, und stapelten sich dort brav zu einem sauberen Häufchen.
„Was ist denn jetzt los?“ fragte er und zerknautschte seine eigene Karte vor Aufregung in seiner Pranke.
„Du bist eben nicht allein auf der Welt“, schmunzelte Kulle. „Gerade du nicht. Probier es doch einmal aus! Zieh ein paar Karten aus dem Stapel und lies sie uns vor!“
Das Ziehen klappte zwar nicht, weil der Bär warf den hohen Stapel ungeschickt umwarf, aber um so besser konnte er in dem Kartenhaufen wühlen.
„Ich habe sechs Söhne … meine Frau ist gestorben … man hat mir mein Land mit Gewalt genommen …“
Der Bär verstummte, aber er las noch eine Weile still weiter.
„Du hast recht“, sagte er dann. „Es ist irgendwie immer dasselbe. Alle können auf dem Land nicht mehr leben und ziehen in die Stadt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wußte nicht, daß es so viele sind.“
„In der Wirklichkeit sind es viel mehr. Wir spielen hier nämlich nur.“
Kulle hatte sich die Bemerkung nicht verkneifen können, aber er merkte – hier lief etwas schief. Eine Tragödie schon nach drei Spielzügen, das war zu früh. Natürlich sollten die Bären etwas begreifen, aber erst am Ende, nicht schon am Anfang eines geselligen Abends.
Also griff er selber zu den Würfeln, natürlich am Spielfeld der ‚Multis‘ – etwas anderes zu sein als ein Global Player war unter seiner Würde, fand er.
Laut las er seine Ereigniskarte vor: „Ich bin ein Vertreter der Santander Investment Group. Die Suharto Daughters Ltd. erhält fünf Milliarden $ Kredit für den Aufbau einer nationalen Autoproduktion. Es handelt sich bei dieser Summe um die erste Tranche.“
Ebensowenig wie der alte Bär vor ihm konnte Kulle seine Karte ungehindert zurücklegen. Auch ihm flogen Karten zu, allerdings deutlich weniger. Er las sie auszugsweise vor: „Kredit für Suharto Nephews … für Suharto Aunts … für Suharto Oncles …“ Und immer handelte es sich um stolze Summen.
Jetzt wurde am Brett der ‚Kleinen‘ gespielt.
„Meine Eltern sind Bauern, ich habe noch sieben Schwestern. Ich werde in die Stadt ziehen und mir dort Arbeit suchen. Ich werde ganz bestimmt einen Job finden: Im Haushalt oder in einer Fabrik. Vielleicht werde ich mich auch selbst verkaufen, ich bin nämlich hübsch. Von dem Geld, das ich verdiene, werde ich so viel wie möglich meiner Familie schicken, damit sie besser leben kann als bisher.“
Auch hier sagten die Karten, daß die Spielerin mit ihrer Absicht keineswegs alleine war.
„Ich bin Zahnarzt in Dehland. Ich gebe zu, daß ich nicht schlecht verdiene. Natürlich nur in unserem kleinen Kreise. In der Öffentlichkeit würde ich das selbstverständlich nie sagen. Also: Ich verdiene gut, und deshalb habe ich das Problem, wie ich mein Vermögen möglichst gewinnbringend anlegen kann. Meine Bank hat mir zu einem gemischten südostasiatischen Aktienpaket geraten, mit Schwerpunkt Indonesien. Bevor ich gekauft habe, habe ich mich natürlich informiert – schließlich bin ich kein Glücksspieler! Die dortigen Unternehmen gelten international als völlig kreditwürdig, es gibt einen riesigen nationalen und internationalen Markt, und billige Arbeitskräfte garantieren hohe Gewinnspannen. Da gibt es nichts zu zögern – ich kaufe!“
Das kam von Grizzy, der am Mitteltisch gelandet war.
„Moment mal!“
Eine alte Bärin stand auf und brummte ärgerlich.
„Darfst du hier überhaupt mitspielen? Ich meine, natürlich darfst du mitspielen. Aber du hast doch eine falsche Rolle! Was hat auf einmal ein Zahnarzt aus Dehland hier zu suchen?“
Grizzy hatte Mühe mit der Antwort, weil er zunächst einmal vollauf damit beschäftigt war, die Karten zu ordnen, die ihm in großer Zahl zuflogen. Nachdem er einen ansehnlichen Stapel aufgetürmt hatte, sagte er:
„Ich verstehe zwar auch noch nicht genau, was das soll, aber dieser Kartenhaufen scheint mir recht zu geben. Wenn so viele Menschen etwas ähnliches machen wie ich, muß ich hier am richtigen Ort sein. Paß auf, ich lese dir mal einige Karten vor.
Hier: Besitzer einer Autowerkstatt, Ohio, USA. Hat für seine Altersvorsorge ostasiatische Aktien gekauft. Der nächste: Manager in Japan. Hat sein Vermögen umorganisiert und einen Teil seiner japanischen Aktien in indonesische umgewandelt. Spanien – leitender Angestellter einer Ölgesellschaft. Kauft indonesische Aktien, weil er sich lukrative Gewinne verspricht. Reicht das?“
Die Alte nickte langsam.
„Das reicht“, sagte sie. „Aber…“
Sie verstummte und dachte ziemlich lange nach, während die anderen geduldig warteten. Bären haben Respekt vor dem Alter und lassen den Alten die Zeit, die sie brauchen.
„Aber das heißt ja, daß dieses Spiel auf der ganzen Welt spielt?“ fragte sie schließlich unsicher.
Bedächtig nickten viele Bärenköpfe und ein Schweinekopf. Ja, das hieß es anscheinend.
Kulle kicherte lautlos in sich hinein und strich sich über die Fliege. Das erste Lernziel war erreicht.
So leicht war die Bärin aber nicht zufriedenzustellen.
„Das verstehe ich nicht“, murrte sie. „Wie können sich die Menschen überall auf der Welt so schnell miteinander verständigen?“
Manfred öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, kam Bärdel ihm zuvor. Er wußte, daß sein Sohn jetzt liebend gerne einen Vortrag über moderne Kommunikationstechnik abgespult hätte, den kaum jemand verstehen und der das Spiel stören würde.
„Es funktioniert einfach“, sagte er freundlich. „Wenn es dich interessiert, kann ich dir das bei Gelegenheit genauer erklären. Aber nicht jetzt. Laßt uns weiterspielen!“
Um Widerworten vorzubeugen, nahm er selbst den Würfel und ließ ihn rollen. Eine Sechs. Er setzte. Zum ersten Mal geriet ein Spieler nicht auf ein Ereignisfeld. Bärdel zuckte die Schultern und gab den Würfel weiter.
Dem nächsten Bären ging es genauso. Auch dem dritten. Keiner der nächsten zwanzig Spieler kam auf ein Ereignisfeld.
Unfreundliches Brummen erhob sich hier und da:
„Das Spiel wird langweilig!“
„Wieso passiert denn nichts?“
„Ich weiß gar nicht, was ihr wollt“, bemerkte Kulle betont unschuldig. „Es passiert eine Menge. Dreht euch doch mal um!“
Er zeigte zu einer Höhlenwand, und die Spieler folgten seiner Aufforderung. An der Wand hing plötzlich eine elektronische Anzeigetafel, auf der sich in schwindelerregender Geschwindigkeit Zahlen bewegten.
„Davon kriege ich Kopfschmerzen“, grumpfte der alte Bär, der das Spiel begonnen hatte, ungehalten. „Was ist das überhaupt?“
„Solche Tafeln hängen überall in der Welt an Plätzen, an denen Aktien gekauft und verkauft werden. Sie zeigen die Preise der Aktien und deren Entwicklung. Diese Preise nennen die Menschen Kurse. Sehen wir uns doch mal die Kurse von Suharto Daughters Ltd. an. Der Name der Firma steht ganz links. Daneben seht ihr den Preis, den der Käufer für eine Aktie bezahlt hat. Das ist in unserem Spiel jetzt einige Züge her. Und ganz rechts steht, was man heute für dieselbe Aktie bezahlen müßte, wenn man sie kaufen wollte.“
Aufmerksam folgten die Augen der Versammelten den Anweisungen. Tumu entdeckte den Trick als erste.
„Das kann doch nicht sein! Der Kurs der Aktie dieser Firma hat sich verzehnfacht!“
„Das kann schon sein, und das passiert auch“, erklärte Kulle. „Wenn viele Menschen eine begrenzte Menge von Aktien kaufen wollen, steigt deren Preis. Das funktioniert nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Der Wert der Firma spielt dabei aber merkwürdigerweise nur eine geringe Rolle. Erhöht sich der Wert der Firma – also ihr Kapital, ihr Gewinn – entsprechend, ist alles in Ordnung. Wenn nicht, spricht man von einer spekulativen Seifenblase. Mit Devisen funktioniert das übrigens genauso. Die Kursentwicklung der indonesischen Rupiah ist in der untersten Spalte dargestellt.“
„Moment mal!“ Jetzt mischte Tumu sich ein.
„Du willst uns doch nicht erzählen, daß die Menschen so blöd sind, einen hohen Preis für etwas zu bezahlen, dessen Wert sie nicht kennen?“
„Doch, genau das versuche ich euch zu erzählen. Menschen wie der Zahnarzt aus Dehland, der Kfz-Meister aus Ohio oder der Manager in Japan wissen mit großer Wahrscheinlichkeit nichts von Suharto Daughters Ltd. Sie hoffen nur, daß sie die Aktien dieser Firma irgendwann – in zwei Monaten oder in zwanzig Jahren – mit Gewinn verkaufen können.“
„Und wie lange geht so etwas gut?“ wollte das Schwein wissen.
„Sehen wir nach!“ schlug Kulle vor. „Spielen wir weiter!“
Manfred brachte den Würfel wieder zum Rollen und erwischte, wie er es sich gewünscht hatte, ein Ereignisfeld. Weil er wußte, wer in diesem Spiel und im Leben der Menschen wirklich die Karten mischte, hatte er sich in die Multi-Gruppe gemogelt.
„Ich bin der Vertreter eines amerikanischen Bankenkonsortiums. Der Name spielt keine Rolle – wir möchten anonym bleiben. Aus zuverlässiger Quelle haben wir erfahren, daß die Suharto-Firmen in Indonesien unseriöse Geschäfte betreiben. Kurzfristig vergebene Kredite wurden langfristig angelegt, und zwar in Geschäftsfeldern, deren Profitabilität äußerst fragwürdig ist. Wir können allen Investoren nur raten, ihre Gelder zurückzuziehen.“
Die Reaktion des Spiels verblüffte den alten Bären – alias Nippon United Bank – und beinahe auch Kulle als Repräsentanten der Santander Investment Group. Ihre Ereigniskarten, die sie beide festhielten, flutschten ihnen aus den Pfoten und flogen Manfred zu. Dazu erhielt er Grizzys Karten und noch etliche andere, die bisher ruhig in den Stapeln auf den Spielfeldern geruht hatten.
Ärgerlich brummte der alte Bär: „He, was soll das? Das ist meine Karte, die will ich behalten!“
Er stand auf und näherte sich Manfred bedrohlich.
„Gib sofort meine Karte wieder her! Die habe ich ehrlich erspielt!“
Prügel lag in der Luft.
Also doch, dachte Bärdel resigniert. Kulles Spiele sind einfach zu gefährlich.
Aber Kulle rettete die Situation.
„Du kannst deine Karte selbstverständlich gerne wiederhaben“, erklärte er freundlich. „Aber bevor du das tust, solltest du erstmal auf die Anzeigentafel schauen!“
Der Alte verstand zwar nichts, war aber immerhin für den Augenblick abgelenkt. Nicht nur er gehorchte Kulles Rat, auch alle anderen richteten ihre Augen auf das Display.
Kulle half ihnen: „Die rechte Spalte!“
In der rechten Spalte war der Teufel los. Die Flüssigkristallanzeige veränderte sich so schnell, daß es kaum möglich war, ihr zu folgen. Eines aber war doch zu erkennen: Die aktuellen Kurse waren in freiem Fall.
„Na und?“ fragte der alte Bär. „Was hat das mit meiner Karte zu tun?“
„Deine Karte sagt, daß du Geld verleihst. Dieses Display zeigt, daß deine Schuldner immer weniger Geld haben. Wenn du dein Geld zurückhaben willst, mußt du deine Karte abgeben, also deinen Kredit zurückziehen. Deshalb ist dir die Karte weggeflogen. Das Spiel hat das für dich gemacht.“
Manchmal konnte Kulle sogar geduldig sein. Aber den Alten hatte er trotzdem nicht überzeugt.
„Was schert mich Geld!“ grollte er. „Menschenkram! Ich will meine Karte!“
Tumu sah, daß Kulle tief Luft holte, und griff ein. Sie hockte sich neben den Alten und kraulte ihm beruhigend den Nacken.
„Du hast ja recht“, brummte sie. „Aber wir spielen hier ein Menschenspiel. Wir wollen die Menschen verstehen. Mach einfach mit!“
Der Alte beruhigte sich, und Kulle ließ die Luft aus seinen Lungen. Es konnte weitergehen.
Es ging anders weiter, als die Bären gedacht hatten. Zu ihrer Überraschung machte sich jetzt der Würfel selbständig und flog der jungen Bärin in die Hand. Gleichzeitig segelte eine Ereigniskarte auf sie zu.
Die junge Frau fischte die Karte aus der Luft und las sie vor. Die Botschaft war kurz.
„Die Suharto Sons AG meldet Konkurs an.“
Würfel und Karten wanderten selbständig weiter.
„Hier ist wieder Muhamad Argoto. Meine vier Söhne sind aus Jakarta zurückgekommen – sie haben ihre Arbeitsplätze verloren. Ihre Fabrik ist geschlossen. Sie haben ihre Familien mitgebracht. Ich weiß nicht, wovon wir alle in Zukunft leben sollen.“
Der Bär, der durch Zufall in die Rolle eines indonesischen Kleinbauern geraten war, hielt sich schützend die Pranken vor die Augen. So viele Karten schossen auf ihn zu, daß er sich regelrecht bedroht fühlte.
Seiner Nachbarin erging es nicht besser, Würfel und Karte drängten sich ihr auf.
„Ich bin entlassen worden. Zuerst ging alles nach Wunsch: Ich habe eine Zeitlang auf der Straße angeschafft, dann einen Job als Kindermädchen gefunden, und zuletzt habe ich in einem sweat-shop als Näherin gearbeitet. Das Übliche: zwölf Stunden Arbeit am Tag , Akkord, und niedriger Lohn. Meiner Familie konnte ich trotzdem ein bißchen Geld schicken. Sogar gespart habe ich für mich. Aber jetzt ist es aussichtslos, weiter in der Stadt zu leben: Arbeit werde ich nicht mehr finden, und die Preise für Lebensmittel sind stark gestiegen. Ich werde wieder nach Hause gehen, aber wie wir da überleben sollen, weiß ich einfach nicht.“
Die Karten flogen und schienen sie unter sich zu begraben.
„Das ist ja fürchterlich!“ murmelte ein spontaner Bärinnenchor. Alle Frauengesichter wandten sich Kulle zu.
„Und jetzt?“ fragten sie, immer noch unisono.
„Jetzt“, erklärte Kulle feierlich, „kommt der Deus ex machina.“

Die Energiesparlampen flackerten und erloschen danach. In der nun völlig dunklen Höhle rumpelte es. Der Boden erzitterte ein wenig. Die Bären atmeten hastig und schnauften unruhig. Aber sie bewahrten Disziplin. Jetzt hörten sie das Geräusch von Metall auf Metall, begleitet von einem leichten Quietschen. Schließlich rastete irgend etwas ein. Etwa einen Meter über dem Boden leuchtete ein durchsichtiger Quader auf, in dem sich aus dem Nichts ein Kopf materialisierte.

Die Bären reagierten mit irritiertem Brummen und Grunzen, das Schwein mit einem erschreckten Quieken. Das zornigste Geräusch stammte eindeutig von dem alten Bären. Er hielt den unbekannten Kopf für einen Eindringling, der vertrieben werden mußte. Zum Glück saß Tumu noch neben ihm, und es gelang ihr zum zweiten Mal, ihn zu beruhigen.
Als der Kopf den Mund öffnete und zu sprechen begann, breitete sich atemlose Stille aus.
„Guten Abend, meine Damen und Herren Bären“, sagte er. „Oh, ich sehe, ich habe jemanden vergessen. Das ist ja noch ein Schwein. Sind Sie Herr Schwein oder Frau Schwein? Ich will nicht indiskret sein, aber ich würde auch Sie gerne korrekt begrüßen.“

Das Schwein
„Ich weiß gerade nicht, ob ich Männlein oder Weiblein bin“, nuschelte das Schwein irritiert.
„Dann also Herr Schwein“, beschloß der Kopf. „Wenn Sie eine Frau sein sollten, dann wissen Sie ja aus Erfahrung, daß sich bei der männlichen Anrede die Frauen immer mitgemeint fühlen dürfen. Also guten Abend, Herr Schwein.“
Das Schwein war so perplex, daß es tatsächlich „Guten Abend“ sagte, anstatt dem Kopf eine ordentliche Ohrfeige zu verabreichen.
„Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle“, fuhr der Kopf fort. „Mein Name ist Camdessus. Michel Camdessus. Ich bin der Direktor des IMF. Oh Verzeihung, in Dehland sagt man wohl IWF.“
„Des was?“ Das war Tumu.
Kulle öffnete den Mund uns wollte zu einem seiner zwar amüsanten und belehrenden, aber in der Regel endlosen Vorträge ansetzen, jedoch zupfte Grizzy rechtzeitig an seiner Fliege. Kulle schloß die Lippen wieder und ärgerte sich über sich selbst. Schließlich hatte er höchstpersönlich dafür gesorgt, daß die Menschen in diesem Spiel sich weitgehend selbst erklärten, aber sein professoraler Belehrungsdrang war wieder einmal beinahe mit ihm durchgegangen.
Michel Camdessus verdrehte in gespieltem Schmerz die Augen.
„Es ist wohl das Schicksal meiner Organisation, daß kaum jemand sie kennt. Dabei bewirken wir so viel Gutes. Aber häufig tun wir das in der Tat im Verborgenen. ‚IWF‘ heißt ‚Internationaler Währungsfonds‘, und ‚IMF‘ ist lediglich die englische Variante des Begriffs: ‚International Monetary Fond‘. . Diese Organisation gibt es seit 1945. Wir haben im Laufe der Geschichte unterschiedliche Ziele verfolgt, das muß ich, denke ich, hier nicht im einzelnen entwickeln. Heute bestehen unsere Aufgaben darin, Entwicklungsländern aus wirtschaftlichen Krisen zu helfen. Also zum Beispiel aktuell Indonesien.“
Das klang gut, fanden die Bären, und sie schlugen die Tatzen ineinander und klatschten Beifall. Auch das Schwein schloß sich an. Am begeistertsten applaudierte die Bärin, die im Spiel als junge Frau in die Stadt gezogen war und jetzt zu ihrer armen Familie auf dem Land zurückkehren mußte. Sie hatte sich mit ihrer Rolle identifiziert.
Sie wagte es, den Kopf im leuchtenden Quader anzusprechen.
„Ich danke Ihnen, Monsieur Camdessus. Wissen Sie, wer ich bin, oder soll ich das kurz erklären?“
Der Kopf bewegte sich von links nach rechts und wieder zurück.
„Das ist nicht nötig. Ich weiß, wer Sie sind.“
„Wie werden Sie mir helfen, Monsieur Camdessus?“
„Junge Frau, das ist nicht so einfach zu erklären. Es handelt sich hier um höchst komplizierte multilaterale finanzielle Zusammenhänge. Vermutlich werden Sie von den Kausalitäten überfordert sein. Können Sie lesen und schreiben?“
Kaum spürbar hatte sich ein Unterton in die Rede des Kopfes eingeschlichen, der Verachtung zeigte. Die sensiblen Bären merkten das und reagierten mit leichter Unruhe.
Auch der Bärin war die atmosphärische Veränderung nicht entgangen. Sie beschloß aber, ohne Aggressionen weiterzuspielen. Selbstverständlich konnte sie lesen und schreiben, in ihrer Freizeit beschäftigte sie sich mit Kant und Hegel, was sie sehr spannend fand, aber getreu ihrer Rolle sagte sie: „Nein.“
„Sehen Sie“, antwortete der Kopf befriedigt, als sei Analphabetismus sein persönlicher Erfolg. Er schaute in die Runde und registrierte, daß alle Augenpaare ihn aufmerksam anschauten. Man schien etwas von ihm zu erwarten.
„Nun gut“, seufzte der Kopf. „Ich werde es versuchen.“ Ihr Land Indonesien ist in eine schwere Wirtschaftskrise geraten. Ihre florierende Wirtschaft hat sich nicht hauptsächlich auf Eigenmittel, sondern auf internationale Kredite gestützt. Allerdings haben Ihre Wirtschaftsunternehmen die Kredite häufig nicht so verwendet, wie es mit den Gläubigern abgesprochen war. Als das bekannt wurde, haben die Gläubiger ihre Kredite zurückgezogen. Den Unternehmen Indonesiens fehlt dementsprechend jetzt Kapital, es gibt Unternehmensschließungen zuhauf, und Arbeiter werden arbeitslos. Damit verbunden ist ein Verfall der nationalen Währung. Soweit klar?“
Die Bären nickten ungeduldig. Das wußten sie schließlich alles schon. Nur der alte Bär schaute den Kopf staunend an: Ihm war jetzt erst alles verständlich geworden.
„Alles klar“, sagte die Bärin, der ihre Rolle als Dialogpartnerin allmählich Spaß zu machen schien. „Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Monsieur Camdessus: Wie werden Sie mir helfen?“
„Der IWF hat die Lage Indonesiens geprüft und beschlossen, Ihrem Land Kredite zu gewähren. Sie werden bald wieder Geld haben, denn Sie bekommen – auf etliche Tranchen verteilt – an die 60 Milliarden Dollar.“
Die Bärin staunte. „Moment mal – Indonesien hat ungefähr 200 Millionen Einwohner, das habe ich im Lexikon gelesen.“
Als der Kopf zweifelnd die Augenbrauen runzelte, verbesserte sie sich rasch: „Nur ein kleiner Scherz. Ein kluger Bär hat mir das erzählt. Der hat mir übrigens auch ein bißchen Rechnen beigebracht. Wenn 200 Millionen Indonesier 60 Milliarden Dollar bekommen, dann kriege ich also ungefähr 300 Dollar. Und jedes meiner Familienmitglieder auch. Ich habe eine große Familie, wissen Sie! Das ist wirklich mehr als Hilfe!“
Der Kopf schüttelte sich irritiert.
„Wieso Sie und Ihre Familie?“ fragte er. „Das ist ein Mißverständnis. Natürlich werden die Kredite nicht flächendeckend verteilt, sondern gezielt eingesetzt und auch nur unter bestimmten Auflagen vergeben. Erstens verlangen wir eine Abwertung Ihrer Rupiah, um die Inflation einzudämmen. Im Moment liegt die Inflationsrate in Ihrem Land bei über 40 %. Außerdem ist Ihr Land hoch verschuldet. Damit das Loch im Staatshaushalt gestopft werden kann, fordern wir eine Senkung der Staatsquote. Erst wenn das gewährleistet ist, werden die Gelder fließen, gezielt eingesetzt und nicht nach dem Gießkannenprinzip. Die Leistung Ihres Bruttoinlandsprodukts ist in den letzten drei Monaten um über acht Prozent gesunken. Notwendig ist also eine gezielte Wirtschaftsförderung.“
Jetzt war die Bärin tatsächlich ein wenig überfordert. Sie wußte viel über das Ding an sich, den kategorischen Imperativ und den Weltgeist, aber Ökonomie war nicht gerade ihr Spezialgebiet.
„Schade“, sagte sie deshalb nur und blickte verstohlen hilfesuchend in die Runde, in der Hoffnung, daß der Kopf das nicht bemerken würde.
Grizzy sprang ein.
„Das ist ja wirklich ziemlich kompliziert“, erklärte er und lächelte freundlich. „Deshalb möchte ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn Sie gestatten.“
Der Kopf nickte großzügig.
„Wenn wir unsere Währung abwerten, dann bedeutet das, daß alle Waren, die wir aus dem Ausland beziehen müssen, teurer werden, nicht wahr?“
Nicken.
„Also werden sich die Menschen noch weniger kaufen können als bisher, und die Armen werden überhaupt nicht mehr zurechtkommen!“
Der Kopf wiegte sich zweifelnd und versuchte ein leichtes Schütteln.
„Sie fordern eine Senkung der Staatsquote. Das bedeutet, daß der Staat weniger Geld ausgeben soll. Wofür gibt ein Staat Geld aus? Neben so sinnlosen Sachen wie der Rüstung …“ – bei diesen Worten schüttelte der Kopf sich wahrhaft angeekelt – „…hauptsächlich für seine Bürger: Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung, Straßenbau und so weiter. Mit anderen Worten: Eine Senkung der Staatsquote bedeutet eine drastische Verschlechterung der Lebensverhältnisse vor allem der ärmeren Bevölkerung!“
Allmählich begriffen die Bären und rückten dem Kopf näher. Der aber lächelte überlegen.
„Herr Bär…“
„Grizzy“, sagte Grizzy.
„Herr Grizzy, verzeihen Sie, aber das ist doch alles Propaganda, was Sie da von sich geben. Sehen Sie, der Mensch ist frei. Ich bin der letzte, der sich gegen Chancengerechtigkeit ausspricht. Staatliche Übervorsorge aber zerstört dieses Prinzip. Wo ist noch Chancengerechtigkeit, wenn ein arbeitsscheuer Zeitgenosse geruhsam auf Kosten eines fleißigen Steuerzahlers leben darf? Ist es gerecht, wenn Besserverdienende indirekt Zahlungen für ein staatliches Schulsystem leisten, in dem nicht leistungsbereite, aggressive Kinder von asozialen Eltern entweder durch Absentismus glänzen oder ihre Lehrer tätlich angreifen? Jeder ist seines Glückes Schmied – und wer will, kann sich privat gegen persönliche Lebensrisiken absichern.“
Die Bären rückten ein weiteres Stück näher. Grizzy aber nickte nur leichthin.
„Dann habe ich noch eine letzte Frage. Sie sprachen von gezielter Wirtschaftsförderung. Wie sieht das konkret aus?“
Der Kopf lächelte selbstgefällig. „Wir haben da bewährte Rezepte. Natürlich müssen wir mit den Wirtschaftsunternehmen arbeiten, die existieren. Wir beraten sie und wirken darauf hin, daß sie ihr Management effektiver gestalten. Das heißt also Rationalisierung, Qutsourcing, lean Production – falls Ihnen das etwas sagt.“
Einige Bären guckten irritiert, aber Grizzy sagte das sehr viel.
„Mit anderen Worten: Sie wollen mit mehr Maschinen schneller produzieren, also Personal entlassen, und unprofitable Betriebsteile machen Sie zu sogenannten Tochterfirmen, in denen die Beschäftigten unter deutlich schlechteren Bedingungen und dazu mit niedrigeren Löhnen arbeiten als in der Stammfirma.“
Der Kopf wand sich.
„So können Sie das nicht sagen…“
„Ich kann schon, das haben Sie ja gerade gehört“, fuhr Grizzy ihm in die Parade. „Und ich habe recht.“
Der Bärenkreis war jetzt ganz eng und sehr unruhig. Als erstes verlor das Schwein seine Beherrschung.
„Du Schwein!“ quiekte es. Es hatte sich wirklich völlig vergessen. Dennoch gelang es ihm, sich elegant auf einen Hinterhuf zu stellen und den leuchtenden Quader mit dem Kopf zu attackieren. Es fand aber keinen Widerstand. Die umsitzenden Bären sahen einen Schweinekopf, auf dem sich Teile des Gesichts von Michel Camdessus abzeichneten. Verwirrt hielt das Schwein inne.
Manfred löste das Rätsel.
„Das ist nur ein Hologramm“, erklärte er. „Eine dreidimensionale Projektion. Die kann man nicht verletzen. Aber alles, was das Ding eben gesagt hat, ist echt. Ich habe alle Aussagen von Camdessus, die ich kriegen konnte, gesammelt. Und dann brauchte ich nur noch ein kleines Programm, das die Aussagen, die auf eure Fragen paßten, ausgewählt hat. Ich schalte den Kerl jetzt besser aus.“
Der Quader erlosch, die Lampen gingen an. Die Bären blinzelten und schauten einander an.
„Und jetzt?“ fragte die Bärin, die immer noch nicht von ihrer Rolle losgekommen zu sein schien.
„Jetzt ist es spät, und wir gehen ins Bett“, entschied Bärdel. „Vorher aber sollten wir uns noch bei Kulle und Manfred bedanken. Ich denke, daß wir mit ihrer Hilfe viel über die Wirtschaft der Menschen gelernt haben.“
Die Bären bekundeten Zustimmung. Der Alte erhob sich als erster.
„Das war ein schönes Spiel!“ grunzte er und rammte Kulle seine Pranke auf die Schulter. Der kleine Bär knickte beinahe zusammen, fand aber auch, daß das das schönste Lob war, daß er einheimsen konnte.
„Gute Nacht!“ gähnte das Schwein. „Und wenn ihr mich fragt: Die spinnen, die Menschen!“
Niemand erhob Widerspruch.

War, Sex and Crime

Manfred war in seiner Technikbegeisterung nicht zu stoppen – monatelang war er in den umliegenden Menschensiedlungen nachts unterwegs, durchstöberte Müll und Sperrmüll und sammelte das, was die Menschen für Schrott hielten. Er lagerte das Zeug in seiner Privathöhle und verbarrikadierte sich irgendwann für etliche Tage darin, so daß Tumu ihn nicht zu Gesicht bekam, obwohl sie ihn mit den leckersten Honigkuchen zu locken versuchte. Als Manfred schließlich wieder auftauchte, war er immer noch nicht ansprechbar. Stattdessen turnte er durch ganz Bärenleben und installierte Kabel, Lautsprecher und Monitore. Schließlich ertönte ein ohrenbetäubender unartikulierter Lärm, der alle Bären aufgeregt aus ihren Höhlen trieb. Manfred aber winkte seinen Artgenossen spielerisch und ironisch zu.
„Ich habe fertig!“ erklärte er. „Bärenleben hat jetzt seinen lokalen Fernsehfunk!“
Auf den Monitoren flimmerte elektronischer Schnee.
Die meisten wandten sich kopfschüttelnd ab. Fernsehen in einem winzigen Bärendorf, lokales Fernsehen – was sollte das denn? Und dann diese Sprache – woher hatte Manfred bloß diese fehlerhafte Grammatik? Bärdel schüttelte ebenfalls den Kopf. Tumu schüttelte den Kopf, und während sie es tat, rief sie: „Komm essen!“ Aber Manfred achtete nicht auf sie, sondern bastelte weiter an seinen Installationen.
Der einzige, der nicht seinen Kopf schüttelte, war Kulle. Nicht, daß sein Kopf in Ruhe geblieben wäre. Aber er schüttelte ihn nicht, er wiegte ihn leise hin und her. Er witterte eine Chance, und er wog das damit verbundene Risiko ab.
„Manfred“, sagte er, so sanft er konnte, und er konnte sehr sanft sprechen, „Manfred, hättest Du etwas dagegen, wenn ich für unseren neuen lokalen Fernsehfunk einen Programmbeitrag leiste? Einen ganz kurzen?“
Manfred hatte durchaus nichts dagegen – es würde der erste Programmbeitrag überhaupt sein.
„Du kannst Dich ruhig länger fassen“, sagte er. „Wir sind 24 Stunden am Tag sendebereit.“
„Nicht nötig“, wehre Kulle ab. „Ich dachte nur an eine kurze Nachrichtensendung. So etwas Ähnliches wie die „Tagesschau“ bei den Menschen. Neuigkeiten aus aller Welt und natürlich hauptsächlich aus Bärenleben.“
„Das ist eine hervorragende Idee!“ Manfred strahlte begeistert. „Aber mit den Nachrichten aus Bärenleben wirst Du wohl Schwierigkeiten bekommen – hier passiert doch nichts! Oder willst Du Tumus neueste Kochrezepte vorstellen?“
Warum eigentlich nicht?“ schmunzelte Kulle. Deine Mutter kocht ganz hervorragend. Aber ich dachte an etwas anderes. Laß mich nur machen…“
„Klar laß ich Dich machen. Brauchst Du technische Unterstützung?“
„Danke, ich glaube nicht. Sag mal…“ Kulle strich nicht ohne Eitelkeit über seine Fliege. „Ist die schön genug fürs Fernsehen, oder brauche ich eine neue Krawatte?“
„Was soll an Deiner Fliege falsch sein? Du brauchst nichts anderes. Außerdem – ohne Dein Markenzeichen würde Dich vermutlich niemand erkennen!“
Das sollte ein Scherz sein, aber Kulle fand es wert, ernsthaft über diese Aussage nachzudenken. Sie schien ihm so wichtig zu sein, daß er das Gespräch abrupt beendete und in Gedanken davonstapfte.
Bevor er außer Hörweite war, rief Manfred ihm nach: „Wann soll die Sendung denn sein?“
„In der Dämmerung, kurz vor der Abendversammlung“, brüllte Kulle zurück. „Dann können hinterher alle darüber reden!“
Manfred leistete gute Vorarbeit. Auf seinen überall sichtbaren Monitoren erschien am späten Nachmittag eine Ankündigung:

 Erste Nachrichtensendung des Bärenlebendigen Fernsehens
heute in der Dämmerung.
Guckt alle!

Jeder Bär, jede Bärin bekam die Information mit, und alle waren so neugierig, daß sie sich vor dem großen Bildschirm in der Versammlungshöhle einfanden, als die Sonne noch recht hoch am Horizont stand. Sie machten es sich gemütlich, aber ihre Aufregung wurde durch die zahllosen Fragen deutlich, die wie ein Bienenschwarm durch die Spätsommernacht schwirrten: Was für Nachrichten? Wozu überhaupt? Wer hatte die Sendung gemacht? Hatte Manfred Fernsehprofis angeheuert?
Niemand löste die Rätsel, bis die Abendröte verblaßt war und der Himmel sich auch im Westen allmählich dunkelblau färbte. Manfred, den viele suchten, blieb unsichtbar. Dann aber verschwand die Schrifttafel auf den Monitoren, die Bildschirme wurden für eine kurze Zeit grau, und danach erschien für ein paar Sekunden lang ein Film, der zwei spielende Bärenjunge zeigte.
„Das sind Peter und Paul!“ wurde überall gerufen, und die Bären hauten einander die Pranken auf die Schultern. Die beiden Brüder waren bei jedem im Dorf bekannt; sie liebten es, sich zu balgen – eigentlich war ihr Anblick also nichts Besonderes. Aber es war das erste Mal, daß die Bären von Bären gefilmte Bären im Fernsehen sahen. Also schauten sie mit Begeisterung zu.
Nach dem Ende der Balgerei erschien ein Schriftzug: DER TAG. Nachdem er langsam ausgeblendet worden war, sahen die Zuschauer einen Schreibtisch mit einem Mikrofon darauf. Dahinter saß ein kleiner, gedrungener Bär, der einige Papierblätter in den Pfoten hielt. Er trug eine große Brille mir dunklen Gläsern, so daß seine Augen nicht erkennbar waren, und eine sonnengelbe breite Krawatte mit kühn geschlungenem Knoten.

Leise flüsternd fragten sich die Zuschauer, wer das wohl sein mochte, aber sie verstummten sofort, als der Bär im Fernsehen den Kopf hob und sich räusperte.
„Guten Abend, liebe Bärinnen und Bären in Bärenleben“, sagte er. „Ich begrüße Euch zur ersten

DER TAG

– Sendung unseres Dorffernsehens. Unser Mitbär Manfred hat viel Arbeit investiert, um uns dieses neue Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen.“
Die meisten Bären brummten ihre Zustimmung, aber leise erhob sich hier und dort auch Unmut: „Manfred hätte seine Zeit nützlicher verbringen können.“ „Wozu brauchen wir dieses Fernsehen überhaupt?“ „Was wir bis jetzt gesehen haben, kennen und wissen wir doch alles!“
Der unbekannte Nachrichtensprecher bemerkte von alldem natürlich nichts. Er fuhr unbeirrt fort:
„Ich komme jetzt zu den heutigen Nachrichten.“
Er senkte seine unsichtbaren Augen auf das erste Blatt und las:
„Washington. Der amerikanische Präsident Bill Clinton hat die Luftangriffe auf strategische Ziele im Irak als Erfolg bezeichnet. Zusammen mit der britischen Luftwaffe fliegen Einheiten der US-Airforce seit drei Tagen Angriffe mit Cruise Missiles auf zentrale Quartiere der Republikanischen Garden des Diktators Saddam Hussein und auf Industrieeinrichtungen, die zur Herstellung chemischer und biologischer Waffen dienen. Saddam sei bereits entscheidend geschwächt worden, sagte Clinton. Anschließend dementierte er Pressemeldungen, die den Angriff in Zusammenhang mit dem dem Präsidenten drohenden Impeachment gebracht hatten. Wegen außerehelicher Beziehungen, die Clinton lange Zeit geleugnet hatte, droht ihm ein Amtsenthebungsverfahren.“
Der Nachrichtensprecher legte das erste Blatt beiseite.
Die Bären hatten aufmerksam zugehört, aber in der Pause, die jetzt entstand, wurde deutlicher Unmut laut.
„Das wissen wir alles schon!“
„Schließlich lesen wir Zeitungen!“
Als der Sprecher wieder den Mund öffnete, wurde es still.
„Bärenleben. Der Dorfpräsident hat die Vergeltungsmaßnahmen gegen die Nachbarorte Bienenleben und Mauseleben verteidigt. Bienen und Mäuse hätten zwei Grundnahrungsmittel der Bären, nämlich Honig und Beeren, für sich reklamiert und müßten deshalb in ihre Schranken verwiesen werden. Es sei folglich gerechtfertigt, Mäusen den Zugang zu den Beerensträuchern zu verwehren, was mit Hilfe von Mausefallen geschehe, die sehr effektvoll arbeiteten. Wegen der Artunterschiede sei das Vorgehen gegen die räuberischen Bienen zwangsläufig anderer Natur; ihnen werde der in den Stöcken zusamengetragene Honig weggenommen und durch Zuckerwasser ersetzt. Es sei nicht klug, die Kuh, die man melken wolle, zu schlachten. Anschließend dementierte der Dorfpräsident Gerüchte, denen zufolge er sexuelle Beziehungen zu seinem Sohn unterhalte. Er sei Zeit seines Lebens heterosexuell und monogam gewesen.“
Der Sprecher legte auch das zweite Blatt zur Seite und begann unverzüglich, die dritte Seite vorzulesen.
„Es folgt der Wetterbericht. Ein Hoch über Norddehland sorgt für…“
Das Folgende ging im Tumult der Zuschauer unter. Alle redeten durcheinander.
„Ungeheuerlich!“
„Wer soll denn dieser Dorfpräsident sein?“
„Was für ein Quatsch – ein Präsident in einer libertären Gemeinschaft!“
„Ich kann das gar nicht glauben – Krieg gegen Mauseleben und Bienenleben…“
„Bestimmt eine Falschmeldung!“
„Wer ist eigentlich dieser Nachrichtensprecher?“
„Fürchterlich – die armen Mäuse und Bienen…“
„Daß ein Bär inzestuöse Beziehungen abstreitet, kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen!“
„Woher kommt bloß diese Meldung?“
In der kurzen Pause, die nach der ersten Aufregung entstand, wiederholte eine alte Bärin die Frage, die sie schon einmal gestellt hatte:
„Wer soll denn dieser Dorfpräsident sein?“
Jetzt hatten alle Bären zugehört und schauten einander an. Ja, wer käme in Frage, wenn an dieser ungeheuerlichen Meldung auch nur ein Quentchen Wahrheit wäre?
„Gibt es eigentlich jemanden von uns, der nicht hier ist?“ fragte schließlich ein junger Bär. Er war in Manfreds Alter und wußte nicht so recht, warum er diese Frage gestellt hatte. Um so überraschter war er von der Reaktion, die erfolgte.
„Das ist wahrhaft bärische Intelligenz“, brummte ein Alter. „Natürlich ist der Schuldige nicht anwesend, wenn seine Schandtat öffentlich bekannt wird. Falls es einen Schuldigen gibt – in dubio pro reo urso. Aber trotzdem: Wer fehlt?“
Es war nicht leicht, in der Dunkelheit alle Gesichter auszumachen, aber dennoch hatten sie nach kurzer Zeit die Lösung. Nur einer fehlte – Bärdel.
„Bärdel!!“ Kaum einer konnte es sich verkneifen, den Namen vor sich hinzuflüstern. Trotz der stimmlosen Artikulation war der Unglaube hörbar. Bärdel, ausgerechnet Bärdel sollte solche Untaten begangen haben?
„Alles Quatsch!“ Tumu meldete sich zu Wort. „Ich weiß nicht, warum Bärdel jetzt nicht hier ist, bei dieser sogenannten Premiere, die mir eher eine Schmierenkomödie zu sein scheint. Vielleicht hat er das geahnt und ist deshalb zu Hause geblieben. Mir fällt ein guter Weg ein, um herauszubekommen, warum er nicht hier ist und was es mit den Anschuldigungen auf sich hat: Gehen wir hin und fragen ihn!“
Die Versammlung brummte Zustimmung. Die Höhle leerte sich, und der Bildschirm, auf dem die Nachrichtensendung inzwischen zu Ende gegangen war, blieb verwaist zurück. Alle waren auf dem Weg zu Bärdels Privatquartier.
Als sie die Brombeerbüsche passierten, die mitten im Dorf wuchsen, schrie ein junger Bär plötzlich auf und rannte anschließend hinkend umher, wobei er erbärmlich quiekte – bei Bären der Ausdruck höchsten Schmerzes. Seine Mutter setzte ihm mit tröstenden Brummtönen nach, alle anderen gerieten in höchste Unruhe, weil sie sich auch in Gefahr wähnten. Nur Tumu behielt die Nerven.
„Licht!“ rief sie.
Wie von Geisterhand erleuchtete wenige Sekunden später eine helle Glühbirne die Szenen genau an der richtigen Stelle – Manfred hatte die Beleuchtung von Bärenleben, die er ganz nebenbei installiert hatte, partiell aktiviert.
Der Fuß des jungen Bären, das konnten alle sehen, steckte in einer Mausefalle und wurde grausam gequetscht.
Sofort schlug die Stimmung um.
„Es ist also doch wahr,“ kreischte eine junge Frau hysterisch, „Bärdel führt Krieg gegen Mauseleben! Er hat sich zum Diktator gemacht! Richten wir ihn!“
Ohne zu überlegen folgten die Bären ihr, als sie entschlossen weiter in Richtung auf Bärdels Höhle zustapfte. Nur Tumu und der junge verletzte Bär blieben zurück. Mit großer Kraftanstrengung gelang es ihr, die Falle zu öffnen und den Fuß des Jungen zu befreien.
„So, Kleiner“, sagte sie danach und wischte ihm über das Gesicht, um die Schmerz- und Schrecktränen abzutrocknen, „jetzt ist es wieder gut. Dein Fuß ist heil – er ist deutlich stabiler als eine Maus. Geht‘s wieder?“
Er nickte.
„Gut – ich muß mich jetzt nämlich beeilen. Die haben gerade geklungen, als wollten sie meinen Mann vierteilen. Und das hätte ich ungern, zumal er ganz sicher unschuldig ist.“
Sie eilte davon und geriet vor ihrer Wohnhöhle in eben die Szene, die sie befürchtet hatte. Bärdel stand im Eingang und erwehrte sich verbaler Angriffe, aber nach jeder seiner Antworten rückten die Bären drohend einen Schritt weiter vor.
„Warum hast Du unsere Gemeinschaft zerstört?“ – „Was soll ich gemacht haben?“
„Kriegstreiber!“ – „Ich führe keinen Krieg, gegen niemanden!“
„Und was ist mit der Mausefalle?“ – „Von welcher Mausefalle redest Du?“
„Hast Du mit Manfred geschlafen?“ – „Soweit ich weiß, ist Sex auch bei Bären Privatsache!“
Die junge Frau, die sich eben schon hervorgetan hatte, erhob ihre kreischende Stimme über die aller anderen und brachte sie zum Schweigen.
„Er leugnet das Richtige und dementiert das Falsche!“ heulte sie. „Oder umgekehrt. Jedenfalls lügt er. Ich finde, daß er bei uns in Bärenleben nichts mehr zu suchen hat!“
Zustimmung wurde laut, aber bevor die Bären handgreiflich werden konnten, was sie am liebsten getan hätten, hob eine Alte die Pranke.
„Alles muß seine Richtigkeit haben“, sagte sie. „Lynchjustiz wird es in Bärenleben nicht geben, wohl aber demokratische Rechtsprechung. Wer der Meinung ist, daß Bärdel unser Dorf wegen Verletzung der politischen Regeln unserer Gemeinschaft und wegen grober Verstöße gegen die Tierrechte verlassen muß, der hebe die Tatze!“
Selbst in der nur vom Licht der Sterne erhellten Nacht war deutlich sichtbar, daß eine große Zahl von Armen in die Luft gereckt wurde.
„Gut“, stellte die Sprecherin fest. „Machen wir die Gegenprobe!“
Zwei Hände zeigten sich. Eine gehörte Tumu und die andere dem jungen Bären, der in die Falle geraten war. Sein Arm schwankte, denn er atmete schwer. Er war gerade rechtzeitig zur Abstimmung atemlos vor Bärdels Höhle angekommen.
„Zwei Gegenstimmen also.“ Die alte Bärin zögerte nur wenige Sekunden, bevor sie fortfuhr. „Aber die überwältigende Mehrheit hat sich für Bärdels Verbannung ausgesprochen. Er muß Bärenleben verlassen!“
„Und seine Frau auch!“ kreischte jemand, der anonym in der Menge verborgen blieb.
„NEIN!“ sagte da eine Stimme aus dem Off. Sie klang gebieterisch, und einen Moment lang glaubten einige Bären, sie gehöre Tussi. Aber dann besannen sie sich: Hier sprach keine Frau, sondern ein Mann.
„NEIN!“ ertönte die Stimme nochmals. „HÖRT MIR ZU!“
Es wurde so still, daß das Sirren der Mücken in den Ohren der Bären laut wie das Heulen von Sirenen dröhnte.
Die herrische Stimme wurde zur Stimme des anonymen Nachrichtensprechers.
„Bärenleben. Die Bewohner des idyllischen Dorfes haben heute eine schwere Niederlage erlitten. Sie haben dem Zorn gehorcht und nicht der Vernunft und dabei Prinzipien verletzt, die seit Jahr und Tag bewährte Regeln der Gemeinschaft dargestellt haben.“
In der Dunkelheit suchten die Bären die Augen ihrer Nachbarn. War das wahr? Zuerst konnten sie einander kaum erkennen, dann aber hoben sich die Gesichter aus der Schwärze. Das Fernsehen war wieder zum Leben erwacht und tauchte die versammelte Gemeinde in ein graues Licht. Auf dem vor Bärdels Höhle installierten Bildschirm tauchte das Gesicht des Nachrichtensprechers auf.
„Ja, das ist wahr“, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Ihr habt eine Mehrheitsentscheidung gefällt und damit das Konsensprinzip ignoriert. Ihr habt einen Mitbürger verurteilt, ohne ihn angemessen gehört zu haben. Ihr habt – mit einer Ausnahme, nämlich Tumu – einem verletzten Mitbären Hilfe verweigert. Ihr habt Indizien so bewertet, daß sie in Eure unbewiesenen Theorien paßten – ich meine die Mausefalle. Menschenkinder haben die Falle vor ein paar Stunden in unserem Dorf aufgestellt, während wir alle Mittagsschlaf gehalten haben. Und schließlich – und das ist das Geringste und das Schlimmste zugleich, weil es eigentlich harmlos sein könnte und doch der Auslöser für all Eure Fehlhandlungen war – Ihr habt Nachrichten geglaubt, die Lügen waren. Ihr habt ihnen geglaubt, weil sie von einer scheinbar höheren Instanz kamen – dem Fernsehen. Ich fasse zusammen: Ihr habt Euch also benommen wie Menschen!“
Der Sprecher schwieg, und auch unter den Bären war es still. Erst nach einer Weile wurde das Geräusch von vorsichtig auftretenden Pfoten ahnbar, wenn man ganz genau hinhörte – die Bären begannen, sich wortlos davonzustehlen, weil sie sich schämten. Deshalb sahen längst nicht mehr alle, daß der Bär im Fernsehen die dunkle Brille absetzte und die Krawatte vom Hals zog. An der Stelle, an der die Krawatte gesessen hatte, kam eine bunte Fliege zum Vorschein. Aber Bärdel sah es, Tumu sah es, und Manfred sah es. Sie sahen Kulle.
„Du…“ sagten alle drei gleichzeitig, und sechs Bärenfäuste ballten sich.
„Schon gut“, meinte Kulle, als würde er mitbekommen, was außerhalb des Studios vor sich ging. „Ich habe Euch beschissen, vor allem Dich, Bärdel. Aber ich hatte die Situation immer voll im Griff, das kannst Du mir glauben. Hätte ich Dich eingeweiht, hättest Du Deine Rolle wohl kaum so überzeugend gespielt wie eben. Den Bären wollte ich zeigen, wie Fernsehen wirkt – das dürfte mir gelungen sein. Bären sind eben auch nur Menschen.“
„Falsch!“ schimpfte Tumu. „Immerhin haben die Bären die angebliche Kriegführung ihres angeblichen Präsidenten verurteilt und nicht gutgeheißen, und die angeblichen sexuellen Verfehlungen ihres angeblichen Präsidenten haben sie vermißt, weil sie sie begrüßt hätten – das macht doch wohl einen deutlichen Unterschied!“
„Mama“, sagte Manfred. Er redete mit seiner Mutter, weil er fühlte, daß sein Vater momentan nicht ansprechbar war. „Mama, ich werde das Dorffernsehen wieder abbauen. Denn…“
Ihm fiel keine griffige Begründung ein, aber seine Mutter wollte gar keine hören.
„Gut.“ sagte sie nur.
Kulle schien gewartet zu haben, bis der Dialog zu Ende war. Seine braunen Knopfaugen suchten die Kamera, und er blickte seine Zuschauer direkt an.
„Bärdel, bist Du mir noch böse?“ fragte er.
„Ja.“
Mehr sagte Bärdel nicht, und Kulle schien mit dieser kurzen Antwort gerechnet zu haben.
„Ich wußte es“, tönte es aus den Lautsprechern. Bärdel sah kurz auf den Bildschirm und registrierte, daß Kulle nervös zwinkerte und an seiner Fliege nestelte.
„Ich möchte Dir noch eine Frage stellen, wenn ich darf.“ Kulles Stimme klang gepreßt. Natürlich konnte er Bärdels Reaktion nicht erkennen.
Unabhängig von einer Erlaubnis fuhr er also fort: „Hättest Du Dich korrekt verhalten, wenn Du heute abend unter den Fernsehzuschauern in Bärenleben gewesen wärest?“
Vor Bärdels Höhle herrschte Stille. Hand in Hand saßen er und Tumu da. Nach einer Weile hörte man ein hartes, kurzes Zischen.
Mitten in das Geräusch hinein flüsterte Bärdel: „Ich weiß es nicht.“
Der Bildschirm vor Bärdels Höhle und alle anderen Bildschirme in Bärenleben wurden dunkel. Manfred hatte das Fernsehen abgeschaltet.