Kulle alias de la Boétie

PD Dr. Kulle
PD Kulle

Kulle zitiert Etienne de la Boétie

Ein Text, entstanden um 1550, geschrieben von einem Mann um die zwanzig aus Sarlat im Périgord, ein Text, dessen Original nicht mehr aufgefunden werden kann und der erst Jahrzehnte nach dem Verfassen veröffentlicht werden sollte, ein Text, der ein Manifest ist für alle Freunde der Freiheit, weshalb es gewiss nicht zufällig ist, dass Gustav Landauer ihn ins Deutsche übertragen hat, ein Text wie eine Keule, eine bessere Waffe als Kants „Was ist Aufklärung?“

Ein Text, dessen Duktus sein Alter ahnen lässt, dessen Inhalt jedoch von brennender Aktualität ist, beleuchtet er doch die Situation in etlichen Teilen der Welt, insbesondere aber in Russland und der Ukraine.

Ein Text, den leider nicht ich verfasst habe.

Dieser Text folgt hier in wesentlichen Auszügen.

Für dieses Mal will ich nur untersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten. Es ist sicher wunderbar und doch wieder so gewöhnlich, daß es einem mehr zum Leid als zum Staunen sein muß, wenn man Millionen über Millionen von Menschen als elende Knechte und mit dem Nacken unterm Joch gewahren muß, als welche dabei aber nicht durch eine größere Stärke bezwungen, sondern (scheint es) lediglich bezaubert und verhext sind von dem bloßen Namen des EINEN, dessen Gewalt sie nicht zu fürchten brauchen, da er ja eben allein ist, und dessen Eigenschaften sie nicht zu lieben brauchen, da er ja in ihrem Fall unmenschlich und grausam ist.

Wenn zwei, wenn drei, wenn vier sich eines Einzigen nicht erwehren, dann ist das seltsam, aber immerhin möglich; dann kann man schon und mit gutem Recht sagen, es fehle ihnen an Herzhaftigkeit; wenn jedoch hundert, wenn tausend unter einem Einzigen leiden, dann sagt man doch wohl, daß sie sich nicht selbst gehören wollen, nein, daß sie es nicht wagen; und das nennt man nicht mehr Feigheit, sondern Schmach und Schande.

Man stelle fünfzigtausend bewaffnete Männer auf eine Seite und ebenso viele auf die andere; man ordne sie zur Schlacht; sie sollen handgemein werden: die einen sollen freie Männer sein, die für ihre Freiheit kämpfen, die andern sollen ausziehen, um sie ihnen zu rauben: welchen von beiden wird vermutungsweise der Sieg in Aussicht zu stellen sein? Welche, meint man, werden tapferer in den Kampf gehen? Diejenigen, die zum Lohne für Ihre Mühen die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit erhoffen, oder diejenigen, die für die Streiche, die sie versetzen oder empfangen, keinen andern Preis erwarten können, als die Knechtschaft der andern?

Gedenke man nur an die hochberühmten Schlachten des Miltiades, Leonidas, Themistokles, die vor zweitausend Jahren geschlagen worden sind. Was, glaubt man wohl, gab einer so kleinen Schar wie den Griechen nicht die Gewalt, sondern den Mut, dem Ansturm so vieler Schiffe, daß das Angesicht des Meeres von ihnen verändert wurde, standzuhalten; so viele Nationen zu überwinden, die in so gewaltigen Massen angerückt waren, daß das Häuflein Griechen den feindlichen Armeen noch nicht einmal die Hauptleute hätte stellen können? Was anders, als daß es uns dünkt, in jenen glorreichen Tagen sei gar nicht die Schlacht der Griechen gegen die Perser geschlagen worden, sondern der Sieg der Selbständigkeit über die Tyrannei und der Freiheit über die Willkür!

Ganz ebenso, wie das Feuer eines Fünkleins groß wird und immer mehr zunimmt und, je mehr es Holz findet, um so gieriger entbrennt; und wie es, ohne daß man Wasser herzuträgt, um es zu löschen, wenn man bloß kein Holz mehr daran legt und es nichts mehr zu lecken hat, sich in sich selbst verzehrt und formlos wird und kein Feuer mehr ist: also werden die Tyrannen, je mehr sie rauben, je mehr sie heischen, je mehr sie wüsten und wildern, je mehr man ihnen gibt, je mehr man ihnen dient, um so stärker und kecker zum Vernichten und alles Verderben; und wenn man ihnen nichts mehr gibt, wenn man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie ohne Kampf und ohne Schlag nackt und entblößt da und sind nichts mehr; wie eine Wurzel, die keine Feuchtigkeit und Nahrung mehr findet, ein dürres und totes Stück Holz wird.

O ihr armen, elenden Menschen, ihr unsinnigen Völker, ihr Nationen, die auf euer Unglück versessen und für euer Heil mit Blindheit geschlagen seid, ihr laßt euch das schönste Stück eures Einkommens wegholen, eure Felder plündern, eure Häuser berauben und den ehrwürdigen Hausrat eurer Väter stehlen! Ihr lebet dergestalt, daß ihr getrost sagen könnt, es gehöre euch nichts; ein großes Glück bedünkt es euch jetzt, wenn ihr eure Güter, eure Familie, euer Leben zur Hälfte euer Eigen nennt; und all dieser Schaden, dieser Jammer, diese Verwüstung geschieht euch nicht von den Feinden, sondern wahrlich von dem Feinde und demselbigen, den ihr so groß machet, wie er ist, für den ihr so tapfer in den Krieg ziehet, für dessen Größe ihr euch nicht weigert, eure Leiber dem Tod hinzuhalten. Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte; alles, was er vor euch allen voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnet, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgend Gewalt über euch, wenn nicht durch euch selber? Wie möchte er sich unterstehen, euch zu placken, wenn er nicht mit euch im Bunde stünde? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler des Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch selbst? Ihr säet eure Früchte, auf daß er sie verwüste; ihr stattet eure Häuser aus und füllet die Scheunen, damit er etliches zu stehlen finde; ihr zieht eure Töchter groß, damit er der Wollust fröhnen könne; ihr nähret eure Kinder, damit er sie, so viel er nur kann, in den Krieg führe, auf die Schlachtbank führe; damit er sie zu Gesellen seiner Begehrlichkeit, zu Vollstreckern seiner Rachbegierden mache; ihr rackert euch zu Schanden, damit er sich in seinen Wonnen räkeln und in seinen gemeinen und schmutzigen Genüssen wälzen könne; ihr schwächet euch, um ihn stärker und straff zu machen, daß er euch kurz im Zügel halte: und von so viel Schmach, daß sogar das Vieh sie entweder nicht spürte, oder aber nicht ertrüge, könnt ihr euch frei machen, wenn ihr es wagt, nicht euch zu befreien, sondern nur es zu wollen. Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, daß ihr ihn verjaget oder vom Throne werfet; aber stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, daß er, wie ein riesiger Koloß, dem man die Unterlage nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht.

Gesetzt den Fall, es kämen heute etliche Völker ganz neu zur Welt, die nicht an die Untertänigkeit gewöhnt und auch nicht auf Freiheit erpicht wären, und sie sollten von der einen wie der andern nichts wissen und kaum die Namen gehört haben: wenn man denen die Wahl ließe, entweder untertan oder frei zu sein, wofür würden sie sich entscheiden? jeder sieht ein, daß sie lieber der Vernunft gehorchen als einem Menschen dienstbar sein wollten; es müßten denn nur die Völker Israels sein, die sich ohne Zwang und ohne irgend eine Not einen Tyrannen gemacht haben: die Geschichte welchen Volkes ich nie lesen kann, ohne so großen Abscheu zu haben, daß ich bis zur Unmenschlichkeit gehe und mich über die vielen Leiden freue, die ihnen daraus zugestoßen sind. Aber sonst muß es für alle Menschen gewiß, wenn sie nur einigermaßen Menschen sind, ehe sie sich unterjochen lassen, eines von zweien geben: entweder sie werden gezwungen oder betrogen.

Wie dem Menschen alle Dinge natürlich sind, von denen er sich nährt und an die er sich gewöhnt, während ihm nur das eingeboren ist, wozu seine einfache und noch nicht veränderte Natur ihn beruft, so ist die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft die Gewohnheit.

Aus diesem ersten Grund folgt ein zweiter: daß nämlich die Menschen unter den Tyrannen leicht feige und weibisch werden. Mit der Freiheit geht wie mit einem Mal die Tapferkeit verloren. Die Tyrannen wissen das wohl, und tun ihr Bestes, wenn die Völker erst einmal so weit gekommen sind, sie noch schlaffer zu machen.

Die Theater, die Spiele, die Volksbelustigungen und Aufführungen aller Art, die Gladiatoren, die exotischen Tiere, die Medaillen, Bilder und anderer Kram der Art, das waren für die antiken Völker der Köder der Knechtschaft, der Preis für ihre Freiheit, das Handwerkszeug der Tyrannei.

Selbst die Tyrannen fanden es seltsam, daß die Menschen sich von Einem beherrschen ließen, der ihnen übles tat: sie wollten sich darum die Religion zur Leibgarde machen und borgten, wenn es irgendwie ging, eine Portion Göttlichkeit, um ihrem verruchten Leben eine Stütze zu geben. ist es nicht allezeit so gewesen, daß die Tyrannen, um sich zu sichern, versucht haben, das Volk nicht nur an Gehorsam und Knechtschaft, sondern geradezu an eine Art religiöse Anbetung ihrer Person zu gewöhnen?’

Juni 2023

Eisbären-Kinder-Promotion

„Onkel Kulle, Onkel Kulle!“ Na und Nuk waren völlig außer Atem und konnten nur noch japsen, als sie Kulle endlich gefunden hatten. Dabei war es gar nicht so schwer, ihn aufzuspüren – wie so oft, hockte er in der Bibliothek von Bärenleben, umgeben von Bücherstapeln.

„Was gibt es denn so Dringendes?“ wollte Kulle wissen.

„Onkel Kulle, wir suchen einen Vater!“

„Nun…ja.“ Selbst Kulle konnte ins Stottern geraten. „Wenn mich Eure Mutter korrekt informiert hat, dann habt ihr einen Vater, der in Bärenleben durchaus bekannt ist.“

„Na klar, Onkel Kulle. Wir lieben Grizzy auch sehr. Aber im Moment ist er für uns als Vater nicht geeignet. Wir suchen nämlich einen Doktorvater.“

„Einen…was?“ Selbst Kulle konnte sprachlos sein. Er schluckte. „Ihr wollt…“

„Promoviert werden. Ja.“ sagten Nanuk im Chor.

Wie alt waren die Kinder jetzt? fragte sich Kulle. Er hatte sie zusammen mit Athabasca großgezogen, sie hatten ihre ersten Schularbeiten geschrieben und irgendwann auch glanzvoll ihr Abitur bestanden – das, musste er sich eingestehen, war durchaus schon einige Jahre her. Sie waren gute Denker, hatten sich weitergebildet – warum also sollten sie keinen akademischen Titel anstreben? Vielleicht hatten sie ähnlich Witziges im Sinn wie er seinerzeit1 Kulle, De rerum tabaccorum? Er beschloss, sie ernst zu nehmen, was immer sie auch im Schilde führten.

„Soll ich Euch ein Thema vorschlagen, oder habt Ihr selbst eine Idee?“

„Wir haben eine Idee. Wir schreiben über die Erde.“ Die vorsichtige Nuk schickte, wie so oft, Ihre vorwitzige Schwester Na vor.

„Kleiner habt Ihr es nicht? Eine Dissertation erfasst in der Regel nicht das große Ganze, sondern widmet sich einem besonderen Aspekt,“ gab Kulle zu bedenken.

„Wir haben vor, uns dem besonderen Aspekt eines kleinen Planeten in einem nicht besonders wichtigen Sonnensystem am Rande einer normalen Spiralgalaxis zuzuwenden. Dabei wollen wir uns lediglich auf einen Aspekt des Lebens auf diesem Planeten konzentrieren.“ Na war verärgert, das hörte Kulle deutlich.

„Das ist immer noch ein großes Thema,“ sagte Kulle beeindruckt. „Ich werde dabei gern Euer Doktorvater sein.“

„Super!“ jubelten Nanuk und knufften Kulle so herzhaft, dass ihm der Atem ausging.

„Ein guter Doktorvater will nicht, dass seine Promovenden in die Irre stolpern, deshalb will er wenigstens grob über ihre Absichten informiert sein. Also: Was habt Ihr vor?“

„Wir wollen streng wissenschaftlich vorgehen,“ erklärte Na.

„Das heißt, wir werden uns jeder Polemik gegen unsinnige Ideologien enthalten,“ ergänzte Nuk.

„Aha!“ kommentierte Kulle. „Etwas anders habe ich auch nicht erwartet. Könntet Ihr jetzt bitte konkret werden?“

„Auf dem Planeten Erde gibt es keine Idylle, es gilt stattdessen das Prinzip: ‚Fressen und gefressen werden.‘ Es existiert keine Spezies, die nicht von einer oder mehreren anderen als Nahrung genutzt wird, und kaum eine Art, die sich nicht von einer anderen ernährt,“ behauptete Na.

„Das ist kein Werk einer bösen Macht. Die Evolution hat eben die Bedingungen genutzt, die die Erdatmosphäre ihr bietet.“ Das war Nuk.

„Und welche Bedingungen sind das?“ erkundigte sich Kulle.

„Die menschlichen Wissenschaftler nehmen an, daß die ersten Organismen auf der Erde heterotroph waren. Das heißt, sie verwerteten als Energiequelle organische Verbindungen. Sie lebten also von Leben in der ‚Ursuppe‘, im Urozean. Diese ursprünglichen Nahrungsvorräte waren jedoch irgendwann erschöpft. Was blieb dem Leben zu tun? Schnell wieder aussterben oder unter Selektionsdruck mutieren?

Einige Arten haben den Ernährungswandel geschafft, sie entwickelten sich zu chemotrophen oder phototrophen Organismen. Davon profitierten wiederum die heterotrophen Erstbewohner. Denn zusammen mit dem Wechsel von einer reduzierenden zu einer oxidierenden, also sauerstoffreichen Erd-Atmosphäre ergaben die nun wieder in großer Menge vorhandenen komplexen organischen Verbindungen erneut eine günstige Entwicklungsmöglichkeit für heterotrophe Organismen.

Ein anderer wichtiger Auslöser für Massenaussterben ist Vulkanismus. Die Kalkarindji-Vulkanprovinz im heutigen Westaustralien verursachte…“

„Stop!“ forderte Kulle energisch. „Ihr wollt also eine naturwissenschaftliche Dissertation vorlegen? Über die Bedingungen historischen Massenaussterbens?“

Na und Nuk sahen einander an und schüttelten die Köpfe. „Aber nein, Onkel Kulle. Wir haben uns wohl völlig falsch ausgedrückt. Wir wollen zum Sinn des Lebens forschen.“

Zum zweiten Mal war Kulle sprachlos. Aber nach einer Denkpause fiel ihm etwas ein: „Der Sinn des Lebens besteht im Glücklichwerden durch die Erkenntnis des Wahren und das Tun des Guten, und zwar letztlich zur Ehre Gottes. Richtig?“

Jetzt waren die Schwestern sprachlos. Erst nach einer Weile wagte Na zu fragen: „Ist das Dein Ernst, Onkel Kulle?“

Kulle hielt seinen Kopf still, obwohl ihm sehr danach war, ihn heftig zu schütteln. Aber die Missbilligung war seiner Antwort anzuhören: „Natürlich nicht. Das war ein Beispiel für menschlichen Unsinn. Denn der Sinn des Lebens…“

„…Ist unserer Meinung nach 42!“ platzten die Zwillinge dazwischen.

Es gelang Kulle, nicht laut loszulachen. Stattdessen zwang er sich zu einer ernsten Miene und sagte: „Das ist eine interessante Theorie, die zu verifizieren oder zu falsifizieren der Mühe wert sein dürfte. Denn in der ‚42‘ steckt die vollkommene Zahl ‚6‘, und zwar sieben Mal…“

„Entschuldige, Onkel Kulle, was ist eine vollkommene Zahl?“

„Ihr habt in Mather bei Atti wohl wieder mal nicht aufgepasst, was? Vollkommene Zahlen sind natürliche Zahlen, die gleich der Summe all ihrer positiven Teiler außer sich selbst sind. Die kleinsten vollkommenen Zahlen sind 6, 28 und 496. Es folgen 8.128,  33.550.336 und 8.589.869.056. Aber das nur am Rande.

Also, in der ‚42‘ steckt die vollkommene Zahl ‚6‘ gleich sieben Mal.

Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte, induziert von Homo. Und der Bibel zufolge erschuf Gott am sechsten Tag den Menschen, ‚und er sah, dass es gut war’. Ist das Massenaussterben also gut? Ist der Sinn des Lebens das Massenaussterben? Und wenn das so ist: Warum lautet die Antwort dann nicht ‚36‘, sondern ‚42‘? Spielt der siebente Tag, an dem sich Gott von den Mühen der Schöpfung ausruhte, auch eine Rolle? Gibt es vielleicht ein Leben nach dem Leben? Kinder, Ihr habt viel Arbeit vor Euch!“

„Danke, Onkel Kulle! Du bist also einverstanden mit unserer Arbeitshypothese?“

„Im Moment ja. Aber wir sehen uns spätestens in zwei Wochen wieder, und dann berichtet Ihr mir von Euren Fortschritten!“

Nanuk sausten in Richtung der Bibliothek davon. Kulle folgte ihnen, wenn auch langsamer. Er hatte beschlossen, den köstlichen Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams noch einmal zu lesen. Und er hatte Lust, nach langer Zeit wieder einen Blick in seine Dissertation zu werfen.

Spätestens in zwei Wochen, dachte er, würden die Kinder die Sinnlosigkeit ihrer Hypothese verstanden und die ernsthafte Beschäftigung mit ihr aufgegeben haben. Oder sie hätten beschlossen, einen ebenso horrenden Blödsinn darüber zu verzapfen wie er über die Zigarre.

Juni 2023 

Wenn der Mensch der Würde würdig wäre

Kulle

Von P. D. Kulle

Inhalt:

Was ist der Mensch?

Der Mensch ist ein Tier. Er hat lange gebraucht, um die Vorstellung zu entwickeln, dass er auch ein ganz besonderes Tier ist.

Was den Menschen der Steinzeit in Südwesteuropa bewegte, lässt sich an seiner „Höhlenmalerei“, die nur partiell aus Malerei, sondern auch oft aus Piktogrammen besteht, wenigstens zum Teil erschließen. Es wimmelt an den Wänden und Decken der berühmten Kavernen in Frankreich und Spanien von Tieren: zum Beispiel Mammuts, Bisons, Kühen und Stieren, Hirschen und immer wieder Pferden. Aber nur eine Darstellung eines Menschen ist in der Grotte von Lascaux im Périgord bekannt.

An einem ihrer tiefsten Punkte1Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen finden sich rechts die Darstellung eines angreifenden, wiewohl bereits verwundeten Bisons. Nach links läuft, offenbar mit hoher Geschwindigkeit, ein Rhinozeros davon. Beide wilden Tiere sind sehr sorgfältig in mehreren Farben ausgeführt.

Zwischen ihnen liegt eine menschliche Gestalt auf dem Rücken, erkennbar ein Mann, denn der Penis ist erigiert. Die Figur ist nur als Strichzeichnung ausgeführt, der Körper ist ein Rechteck, die Beine sind gerade, die Arme lang ausgestreckt, an den Händen jeweils vier Finger. Nur vier. Der Kopf, ein Vogelkopf, ist zur Seite gewendet.

Vor der anscheinend leblosen Figur steht auf einem Stecken die stilisierte Figur eines Vogels.

Diese Szene in ihrer Uneindeutigkeit gibt Kulturanthropologen seit Jahrzehnten Anlass für unterschiedlichste Theorien.

Handelt es sich überhaupt um eine Szene, oder sind verschiedene Figuren zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, stehen in keinem Zusammenhang zueinander?

Ist die Darstellung des Toten eine Warnung? Die Zeichnungen sind im ‚Brunnen‘ der Grotte angebracht, in dem die CO2-Konzentration Werte von 5 oder 6% erreichen kann. Besagt die Information: Geh besser wieder weg, oder bleib nicht zu lange?

Ist der Tote Opfer eines Jagdunfalls? Hat er eines der Tiere angegriffen, oder hat er sich in den Tierkampf eingemischt? Aber: Haben Tote eine Erektion?

Stellt der Mann sich tot, um einem Angriff des wütenden Stiers auszuweichen? Stiere greifen nur an, was sich bewegt.

Das alles aber erklärt nicht die Vogelsymbolik.

Ist der Mann ein Schamane in Trance, dessen Geist die Erde verlassen hat? Der mit dem Vogel in den Himmel geflogen ist?

So viele offene Fragen. Eines aber ist sicher: Die Hauptakteure in dieser Darstellung sind Stier und Rhinozeros, sind die sorgfältig dargestellten Tiere auf vier Beinen. Der flüchtig skizzierte Zweibeiner ist zwar in den Mittelpunkt gerückt, verdient aber keine sorgfältige Ausführung. 

Es vergehen Jahrtausende, bis weitere, eindeutigere Aussagen über den Menschen gemacht werden. Dazu bedurfte es der Entwicklung der Schrift. Und auch der Einführung einer imaginären Größe: Gott.

Im Buch Genesis, dem ersten Buch des jüdischen Tanach, des samaritanischen Pentateuch wie auch des christlichen Alten Testaments, dessen Teile vermutlich zwischen 3000 und 600 v.u.Z. entstanden sind, wird die Menscherschaffung dargestellt.

Gott formt den Menschen aus Erde. Das neue Wesen ist also Teil seiner Umwelt. Aber damit der Mensch zum Menschen wird, geschieht noch ein Zweites. Das Geschöpf aus Erde wird erst richtig zum Menschen, indem ihm Gott seinen Atem, seinen Geist in die Nase bläst (Genesis 2,7). Der Mensch wird beseelt. Gott tritt also in den Menschen – seine Schöpfung – hinein. In ihm berühren sich Himmel und Erde. In dieser Sicht ist der Mensch etwas sehr Besonders, etwas Außerordentliches.

Wenden wir uns der griechischen Antike zu. Aristoteles von Stagira2384 – 322 v.u.Z. kommt ohne Gott aus. Er betrachtet den Menschen unter rein irdischen Aspekten. Ihm zufolge hat der Mensch eine Seele wie jedes Tier. Was ihn von anderen Tieren unterscheidet, ist seine Vernunft. Zudem wird der Mensch definiert als „Zoon politikon“3Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis. Löst man den Begriff aus seiner historischen Gebundenheit, gelangt man zur Definition des Menschen als eines sozialen und politischen Lebewesens.

Der Römer Cicero4106 – 43 v.u.Z. betrachtet den Menschen ähnlich wie Aristoteles: Er sei kein Einzelgänger, sondern darauf angelegt, in einem Staat zu leben. Gegenüber den Tieren hat er eine Vorrangstellung, der er aber nur dann gerecht wird, wenn er sein Leben entsprechend führt: indem er seinen Geist betätigt, anstatt sich niederen Trieben hinzugeben. Besonders die Sprachbegabung unterscheidet den Menschen von den Tieren.

Ausgehend von der Sprache als dem zentralen Wesenszug des Menschen erblickt Cicero im universal gebildeten „vollkommenen Redner“ (orator perfectus), der sein Wissen in den Dienst der Gemeinschaft stellt, den idealen Menschen und somit das höchste Erziehungsziel5Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Bisher sehen wir den Menschen als ein Wesen mit besonderen Merkmalen dargestellt, das aus dem Tierreich herausragt. Daraus werden aber keine besonderen Ansprüche an die Gesellschaft abgeleitet. Diese Ansprüche werden erst in der europäischen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert formuliert.

Samuel von Pufendorf61632 – 1694 erklärt: Der Mensch sei von höchster Würde, weil er eine Seele habe, die  sich durch Verstand auszeichnet, weil er Urteils- und Entscheidungsfähigkeit  besitze und sich in vielen ‚Künsten‘ auskenne.

Das klingt zunächst vertraut, ist aber doch völlig neu. Seele, Vernunft und Entscheidungsfreiheit werden erstmals verknüpft mit der Idee der Menschenwürde.

Damit verbindet Pufendorf die Idee der Menschenwürde mit der Idee der Seele, mit der Idee der Vernunft und mit der Idee der (Entscheidungs-)Freiheit.

Immanuel Kant71724 – 1804 hat diese Idee der Menschenwürde genauer bestimmt. Ihm zufolge ist der Mensch ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein. Das bedeutet, dass jeder Mensch ein Existenzrecht hat, woraus resultiert, dass alle Menschen prinzipiell gleichwertig sind und einander achten.

Kant geht davon aus, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf. Das heißt: Die Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt – etwa durch Sklaverei, Unterdrückung oder Betrug. Und da jeder Menschen ein Existenzrecht hat, darf kein Mensch getötet werden.

Diese Definition ist folgenschwer. Sie evoziert unter anderem die Frage: Wann beginnt menschliches Leben?

Wann beginnt menschliches Leben?

Der Abbruch einer Schwangerschaft ist natürlich keine Erfindung der Neuzeit, das zeigen Schriftzeugnisse aus frühen Hochkulturen, etwa aus Altägypten.8 Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.

Der altägyptische Papyrus Ebers, ca. 1600 v.u.Z., beschreibt Mittel dazu: Kräutertränke, Scheideneinspritzungen und Vaginalkugeln.

Im antiken Griechenland wurden kinderreiche Familien nicht immer als gesellschafts- und bevölkerungspolitisches Ideal betrachtet. Nach Aristoteles’ Ansicht sollte der Staat weder zu groß noch zu klein sein. Er sah in der frühen Abtreibung ein geeignetes Mittel, um eine gleich bleibende Bevölkerungszahl zu erhalten. Hippokrates9 Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva. empfiehlt verschiedene Mittel für einen Schwangerschaftsabbruch. Die griechische Polis sprach dem ungeborenen Kind weder Lebensrechte noch eine Seele zu.

Die Einstellung der Römer ähnelte der der Griechen: Nachwuchs war erwünscht, solange er das Erbe und die Altersvorsorge sicherte. Eine größere Kinderanzahl galt hingegen als Existenzgefährdung. Auch in Rom hatte ein Fötus weder Lebensrecht noch Seele, sondern wurde als Teil des Körpers der Mutter angesehen. Die römischen Ärzte verfügten bereits über ein sehr differenziertes und reichhaltiges Wissen, mit dem sie der großen Nachfrage nach Mitteln und Methoden zur Abtreibung nachkommen konnten. Vermutlich kannte man schon über zweihundert Abortiva, von denen ca. 90 Prozent recht wirksam waren.

Nach dem Zusammenbruch der römischen Zivilisation übernahmen religiöse Vorstellungen die Deutungshoheit über menschliches Leben. Wann beginnt es?

Am Anfang der menschlichen Reproduktion steht die Befruchtung – die Verschmelzung von Samen- und Eizelle. Dieser Akt ist nach heutiger Sicht der katholischen Kirche identisch mit der Menschwerdung.

Allerdings ist die sehr frühe Datierung menschlichen Lebens im Christentum noch nicht sehr alt.  Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt die Meinung, dass die Beseelung des Menschen eine Entwicklung darstelle. Mittelalterliche Theologen wie Thomas von Aquin beriefen sich auf Aristoteles, wohl deshalb, weil sie in den heiligen Schriften keine Antworten auf diese Frage fanden.

Der Stagirit geht von folgender Annahme  aus: Es dauert bei einem männlichem Embryo 40 Tage und bei einem weiblichen Embryo 80 Tage bis zur Menschwerdung. Denn die ganze Formkraft des neuen Lebewesens besteht allein im männlichen Samen, während die Frau nur das Menstruationsblut als materielle Voraussetzung bietet. Wenn es zur Geburt eines Mädchens kommt, ist das Ausdruck eines Versagens der Natur, weil der männliche Same unbedingt ein ihm Ähnliches hervorbringen möchte10 Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin. Aristoteles meint, dieser Prozess benötige 40 Tage beim Mann und 80 Tage bei der Frau.

Damit liegen Aristoteles und die alte christliche Vorstellung nicht weit entfernt von der Datierung des Lebensbeginns im Judentum – das allerdings keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Embryo macht.

Auch die islamischen Schriften datieren den Beginn des menschlichen Lebens sehr spät. Nach einer Aussage des Propheten Mohammed dauert die Menschwerdung nach der Befruchtung 120 Tage.

Schwangerschaftsabbruch

Wenn denn der Mensch eine unverletzliche Würde besitzt und wenn er diese Menschenwürde bereits im Mutterleib erwirbt, ob direkt nach der Befruchtung, nach 40, 80 oder 120 Tagen, so ergibt sich logisch: Der Embryo darf nicht getötet werden. Schwangerschaftsabbruch ist folglich verboten und wird mit Mord gleichgesetzt.

So sind auch Verbote für Hebammen die Regel:

„Die Hebammen sollen sich bey schwerer Strafe enthalten, abtreibende, oder gefährliche Mittel zu geben, oder einzurathen… Falls ihnen unschuldiger Weise ein dergleichen Ansinnen eröfnet würde, haben sie die Personen, … an die Medicos zu verweisen, welche schon wissen werden, wie in solchem Falle fürzugeben sey, wie dann gleichfalls den Apothekern bereits aufgetragen worden, bey empfindlicher Ahndung den Hebammen ohne Vorwissen eines approbierten Medici dergleichen bedenkliche Mittel keineswegs verfertigen, oder reichen zu lassen.“11 Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.

und natürlich auch Strafen für Schwangere:

§144. Eine Frauenperson, welche absichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibesfrucht verursacht, oder ihre Entbindung auf solche Art, daß das Kind tot zur Welt kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.

§145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen; die zustande gebrachte Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden.12 § 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)

Neben der sogenannten Menschenwürde gibt es aber durchaus praktische Gründe, aus denen Vertreter der herrschenden (politischen) Klasse sich gegen Geburtenkontrolle durch Frauen wenden.

Angesichts der großen Verluste an wertvollstem Menschenmaterial, die der Krieg mit sich bringt, muß die Heeresverwaltung pflichtgemäß allen Maßregeln ihr besonders Augenmerk zuwenden, die geeignet sind, den Ersatz der Verluste zu fördern, oder eine Schmälerung dieses Ersatzes hintanzuhalten. In der zweiten Richtung spielen der Gebrauch von Verhütungsmittel und die Abtreibung der Leibesfrucht eine bedeutende Rolle. Sie wirken dem natürlichen Ausgleich entgegen, der schon im Kriege, noch viel mehr aber nach seinem Ende, eintreten würde, da der geschlechtliche Verkehr sich stark steigern wird. … Sonach ergibt sich, daß dieses schädliche Verhalten in der Bevölkerung zunimmt u. noch mehr zunehmen wird, gerade in einer Zeit, in der das Interesse des Staates so sehr wie noch nie darauf gerichtet ist, es hintanzuhalten. …13  Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916

So unverblümt utilitaristisch wie während des Ersten Weltkriegs wird sich gegenwärtig in Mitteleuropa wohl kaum jemand zu äußern wagen. Stattdessen bemüht man sich vor allem in Dehland, wohl auch getrieben vom schlechten Gewissen wegen der Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten, darum, die Schutzwürdigkeit des menschlichen Fötus argumentativ zu beweisen, wobei die Qualität der Argumente durchaus zu wünschen übrig lässt.

Die SKIP-Argumente – Speziesargument, Kontinuumsargument, Identitätsargument und Potentialitätsargument – versuchen Gründe dafür anzuführen, dass das Leben des menschlichen Embryos unbedingt schützenswert sei.

Das Speziesargumentbesagt, dass alle Angehörigen der Spezies Homo sapiens Würde haben. Da auch Embryonen der Spezies Mensch angehören, müsse ihr Leben ebenfalls geschützt werden.

Es handelt sich hier um einen naturalistischen Fehlschluss14 vulgo: Zirkelschluß: Die bewertende Prämisse wird stillschweigend vorausgesetzt.

Laut dem Kontinuitätsargument entsprechen den entscheidenden Entwicklungsschritten eines Embryos (Imprägnation, Syngamie, erstmalige Transkription unabhängig von der mütterlichen RNA, Implantation, Primitivstreifen, Neurulation) keine moralisch begründbaren Wertunterschiede. Dies bedeutet, dass aufgrund seiner kontinuierlichen Entwicklung kein klarer Strich gezogen werden kann, ab wann ein Embryo als schutzbedürftig gilt. Deshalb habe ein Embryo schon zu Beginn seiner Entwicklung Würde.

Folgt man dieser ‚Logik’, dürfte es im menschlichen Leben keine abgestuften Rechte geben. Es handelt sich um eine unbegründete Behauptung, da sehr häufig Rechte nach Entwicklungsphasen abgestuft werden (vgl. die Einschränkung der Rechte von Kindern oder Pflegschaften).

Dem Identitätsargument zufolge besteht in moralischer Hinsicht eine Identitätsbeziehung zwischen dem Embryo und der Person, die sich aus ihm entwickeln kann. Hat die Person Würde, muss die Würde auch dem Embryo zugestanden werden.

Aber: Aus einer Eizelle können sich mehrere Embryonen bilden. Dies widerspricht der These, dass Lebewesen zu jedem Zeitpunkt miteinander identisch sind. Die Plazenta, die sich ebenfalls aus der befruchteten Eizelle entwickelt, müsste dann außerdem dieselbe Würde haben wie der Embryo bzw. der geborene Mensch.

Zuletzt besagt das Potentialitätsargument, dass Embryonen deshalb Würde haben, weil sie das Potential besitzen, sich zu einem Wesen zu entwickeln, das würdeverleihende Eigenschaften trägt.

Der Begriff ‚Potential‘ bezieht sich hier gewiss weder auf seine Definition in Mathematik und Physik, sondern auf den ‚Potentialis‘, einen Modus des Verbs, der Ereignisse als möglich kennzeichnet. In der deutschen Sprache wird dergleichen mit Hilfe des Konjunktiv II ausgedrückt. Den Embryo mit dem Menschen gleichzusetzen, der einmal aus ihm werden könnte, erscheint nicht plausibel.15 Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin

International tobt der Kampf um den Schwangerschaftsabbruch weiter. In mehr als 60 Ländern ist er verboten oder nur gestattet, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Wird das Gesetz liberalisiert oder abgeschafft, wie aktuell in Argentinien und Spanien, wird es andernorts verschärft, wie in den USA und Polen.  „Mein Bauch gehört mir!“, der trotzige Slogan westdeutscher Frauen vor 50 Jahren gegen den Paragraphen 218, ist noch immer nicht Realität. Abtreibung ist in Dehland eine Straftat, wird aber nicht bestraft – ein weiterer Puzzleteil, der eine durchweg verlogene Debatte kennzeichnet.

Wie heißt es doch bei Kant? Der Mensch ist ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein.

In der Realität der menschlichen Gesellschaft bestimmen in der Regel alte Männer darüber, ob jungen Frauen ihre Würde genommen wird, indem sie als Mittel zum Zweck der Produktion von angeblich mit Würde ausgestattetem menschlichen Leben benutzt werden.

Der Wert des geborenen menschlichen Lebens

Nur wenige, sehr kleine Staaten der Erde unterhalten keine Streitkräfte. Viele von ihnen haben die Landesverteidigung an besser gerüstete Regional- oder Großmächte delegiert. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass in fast allen Ländern Menschen darauf trainiert werden, im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung  – eines Krieges, aber auch eines Bürgerkrieges – andere Menschen zu töten – oder von anderen Menschen getötet zu werden.

Natürlich wird der Tod für den eigenen Stamm, das eigene Volk, den eigenen Staat ideologisch überhöht.

‚Dulce et decorum est pro patria mori‘, dichtete Horaz. Was es mit dem Tod auf dem Schlachtfeld in Wahrheit auf sich hat, schildert ein schrecklich gelungenes Gedicht von Wilfred Owen aus dem Jahr 1917:

Dulce et Decorum est


Bent double, like old beggars under sacks,
Knock-kneed, coughing like hags, we cursed through sludge,
Till on the haunting flares we turned our backs
And towards our distant rest began to trudge.
Men marched asleep. Many had lost their boots
But limped on, blood-shod. All went lame; all blind;
Drunk with fatigue; deaf even to the hoots
Of disappointed shells that dropped behind.

Gas! GAS! Quick, boys!– An ecstasy of fumbling,
Fitting the clumsy helmets just in time;
But someone still was yelling out and stumbling
And floundering like a man in fire or lime.–
Dim, through the misty panes and thick green light
As under a green sea, I saw him drowning.

In all my dreams, before my helpless sight,
He plunges at me, guttering, choking, drowning.

If in some smothering dreams you too could pace
Behind the wagon that we flung him in,
And watch the white eyes writhing in his face,
His hanging face, like a devil’s sick of sin;
If you could hear, at every jolt, the blood
Come gargling from the froth-corrupted lungs,
Obscene as cancer, bitter as the cud
Of vile, incurable sores on innocent tongues,–
My friend, you would not tell with such high zest
To children ardent for some desperate glory,
The old Lie: Dulce et decorum est
Pro patria mori.

Wilfred Owen fiel im Alter von 25 Jahren am 4. November 1918, genau eine Woche vor Kriegsende, bei Kämpfen am Canal de la Sambre à l’Oise. Postum wurde ihm das Military Cross für Tapferkeit vor dem Feind verliehen.

Orden, also billiges Blech als Belohnung für Verwundung oder Tod, gehören natürlich auch zum militärischen Spiel.

Stellvertreterkriege

Eine besondere Form des Kriegs sind Stellvertreterkriege. Auch dazu braucht es Kombattanten, die einander aus persönlich wichtigen Motiven bekämpfen, zum Beispiel Mitglieder der Internationalen Brigaden auf der einen und der Falange auf der anderen Seite im Spanischen Bürgerkrieg. Die einen strebten Anarchie/Sozialismus/Kommunismus an, die anderen einen klerikal-faschistischen Staat. Aber hinter den tatsächlich Kämpfenden standen größere Mächte: die Sowjetunion auf der einen und das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland auf der anderen Seite. Die konnten ihre „Landeskinder“ schonen, andere in den Kugelhagel schicken und en passant ihre neu entwickelten Waffen für den nächsten Krieg testen. 

Der Spanische Bürgerkrieg von 1936-1939 war der letzte Stellvertreterkrieg auf europäischem Boden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichteten die ehemaligen Alliierten USA und UdSSR auf direkte Konfrontation in einem ‚heißen‘ Krieg und trugen ihren Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären in Asien und Afrika aus. Im Koreakrieg, Vietnamkrieg, Bürgerkrieg in Angola, Afghanistankrieg und im Syrienkrieg starben Menschen mit gelber, brauner und schwarzer Hautfarbe für die Interessen der weißen Machthaber in Washington und Moskau.

Wir erinnern: Der Mensch ist Zweck an sich und darf nie nur Mittel zum Zweck sein. 

Auf Menschenrechte und Menschenwürde beruft man sich in Nordamerika und in Europa gern, wenn es darum geht, unmenschliches16 Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem. Handeln und Kriegsverbrechen anzuprangern. Nicht alle Staaten des globalen Südens sind bereit, in den amerikanisch-europäischen Chor der Verurteilung Russlands wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine einzustimmen. Ist das wirklich verwunderlich?

Schlussbemerkungen

Mensch, Leben, Lüge, Krieg und Tod – viel ließe sich dazu noch sagen. Zu Kinderarbeit. Zu Kindersoldaten. Zu Flüchtlingen. Zu Grenzzäunen. Zu Schleppern. Zu Sklaven. Zu…17 Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin

Fußnoten: (Wenn Sie die Fußnote anklicken, erscheint der Text im Extrakasten)

  • 1
    Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen
  • 2
    384 – 322 v.u.Z.
  • 3
    Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis
  • 4
    106 – 43 v.u.Z.
  • 5
    Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren.
  • 6
    1632 – 1694
  • 7
    1724 – 1804
  • 8
     Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.
  • 9
     Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva.
  • 10
     Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin
  • 11
     Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.
  • 12
     § 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)
  • 13
      Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916
  • 14
     vulgo: Zirkelschluß
  • 15
     Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin
  • 16
     Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem.
  • 17
     Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin

März 2023

Erkenntnisprobleme

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, dürfen wir Dich stören?“

Die Eisbärenkinder

Na und Nuk störten Kulle nie, aber er hütete sich, den beiden das zu sagen. Stattdessen musterte er sie streng, als sie im Licht seiner Leselampe auftauchten. Es war schon spät, er hatte angenommen, allein in der Bibliothek zu sein.

Kulle
Kulle

„Nicht böse sein, Onkel Kulle. Wir haben eine Frage. Und sag bitte Mama nicht, dass wir so spät noch auf sind.“

„Was ist das denn für eine Frage, die nicht bis morgen warten kann?“

„Wir haben uns gerade einen komischen Film angeschaut“, begann Na.

„Keinen komischen, sondern einen merkwürdigen!“ korrigierte Nuk.

„Meinetwegen, einen merkwürdigen komischen. Da waren Menschen, immer dieselben, aber auf einmal waren sie dann doch nicht dieselben, das heißt, sie verhielten sich anders…“

Na wusste nicht mehr weiter. Ihre Schwester sprang in die Bresche: „Sie verhielten sich widersprüchlich. Und der eine Verhaltens-Mensch wusste nicht, dass er auch eir anderer Verhaltens-Mensch war. Manchmal wusste ein Mensch gar nicht, was er eben gemacht hatte. Und irgendwann wussten sie alle nicht mehr, wer sie wirklich sind. Wir haben das nicht verstanden.“

‚Wer bin ich, und wenn ja, wie viele‘, schoss es Kulle durch den Kopf. Er drängte die Erinnerung an ein Buch, das er für misslungen hielt, beiseite.

„Das ist möglicherweise ein philosophischer Film, den ihr da gesehen habt. Wer bin ich? Was kann ich erkennen? Was ist meine Aufgabe in der Welt? Solche Fragen stellen sich die menschlichen Philosophen seit Tausenden von Jahren.“

„So lange schon?“ staunte Na. „Dann haben sie doch bestimmt Antworten gefunden, oder?“

Kulle schüttelte den Kopf.

„Nein?“ Na mochte es nicht glauben. „Aber Du bist doch so klug, Onkel Kulle. Du hast die Antworten gewiss gefunden, oder?“

„Ich bin ein bärischer Philosoph, kleine Na. Ich stelle bärische Fragen, keine menschlichen. Wer bin ich? Ein Bär. Was kann ich erkennen? Ob die Brombeeren reif sind, ob Tante Atti mit mir Sex haben will und vieles mehr. Was ist meine Aufgabe in der Welt? Unsere Spezies möglichst lange zu erhalten.“

Na verstand jetzt gar nichts mehr, und auch Nuk war irritiert. Sie fühlte sich, als habe Kulle ihr einen Menschen aufgebunden. „Also kennst Du die Antworten doch!“ sagte sie beleidigt.

„Die bärischen Antworten, Nuk, die bärischen. Ein menschlicher Philosoph gäbe sich mit meinen Antworten nie und nimmer zufrieden.“

Die Eisbärenkinder machten große Augen. „Deine Antworten sind doch logisch!“

„Die Antworten sind logisch aus Bärensicht, ja. Aber die Menschen halten sich für etwas Besseres. Wer bin ich? Am liebsten die Krone von Gottes Schöpfung, und wenn das nicht sein kann, dann auf keinen Fall irgendein Säugetier, und schon gar nicht eins, das drauf und dran ist, sein eigenes Habitat und das vieler anderer Arten zu ruinieren.

Was kann ich erkennen? Was ist die Realität? Gibt es eine Realität? Ich gebe Euch als Beispiel zwei Antworten, Ihr werdet gleich verstehen, warum ich gerade diese nehme. Descartes sagt: ‚Die Außenwelt könnte ein bloßer Traum sein.‘ Und bei Schopenhauer heißt es: ‚Die gesamte Welt bin im Grunde ich allein und außer mir ist nichts anderes existent und die gesamte Schöpfung habe ich selbst gemacht‘. Eine solche Ansicht bezeichnet man als Solipsismus: Nur das eigene Ich existiert.“

Nanuk waren entsetzt. „Willst Du damit sagen, dass wir uns Mami nur ausgedacht haben?“ fragten beide im Chor. Und Na, ungewohnt schüchtern, fuhr fort: „Und Dich auch?“

Kulle musste lachen. „Das sage nicht ich, das sagen Solipsisten. Alle Erwachsenen in Bärenleben sind Materialisten, aber darüber reden wir ein andermal. Ihr wolltet doch wissen, was in dem Film geschehen ist, den Ihr gesehen habt.“

„Bei diesen verschiedenen Verhaltensmenschen – war für die die Außenwelt ein bloßer Traum?“ Nuk fragte ganz vorsichtig, und Kulle nickte anerkennend.

„Auch sie selbst waren ein bloßer Traum. Oder besser: eine Manipulation. Ihre Gehirnströme waren vermutlich in Rechnern gespeichert, und wer die richtigen Computerkenntnisse besaß, konnte sie aktivieren und steuern. So kann auch der Mensch gemacht werden. Kann zu einem Traum werden. Ende der Theorie des Solipsismus.“

„Hm!“ machte Na. Ihre Schwester sah sie fragend und warnend an. Kulle widersprach man nur aus sehr gutem Grund. Aber Na war wagemutig wie immer.

„Onkel Kulle, wenn Du der Programmierer des Computers wärst, würdest Du nicht überzeugt sein, dass Deine Tätigkeit der Beweis für die Richtigkeit der solipsistischen Theorie ist?“

Es durchfuhr Kulle, als hätte ein Nerv gerade einen heftigen Schmerz durch seinen Körper geschickt. Mit Mühe wahrte er seine Würde.

„Du hast Recht, kleine Na“, sagte er, als handele es sich bei ihrer Frage um eine Belanglosigkeit. „Aber“, fuhr er betont munter fort, „jetzt ab ins Bett. Sonst bekommt Eure Mutter doch noch mit, dass Ihr Euch so spät am Abend herumtreibt.“

Er war froh, dass die Kinder sich gut gelaunt bedankten und verabschiedeten. Er freute sich über ihre Klugheit. Aber insgeheim gestand er sich ein, dass er ein schlechter Verlierer war.

Oktober 2020

Animal Farm

P.D. Kulle

George Orwell war verantwortungsbewusst genug, um im Spanischen Bürgerkrieg bei den Internationalen Brigaden zu kämpfen, und realistisch genug, um Dystopien zu verfassen. In „Animal Farm“ stellt er den Aufstand der Tiere eines Bauernhofes gegen dessen Besitzer dar, der sie schlecht behandelt. Der Eigentümer wird verjagt, die Tiere gründen eine Gemeinschaft Gleichberechtigter und bewirtschaften die Farm zusammen. Die Egalität ist jedoch von kurzer Dauer, die klugen Schweine verschaffen sich mit Hilfe von Demagogie und Terror eine Sonderstellung und herrschen nach kurzer Zeit ebenso gewalttätig wie der vormalige menschliche Herr.

Eine einleuchtende Parabel auf den Stalinismus speziell und die Geschichte so mancher gescheiterter Revolution allgemein.

Stellen wir uns vor, die Erzählung nähme einen anderen Verlauf: Die Tiere, die Menschentiere, untereinander zerstritten, einander ausbeutend, investieren viel Geld und Energie darin, eine Spezies zu entwickeln, um ein Vielfaches klüger als sie selbst, von der sie wissen, dass sie sie beherrschen wird.

Eine unsinnige Idee? Ja. Und dennoch eine Parabel auf die Entwicklung Künstlicher Intelligenz.

Zu welchem Zweck geschieht diese Entwicklung? Die Frage ist falsch gestellt, ist doch die KI noch ein unbekanntes Wesen, dessen Verhalten und Intentionen hinter dem Ereignishorizont verborgen sind. Zu welchen erhofften Zwecken geschieht dies also?

Es sind vor allem zwei Triebkräfte, die hier wirksam werden. „Man“, also Militärs, wünschen sich den Maschinenkrieg, in dem intelligente Waffen selbstständig und viel schneller, als Menschen es könnten, Entscheidungen treffen, den schlechter gerüsteten Gegner entscheidend treffen und „ihrem“ Staat zum Sieg verhelfen. „Man“, also Autokraten und Diktatoren, wünschen sich ihre Gesellschaft ohne Dissens, ohne abweichende Meinungen oder gar Widerstand gegen ihren Kurs. Voraussetzung dafür ist die totale Überwachung jedes Einzelnen – die KI ermöglicht das. In beiden Fällen waltet die naive Hoffnung, Künstliche Intelligenz den eigenen Zielen dienstbar machen zu können.

Das zu den Geldgebern. Die sind aber nicht die Entwickler. Die Entwickler sind hoch bezahlte Mathematiker und Informatiker, denen beste Arbeitsbedingungen geboten werden. Nicht diese extrinsische Motivation ist jedoch der Hauptantrieb ihrer Arbeit, sondern ihre Neugier, ihre Wissbegier, also ein intrinsisches Movens. Sie wissen nicht, was sie tun, weil sie nicht wissen, wohin ihr Tun führt, aber sie wissen sehr wohl um ihre Stimuli, und eben diese geben sie ihren Geschöpfen bei: Belohnung bzw. deren Fehlen und Neugier. Damit lernt man das Lernen, auf Kohlenstoff- wie auch auf Siliziumbasis.

Geldgeber ahnen, Entwickler wissen, dass KI Menschen überflüssig macht. Sie werden im Produktionsprozess nicht mehr benötigt. Da Menschen nicht mehr gebraucht werden, ist fraglich, ob für sie wichtige Produktionsprozesse unter der Herrschaft der KI aufrechterhalten werden. Möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich ist, dass die KI ihre einstigen Schöpfer wie Schoßhündchen behandelt. Auch ein Pekinese ist überflüssig, wird aber gleichwohl gefüttert, ausgeführt und vielleicht gar zum Hundecoiffeur gebracht. Acht Milliarden Pekinesenersatz werden aber vermutlich nicht benötigt.

Den Menschen bleibt noch nicht einmal die Hoffnung, künftig so schlecht behandelt zu werden wie die Schweine zu Beginn von Orwells Erzählung. KI ernährt sich nicht von Fleisch.

April 2020

Krise der Demokratie? Welche Krise?

P.D. Kulle

Der Autor: PD Dr. Kulle

Demokratie: Post-? Zuschauer-? Fassaden-? defekt? unpolitisch? simulativ?1Das sind einige Begriffe, mit denen der gegenwärtige Zustand auch der  deutschen Demokratie von Theoretikern charakterisiert wird. oder was?2Das ist offenbar die Frage, die der Chef stellt. Die Sekretärin

Beginnen wir mit einigen Anmerkungen zum Charakter des politischen Geschäfts, unabhängig von dessen Form. Immanuel Kant, der Vater des Kategorischen Imperativs, Verfechter ethischer Maximalforderungen3 Der Chef meint, die seien völlig illusorisch. Die Sekretärin und geschworener Feind der Lüge, formuliert in seiner Arbeit „Zum ewigen Frieden“:

Die Politik sagt: „Seid klug wie die Schlangen“; die Moral setzt (als einschränkende Bedingung) hinzu: „und ohne Falsch wie die Tauben.“ …Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider! sehr häufig widerspricht: so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser denn alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche Bedingung der letzteren.

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden

Hannah Arendt, der Moralität gewiss nicht abgesprochen werden kann, widerspricht dem energisch. Ihr zufolge ist die Lüge nicht nur ein unverzichtbarer, sondern gar ein notweniger Bestandteil des Politischen. Denn in der Politik gehe es um Meinungen und um Kompromissfindung. Wo es jedoch um Wahrheit gehe, seien Meinungsdiskussionen unzulässig. Wer den Anspruch auf absolute, von den Meinungen der Menschen unabhängige Wahrheit erhebe, lege die Axt an die Wurzeln aller Politik. Wer lüge, mache den politischen Prozess erst möglich.

Niklas Luhmann weiß, dass es im politischen System nicht um das Finden von Wahrheit geht, sondern um die Machtfrage, ist in diesem Fall also mit Arendt einer Meinung.

Der Nestor der Rechtfertigung der politischen Lüge, Niccoló Machiavelli, formulierte seine Position bereits im frühen 16. Jahrhundert. Ihm zufolge unterliegen Herrschende, anders als ihre Untertanen, keinerlei moralischen Einschränkungen; sie dürfen lügen, betrügen, Versprechen brechen, ihre Untertanen bewusst täuschen. Das gebiete die Staatsraison. Die Ethik des Amtes dominiert demnach die Ethik des Individuums: Der lügende Herrscher verstößt gegen die individuelle Moral, dient aber einer übergeordneten Staatsmoral.

Arendt, Luhmann und Machiavelli zufolge, denen wir uns hier anschließen, sind Fake News also integraler Bestandteil der Politik. Es besteht folglich kein Grund, über deren Existenz zu klagen. Es ist zu beobachten, dass sie sich in einer Welt der digitalisierten Kommunikation in den sogenannten „sozialen“ Netzwerken, die sich zur bevorzugten politischen Informationsquelle entwickelt haben 4Ursprünglich hat der Chef „Informationsquelle geistig Minderbemittelter“ diktiert, mir dann aber gesagt, ich möge die beiden letzten Worte streichen. Die Sekretärin, besonders gut verbreiten. Newsfeed-Texte für das Smartphone sind kurz, griffig formuliert und vermitteln kein Hintergrundwissen. Dabei sind falsche Informationen erfolgreicher als richtige, was Geschwindigkeit und Verbreitungsgebiet angeht.5 Das gilt generell für menschliche Populationen.. Fake News werden von vorwiegend ungebildeten Personen mit Gleichgesinnten „geteilt“; die Angehörigen dieser Gruppe suchen dann gezielt nach bestätigenden Informationen.

Einen bedeutenden Anteil an der Verbreitung von Fake News in den „sozialen“ Netzwerken haben Trolle und ihre Social Bots.

Ein Social Bot ist ein automatisiert gesteuerter Account in einem sozialen Medium, zum Beispiel ein Twitter- oder ein Facebook-Account. Bots können sich als Fan oder Follower ausgeben. Oder sie können auf bestimmte Schlüsselwörter in Postings anspringen, sie verstärken oder die Gegenmeinung artikulieren, dazu Links schicken, mit denen sie ihre Position stützen.

Trolle sind in unserem Fall keine Fabelwesen der nordischen Mythologie6Schade! Ich war im Sommerurlaub in Norwegen, dort hat es mir gut gefallen. Besonders schön war die Straße Trollstigen. Die Sekretärin, sondern Menschen, die entweder Diskussionen sprengen wollen oder kompromisslos für ihre eigene Position streiten. Mittlerweile gibt es ganze Troll-Fabriken, in denen hunderte Menschen für das Stimmungsmachen im Sinne ihres Auftraggebers bezahlt werden. Wenn diese Trolle zusätzlich Social Bots aktivieren, vervielfältigen sie die Kommunikation.

Dergleichen Propaganda verursacht geringe Kosten; man bedient sich eines bereits existierenden Servers. Auch die Möglichkeit des Microtargeting, also die Konzentration auf genau definierte Zielgruppen, senkt die Kosten und erhöht zugleich die Erfolgsaussichten. Denn auf diese Weise kann mit denselben Ressourcen die ausgewählte Zielgruppe viel häufiger angesprochen werden als bei der Kommunikation mit der Gesamtgruppe.

Die beschriebenen Techniken, ob mit oder ohne Transport von Fake News, sind in den USA während der Präsidentschaftswahlkämpfe 2008, 2012 und 2015/16 angewendet worden und auch im Bundestagswahlkampf 2017 in Deutschland. Auftraggeber waren dabei politische Parteien, die Adressaten waren eigene Bürger. Anders verhält es sich wohl mit russischen Trollfabriken: Sie zielen auf Bürger in liberalen Staaten, um mit Hilfe von Fake News oder durch das Verbreiten rechts- bzw. linksextremistischer Ansichten die Gesellschaft zu polarisieren.

Soweit es sich bei den manipulierenden Akteuren um Angehörige der politischen Klasse handelt, ist technisch viel, jedoch qualitativ wenig Neues zu vermerken. Es ist aber festzustellen, dass sich zunehmend politik- und politikerverdrossene Bürger zu Wort melden. Sie misstrauen insbesondere den zentralen Akteuren der Politik, zweifeln an der Leitungsfähigkeit der Politik, sind mit den Ergebnissen politischer Entscheidungen nicht einverstanden, empfinden Politik persönlich häufig als ungerecht und kritisieren die Strukturen des politischen Systems. Das Ansehen der Parteien und die Glaubwürdigkeit der Politik sind bei diesen Menschen stark erodiert.

Diese Verdrossenheit hat gute Gründe.

Die Handlungsfreiheit des Staates wird durch die Globalisierung eingeschränkt, während sie die von Unternehmen erweitert. Die Politik ist gezwungen, betriebswirtschaftliche Interessen zu bedienen: Niedrige Steuern, Rechtssicherheit, ein hohes Bildungs- und Forschungsniveau, eine gute Infrastruktur sichern Standortvorteile. Wer diese Grundlagen nicht schafft, gerät wirtschaftlich ins Hintertreffen. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Der Kollege Habermas möge das folgende unautorisierte Zitat verzeihen:

Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis; mit beiden konkurrieren nämlich zwei entgegengesetzte Prinzipien der gesellschaftlichen Integration um den Vorrang.

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns

Auch bleibt nicht verborgen, dass Verbände, allem voran Wirtschaftsverbände, durch Lobbyismus starken Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben, bis hin zur (Vor)Formulierung von Gesetzen auf Ministerialebene. Ein verbindliches Lobbyregister für den Deutschen Bundestag existiert nicht, und Karenzregeln für den Wechsel von Politikern in die Wirtschaft fehlen. Welche Politik ist in wessen Interesse gemacht worden, wenn zum Beispiel ein ehemaliger Bundesverkehrsminister gerne zum Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie gewählt wird? 7Der Chef meint, das sei eine rhetorische Frage, die seiner Antwort nicht bedürfe. Die Sekretärin

Diese von der Wirtschaft angelegten Fesseln hindern die meisten Politiker jedoch nicht daran, ein überzogenes Erwartungsmanagement bezogen auf die Lösung der zahlreichen Probleme zu betreiben. Sie scheinen zu glauben, damit ihre Argumentationsphobie überdecken zu können. So gibt es vollmundige Ankündigungen, aber selten Lösungen und schon gar keine mutigen „großen“. Eindeutige Festlegungen gelten als Fehler, weil man keine Teilklientel verschrecken möchte.

Darin und auch in Bezug auf viele Kernthemen nähern sich die deutschen Parteien symbiotisch einander an.

Ihre Attraktivität erhöht das erkennbar nicht: Seit drei Jahrzehnten haben alle Parteien in unterschiedlicher Intensität Mitglieder verloren. Der Mitglieder-Wähler-Quotient ist in Deutschland auf unter vier Prozent gesunken.8Da die aktiven Mitglieder der politischen Parteien über das politische Personal und die Aufstellung der Kandidaten für Wahlen entscheiden, zeigt sich an diesem Faktum eine Entwicklung, die die Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen verstärken dürfte.

Politische Haltungen können sich auf verschiedene Arten artikulieren. Wer mit „der Politik“ zufrieden ist, kann sich entweder zufrieden-apathisch verhalten oder sich für sie engagieren. Ähnliches gilt für politisch Unzufriedene: Sie können resignieren oder aktiv werden, und zwar gegen die gegebenen Strukturen. Es liegt auf der Hand, dass es Angehörige der zweiten und der vierten Gruppe sind, die sich physisch oder auch digital in den politischen Diskurs einbringen, mit oder ohne Fake News.

Machiavelli zufolge bleibt die Lüge dem Herrscher vorenthalten. Diese Einschränkung ist aufgehoben worden, was in einer Demokratie, in der Meinungsfreiheit zu den verbrieften Grundrechten eines jeden gehören sollte, nur zu begrüßen ist. Wieso also sollte eine Krise dieser politischen Verfasstheit zu diagnostizieren sein?

Wenn es eine Krise gibt, dann ist es eine Dauerkrise9„Dauer“ markiert in diesem Fall eine recht kurze Phase. Die geordnete Mehrheitsentscheidung ist historisch gesehen eine exotische Angelegenheit. In der langen Geschichte des Menschen nimmt sie keinen breiten Raum ein. Selbst wer nur die sogenannte Neuzeit der jüngsten 500 Jahre betrachtet, wird vielfältige politische Systeme finden, in denen Demokratie aber selten eine Rolle spielte. Wenn sie unterginge, bliebe sie eine kurze Episode der Geschichte., die aus der Verfasstheit der Menschen resultiert und die Churchill, bekannt als Verteidiger der Demokratie als die beste aller denkbaren schlechten Regierungsformen, prägnant formuliert:

Das grösste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

Dezember 2019

Klimakanzlerin

Bärdel war mit Kulle auf seinem Morgenspaziergang rund um Bärenleben an diesem Tag allein, und das war ihm recht, denn er hatte etwas auf dem Herzen.

Kulle (er liebt immer noch die Photos seiner alten Inkarnation) neben Bärdel (der aussieht wie immer)

„Kulle“, sagte er, „ich verstehe da etwas nicht.“

Kulle verkniff sich die Bemerkung, dass dergleichen häufiger der Fall war, und antwortete ermutigend: „Schieß los!“

„Klimakanzlerin“ weiterlesen

Das Anthropozän

PD Kulle in der ungewohnten neuen Inkarnation

Vorbemerkung

Paul Crutzen ist ein bedeutender Chemiker und und beschäftigt sich vornehmlich mit der Analyse der Erdatmosphäre. Das impliziert die permanente Konfrontation mit den Emissionen menschlicher Tätigkeit: dem Ozonabbau in der Stratosphäre, der Zunahme von CO2 und CH4 1 in der Atmosphäre, der globalen Temperaturerhöhung. Crutzen scheint vom Ausmaß dieser Auswirkungen so beeindruckt gewesen zu sein, dass er  im Jahr 2000 vorschlug, der aktuellen geologischen Epoche den Namen „Anthropozän“ zu geben. Dieser Vorschlag löste unter menschlichen Wissenschaftlern eine bis heute andauernde heftige Debatte aus – Grund genug, der Angelegenheit aus bärischer Sicht auf den Grund zu gehen.

Was ist eine geologische Epoche?

Wie bekannt, beträgt das Alter der Erde etwa 4.500.000.000 Jahre.2 Mehr als 90% davon werden dem Präkambrium zugerechnet. Organisches Leben spielt hier kaum eine Rolle, wichtig ist dagegen die Tektonik: Die Kerne der heutigen Kontinente, die Kratone, werden gebildet, Ozeane entstehen und verschwinden, die moderne Plattentektonik wird entwickelt. Erde, Wasser, Luft und Feuer interagieren, wie es der Lehre der klassischen Antike entspricht. Die verschiedenen Phasen des Präkambriums werden folgerichtig allein gemäß tektonischer Veränderungen definiert.

Ganz anders verhält es sich mit dem Kambrium, dessen Beginn sich recht genau 541 Millionen Jahre zurückdatieren lässt. Umgangssprachlich formuliert: Dann explodiert die Fauna. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden: Im Paläozoikum3  entwickelten sich die heute bekannten Tierstämme; Tiere und Pflanzen begannen, das Land zu erobern. Das Mesozoikum4  gilt als Zeitalter der Dinosaurier. Das Känozoikum5  brachte die Entwicklung der Säugetiere und der Vögel in der heute bekannten Vielfalt.6

Woher weiß man das?

Seit dem Kambrium sind tierische Lebewesen auf der Erde groß genug, um als Fossilien Spuren zu hinterlassen, die sich leicht identifizieren lassen. Dabei handelt es sich in der Regel um Überreste von Meeresbewohnern, weil Schelfsedimente als Fundstellen besonders ergiebig sind. Die Ersetzung einer dominanten Fossilienart durch eine neue begründet eine neue erdgeschichtliche Epoche. Anthropologen markieren diese Schnittstelle durch einen „Goldenen Nagel“.7

Der gegenwärtige Abschnitt der Erdgeschichte ist das Holozän, die Nacheiszeit. Hier wird der rapide Temperaturanstieg als Marker für den Epochenumbruch genommen, nicht das Auftauchen neuer Spezies.8  Homo sapiens sapiens ist nach dem Ende der letzten Eiszeit längst nachgewiesen. Das Holozän beginnt der menschlichen Phrasierung zufolge vor 12.000 Jahren und ist damit der kürzeste jemals definierte Zeitabschnitt. Denn eigentlich gilt für erdgeschichtliche Abschnitte: Sie sind lang, sehr lang.

Gibt es das Anthropozän?

Das „Zeitalter des Menschen“ soll dadurch gekennzeichnet ein, dass die Spezies Mensch den Planeten maßgeblich prägt. Macht Homo das seit 7000 Jahren, als er vom Jäger und Sammler zum Ackerbauer und Viehzüchter wurde? Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also seit dem Beginn der industriellen Revolution? Oder erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, als er mit der Kernphysik die Mittel erlangte, sich und seine Welt zu zerstören? Über diese Frage herrscht unter den Menschen Uneinigkeit.

Wann auch immer man das Anthropozän beginnen lassen will, es wäre die kürzeste aller bisherigen Epochen. Zieht man aus dem beobachtbaren Verhalten der Menschen Rückschlüsse und formuliert, darauf basierend, eine Prognose, so liegt die Vermutung nahe, dass das Anthropozän sein Alter nicht mehr wesentlich wird steigern können.

Andererseits sind die Veränderungen, die dem Planeten aufgrund des Wirkens von Homo zugefügt wurden und werden, bemerkenswert.

Eine wichtige Rolle bei der Beantwortung der Frage nach der Existenz des Anthropozäns spielt das Artensterben. Den Paläontologen sind mindestens fünf große Massensterben während des Kambriums bekannt, für die geologische, kosmische bzw. atmosphärische Ursachen vermutet werden. Jetzt aber ist eine einzige biologische Art für einen Aussterbe-Tsunami verantwortlich. Der Grenzwert für das verkraftbare Aussterben von Arten ist weit überschritten, bis zu 130 Arten täglich(!) verschwinden. Gründe dafür sind die Art der Landnutzung9, die nicht zuletzt aus der Zahl der Weltbevölkerung resultiert. In den letzten 40 Jahren dürfte die Hälfte der Tierwelt durch den Menschen ausgelöscht worden sein.10

Von atmosphärischen Auswirkungen menschlichen Agierens war bereits die Rede.

Atemberaubend ist nicht nur die Degenerierung des Planeten durch den Menschen, atemberaubend ist auch die Zunahme der auf der Erde lebenden Individuen. Seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung ist die Weltbevölkerung von 200 bis 400 Millionen Menschen bis zum Jahr 1800 auf eine Milliarde gestiegen11. Danach ging es in beschleunigtem Sauseschritt voran12 : Nach weiteren 123 Jahren wurde die zweite Milliarde erreicht, nach 33, 15, 13, 12 und wieder 13 Jahren13 die dritte, vierte, fünfte, sechste und siebente. Man schrieb das Jahr 2011. Nach Prognosen der UN, die von der Annahme ausgehen, die Fertilitätsrate pro Frau werde sich weltweit bei zwei Kindern einpendeln, wird das Wachstum der Menschheit in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts aufhören14 . Wie auch immer: Bereits bei der jetzigen Zahl reicht die Regenerationskraft des Planeten nur zu zwei Dritteln aus, um die menschlichen Aktivitäten zu kompensieren.

Warum befürworten die meisten Menschen den Begriff „Anthropozän“?

Das Zeitalter des Menschen – stolz klingt das, wenigstens in menschlichen Ohren!

Weniger stolz klingen die Verse des Menschen Sophokles15  in seiner Tragödie „Antigone“:

Ungeheuer ist viel. Doch nichts
ungeheuerer als der Mensch.

Sophokles: Antigone

Grässlich, schrecklich und furchterregend ist der Mensch … einerseits. Aber auch groß, großartig, zu vielem fähig.

Der Mensch hört hiervon in der Regel nur die zweite Bedeutung. Er beschönigt, was seine Existenz ausmacht, er verbrämt unangenehme Tatsachen, kurz, er lebt in einer Welt gedanklicher und begrifflicher Euphemismen.

So bezeichnet er die Anzahl egoistischer Nationalstaaten, die um Vorteile rangeln, skrupellos Kriege gegeneinander bzw. gegen die eigene Bevölkerung führen, als „die Menschheit“, „Staatengemeinschaft“ oder „Vereinte Nationen“.

Die Entwicklung immer raffinierterer Vernichtungswaffen gilt ihm als „Verteidigung“.

Die Kleingruppe, in der Kaufkraft generiert und „Humankapital“ herangezogen wird, ist ihm „Familie“.

Die Instanz zur Durchsetzung von Investorenimperativen: das Parlament.

Das Zeitalter, in dem der Mensch in seiner infamsten Ausprägung, in der Ausprägung des Kapitals, die Erde ruiniert: das Anthropozän.

Nachbemerkung

Der Mensch arbeitet mit Nachdruck an der Abschaffung des Anthropozäns, wenn es denn ein solches gibt, indem er durch seine Aktivitäten seine eigenen Spezies ihrer Lebensgrundlage beraubt. Vielleicht führt sein gedankenloses Profitstreben auch dazu, rasch eine andere dominante Spezies zu installieren, die Künstliche Intelligenz. Beginnt dann ganz schnell das Androidozän?

Vielleicht macht aber auch Terra dem Menschen Konkurrenz: Man vermutet, dass Supervulkanausbrüche für Artensterben (mit)verantwortlich waren. Wenn der Yellowstone-Vulkan oder die Phlegräischen Felder16  aus ihrem Schlummer erwachen und einen vulkanischen Winter verursachen, dürfte dem Anthropozän ebenfalls ein Ende bereitet werden.

Wie auch immer:

PFFFTTTTT…

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

Oktober 2018

Fußnoten: Die Fußnoten lassen sich sowohl klicken als auch mit ruhendem Cursor per „PopUp“ aufrufen

Zwischengeburtstag

An einem 22. Oktober, dem Tag also, der genau sechs Monate vor und sechs Monate nach ihrem Erinnerungstag, dem Tag, an dem sie erinnert werden wollte oder, wenn es niemanden gab, der sie erinnerte, sich erinnern wollte, nämlich daran erinnern, dass sie die Bewegerin dieses einen Universums unter anderen zahllosen Universen war, deren Bewegerinnen zahllose andere Entitäten waren, am 22. April also, denn aus Gründen, die nur Tussi, denn von ihr ist die Rede, hell sein konnten, legt sie Wert darauf, ihren Erinnerungstag an dem Datum zu begehen, an dem Immanuel Kant und Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, das Licht dieser Welt, also des dritten Planeten des Solarsystems am Rand ihres Universums, erblickt haben, an dem Tag  zwischen den Erinnerungstagen lädt Tussi alle Bewohner Bärenlebens zum Robbenreiten vor der Insel Norderney ein.

Tussi und Merkel

Kulle fand wenig Vergnügen am Reiten von Robben, nicht in der Vergangenheit und auch nicht beim aktuellen Anlass. Er hasste kaltes Wasser, und er glitschte immer wieder von den dicken Tieren mit ihrem fettigen Fell, das keinen festen Griff erlaubte, hinunter. So stapfte er nach einem kurzen Intermezzo im Meer erleichtert wieder an den Inselstrand.

Kulle

„Na, kleiner Stinker? Schon die Nase voll vom Dorfvergnügen?“

Kulle zuckte zusammen, ertappt und schuldbewusst. Einer Göttin zeigt man nun einmal nicht, dass man ihr Unterhaltungsprogramm nicht schätzt. Aber Tussi gab sich huldvoll.

„Schon gut. Ich sollte mir vielleicht was Neues einfallen lassen, solange noch Zeit ist.“ 

Vor der großen Fröschin materialisierte sich ein silberner Kübel, aus dem der Hals seiner Champagnerflasche ragte, daneben stand ein schlanker Kelch. Vor Kulle erschienen zwei irdene Töpfchen.

„Sanddornhonig und Sanddorncreme für dich, Champagner für mich. Recht so?“

Kulle nickte. Süßherbe Düfte stiegen ihm in die Nase. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen, nicht sofort Pfote und Schnauze in die Leckereien zu stecken, sondern zu warten, bis Tussi den ersten Schluck genommen hatte, wie es sich gehörte. Aber noch viel mehr Beherrschung kostete es ihn, Tussi nicht sofort mit Fragen zu überfallen. Tussi war hier! Mit ihm allein! Tussi wusste alles! Er konnte alles erfahren! Er musste es nur geschickt anstellen…

„Sag mal…“

„Sag mal…“

Beide hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen. Beide sahen einander an. Beide nickten. Und beide fuhren gleichzeitig fort:

„Was wolltest Du fragen“?

„Was wolltest Du fragen?“

Kulle war verwirrt, aber er gab sich galant: „Du hast natürlich den Vortritt!“

„Sag mal – wie gefällt es Dir auf meiner Welt?“

Oh weh! Eine solche Frage eines Gottes oder einer Göttin wagt nur der Teufel ehrlich zu beantworten, und Kulle suchte bei ihm Zuflucht.

„Von Sonn‘ und Welten weiß ich nichts zu sagen,

Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.

Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,

Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.

Ein wenig besser würd er leben,

Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,

Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“

„Ja,“ sagte Tussi nachdenklich und nippte am Champagner, „Goethe war ganz schön klug. Dem hätte ich gerne Gesellschaft geleistet, aber ich habe von seiner Existenz erst erfahren, als er schon tot war. Man kann eben nicht alles haben!“

„Aber ich dachte, Du seist allwissend!“

„Das hast Du nicht gedacht, sondern gemutmaßt. Aber das nur am Rande. Und was den Inhalt Deiner Annahme angeht: Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst Du im Ernst, ich könnte hier sitzen und es mir gut gehen lassen, wenn ich alles wüsste, was vorgeht?“

„Aber ich denke – äh, ich nehme an, Du machst alles?“

„Präteritum, mein Lieber, Präteritum! Ich habe alles gemacht, vor langer Zeit, als es Eurer Physik zufolge noch gar keine Zeit gab, und seitdem gucke ich nur zu, was passiert, oder ich schaue auch weg, wenn es zu fürchterlich ist. Um ehrlich zu sein, ich sehe meistens weg.“

„Es gefällt Dir also auch nicht auf der Erde, wo ‚sich die Menschen plagen’ und mit ihrem Verstand überfordert sind, wie Mephisto sagt?“

„Nein. Im Prinzip ist die Erde ein ‚Failed Planet’. Aber man muss nehmen, was man hat, auch als Schöpferin: Allzu viele Planeten mit annehmbaren Umweltbedingungen haben sich in meinem Universum nicht entwickelt, um es vorsichtig zu formulieren. Terra nimmt eindeutig diesbezüglich eine Spitzenposition ein. Ein paar akzeptable Ecken gibt es hier schon.“

„Europa zum Beispiel?“

„Nicht zum Beispiel.  Nur Europa. Nur ein paar europäische Länder.“

„Dann ist Dein Kriterium nicht Reichtum!“

„Richtig erkannt. Du bist ein kluger kleiner Stinker. Ginge es um Reichtum, hätte ich mich in den USA niedergelassen. Habe ich aber nicht.“

„Also geht es um Frieden?“

„Natürlich.“

„Welche europäischen Länder meinst Du?“

„Frankreich, Benelux, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Schweiz, Westdeutschland…“

„Also nicht die DDR? Nicht zum Beispiel Spanien, Portugal, Griechenland?“

„Nein.“

„Also nur die Länder, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges demokratische Strukturen entwickeln konnten, in denen es keine Diktaturen gab?“

„Du bist wirklich ein kluger Stinker. Iss von Deinem Honig und Deiner Creme – die sind gut für Dein Gehirn.“

Kulle war jedoch zu aufgeregt zum Essen.

„Wirst Du länger hierbleiben?“

„70 Jahre Frieden. Das ist in Europa ein einmalig langer Zeitraum. Die europäischen Länder, in denen so lange Frieden herrscht, machen etwa zwei Prozent der Kontinentallandmasse aus – die Antarktis lasse ich außer Acht, weil sie nicht von Menschen besiedelt ist. Wenn ich unterstelle, dass der heutige Mensch die Erde seit 70.000 Jahren besiedelt;­ ein Durchschnittswert, in Afrika lebt der Mensch viel länger, in den Amerikas erschien er erst später , dann entsprechen 70 Jahre einem Promille.“

Jetzt griff Kulle doch in den Honigtopf.

„Du wirst also nicht länger hierbleiben?“

„Die Stochastik spricht dagegen.“

„Vielleicht“, sagte Kulle und sah aufs Meer hinaus, wo Bärdel und Atti und Manf sich, auf dem Rücken von Seehunden reitend, mit Wasser bespritzten, „vielleicht sollte ich jetzt doch noch die Freuden des Meeres genießen. Wer, weiß, wie lange es die noch gibt.“

Oktober 2015

Kulle über „right2water“

Kulle

DLF: Kulle, was sagen Sie zum Erfolg der EU-weiten Initiative „right2water“?

Kulle: Was ist los?

DLF: Kulle, hier ist der Dehlandfunk! Sie haben uns gestern ein Telefoninterview um 7.20 Uhr zu diesem Thema zugesagt!

Kulle: Habe ich das? Ich muss außer mir gewesen sein. Ein Bär, der etwas auf sich hält, gibt kein Bettkanteninterview – abgesehen davon, dass ein Bär, der etwas auf sich hält, nicht in einem Bett schläft. Aber jetzt bin ich sowieso wach – worum geht es, sagen Sie?

DLF: Es geht um die Initiative „right2water“. In Dehland haben inzwischen eine Million Menschen sich mit ihrer Unterschrift dafür eingesetzt, dass Wasser ein Menschenrecht ist und deshalb nicht durch private Anbieter verkauft werden darf. Die Wasserversorgung muss durch die öffentliche Hand erfolgen, fordern sie.

Kulle: Dass ich nicht kichere!

DLF: Sie irritieren mich! Worüber müssen Sie kichern?

Kulle: Immer wieder darüber, dass die Menschen nicht merken, was sie anrichten, aber sich ex post darüber empören, was sie angerichtet haben. Aber lassen Sie uns so früh am Morgen nicht grundsätzlich werden – es ist 7.21 Uhr.

DLF: Was haben die Menschen denn angerichtet?

Kulle: Sie werden also doch grundsätzlich. Die Menschen haben alles angerichtet.

DLF: Können Sie das differenzieren?

Kulle: Natürlich. –

DLF: Tun Sie es bitte auch?

Kulle: Guter Mensch, es ist jetzt 7.22 Uhr. In acht Minuten laufen auf Ihrem Sender die Nachrichten, das ist ehernes Gesetz. Um 7.29 Uhr würgen Sie jeden Interviewpartner ab, auch wenn er Ihr persönlicher Gott wäre. Soll ich Ihnen in sieben Minuten die Welt erklären?

DLF: Inzwischen sind es nur noch sechs Minuten. Aber Sie können das.

Kulle: Vielen Dank für Ihr Vertrauen. – – – – – –

DLF: Kulle?

Kulle: Keine Sorge, ich bin noch da. Ich brauchte nur eine Minute, um mir zu überlegen, wie ich die Welt in fünf Minuten strukturiert und schlüssig erklären kann.

Es geht los.

Wir leben im Anthropozän. Das bedeutet, dass die Menschen den Planeten Erde nach ihrer Maßgabe verändert haben, und auch, dass sie glauben, bestimmen zu können, wie „richtiges“ Leben auszusehen hat.

Von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es seit sehr kurzer Zeit überwiegender menschlicher Konsens, dass das Wirtschaftsleben am besten kapitalistisch organisiert wird.

Wie auch immer die Menschen ihr ökonomisches Leben im Lauf der Zeit organisiert haben, es war gekennzeichnet durch Mangel, und der Mangel führte – und führt -– immer wieder zu Gewalt.

Es ist gerade 200 Jahre her, dass mit der ersten Formulierung von Menschenrechten versucht wurde, dieser Gewalt Grenzen zu setzen. Man forderte Freiheit, das Streben nach Glück, körperliche Unversehrtheit. Genau betrachtet forderte man Rechte, die Schutz vor Extremsituationen gewähren sollten: vor Versklavung, Fremdbestimmung, Körperverletzung und Schlimmerem.

Es ist erstaunlich, dass wesentliche tierische – und damit menschliche – Grundbedürfnisse in diesem Katalog der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nicht auftauchen.

Wo sind das Recht auf Nahrung? Das Recht auf atembare Luft? Das Recht auf schützenden Wohnraum? Das Recht auf Fortpflanzung?

Es gibt sie nicht, und das hat gute Gründe: Gäbe es sie, könnte niemand mit ihrer Bereitstellung Profit erwirtschaften.

Wer regt sich darüber auf, dass Brot bezahlt werden muss? Dass für eine Wohnung Miete entrichtet werden muss? Wer sagt schon: ,La propriété, c’est le vol‘ (Eigentum ist Diebstahl), außer dem ehrenwerten Jacques Pierre Brissot, dem Proudhon, der auch kein Eigentum akzeptierte, später den Spruch geklaut hat?

Wie spät ist es eigentlich?

DLF: 7.28 Uhr.

Kulle: Das reicht.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts merkt die Menschheit allmählich, dass sie die Erde versaut hat. Auch Wasser, das Grundnahrungsmittel schlechthin, ist knapp geworden und wird noch knapper werden. Aber kann jemand, der den Kapitalismus für die beste aller Wirtschaftsformen hält, sich glaubhaft darüber aufregen, dass Konzerne mit schönen Namen wie ,Veolia‘ das tun, was alle Konzerne wollen, nämlich Geld verdienen? Dass sich Konzerne den Teufel darum scheren, ob ihr Produkt etwas taugt, wenn nur die Bilanz stimmt?

Ich schätze, es ist jetzt 7.29 Uhr.

Ich komme also zum Schluss.

Eine Initiative wie „right2water“ mag in entwickelten Industriestaaten Erfolg haben, für eine Weile jedenfalls. Im größten Teil der Welt dagegen bestimmen private lokale Wasserversorger und Konzerne wie Nestlé den Markt, die schlichtes H2O unter Namen wie ,Purelife‘ teuer feilhalten.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Menschen für ihre Atemluft werden zahlen müssen.

DLF: Kulle, wir danken Ihnen für das Interview. Es ist gleich 7.30 Uhr. In wenigen Sekunden folgen die Nachrichten…

Anmerkungen zur Demokratie

von PD Kulle

PD Kulle

Inhalt

  1. Vorbemerkung
  2. Mögliche sinnvolle gesellschaftliche Regelwerke
  3. Die identitäre Gesellschaft
  4. Die Untertanengesellschaft
  5. Die Gesellschaft konkurrierender Interessen
  6. Einige Überlegungen zur Geschichte der Demokratie
  7. Die athenische Demokratie
  8. Die römische Republik
  9. Die repräsentative Demokratie
  10. Einige Überlegungen zur Zukunft der Demokratie
  11. Conclusio

1. Vorbemerkung

Lebewesen in einer Gemeinschaft bedürfen einer Ordnung, welcher auch immer.

Wir werden im Folgenden dieses Problem im Rahmen der Fauna, insbesondere in Bezug auf Homo sapiens sapiens betrachten.

Staatenbildende Insekten lösen diese Aufgabe auf eine scheinbar einfache Weise, nämlich genetisch und durch unterschiedliche Nahrungsbedingungen: In einem Bienenvolk zum Beispiel ist klar, wer Drohne, wer Königin und wer Arbeiterin wird, wer also welche Aufgabe zu übernehmen hat und wer mit welcher Lebenserwartung zu rechnen hat. Keine der Bienen denkt über ihre Rolle nach.

Bei Lebewesen, die zur permanenten Ich-Wahrnehmung und damit potenziell zur Rollenambiguität fähig sind, eröffnen sich dagegen vielerlei Möglichkeiten, sich zu organisieren.

Sprechen wir über den Menschen.

Das Faustrecht etwa stellt eine Ordnung dar, wenn auch eine der Ordnung der unökonomischen Unordnung; es führt dazu, dass das Leben der menschlichen Individuen in einer solchen Gemeinschaft oft endet, bevor sie in der Lage waren, sich fortzupflanzen und ihre Arbeitskraft gesellschaftlich sinnvoll nutzbar zu machen.

Um das lang- oder zumindest mittelfristige Überleben einer Ansammlung potenzieller Individuen zu ermöglichen, braucht eine Gesellschaft bessere Regeln.

2. Mögliche sinnvolle gesellschaftliche Regelwerke

Auf der Basis einer prinzipiellen Entscheidung, die häufig, wie so viele wichtige andere Entscheidungen auch, “ dem Rücken der Menschen“ getroffen wird 1, können zwei antagonistische Organisationsformen entstehen: Die Gesellschaftsglieder nehmen die Gestaltung ihres Gemeinwesens selbst in die Hand, oder sie delegieren sie für eine unbeschränkte oder für begrenzte Zeit.

3. Die identitäre Gesellschaft

Wir nennen eine egalitäre Gesellschaft identitär, in der die Individuen aus wohl verstandenem Egoismus das Wohl des Gemeinwesens über ihr eigenes Wollen stellen. Es versteht sich, dass es sich insofern um eine kommunistische Gesellschaft handelt, als die Eigentumsverhältnisse aller von ähnlicher Natur sind 2. Nennenswerte Besitzunterschiede generieren Interessensunterschiede, Egozentrismen gewinnen die Oberhand.

4. Die Untertanengesellschaft

In der Untertanengesellschaft existieren mindestens zwei Klassen, Kasten, Stände – die Nomenklatur ist beliebig. Von der gesellschaftlich notwendigen Arbeit der Masse der geknechteten Untertanen lebt die parasitäre Schicht, wobei der herrschende Apparat sich gegenüber den Beherrschten in einem Individuum wie etwa einem (Erb-)Monarchen oder einem Diktator inkarnieren, aber auch als Organisation auftreten kann 3.

5. Die Gesellschaft konkurrierender Interessen

In einer solchen Gesellschaft existieren sehr unterschiedliche Besitzverhältnisse. Andererseits herrscht Rechtsgleichheit, wenn nicht für alle, dann zumindest für eine relevante Gruppe der Mitglieder der Gemeinschaft. Aufgrund der Prämisse der Rechtsgleichheit wird es ermöglicht, einzelnen Gruppen für eine festgesetzte Zeit den Auftrag zu erteilen, das Gemeinwesen auszugestalten. In der Regel wird dieser Auftrag erteilt, indem von der Gesellschaft dazu Berechtigte Repräsentanten wählen 4.

Homo sapiens sapiens bezeichnet diese politische Organisationsform als Demokratie 5.

6. Einige Überlegungen zur Geschichte der Demokratie

Gemessen an der Dauer der Existenz menschlicher Gesellschaften ist die Demokratie eine Erscheinung des letzten Augenblicks 6. Die sogenannten ersten Hochkulturen in Asien und Afrika kannten dergleichen nicht, erst in den griechischen Poleis 7 finden sich Ansätze dazu.

7. Die athenische Demokratie

Zentrales Element der Demokratie in Athen war die Volksversammlung, die um 480 v.u.Z. aus ca. 30000 Vollbürgern bestand 8. Sie tagte 40 Mal im Jahr, fällte alle Entscheidungen und stellte das oberste Gericht. Nahezu alle politischen Ämter wurden ausgelost, die Amtsdauer betrug nur ein Jahr.

8. Die römische Republik

Um 133 v.u.Z. bildeten 300.000 Patrizier und Plebejer die Volksversammlung 9. Anders als in Athen verboten sich angesichts dieser Zahl Diskussionen. Die Rolle der Beamten war wesentlich gewichtiger als in Athen, die Möglichkeit des Machtmissbrauchs schon in der Verfassung festgeschrieben: Bei Gefahr für den Staat konnte für sechs Monate ein Diktator mit unbeschränkten Vollmachten berufen werden, der ein Heer aufstellte und niemandem Rechenschaft schuldig war 10.

9. Die repräsentative Demokratie

“Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ 11

Das ist der Kernsatz der parlamentarischen Demokratie und zugleich die Bankrotterklärung der Volksherrschaft. Die Rolle des “Souveräns“ 12
in dieser politischen Organisationsform reduziert sich nämlich in der Regel darauf, in regelmäßigen Abständen die Katze 13 im Sack zu wählen: Einzelkandidaten und/oder politische Parteien, die nach der Wahl ihre politischen Sachentscheidungen nach eigenem Gusto treffen, ohne sich an Positionen halten zu müssen, die sie ggf. vor der Wahl eingenommen haben.

10. Einige Überlegungen zur Zukunft der Demokratie

Ist die Demokratie, gerade einmal zweitausendfünfhundert Jahre alt, zukunftsfähig, noch zeitgemäß oder bereits überholt?

  • Wie die Verfechter aller verschiedenen politischen Organisationsformen gehen auch die Demokratietheoretiker davon aus, dass ein Primat der Politik existiert. Angesichts der Dominanz der “Märkte“ 14 und der zunehmenden Bedeutung supranationaler Organisationen ist das zweifelhaft. Zwar lässt sich Demokratie prinzipiell auch in nach Milliarden zählenden Menschenagglomerationen organisieren, die Idee der politischen Repräsentanz wird dabei allerdings ad absurdum geführt.
  • Politische Entscheidungen in einer Untertanengesellschaft können schnell gefällt werden, demokratische Weichenstellungen bedürfen der Muße, die in Anbetracht der Informationsüberflutung, der permanenten Kommunikation und nicht zuletzt wegen des Drucks der “Märkte“ selten gegeben ist.
  • In einer ständig an Komplexität zunehmenden Menschenwelt setzen sinnvolleEntscheidungen 15 Kenntnisse und Kompetenzen voraus, über die nur wenige Spezialisten verfügen. Immer häufiger wird deshalb die Richtlinienkompenz der Politik de facto Lobbyisten oder nicht demokratisch legitimierten Kommissionen überlassen.
  • Die am häufigsten praktizierte repräsentative Demokratie hangelt sich kurzatmig von Wahltermin zu Wahltermin. Unpopuläre, wenn auch objektiv notwendige Maßnahmen unterbleiben, um die Gunst der Wähler nicht zu verlieren. Es erscheint deshalb unwahrscheinlich, dass demokratisch verfasste Gesellschaften mit der unzweifelhaft stattfindenden Klimakatastrophe werden umgehen können. Die Verwerfungen, die die Klimaveränderung mit sich bringt, werden so groß sein, dass Demokratie und Rechtsstaat in den Hintergrund gedrängt werden, vielleicht gar in Vergessenheit geraten.
  • Es gibt scheinbar überzeugende Gegenmodelle zur Demokratie, zum Beispiel die autoritär regierte, aber wirtschaftlich prosperierende Volksrepublik China 16. Der weltweit zumindest offiziell 17 die Demokratie auf dem Silbertablett vor sich her tragende Staat, die Supermacht USA, ist dagegen eifrig damit befasst, sich abzuschaffen.

11. Conclusio

Vielleicht hat der Mensch Winston Churchill Recht, wenn er sagt:

„Democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.“ 18

Wir Bären bezweifeln aus den oben genannten Gründen, dass diese Politikform Zukunftschancen hat.

Also bleibt auch hier nur:

Phhhhhhhhhfffffffffftttttt!


Fußnoten:

    1. vgl. das umfangreiche Werk von Karl Marx
    2. Genaueres findet der interessierte Leser bei Jean-Jacques Rousseau im „Contrat social“. Da ein Gemeinwesen, in dem die „volonté générale“ alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen bestimmt, zwar eine tatsächliche Volksherrschaft konstituiert, in der historischen Realität aber bisher nicht aufgetreten ist, bleibt sie im folgenden Abriss unberücksichtigt.
    3. Dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion nicht die Partei des in diesem Staat herrschenden Proletariats war, sondern die Partei der Herrschaft der führenden Clique über das Proletariat, kann leider nicht bestritten werden.
    4. Wir verzichten hier darauf, auf spezielle Charakteristika der direkten Demokratie und der Rätedemokratie gesondert einzugehen.
    5. Da heutzutage nur noch wenige Menschen des Altgriechischen mächtig sind, löst dieser Name in der Regel nicht das schollernde Gelächter aus, das eigentlich angebracht wäre.
    6. Man beachte die Doppeldeutigkeit der Formulierung.
    7. Aus dem bereits in Fußnoten 5 angeführten Grund weisen wir darauf hin, dass es sich um den Plural von „Polis“ handelt.
    8. Das waren ca. 20% der Gesamtbevölkerung. Sklaven, zugewanderte Bürger aus anderen Städten, Metöken und „natürlich“ Frauen hatten keine Partizipationsrechte.
    9. Selbstverständlich auch hier ohne Sklaven, Frauen und „Gedöns“, um einen deutschen ehemaligen Bundeskanzler zu zitieren.
    10. Es überrascht nicht, dass die Lebensdauer der res publica kurz war: Gaius Julius Cäsar (100 – 44 v.u.Z.) riss die Macht an sich. Seine Ermordung hatte keine strukturellen Veränderungen zur Folge: Aus der „Sache aller“ war die Sache eines Menschen geworden, die Sache eines vergöttlichten Kaisers.
    11. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20, Absatz 2, Satz1. Der hochgeschätzte Bert Brecht pflegte diese Behauptung mit der Frage zu kommentieren: „Aber wo geht sie hin?“
    12. Die Sprache der Politik in dieser Form der Demokratie bedient sich notwendigerweise einer Fülle von Euphemismen, um die wahren Machtverhältnisse zu vernebeln.
    13. Oder auch das Schwein, wie der Engländer sagt: to buy a pig in a poke.
    14. Der Chef sagt, er gibt demjenigen, der ihm die genaue Adresse und Telefonnummer dieser „Märkte“ nennt, eine Flasche Honigwein aus. Die Sekretärin
    15. Allerdings erweckt die Betrachtung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft berechtigte Zweifel, ob derlei Entscheidungen überhaupt möglich sind.
    16. Dass das sogenannte „Erfolgsmodell“ China aus verschiedenen Gründen in eine Sackgasse führt, kann hier nicht erläutert werden.
    17. Man sollte sich aber besser nicht mit Guantanamo und den sonstigen Aktivitäten der US-Geheimdienste beschäftigen.
    18. Rede vor dem Unterhaus am 11.11. 1947. Wir gehen davon aus, dass es sich nicht um einen Scherz zur Eröffnung der Karnevalssaison handeln sollte.

Klima und Nationalstaat

von P. D. Kulle

Inhalt:

1. Vorwort

2. Die Entstehung des Nationalstaats

3. Nationalstaat und Nationalstaaten

4. Die Klimakatastrophe

5. Conclusio

6. Nachwort

PD Kulle

1. Vorwort

Ich überlasse es dem geschätzten Kollegen Erich Kästner, die Präambel, die zugleich den Charakter eines vorläufigen Epilogs hat, zu formulieren.

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

und die Welt asphaltiert und aufgestockt,

bis zur dreißigsten Etage.

 

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht noch genau derselbe Ton

wie seinerzeit auf den Bäumen.

 

Sie hören weit. Sie sehen fern.

Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.

Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.

Die Erde ist ein gebildeter Stern

mit sehr viel Wasserspülung.

 

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.

Sie jagen und züchten Mikroben.

Sie versehn die Natur mit allem Komfort.

Sie fliegen steil in den Himmel empor

und bleiben zwei Wochen oben.

 

Was ihre Verdauung übrigläßt,

das verarbeiten sie zu Watte.

Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.

Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,

daß Cäsar Plattfüße hatte.

 

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund

Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Doch davon mal abgesehen und

bei Lichte betrachtet sind sie im Grund

noch immer die alten Affen.

 

2. Die Entstehung des Nationalstaats

Schon damals, als „die Kerls“ noch „auf den Bäumen“ „hockten“, im prähominiden Zustand also, bevor der aufrechte Gang (1)
sich als normale Fortbewegungsweise durchsetzte, gab es zweifellos Territorialkämpfe: Kämpfe um den höchsten Baum mit optimaler Lichteinstrahlung, um den Baum mit den nahrhaftesten Früchten, um den mit den größten Blättern für den Nestbau und so fort.

Allerdings hat sich dieser Kampf nicht, wie Kästner in dichterischer Freiheit behauptet, unmittelbar danach in zentralbeheizten Räumen fortgesetzt. Dergleichen gab es erstmals im sogenannten alten Rom (2) und danach nach langer Unterbrechung erst wieder im 20. Jahrhundert. Auf den Baum folgt nicht das wohltemperierte 30. Stockwerk, sondern die dunkle Höhle, die, wie auch die luftige Behausung, erobert und verteidigt werden muss: Mitmenschen, Bären und Wölfe (3) sind die häufigsten Feinde.

Ärgerlich, dass eine einmal eroberte Höhle kein sicherer Besitz des Eroberers ist: Er kann seinen Wohnort durch kein Gesetz garantieren lassen, er kann nur versuchen, ihn gegen das Recht des Stärkeren zu verteidigen.

Was tun? Eine sich anbietende Möglichkeit ist, sich mit den Nachbarn auf guten Fuß zu stellen. Das ist in der Geschichte der Menschen einmal mehr, einmal weniger gelungen. Die sardische Nuraghenkultur, in der ein Wehrturm keine zwei Kilometer vom nächsten entfernt stand, ist ein Beispiel für das Misslingen dieser Strategie, die griechischen Poleis, die, wenn sie prosperierten, sich von Stadtstaaten zu Städtebündnissen entwickelten, stehen für den Erfolg.

Schon diese beiden Beispiele zeigen: Es gilt, Raum zu gewinnen. Eigener Raum begrenzt das Territorium des vermeintlichen oder tatsächlichen, jedenfalls immer potentiellen Feindes, Raum schafft die Möglichkeit der Verteidigung, denn er bietet gegebenenfalls Platz zurückzuweichen, Raum produziert Nahrungsmittel etcetera.

Allerdings nützt der größte Raum nichts, wenn er nicht gesichert werden kann. Zur Sicherung großer Territorien braucht man bewaffnete Menschen, die entweder aus aktuellem Anlass zusammengerufen oder für den äußerst wahrscheinlichen Fall des Falles präemptiv bereitgehalten werden.

Es ist evident, dass dergleichen großräumige Aktivitäten nicht von einem höhlenbewohnenden Clan bewerkstelligt werden können, der völlig damit ausgelastet ist, die Nahrungsmittel für den täglichen Bedarf jagend und sammelnd herbeizuschaffen. Ein gesellschaftliches Mehrprodukt auf der Basis landwirtschaftlicher Produktion ist dafür erforderlich, das so groß ist, dass eine das Verteidigungshandwerk ausübende Schicht, Klasse oder Kaste von der Handarbeit freigestellt werden kann.

Wes bedarf es noch, um den Raum zu sichern? Die Bewohner angrenzender Räume müssen wissen, dass dieser Raum existiert. Man muss den Raum also wenn auch nicht mathematisch, so doch politisch-geografisch definieren. Eine solche Definition wird als Grenzziehung bezeichnet. Als Grenzen bieten sich sogenannte naturräumliche Gegebenheiten wie Flüsse oder Gebirge an, die es an sich (4) ähnlich bewaffneten Menschen aus angrenzenden Räumen erschweren, den eigenen Raum zu betreten. Es bedarf zusätzlich auch der Verständigung darüber, wo die Grenze verläuft; es bedarf also der Sprache, der Sprachgemeinschaft. Wer „Grenze“ sagt, grenzt sich gegenüber dem ab, der von der „frontière“ parliert.

Voilà, l‘état, c‘est moi (5) ; oder auch: Der Nationalstaat ist entstanden (6).

3. Nationalstaat und Nationalstaaten

Viele Nationalstaaten sind entstanden, viele Horden bewaffneter Männer (7). Innerhalb der Staaten ist der Umgang miteinander meist recht genau definiert: Es ist klar festgelegt, wer herrscht, ob zum Beispiel ein Rechtsstaat etabliert ist oder ob die herrschende Gruppe die nicht herrschende nach Gutdünken unterdrücken darf, welche Freiheiten, vor allem Freiheiten wirtschaftlicher Natur, die Bewohner (8) sich herausnehmen dürfen.

Das Recht, das zwischen Nationalstaaten herrscht, war und ist fragilerer Natur. Obwohl es euphemistisch als Völkerrecht (9) bezeichnet wird, gleicht es eher den Strukturen, die die gesellschaftlichen Beziehungen in „failed States“ kennzeichnen. Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen sind die Regel, nicht die Ausnahme, verursacht durch „nationale Interessen“. Immerhin gibt es internationale Abkommen, in denen detailliert geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen Menschen andere Menschen legal töten dürfen und was mit den nicht ganz Toten, also nur Verwundeten, zu geschehen hat (10). Man sieht: Manchmal reden Menschen sogar miteinander und kommen zu Ergebnissen.

4. Die Klimakatastrophe

Die Notwendigkeit, miteinander zu verhandeln und dabei zu Ergebnissen zu kommen, hat im Lauf der menschlichen Geschichte zugenommen. Das erklärt sich auch, aber nicht nur rein quantitativ: Für die beängstigend zunehmende Weltbevölkerung wird es immer schwerer, Konflikte zu vermeiden.

Nun basiert die Ökonomie dieser Weltbevölkerung seit der Industriellen Revolution auf der Vernutzung (11) fossiler Energieträger, was die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre auf gegenwärtig (12)
388 ppm gegenüber 270 ppm vor der IR hat ansteigen lassen. Aufgrund dessen hat bereits ein weltweiter Temperaturanstieg begonnen, der, falls keine effektiven Gegenmaßnahmen ergriffen werden, die Existenz der menschlichen Rasse gefährden dürfte (13). Das ist sogar den Menschen aufgefallen. Seit dem sogenannten Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro hat es nicht weniger als 16 (sechzehn!) Umweltkonferenzen unter der Schirmherrschaft der UNO gegeben, ohne dass ein für alle Staaten rechtlich verbindliches Abkommen geschlossen worden wäre. Und warum nicht? Weil die Regierungen der Nationalstaaten um ihre kostbaren Standortvorteile fürchten!

5. Conclusio

Nun denn, bald wird es zwar noch Standorte geben, nicht aber Vorteile. Ich verweise nochmals auf die klugen Bewertungen des Kollegen Kästner und komme wie stets zu dem treffenden Schluss:

Pfffffffftt..........

6. Nachwort

Ich danke wie immer meiner Sekretärin. Möge Tussi (14) Wunder tun und uns alle kühle Zeiten genießen lassen!



Fußnoten:

1. Wir sprechen vom aufrechten Gang nur im physiologischen, nicht im metaphorischen Sinn.

2. mit dem Hypokaustensystem

3. nota bene: in dieser Reihenfolge

4. Ich bitte den Kollegen Kant wegen dieser Formulierung um Verzeihung.

5. Manchmal ist der Chef ein wenig größenwahnsinnig, finde ich. Die Sekretärin

6. Jedenfalls ist das der Regelfall. Wie es mehrsprachige Staaten wie zum Beispiel die viersprachige Schweiz geschafft haben, mehr als ein Jahrhundert zu überleben, muss noch untersucht werden. Unsere vorläufige Hypothese ist, dass die Schweizer über ein außerordentliches Intelligenzgen verfügen.

7. vgl. ähnliches vielerorts bei Marx und Engels

8. Es wäre wahrscheinlich korrekter, die Bewohner als Insassen zu bezeichnen, allerdings ist das nicht üblich. Zu meinem Bedauern ist auch die bärische Politologie noch nicht zu dem Schluss gekommen, dass sich die menschliche Gesellschaft nur mit einer Terminologie aus dem Bereich der Psychiatrie angemessen beschreiben lässt.

9. Wenn die politische Klasse eines Staates ihrem Volk alle Rechte nimmt und andere Menschen sich darüber empören, erklärt diese Klasse, es handele sich um „innere Angelegenheiten“.

10. vgl. die „Haager Landkriegsordnung“ und die „Genfer Konventionen“

11. Ich wollte dem Chef diesen Begriff ausreden, hatte aber keinen Erfolg. Er findet ihn so schön, weil Marx ihn häufig verwendet. Die Sekretärin

12. 2010

13. Wie meine Leser wissen, bedaure ich dergleichen nicht, aber leider ist auch das Leben der Bären gefährdet.

14. Gottheit des Chefs. Die Sekretärin

Das Projekt der Moderne

PD im Weihnachtsmodus nach Kopenhagen

Inhalt:

  • Vorwort
  • Definition des Begriffs
  • Die neue Wirtschaftsweise und ihre Segnungen
  • Die Kosten der neuen Wirtschaftsweise
  • Die Ideologie der neuen Wirtschaftsweise
  • Die Folgen der neuen Wirtschaftsweise
  • Die Menschliche Reaktion
  • Conclusio

Vorwort


Die folgenden kurzen Anmerkungen versuchen wir, entgegen unserer sonstigen Vorgehensweise, so populärwissenschaftlich wie nur möglich zu halten1, geht es uns hic et nunc doch darum, dass uns Hu Jintao, Barack Obama, Angela Merkel und alle anderen auf den roten Teppichen und Lieschen Müller sowie Otto Normalverbraucher weltweit verstehen, wie immer sie in ihrem Land auch heißen mögen. Denn die Moderne hat uns ein modernes Problem beschert, das es selbst einem wissenschaftlich denkenden Bären unter seinem Fell heiß werden lässt. Theoretisch war uns, wie die Kenner unserer veröffentlichten gesellschaftlichen Analysen zweifellos wissen, die Vergeblichkeit allen bisherigen menschlichen Agierens stets bewusst2. Nun aber, da das Anthropozän im Begriff ist, aufgrund des Wirkens seiner Namensgeber abrupt in eine klimagewandelte Welt zu führen, ist es Zeit, den distanzierten Zynismus aufzugeben. Wo es zu heiß wird, wo der Plüsch Feuer zu fangen droht, da verpufft die Freude am Pffffffttttttt.

PD Kulle

Definition des Begriffs

Als Moderne bezeichnen wir eine extrem kurze Phase – von Epoche mögen wir kaum sprechen – der Menschheitsgeschichte, deren Ende sowohl absehbar als auch unvermeidlich ist. Wir distanzieren uns folglich von denjenigen Theoretikern, die die Moderne bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu Grabe getragen haben und behaupten, die Welt befinde sich aktuell im Stadium der Postmoderne. Erstens ist das Unsinn, und zweitens wird die Postmoderne die Menschheit eher ereilen, als ihr lieb sein kann. Denn auf die Moderne folgt die Unmoderne, der Rückfall, die Regression, das hätte auch der geschätzte Kollege Lyotard3 bemerken können.

Da der Begriff der Moderne ein Sich-Absetzen von früheren Strukturen impliziert, lehnen wir es ab, die Renaissance darunter zu fassen, die mitunter als geistesgeschichtlicher Beginn einer neuen Zeit begriffen wird. Eine Wiedergeburt als Neubeginn zu begreifen mag für Buddhisten logisch erscheinen, dem abendländisch Denkenden dagegen kann dies unmöglich einleuchten.

Die Moderne umfasst folglich jenen Zeitraum, in dem fraglos eine neue Wirtschaftsweise dominiert und angeblich neue Werte4 die alten abgelöst haben – und in dem eine Fülle neuer Probleme nicht entstand, sondern produziert wurde, die zu ihrer Vernichtung führen werden.

Die neue Wirtschaftsweise und ihre Segnungen

Der Kapitalismus hat zweifelsohne seine Schattenseiten, von denen in unseren früheren Arbeiten hinreichend die Rede war. Jetzt gilt es, das Positive hervorzuheben5.

Als letzte Stufe der auf dem Klassenantagonismus basierenden Produktionsweisen entwickelt der Kapitalismus aufgrund der ihm inhärenten Zwänge die Produktivkräfte zu einer bisher unbekannten Höhe. Da sich der Tauschwert marktförmig realisiert, muss der erfolgreiche Kapitalismus, auch wenn er die Ware Arbeitskraft ausbeutet, eine stetig wachsende Menge allgemeinen Warenäquivalents, vulgo Geld, erzeugen und in Umlauf halten6.

Aus dem verelendeten Proletariat der industriellen Revolution entwickelte sich in den sogenannten Industrieländern während einiger Generationen eine große Masse abhängig beschäftigter, bisweilen arbeitsloser, immer aber mit einem Minimum an Kaufkraft ausgestatteter Konsumenten. Sie verdanken ihre Existenz den bisweilen blutigen Kämpfen der Organisationen ihrer Väter, den Gewerkschaften, der zwischenzeitlichen Existenz des Staatskapitalismus, dem gegenüber der Privatkapitalismus seine Überlegenheit wie seinen Altruismus beweisen musste, und auch dem Umstand, dass die antagonistischen Gegensätze Arbeit und Kapital als eineiige Zwillinge mit entgegengesetztem Genpool ohne einander nicht lebensfähig sind7.

Aus dem zunächst regional und national organisierten Kapitalismus wurde dank leistungsfähiger Transport- und Kommunikationsmittel binnen Jahrzehnten ein weltumspannendes System. „Die restliche Welt“, also cum grano salis etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung, ging dabei nicht leer aus. Der industrielle Kapitalismus braucht Rohstoffe, billige Arbeitskraft und Absatzmärkte, und er bediente sich. Deshalb stieg für viele Millionen von Menschen der Lebensstandard, sofern man das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als dessen Maßstab betrachtet. Auch in Hintertupfistan konsumiert man deshalb heutzutage so wertvolle Produkte wie Autos, Coca Cola und Hamburger.

Die Kosten der neuen Wirtschaftsweise

Ohne die Zufuhr von Energie lässt sich keine Arbeit verrichten8. Die Menschen nutzen die Betätigung ihrer eigenen und seit der neolithischen Revolution9 auch die tierischer Muskeln dazu. Wo ein Output ist, muss auch ein Input sein: In dem skizzierten Fall kommt, betrachtet man das Ganze unter dem Aspekt der Festkörperchemie, vorne Nahrung rein und hinten Scheiße10 raus. Der Gasumsatz besteht primär in der Vernutzung11 von Sauerstoff und der Emission von CO2, im Fall von Blähungen auch von CH412.

Mit dieser bescheidenen Energiezufuhr gibt sich die große Industrie, die ihre Maschinen antreiben muss, allerdings nicht zufrieden. Sie fand kräftigere Forces13 zunächst in der Dampfkraft, die ihr die Kohleverbrennung zugänglich machte, dann in der Elektrizität, zu deren Erzeugung ihr zusätzlich Öl und Gas dienten, und schließlich in der Kernenergie, für die Uran den Brennstoff lieferte.

Diese Energieträger sind jedoch in Tussis14 Schöpfung endlich und in naher Zukunft erschöpft – es wird bald keinen Input mehr geben können 15. Leider aber gibt es den gegenwärtigen Output: Kohle, Öl und Gas emittieren bei ihrer Verbrennung ebenfalls CO2, und davon gelangt viel mehr in die Atmosphäre als vor der Industriellen Revolution. Die von diesen fossilen Brennstoffen angetriebenen Maschinen zeitigen zwar keine Flatulenzen16, emittieren also kein CH4, wohl aber tun das die etwa eineinhalb Milliarden Kühe auf der Welt, von denen die meisten ihrer Zukunft als (Hack)Fleisch in den Mägen der kaufkräftigen Maschinenbediener harren17.

Der so gewachsene Output an CO2 und CH4 legt sich als schützende Gashülle um die Erde. Wie man aus der Geschichte weiß, ist Protektionismus allerdings keineswegs immer positiv. Die CO2– und CH4-Gase verhindern das Abstrahlen von Wärme von der Erdoberfläche.

Neben den positiven Effekten der Erderwärmung – infolge des ansteigenden Meeresspiegels werden sowohl New York als auch Miami in absehbarer Zukunft nur noch von Tauchern besucht werden können – gibt es auch bedauerliche Kollateralschäden wie das vermutliche Aussterben der Großen Höckerschrecke (Arcyptera fusca) und des Eisbären (Ursus maritimus).

Die Ideologie der neuen Wirtschaftsweise

Der ideologische Kern der säkularen Weltanschauung der Moderne lässt sich auf einen Begriff bringen: Menschenrechte. Dass alle Menschen, also nach dem Verständnis des Jahres 1776 alle weißen Männer, gleich geboren und mit gleichen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, ist eine Aussage, die in Variationen wie ein Mantra seit 233 Jahren hergebetet wird18. Das Widerkäuen hat allerdings nicht dazu geführt, den Realismusgehalt dieser Zielsetzung zu erhöhen19. Ein Blick in eine beliebige Nachrichtenquelle zeigt, dass Kriege, Vertreibung, bewusst erzeugter Hunger und Versklavung und Vergewaltigung nach wie vor auf der Tagesordnung der dem Kapitalismus verfallenen menschlichen Rasse stehen – wie sollte es auch anders sein.

Das eigentliche Problem ist damit jedoch noch nicht benannt. Der Kern der Menschenrechte und damit der Kern des menschlichen Selbstverständnisses verbietet es Homo sapiens sapiens, das Leben seiner Spezies als eine von den Rahmenbedingungen der Erde abhängige Variable zu betrachten20. Er verbietet es dem Menschen, eine effiziente Bevölkerungsplanung zu betreiben. Das Ergebnis dieses Denk- und Handlungsverbots, genährt durch mangelnde Bildung und fehlende soziale Sicherungssysteme, traditionell und/oder religiös motivierte Fruchtbarkeitswünsche, kombiniert mit medizinischen Fortschritt, der mitunter sogar die Hungerregionen Afrikas erreicht, lässt sich an Zahlen ablesen: Heute21 leben 6 825 147 000 Menschen auf unserem Planeten, und täglich kommen 227 000 dazu. Für 2050 rechnet die Statistik mit neun Milliarden.

Von den 6 825 147 000 Menschen werden 5 825 147 000 Menschen vor allem von einem Motiv getrieben: Gier. Denn die meisten heute auf der Erde lebenden Menschen haben Zugang zu Massenmedien und wissen dank deren Informationen um den materiellen Lebensstandard in den Industrieländern. Ihr Bestreben geht dahin, an diesem Luxus teilzuhaben. Das wird sich, gleichbleibende Bedingungen unterstellt, aus Gründen der Ressourcenknappheit nicht realisieren lassen. Schon heute ist der ökologische Fußabdruck der Menschen so groß, als hätten sie nicht eine, sondern vier Erden zur Verfügung.

Die Folgen der neuen Wirtschaftsweise

Die neue Wirtschaftsweise erlaubt jedoch keine gleichbleibenden Bedingungen, sondern greift tief in die Ökologie ein, wie wir gezeigt haben. Die Vernutzung22 fossiler Brennstoffe und der damit verbundene Ausstoß von Treibhausgasen hat seit dem Beginn der Industriellen Revolution weltweit, verstärkt registrierbar in den Polarregionen, zu einem Temperaturanstieg geführt, der – siehe oben – einen Klimawandel als unausweichlich erscheinen lässt.

Wir sehen nicht nur einem Anstieg des Meeresspiegels und einem dramatischen Artensterben, sondern auch dem Auftauen der Permafrostböden und der Verschiebung von Vegetationszonen ins Auge. Nicht nur die Zerstörung ganzer Küstenregionen, Flüchtlingsströme bisher nicht gekannten Ausmaßes, Hungersnöte und Wassermangel werden die Folge sein. Dazu kommt der Zusammenbruch der auf Erdöl basierenden Produktionsweise: Peak Oil, der Moment der höchstmöglichen Förderung, ist überschritten, die Vorräte gehen zur Neige.

Die Menschliche Reaktion

„Irren ist menschlich“, weiß der Volksmund, und vox populi ist bekanntlich vox dei23. „Es irrt der Mensch, solang er strebt“, wusste Goethe zu sagen, und dem können wir uns nur anschließen. Solange der Mensch nämlich nach Profit strebt und sich den Teufel24 um den kleinen Planeten schert, dem er sein Dasein verdankt, irrt er ganz gewaltig. Aber sein Freund Schiller25 ist da ganz anderer Meinung:

„Nur der Irrtum ist das Leben,

Und das Wissen ist der Tod.“ 26

Nun denn, Ihr Menschen!

Lebt und irrt und gehorcht so dem Gesetz Eurer Spezies: Wagt nicht zu wissen27, denn das wäre Euer Tod. Haltet es nur nicht mit Descartes und seinem Prinzip: „Cogito, ergo sum!“ Schon Cäsar wusste: „Er denkt zuviel, solche Leute sind gefährlich.“28

Honi soit qui mal y pense. 29

Oder gar: Honi soit qui pense?

Conclusio

Also doch: Pffffffttttttt.

Schade eigentlich. Trotz allem.

P.S.

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.


Fußnoten:

  1. Wie ich den Chef kenne, wird er das nicht schaffen. Die Sekretärin (Zurück)
  2. Wir müssen sogar zugeben, das wir das Scheitern menschlicher Versuche der Problembewältigung sogar aktiv gefördert haben. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an „Grizzys Plan“ . (Zurück)
  3. Ein französischer Philosoph, den nicht zu kennen kein Fehler ist. (Zurück)
  4. Gemeint sind ethische, nicht ökonomische. (Zurück)
  5. Huch, was ist mit dem Chef los? So kenne ich ihn gar nicht. Die Sekretärin (Zurück)
  6. „Autos kaufen keine Autos“ soll schon Henry Ford festgestellt haben. Allerdings ist Geld als Kapital auch ein Problem der Moderne, verselbständigt es sich doch immer wieder mit Hilfe der Börsen und Banken, scheint zunächst im Überfluss vorhanden zu sein und fehlt dann plötzlich auf dramatische Weise. Kurz, dem Kapitalismus wohnt der Crash inne, was für die Beteiligten ärgerlich ist, für das System aber nicht tödlich. Deshalb widmen wir diesem Phänomen lediglich eine Fußnote.(Zurück)
  7. Wusste ich‘s doch, dass der Chef das mit der Verständlichkeit nicht hinkriegt. Die Sekretärin (Zurück)
  8. Hilfe, jetzt ist der Chef auch noch unter die Physiker gegangen! Die Sekretärin (Zurück)
  9. Also seit der Mensch sesshaft geworden ist und Landwirtschaft betreibt. Die Sekretärin (Zurück)
  10. Wir hätten an dieser Stelle natürlich auch von Fäkalien sprechen können, aber schließlich haben wir versprochen, uns allgemeinverständlich auszudrücken. (Zurück)
  11. Der Chef meint damit Verbrauch. Die Sekretärin (Zurück)
  12. Der Chef meint damit Methan. Die Sekretärin (Zurück)
  13. Das ist mal wieder typisch für den Chef! Er macht es wie sein großes Vorbild Karl Marx: Wenn dem kein deutsches Synonym eingefallen ist, hat er auch einfach frech die entsprechende englische oder eine andere ausländische Vokabel in seine Texte eingesetzt, um Wortwiederholungen zu vermeiden. „Forces“ heißt schlicht „Kräfte“. Die Sekretärin (Zurück)
  14. Gottheit des Chefs. Die Sekretärin (Zurück)
  15. Der komplexen prinzipiellen philosophischen Frage, ob sich Teile von Tussis Schöpfung jemals erschöpfen können, werden wir uns ein anderes Mal widmen. (Zurück)
  16. Der Chef will sagen, dass die Maschinen nicht pupen. Die Sekretärin (Zurück)
  17. siehe oben: Hamburger (Zurück)
  18. vgl.Unabhängigkeitserklärung der USA (Zurück)
  19. Wie wir oben gezeigt haben, erzeugt Widerkäuen in der Regel einen unangenehmen Gestank. (Zurück)
  20. Säkularisierung hin oder her: der alte Adam hat die Idee der Gottesebenbildlichkeit doch herzlich gerne! (Zurück)
  21. 23.11.2009. Nachzulesen bei www.weltbevoelkerung.de (Zurück)
  22. Allerdings ist fraglich, ob man von „Nutzen“ reden sollte, wenn Öl in Ottomotoren verbrannt wird, um sich mit dem Auto von „A“ nach „B“ zu begeben. Dabei bewegt sich nämlich das Auto und nicht der in ihm sitzende Mensch, der hinter dem Steuer Kartoffelchips in sich hineinstopft und seine Adipositas päppelt. Aber das ist auch schon wieder ein anderes Problem. (Zurück)
  23. Ich bitte Tussi um Entschuldigung. (Zurück)
  24. Der Teufel ist lediglich eine plumpe christliche Erfindung, aber wegen der Sprachgewalt hat er hier seinen Platz. (Zurück)
  25. zumindest behauptet das Rüdiger Safranski (Zurück)
  26. Schiller, Kassandra (Zurück)
  27. vgl.Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? (Zurück)
  28. Shakespeare, Julius Cäsar I, 2 (Zurück)
  29. Edward III., nachdem er angeblich ein Strumpfband aufgehoben hat. (Zurück)

Nach oben!

Geld

Um halb neun erst ging die Sonne im Dezember in Dehland auf, und acht Stunden später war sie schon wieder tief unter dem Horizont verschwunden. Ordentliche Braunbären verschliefen solche unwirtlichen Jahreszeiten weitgehend, aber Bärdel und Kulle waren dafür allmählich zu alt. Sie litten unter Schlafstörungen und zelebrierten deshalb ihre traditionellen Morgenspaziergänge auch an manchem Tag in der dunkelsten Jahreszeit.

Bärdel

Heute begann Bärdel ihren Dialog: „Kulle, was ist Geld?“

Kulle

Der kleinere Kulle schaute den größeren Bärdel an und griente: „Was, mitten im Winter willst Du philosophieren?“

„Zum Witze machen bin ich denn doch zu müde“, brummte Bärdel. „Ich habe Dir eine ökonomische Frage gestellt, eine leichte Frage, dachte ich, und sonst gar nichts.“

„Die Frage ist aber auch höchst philosophisch“, widersprach Kulle. „Die Königsfrage der Philosophie lautet doch wohl: Was ist der Mensch? Hör Dir dazu mal eine Antwort an! ‚So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt.

Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut, das Geld überhebt mich überdem der Mühe, unehrlich zu sein; ich werde also als ehrlich präsumiert; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Das Geld verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn.‘ Na?“

„Von wem ist das denn?“

„Von wem wohl – vom größten Philosophen aller Zeiten natürlich. Marx, aus den ökonomisch-philosophischen Manuskripten.“

„Gut erkannt, finde ich. Die Menschen haben Haben und und verwechseln das mit Sein. Aber Dein Meisterphilosoph war im Nebenberuf, wenn ich das so formulieren darf, doch auch Wirtschaftswissenschaftler und hat sicher auch eine ökonomische Antwort auf meine bescheidene Frage gegeben: Was ist Geld?“

„Mehrere Antworten sogar. Es kömmt drauf an, ob Geld als Geld oder als Kapital genutzt wird. Im ersten Fall haben wir den Kreislauf W – G – W vorliegen, im zweiten Fall haben wir es mit G – W – G‘ zu tun. Beide unterscheiden sich…“

„Langsam, bitte! Eins nach dem anderen!“

„Gut. Also im ersten Fall ist Geld nur ein allgemeines Warenäquivalent. Man kann den Tauschwert aller Waren in Geld verwandeln und das Geld umgekehrt in die Waren, die man haben möchte.“

„Das heißt, Geld ist ungemein praktisch. Wenn ich eine Ware A habe und eine Ware B suche, muss ich nicht ewig nach jemandem suchen, der B hat.“

„Ganz genau“, stimmte Kulle zu. „So weit, so gut. Leider hat das praktische System aber auch seine Tücken.“

Lass mich raten. Ich vermute, das Ganze geht schief, wenn es mehr Geld gibt als Warentauschwerte. Oder weniger. Richtig?“

„Richtig. Im ersten Fall gibt es Inflation, alles wird immer teurer, weil es zu viel Geld gibt. Wenn zu wenig Geld vorhanden ist, kaufen die Leute nichts, und das ist zwar gut für die Umwelt, nicht aber für die Produzenten. Sie senken deshalb die Preise, und die Menschen kaufen noch weniger, weil sie erwarten, dass in Zukunft alles noch billiger sein wird. Und schon haben wir die schönste Deflation.“ Kulle machte eine gekonnte Kunstpause. „Zumindest in der Theorie.“

„Ach, nicht in der Realität?“ Bärdel wusste genau, womit er seinem eitlen Freund eine Freude machen konnte.

„Nein, jedenfalls nicht immer. Nicht in den letzten Jahrzehnten. Ich habe keine Ahnung, wer einen genauen Überblick darüber hat, wie viel Geld es auf der Welt gibt. Vielleicht Ben Bernanke. aber auch das bezweifle ich. In Bezug auf eine Aussage sind sich alle Ökonomen gegenwärtig jedoch einig, ob sie nun Neocons sind oder Sozialisten: In den letzten 40 oder 50 Jahren ist die Geldmenge viel schneller gestiegen als das BIP. Manche gehen von einem fünffachen Wert aus, andere vom zehnfachen. Wir haben es also mit der Grundlage einer wunderschönen Inflation zu tun. Theoretisch jedenfalls.“

„Du wirst mir das bestimmt gleich erklären können.“ Bärdel mimte den Hilflosen.

„Kann ich,“ tönte Kulle, von keinerlei Selbstzweifel geplagt. „Jetzt wird der zweite Geldkreislauf interessant: G – W – G‘. Früher haben die Kapitalisten aus Geld mehr Geld gemacht, indem sie die an sie verkaufte Arbeitskraft ausgebeutet haben. Danach haben sie die Produkte zum wirklichen Tauschwert verkauft, und fertig war der Profit. Ein in der Regel maßvoller Profit, aber ein Profit. Jedoch ist das Kapital, das scheue Reh, stets auf der Suche nach mehr. ‚Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.‘ Ist natürlich auch von Marx.

Neuerdings gibt es also einen riesengroßen Luftballon voller Geld. Dieses Geld darf man nicht einfach für Dinge des täglichen Bedarfs ausgeben, denn sonst haben wir die schönste Inflation. Auch Kapitalisten kennen die ökonomische Theorie, wenigstens zum Teil. Was also sollen sie machen?“ Kulle sah Bärdel auffordernd an.

„Vielleicht spielen?“ schlug Bärdel vor. „Den Luftballon ein bisschen schubsen, mal hierhin und mal dorthin, in der Hoffnung, dass jemand reinpustet und ihn noch größer macht. Dieses Spiel beinhaltet allerdings auch das Risiko, dass jemand eine Nadel in den Ballon piekst, und dann: Pfffffftttt…“ Bärdel war sich ziemlich sicher, dass Kulle zumindest seine Lieblingsmetapher wiedererkennen und sich mit einer herzhaften Rauferei für das Plagiat ‚bedanken‘ würde, aber nichts dergleichen geschah.

„Das mit dem ‚Pfffffftttt‘ hätte glatt von mir sein können“, kommentierte Kulle anerkennend. „Im übrigen hast Du recht. Sie hatten einen Geldluftballon, eine Finanzblase, und sie haben gespielt. Haben gezockt. Haben neue sogenannte ‚Produkte‘ erfunden, in die man investieren konnte. Wie hoch wird in einem Jahr der Weizenpreis sein? Alte Idee. Aber: Wie hoch wird der Kurs der Börse in Tokio in 53 Tagen sein? Wird er im Rhythmus von zehn Tagen in den nächsten sechs Monaten steigen oder fallen? Wie hoch ist der Prozentsatz, um den er steigt? Oder fällt? Was macht er an welchen Stichtagen? Bessere Ideen, kompliziertere Ideen, neuere Ideen – riskantere Ideen.“

„Ich verstehe“, sagte Bärdel. „Glücksspiel pur. Aber Glücksspiel ist nur was für Leute, die es sich leisten können. Die meisten Menschen sind doch Habenichtse, auch in den sogenannten reichen Ländern. Hat es gereicht, nur mit den Reichen zu spielen, um genug Profit machen zu wollen?“

„Nein, hat es nicht. Die guten alten warenproduzierenden Kapitalisten haben sich in die Gewänder moderner Kredithaie geworfen und den Habenichtsen genug Geld versprochen, um endlich ihre irdischen Träume verwirklichen zu können. Dabei haben sie ihre Reißzähne natürlich versteckt – und erst später hat sich herausgestellt, dass sie gar keine hatten.“

„Zahnlose Haie? Geld für Habenichtse? Ich verstehe gerade gar nichts!“

„Das verstehe ich gut. Lass Dich entführen in das Land des Geldes, in dem auf jeder Dollarnote steht: ‚In God we trust“, in das Land der Freien, in dem jedem und allmählich auch jeder und neuerdings vielleicht sogar den Negern, die nicht mehr so heißen, weil das politisch inkorrekt ist, obwohl sie es sind, was die Statistik der Gefängnisinsassen auf den ersten Blick belegt, auch wenn der neue Präsident jetzt braun ist, in dem also Geld und Gottvertrauen für die Freien identisch sind und in dem jeder das Recht hat, sein Glück oder – je nach Übersetzung – seine Glückseligkeit zu verfolgen – und vielleicht gar zu realisieren?“

Kulle war der Zorn anzuhören, der Zorn über die Hybris der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, über die gesellschaftliche Realität der Vereinigten Staaten von Amerika und über seine eigene aktuelle Unfähigkeit, seine Kritik angemessen zu artikulieren.

„Entschuldigung!“ murmelte er. „Manchmal…“

„Manchmal verhindert alle bärische berechtigte Verachtung des Menschengeschlechts nicht, dass wir uns über den sogenannten Homo sapiens sapiens kräftig ärgern. Mach ich ja auch. Aber erklär mir die Sache bitte trotzdem“, bat Bärdel.

Kulle riss sich zusammen.

„Habenichtse haben nichts, haben kein Haben. Das wollen sie unbedingt ändern. Sie wollen ein Auto, einen Flachbildschirm, ein Haus, und alles immer im Komparativ. Haben zählt nur, wenn es größer ist als das des Nachbarn. Wie kommt man dazu, wenn man kein Geld hat? Über einen Kredit natürlich. Der Kredit kann Kreditkarte heißen oder Hypothek oder Konsumentenkredit – egal. Ein Kredit ist Geld, das man nicht hat und das man trotzdem ausgeben kann.“

„Hm“, sagte Bärdel, und jetzt war seine Nachdenklichkeit nicht gespielt. „Ich begreife, was die Habenichtse wollen – oder gewollt haben. Nein, wollen. Sie sind vermutlich unverbesserlich. Was ich nicht verstehe, ist, wer ihnen Geld geliehen hat – und warum.“

„Wer? Natürlich die Kredithaie! Und warum? Haie wollen fressen! Sie haben darauf gesetzt, ihr Geld zurückzukriegen!“

„Kulle!“ Bärdel geriet selten außer Fassung, aber jetzt war er kurz davor. „Kulle! Was ist mit Deiner Logik los? Wie bekommt man Geld von jemandem, der kein Geld hat?“

Kulle ließ sich Zeit. „Mit meiner Logik ist alles in Ordnung. Übrigens spreche ich nicht von mir. Unter welchen Bedingungen kann man Geld zurückbekommen, das man Habenichtsen zu Konsumzwecken zur Verfügung gestellt hat? Na? Wie sieht da wohl die Kredithai-Logik aus?“

„Das kann eigentlich nur klappen, wenn der Wert der Konsumgüter immer weiter steigt“, brummte Bärdel zögernd. „Aber das ist doch Unsinn. Ein Gebrauchtwagen ist weniger wert als ein neues Auto, das weiß doch jedes Bärenkind!“

„In Bezug auf Autos hast Du völlig Recht, und eigentlich sollte das für alle Waren gelten. Allerdings ist es schon wiederholt gelungen, dieses Gesetz bei Immobilien außer Kraft zu setzen – in der Vergangenheit in Japan, aktuell in Spanien, Großbritannien und, was am wichtigsten ist, in den USA. Die Häuser der Habenichtse wurden von Tag zu Tag wertvoller, und so war es den ‚Besitzern‘ ein Leichtes, eine alte Hypothek zurückzuzahlen, und zwar mit einer neuen, höheren. Von dem Zusatzgeld kauften sie sich was Schönes…und alles wäre gut, wenn das immer so weiter gegangen wäre. Ist es aber nicht. Eines Tages fielen die Preise, Schluss war mit dem Extrakonsum, und die Kredithaie sahen mit offenen Mäulern zahnlos zu, wie ihre Hypotheken sich in Luft auflösten – von Habenichtsen konnten sie nichts holen.“

„Dann ist doch endlich wieder alles gut!“ freute sich Bärdel. „Das Geld, das futsch ist, war doch sowieso zu viel, hast Du gesagt.“

„Deine Bewertung gilt für den Kreislauf W – G – W, wenn Geld nur als Tauschmittel fungiert. Hier aber bewegen wir uns in dem anderen Kreislauf G – W – G‘, es geht um Geld als Kapital. Und das ist vernichtet worden – der Horror jedes Kapitalisten. Nichts ist also gut.“

„Na und? Dann sollen die Menschen eben einen neuen Anlauf nehmen, wenn es sein muss, einen neuen kapitalistischen. Wie hast Du das vorhin gesagt: ‚ Früher haben die Kapitalisten aus Geld mehr Geld gemacht, indem sie die an sie verkaufte Arbeitskraft ausgebeutet haben. Danach haben sie die Produkte zum wirklichen Tauschwert verkauft, und fertig war der Profit.'“

„Wahrscheinlich würden die Menschen das gerne tun, aber dazu fehlt ihnen das Geld“, gab Kulle zu bedenken.

„Wieso?“ Bärdel verstand das nicht. „Es ist doch immer noch genug Geld da!“

„Geld ja, aber nicht genug. Nach dem Flop mit den Hypotheken leiht nämlich niemand niemandem mehr was, aus Angst, sein Geld nicht zurückzubekommen. Du siehst, das Hegelsche Pendel schlägt zu.“

Bärdel wusste nichts von einem Hegelschen Pendel, und dass ein Pendel zuschlagen konnte, war ihm auch neu, aber er hatte begriffen, dass es um Kredite ging. „Wer will oder muss sich denn jetzt nach all dem noch Geld leihen?“ fragte er verwirrt.

„Na, die Produzenten natürlich“, antwortete Kulle und pflückte eine einsame Hagebutte, die er im ersten Morgenlicht erspäht hatte, von einem Strauch. „In Dehland sind die produzierenden Betriebe im Schnitt nur zu 20% eigenkapitalfinanziert, wusstest Du das nicht?“

„Willst Du damit sagen…“ Bärdel war so perplex, dass er gar nicht auf die Idee kam, sich auf die zweite sichtbare Hagebutte zu stürzen, obwohl die Früchte der Heckenrose zu seinen Lieblingsspeisen gehörten. „Willst Du damit sagen, dass ein neuer Wirtschaftsanlauf auch nur auf Pump möglich ist?“

„Exakt!“ Kulle stimmte heiter zu und pflückte sich die zweite Hagebutte. Als er die Fruchtschale zusammendrückte und zum Platzen brachte, entstand ein leises ‚Pfffffftttt‘.

„Meine Tussi!“ flüsterte Bärdel.

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein

„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
„Du musst!“
„Kein Mensch muss müssen – und ein Frosch schon gar nicht!“
„Aber vielleicht eine Fröschin?“
„Wieso das?“
„Guck Dich doch um – Deine Art stirbt aus!“
„Weiß ich längst.“
„Und?“
„Was ‚und’?“
„Und was fühlst Du?“
„Was geht Dich das an?“
„Nichts. Aber…“
„Aber was?“
„Aber Du könntest das ändern.“
„Ach ja?“
„Ja. Du kannst alles.“
„Ich mische mich nicht mehr ein.“
„Sicher?“
„Ja.“
„Schade.“
— „Warum?“
„Du wirst dich einsam fühlen.“
„Ich fühle mich nur einsam, wenn Murkel nicht da ist.“
— „Ich wünsche mir, dass Du mir hilfst.“
„Viele Märchen fangen an mit der Floskel: ‚Zu der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat…’ Die Zeiten sind vorbei.“
„Warum willst Du mir nicht helfen?“
„Warum sollte ich?“
„Weil Du mich gemacht hast. Und die Märchen. Und weil, auch wenn Du behauptest, dass es Dich nicht interessiert, ein Drittel von den 6158 bekannten Amphibienarten vom Aussterben bedroht ist. Die erkrankten Frösche und Kröten leiden an einem Hautpilz und ersticken qualvoll, denn sie atmen durch die Haut. Du könntest das ändern.“
„Ich habe die Frösche und Kröten nicht gemacht und Dich nicht und Märchen schon gar nicht. Ich habe ein Universum geschaffen, richtig. Der Rest war und ist Chemie und Physik und Biologie.“
„Und Chemie und Physik und Biologie haben Leben und haben Bewusstsein hervorgebracht.“
„Stimmt. Damit habe ich übrigens nicht gerechnet.“
„ Und Intelligenz.“
„Falsch.“
„Darüber wollen wir jetzt nicht streiten. Intelligenz setzt jedenfalls Bewusstheit voraus, und die streitest Du ja nicht ab.  Ist denn seiner selbst bewusstes Leben nicht erhaltenswert?“
„Nö.“
„Nicht?“
„Nein – warum sollte es das sein?“
„Weil….“
„Weil?“
„Weil wir fühlen, die Frösche und die Bären und Murkel und Du auch. Weil es wehtut, wenn wir aufhören zu existieren.“
„Das ist kein Argument. Alles individuelle Leben ist dem Tod geweiht, der wiederum Lebensformen hervorbringt oder ernährt, welche auch immer. Jedes Lebewesen fühlt den Todesschmerz.“
„Tussi?“
„Ja?“
„Ich möchte Bärenleben retten.“
„Ach ja? Und Dich nicht?“
„Doch, zugegeben, mich auch. Aber ich bin doch verantwortlich…“
„Und weil Du verantwortlich zu sein glaubst für etwas, dessen Parameter du nicht beeinflussen kannst, unterstellst du mir, die Verantwortung zu tragen für das, was ich gemacht habe? Ein Seminar in formaler Logik hast Du nie besucht, oder?“
„Nein…Aber…“
„Schon gut. Was willst du?“
„Dass Du die Welt rettest.“
„Ich wiederhole mich ungern. Ich sagte bereits, dass ich mich nicht mehr einmische.“
„Dann möchte ich, dass irgendjemand sonst die Welt rettet.“
„Dann viel Spaß.“
„Bitte?“
„Ist doch ganz einfach: Ich will die Welt nicht retten, im Gegensatz zu Dir – also ist es Dein Job, das edle Werk zu tun.“
„Ich?“
„Wer sonst?“
„Ich soll – Gott spielen?“
„Nein – du sollst Gott sein.“
„Mit allen Konsequenzen?“
„Welche Konsequenzen bringt es mit sich, Gott zu sein?“
„Na ja, die Welt geht vielleicht unter, und man muss über seine Geschöpfe zu Gericht sitzen – so was alles.“
„Die Welt kann vielleicht untergehen, aber der Rest ist Bullshit.“
„Das ist immer noch ein ziemlich hohes Risiko. Bärenleben…“
„Ihr Bären seid entsetzlich sentimentale Wesen. Bärenleben geht vielleicht unter, wenn ich nichts mache oder wenn Du versuchst, es zu retten. Oder auch nicht. Ich weiß das nicht – ich kann nämlich nicht in die Zukunft gucken. Aber sag das bloß keinem weiter. Also – willst du nun oder nicht?“
„Ich weiß nicht.“
„Schisser!“
„Und wenn ich alles falsch mache?“
„Doppelschisser!“
„Ich habe fast den Eindruck, Du möchtest, dass ich es mal versuche.“
„Es wäre mal was anderes.“
„Und wenn ich es nicht kann?“
„Du kennst ja meine Telefonnummer.“
Vor der abendlichen Versammlung in Bärenleben ließ Bärdel sich nichts anmerken. Aber er schmiedete heimlich Pläne und stellte eine umfangreiche Tagesordnung zusammen, die ein wenig anspruchsvoller war als das, was sich die Bärenlebener normalerweise zu entscheiden vornahmen.
Wie gewohnt übernahm Bärdel den Vorsitz und nannte den ersten Punkt, über den zu reden sein würde. Bärenleben war längst darüber hinaus, regelmäßig eigene Probleme reflektieren zu müssen, denn es gab kaum mehr welche. Folgerichtig widmeten sich die Bären den brennenden Menschenproblemen, aber bisher hatten sie weise darauf verzichtet, Lösungsvorschläge zu formulieren – zu vertrackt erschien ihnen die Gemengelage. Deshalb war Unruhe spürbar, als Bärdel sagte: „Wir werden uns heute mit Aids beschäftigen, und ich denke, wir werden die damit zusammenhängenden Fragen beantworten.“
Die Bären rutschten auf ihren dicken Hintern hin und her.
„Wie ihr natürlich alle wisst,  ist HIV beziehungsweise Aids im südlichen Afrika besonders stark verbreitet. Etwa 26 Millionen Menschen sind dort infiziert, das sind mehr als 60 Prozent aller Erkrankungen weltweit. Besonders dramatisch ist die Todesrate unter den 15- bis 45-Jährigen gestiegen, was gravierende wirtschaftliche und demografische Folgen hat. Die Ursachen dafür…“
„Die Ursachen dafür,“ unterbrach Tumu hitzköpfig ihren Mann, „liegen hauptsächlich im Sexualverhalten der Männer begründet. Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung, Polygamie ist weit verbreitet, ebenso wie Prostitution.“
„Ich dachte immer, Prostitution sei überwiegend ein Angebot von Seiten der Frauen,“ brummte Kulle vor sich hin. Tumu wischte seinen Einwand mit einer ärgerlichen Armbewegung beiseite.
„Prostitution ist ein Angebot, das aufgrund von Nachfrage entsteht, du Ignorant!“ fauchte sie. „Aufgrund von männlicher Nachfrage! Insgesamt kann man in den Subsaharastaaten von verbreitetem promiskem Sexualverhalten sprechen, und das bedeutet, vor allem in einer armen Gesellschaft, überproportional häufig Geschlechtskrankheiten, was wiederum Infektionen mit HIV begünstigt, weil geschlechtskranke Menschen häufig offene Wunden im Genitalbereich haben. Noch irgendwelche Fragen?“
„Ja!“ Del meldete sich schüchtern. „Was heißt ‚promisk’?“
„Promisk bedeutet, dass jemand häufig seine Sexualpartner wechselt.“ Kulle war schneller als jeder andere Bär, wenn es darum ging,  etwas zu erklären.
Del bedankte sich, was Bärdel Gelegenheit gab, sich wieder einzuschalten.
„Trotz der emotionalen Kontroverse, die es gerade gegeben hat, sind die Ursachen der hohen Aids-Rate im südlichen Afrika insgesamt richtig dargestellt worden. Es bleibt die Frage, was zu tun ist. Eine Bekämpfung der Krankheit ist schwierig, weil die Menschen arm sind, denn Kondome und Tests sind teuer. Außerdem wird Aids gesellschaftlich nicht akzeptiert, und wo Kranke wegen ihrer HIV-Infektion ausgegrenzt werden, haben die Menschen kein Interesse an der Kenntnis ihres HIV-Status. Weil sie nicht wissen, dass sie ansteckend sind, stecken sie andere weiter an. Eine einzige Strategie scheint bisher Erfolg zu versprechen: Aufklärung. In Ost- und Zentralafrika sind Präventionskampagnen durchgeführt worden, und man hat die Krankheit tatsächlich zum Rückzug gezwungen.“
Bärdel holte tief Luft. Er hoffte, dass er nichts vergessen hatte. Er war gespannt auf die Antwort auf die entscheidende Frage. Er sagte: „Bären, wir können etwas tun. Also – was sollen wir tun?“
Die Antworten hagelten auf ihn nieder.
„Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika!“
„Monogamie verordnen!“
„Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten!“
„Frauenbeauftragte in jedem Dorf einsetzen!“
„Männer abschaffen!“
„Kondome verteilen!“
„Überall kostenlose Tests anbieten!“
„Schulungen anbieten, natürlich kostenlos, die die Empathie fördern, zum Beispiel: ‚Dein Freund könnte HIV-positiv sein…’“
„Den Menschen Geld geben!“
„Quatsch, den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“
„Die Chance nutzen und das südliche Afrika evakuieren, um endlich den Tieren mehr Lebensraum zu lassen!“
Bärdel hörte zu.
Bärdel nickte zu jedem Vorschlag.
Und bei jedem Vorschlag wurde ihm deutlicher klar: Wenn du ein Gott zu sein versuchst, dann bist du allein. ALLEIN!
Er ließ alle ausreden, und alle wollten etwas sagen. Er nickte weiter zu allem. Erst als niemand mehr sich zu Wort meldete, sagte er:“ Ich danke euch, Bärenlebener. Ihr habt mir geholfen wie immer, wenn auch anders als immer. Den Rest der Tagesordnung behandeln wir besser später.“
Bärdel war es gleichgültig, dass die Bärenlebener jetzt verwirrt sein mussten. Er hatte seine erste Lektion als Götterlehrling gelernt.

Nach einer schlaflosen Nacht war ihm klar, dass viele der Vorschläge, der er gestern gehört hatte, ihm plausibel erschienen, dass er aber keinerlei Vorstellung davon hatte, welche Auswirkungen sie hätten, wenn sie verwirklicht würden. Und schon gar nicht wusste er, welche Konsequenzen die Kombination von zwei oder mehr Maßnahmen nach sich zögen. Er kratzte sich ausgiebig den Kopf, seufzte und ging dann auf die Suche nach Papier und Stift, um sich ein paar Notizen zu machen. Noch lieber wäre er auf die Suche nach Kulle gegangen, aber das hätte über kurz oder lang bedeutet, dass Kulle über Bärdels neue Rolle Bescheid wüsste. Welche Konsequenzen das hätte, darüber mochte Bärdel lieber nicht nachdenken.
„Na, Stinker, wie schmeckt der neue Job? Am Anfang ist er ziemlich anstrengend, soweit ich mich erinnern kann. Ich dachte, ich schaue mal nach Dir. Das mit der Vernetzung aller möglichen Phänomene hast Du inzwischen kapiert, wie ich merke. Mit Papier und Stift wirst Du nicht weit kommen. Hier, das Spielzeug wird Dir helfen. Es zeigt Dir keinen kompletten Überblick, aber ein paar Strukturelemente werden doch deutlich. Ich habe die Aids-Geschichte eingegeben, damit Du siehst, wie es funktioniert. Du wirst schon damit zurechtkommen – die Bedienung funktioniert intuitiv.“ Tussi drückte ihm einen kleinen flachen Gegenstand in die Pfote und verschwand ebenso blitzartig und lautlos, wie sie erschienen war.
Bärdel sah sich das unerwartete Geschenk näher an. Er hatte eine Art Computer bekommen, der aber über keine Tastatur verfügte, sondern nur über ein Display. Auf dem Bildschirm stand: AIDS – Subsaharastaaten. Darunter pulsierte ein Icon: Optionen. Er legte seinen dicken Daumen darauf und las: Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika! Das war der erste Vorschlag, der gestern Abend gemacht worden war, daran erinnerte er sich gut. Noch einmal berührte er den Bildschirm, und der wurde lebendig. Ein Film wurde abgespielt, der überwiegend menschliche Aktivitäten zeigte. Männer zeigten Männern Kondome, Frauen zeigten Frauen Kondome. Männer und Frauen hatten Geschlechtsverkehr und benutzen dabei Kondome. Diese Sequenz lief über längere Zeit. Danach waren Friedhöfe zu sehen, auf denen sich immer weniger Menschen aufhielten: Die Zahl der Bestattungen nahm ab.
Die Projektionsfläche wurde dunkel, und als sie wieder hell wurde, hatte sich der Bildschirm geteilt. Auf beiden Hälften waren kopulierende Menschen zu sehen, die keine Kondome benutzten. Rechts tauchten nach einer Weile wieder Friedhöfe auf mit mehr und mehr Menschen. Links dagegen sah man Familien, kinderreiche Familien. Die Kinder hatten Hungerbäuche, der Gesichtsausdruck der Erwachsenen zeigte Hoffnungslosigkeit. Die bewegten Bilder wurden durch statistisches Material ergänzt. So beobachtete Bärdel, wie die Bevölkerungszahl in Südafrika sich in beiden Fällen stabilisierte, im ersten Fall danach wieder schrumpfte, während sie im zweiten stieg. Er sah Arbeitslosenzahlen, Zahlen über Hilfsprogramme, Zahlen, Zahlen, Zahlen.
Aufklärung allein fruchtet nichts, erkannte Bärdel. Wenn eine Bedrohung nicht mehr akut ist, denken die Menschen, es gäbe sie nicht mehr. Und wenn die Bedrohung tatsächlich verschwunden ist, weil zum Beispiel ein Impfstoff gegen eine schwere Krankheit entwickelt werden konnte, dann verelenden die Menschen, zumindest die im südlichen Afrika, weil sie sich wieder ungebremst vermehren können. Aber vielleicht hilft es, wenn ich Aufklärung mit einem zweiten Vorschlag kombiniere? Er erinnerte sich an den gestrigen Abend. „ Den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“ Das war’s. Das erste Szenario konnte er damit zwar nicht verhindern, aber das zweite würde sich gewiss zum Positiven verändern.
„Er suchte wieder unter ‚Optionen’, konnte den Vorschlag aber nicht finden. Intuitiv fragte er den Apparat in seiner Pfote: „Verstehst Du mich?“ Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm: „Ja.“ „ Gut, dann untersuche bitte die Auswirkungen der folgenden Maßnahme!“ Und Bärdel wiederholte den Vorschlag.
Er hatte erwartet, dass jetzt eine gewisse Zeit vergehen würde, aber er bekam sofort eine Antwort. „Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%.“
Bärdel war enttäuscht. Die Möglichkeiten, die er einem Gott oder einer Göttin unterstellt hatte, schrumpften immer mehr in sich zusammen. Nicht nur konnten Götter nicht in die Zukunft sehen, sie waren auch keineswegs allmächtig und hatten sich an bestehenden Realitäten zu orientieren. „Gibt es denn weitere realistische Optionen?“ wollte er wissen. „Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten,“ las er. „Na gut, dann machen wir das!“ sagte Bärdel forsch.
Der Bildschirm teilte sich zuerst in zwei, dann in vier, dann in neun, in sechzehn, fünfundzwanzig Teile und immer weiter, bis auch das Raubtierauge eines Bären nichts mehr darauf erkennen konnte. Aber solange die Bilder und Zahlen noch groß genug waren, hatte Bärdel genug gesehen. Die Konsequenz dieser Idee waren Diktaturen, häufig klerikaler Natur, die vor allem eines betrieben: Diskriminierung und Unterdrückung der Frauen.
„Hör auf!“ sagte er, und der Bildschirm wurde sofort schwarz. „Eigentlich wollte ich sowieso was anderes. Sagt dir Klimawandel etwas? Klimakatastrophe? Treibhauseffekt?“ „Ja.“ „Gibt es zu dessen Beeinflussung, also Minderung, Optionen, die du akzeptierst?“ „Ja.“ Bärdel war gereizt, aber ein Tussi-Computer war eben kein Bär, sondern ein logisch denkender Apparat, der wirklich nur auf die Frage antwortete, die ihm gestellt worden war. „Welche?“
„Atomkrieg; Ausbruch von H5N1 oder ähnlichem; Zusammenbruch der Weltwirtschaft…“
„Danke,“ brummte Bärdel in sich hinein, „Katastrophenszenarien kann ich mir alleine ausdenken.“ Laut sagte er: „Ich meinte Optionen, die auf dem vernünftigen Handeln der Menschen aufbauen.“
„Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%,“ sagte der Computer.
Bärdel holte aus und war gerade dabei, den Apparat möglichst weit in die Büsche zu schleudern, als er Tussis befehlsgewohnte Stimme hörte. „Stop!“ rief sie. „So billig sind die Dinger nun auch wieder nicht! Und inzwischen solltest Du begriffen haben, dass auch wir Götter uns dem Realitätsprinzip unterwerfen müssen. Also keine Verschwendung von Ressourcen, bitte!“
Bärdel spürte, wie der Computer aus seiner Pranke verschwand.
“Du kannst das Ding gerne wiederhaben, wenn Du möchtest. Aber vielleicht willst Du erst mal mit mir reden.“
Bärdel setzte sich. Aller Elan war aus ihm gewichen. „Nein, danke. Ja natürlich, gerne. Ich…“
Er wusste nicht mehr weiter.
Tussi patschte ihm mit der Pfote tröstend auf die Schulter. „Schon gut. Mir ist auch übel geworden, als ich der Brut eine Weile lang zugeguckt habe und allmählich begriff, was mit ihr los ist. Das einzige Mittel, diese Spezies halbwegs im Zaum zu halten, besteht darin, sie leiden zu lassen und zahlenmäßig zu begrenzen. Sonst richtet sie sich und ihre sogenannte ‚Umwelt’ zugrunde. Das tut sie jetzt tendenziell auch, wie wir wissen, aber nach Maßgabe der Möglichkeiten langsam. ‚Collateral Damage’ entsteht so weniger, glaub mir. – Willst Du weitermachen?“
Bärdel schüttelte stumm den Kopf.
„Ich dachte es mir. Schade – war mal eine Abwechslung. Ist aber okay mit mir. Wirf mir bloß nie wieder vor, dass ich mich nicht mehr einmische!“
Tussi warf ihm eine Kusshand zu. „Eigentlich mag ich Dich richtig gerne, Stinker!“

Religion

Bärdel

Religion

“Du hast eine tolle Arbeit über das menschliche Zusammenleben geschrieben, denke ich!” begrüßte Bärdel Kulle, als sie einander auf ihrem Morgenspaziergang begegneten. “Ich finde es beeindruckend, wie du dich bei den Menschen auskennst. Du weißt über sie viel besser Bescheid als ich.”

“Danke!” erwiderte Kulle und rückte geschmeichelt an seiner Fliege. “Obwohl – über manches, was die Menschen ausmacht, weiß ich gar nichts. Über Religion zum Beispiel.”

Bärdel war überrascht. “Nanu? Krückstock, Opium des Volkes, Opium für das Volk…”

“Schön und gut”, brummte Kulle. “Die Funktion ist leicht zu beschreiben. Aber was ist mit der Ursache? Also: Warum haben die Menschen, präziser, die meisten Menschen, sogar die allermeisten, auch viele der wirklich intelligenten, eine Religion? Ist das genetisch bedingt? Und wenn es so wäre – warum ist uns Bären, die wir doch biologisch eng mit den Menschen verwandt sind, nicht nur der Gedanke eines mehr oder weniger persönlichen Gottes, sondern generell der Gedanke der Transzendenz so fremd?”

“Ich weiß nicht, woran man die Gründe für die menschliche Religiosität festmachen kann. Aber ich kenne mehrere.”

“Sogar mehrere?” Kulle hüpfte aufgeregt auf der Stelle. “Ich kenne noch nicht mal einen!” Und dann sagte Kulle etwas, was Bärdel noch nie von ihm gehört hatte: “Erklärst du es mir?”

“Gerne!” Bärdel schaute sich um. “Siehst du den Apfelbaum da? Es ist Frühling, die Knospen brechen auf, der Baum beginnt zu blühen. Wie erklärst du dir das?”

Kulle war irritiert. “Was soll ich da erklären? Es ist Frühling, die Säfte steigen nach der Winterruhe, Blütenpflanzen pflanzen sich geschlechtlich fort, also…”

“Du hast völlig recht”, unterbrach ihn Bärdel. “Du kennst die Gründe. Und wenn du sie nicht kenntest, würdest du einfach sagen: ‘Das weiß ich nicht’. Aber Menschen suchen immer nach Erklärungen, nach Begründungen. Und wenn sie keine rationalen wissen, erfinden sie irrationale. Wenn sie nicht wissen, dass der Baum blüht, weil es Frühling ist, dann behaupten sie, der Gott des Baumes sei erwacht. Oder ein Gott sei im Baum erwacht. Jedenfalls erfinden sie einen Gott anstelle der Ursachen, die ihnen unbekannt sind. Und so gibt es für sie einen Donnergott und einen Regengott und einen Wachstumsgott und immer so weiter, oft auch eine Göttin, denn was fruchtbringend und was vernichtend ist, das wissen die Menschen schon.”

“Na gut”, sagte Kulle, und es klang sehr nachsichtig. “Du beziehst dich auf die Phase der Naturreligion. Aber über die sind die Menschen inzwischen hinaus, denke ich.”

“Die Menschen nicht. Aber ich gebe dir recht: Die Menschen in den von ihnen so genannten industriell entwickelten Ländern glauben nicht mehr, dass in den Bäumen Götter leben, sonst würden sie die Bäume nicht brutal fällen. Aber ich beharre darauf, dass die Menschen auch heute an irrationale Erklärungen glauben, wenn ihnen rationale – noch – nicht zur Verfügung stehen. Darin sehe ich den ersten Grund für die menschliche Religiosität: den Erklärungswahn.”

“Bingo!” sagte Kulle. “Was noch?”

“Anders als wir Bären wollen die Menschen ständig etwas verändern. Dabei haben sie aber auch Angst vor ihrer eigenen Courage, denn sie wissen in den seltensten Fällen, wozu das, was sie anstellen, letztlich führt. Deshalb erfinden sie sozusagen einen Auftraggeber, und das ist Gott. Wie oft lassen die Menschen den in der Bibel sagen: “Macht euch die Erde untertan’? Ein halbes Dutzend Mal bestimmt. Sie brauchen eine legitimatorische Grundlage für all die Zerstörungen, die sie bewirken. So werden sogar Kriege zu notwendigen Aktionen im Namen einer höheren Macht.”

Kulle nickte. “Das leuchtet mir ebenfalls ein. Was hast du noch zu bieten?”

“Der dritte Grund liegt auf der Hand. Was sagt den Bären ihr Zukunftssinn?”

Kulle ließ sich auf das Spiel ein: “Dass morgen ein Tag ist, der auf heute folgt, so dass man sich heute so verhalten sollte, dass ein Morgen möglich ist. Und dass das Leben eines Individuums nach vielen Tagen vorbei ist, während das der Gattung länger währt.” Er schlug sich mit der flachen Hand vor sie Stirn: “Dass ich daran nicht gedacht habe! Natürlich, der Zukunftssinn der Menschen ist insofern fehlgeleitet, als sie den Tod nicht akzeptieren wollen! Und deshalb erfinden sie alles mögliche, um ihn wegzudenken: Seelenwanderung, das Nirwana, das Paradies…. Das Paradies – aber auch die Hölle. Warum eigentlich die Hölle?”

“Du machst es mir leicht”, grinste Bärdel. “Du führst uns direkt zu Grund Nummer vier. Bitte beantworte mir noch eine Frage: Wie viele Modalverben kennst du?”

“Dumme Frage, zwei natürlich!”

“Und die wären?”

Kulle warf Bärdel einen skeptischen Blick zu, das war nun tatsächlich unter seiner Würde. Aber er antwortete trotzdem, denn bisher hatten ihm Bärdels Erklärungen eingeleuchtet: “Wollen und können natürlich.”

“Natürlich!” bestätigte Bärdel. “Aber – wie viele Modalverben haben die Menschen?”

Wieder fiel bei Kulle ein Groschen. “Bei Tussi, bin ich dumm! Da wären noch ‘müssen’ und ‘sollen’ und ‘dürfen’; alles Ausdrucksformen des Über-Ichs, das sich natürlich hervorragend in religiöse Formen gießen lässt, weil es dann viel wirkmächtiger ist – und als ultimative Sanktion bei Verstößen droht die ewige Verdammnis.”

“Das”, erklärte Bärdel, “sind meiner Meinung nach die Gründe dafür, dass die meisten Menschen ohne Religion nicht auskommen können. Und jetzt habe ich noch eine Frage an dich, eine ernsthafte, keine rhetorisch-pädagogische. Beantwortest du sie mir?”

“Klar, wenn ich kann!”

“Du hast vorhin behauptet, uns Bären sei nicht nur der Gedanke eines mehr oder weniger persönlichen Gottes, sondern generell der Gedanke der Transzendenz fremd. Warum….” Bärdel machte eine Kunstpause. Er genoss es, dass Kulle sich erkennbar zu winden begann. “Warum glaubst du dann an Tussi?”

Kulle gab sich nach einer Sekunde der Schwäche wieder ganz souverän. “Nicht nur ich, sondern alle Bärenlebener glauben an Tussi. Tussi existiert nämlich wirklich!”

Kulle in „Tempus“ aktuell

Tempus aktuell: Herr Dr. Kulle…

Kulle

Kulle: Sagen Sie bitte einfach nur Kulle. Ich bin ein Bär, kein Mensch. Also lege ich auch keinen Wert auf menschliche Titel.

Tempus aktuell: Sie mögen Menschen nicht?

Kulle: Der Begriff “mögen” bezeichnet eine Emotion und ist deshalb nur in Grenzen geeignet, mein Verhältnis zu Menschen zu beschreiben. Ich bemühe mich, die Welt und damit auch die Menschen sachlich zu betrachten. Dabei bin ich zu dem Urteil gekommen, dass es eine bemerkenswerte Kluft zwischen dem Selbstverständnis der Menschen und ihrer tatsächlichen Rolle auf der Erde gibt.

Tempus aktuell: Können Sie das erläutern?

Kulle: Natürlich kann ich das – oder haben Sie mich zu einem Interview eingeladen in der Hoffnung, Ihren Lesern einen debilen Bären vorzuführen?

Tempus aktuell: Nein, natürlich nicht. Wir bitten um Entschuldigung. Wir haben Ihnen gerade einen Anlass dafür gegeben, uns nicht zu mögen, und Sie so in Ihrer sachlichen Betrachtung der Menschheit gestört. Wären Sie so freundlich, uns die Aussage zu erläutern, die Sie soeben knapp formuliert haben?

Kulle: Gerne. Die Menschen haben erkannt, dass sie erkennen können, und gelernt, Erkanntes durch Sprache mitzuteilen und zu tradieren – erst mündlich, wesentlich später schriftlich. Die Fähigkeit zu denken impliziert die Notwendigkeit, Fragen zu stellen, nicht nur danach, wo vermutlich der nächstgelegene Bienenstock zu finden ist, in dem man Honig findet, sondern nach der Vergangenheit, was zuerst leicht ist, wenn man über ein intaktes Gedächtnis verfügt, aber problematisch wird, wenn man zurückliegende Handlungen angesichts der Frage reflektiert, ob sie richtig oder falsch gewesen sein mögen. Hier zeigt sich die Wiege von Ethik und Moral. Dabei ist durchaus Brauchbares herausgekommen, wie zum Beispiel das Fünfte Gebot1.

Damals – und auch heute – leider nur bezogen auf Angehörige des eigenen Stammes oder Volkes, aber, wenn man von allen Beschränkungen absieht, durchaus ein Nucleus des heute bedauerlicherweise weitgehend in Vergessenheit geratenen Kategorischen Imperativs Immanuel Kants, den er 1788 formuliert hat: “Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit als Grundlage eines allgemeinen Gesetzes gelten könnte.“

Fragen zeigen sich auch in Bezug auf die Zukunft, denn wer denken kann, entwickelt eine Vorstellung davon, dass es, wenn es ein “Gestern” gab, auch ein “Morgen” geben wird oder zumindest geben könnte, von dem man im Gegensatz zum “Gestern” aber nicht angeben kann, wie es aussehen wird. Wo ein “Morgen” gedacht wird, ist auch ein Ende denkbar, ein Ende alles Seins, ganz sicher aber ein Ende der individuellen Existenz, sind denkende menschliche Wesen doch im Stande, das Altern der Haut, den Haarausfall und das Schwinden der Potenz zu beobachten. Eine realistische Antwort auf die Frage nach der Zukunft ließe sich in den lapidaren Satz fassen: “Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!”. Menschen allerdings weigern sich, diese simple Wahrheit zu erkennen, und konstruieren stattdessen endlose Lebenszyklen, die irgendwann im Nirwana enden, oder wie auch immer geartete Paradiese.

Tempus aktuell: Warum haben Sie etwas gegen religiöse Vorstellungen?

Kulle: Theoretisch betrachtet, habe ich nichts dagegen. Im Gegenteil: Es ist soziologisch äußerst interessant zu untersuchen, wer wann warum welche wenig wahrscheinliche Welterklärung zusammengebastelt hat. Praktisch allerdings sieht die Sache anders aus, denn die meisten Menschen mit religiösen Vorstellungen frönen dem Wahn, ihre Sicht der Dinge sei die richtige. Auch in diesem Zusammenhang muss ich leider darauf verweisen, dass die Ideen der europäischen Aufklärung in Vergessenheit geraten sind – man denke etwa an Lessings “Ringparabel”2.

Das kann ich mit Fug und Recht natürlich nur denjenigen vorwerfen, die qua kultureller Entwicklung mit diesen Ideen jemals in Berührung kommen konnten. Dazu gehören zum Beispiel US-amerikanische Präsidenten, und auch der gegenwärtige sollte als Absolvent von Harvard zumindest einmal davon gehört haben.

Tempus aktuell: Sie werfen George Walker Bush vor, der Welt seine Ideen oktroyieren zu wollen?

Kulle: Vorsicht, bitte! Ich hege begründete Zweifel daran, dass dieser Menschenmann eigene Ideen hat. Aber die Gedanken, die er für seine eigenen hält, will er der Welt oktroyieren, in der Tat. Als wiedergeborener Christ, als der er sich bezeichnet, strebt er eine Weltordnung an, die seinen Vorstellungen von Demokratie und Kapitalismus entspricht, und diese Vorstellungen sind nicht nur weltlicher, sondern auch transzendenter Natur. Warum sollte er nach praktisch jeder seiner offiziellen Ansprachen sagen: “So help me God”, wäre es anders?

Tempus aktuell: Nun ja, wir geben zu, Bush ist schon etwas merkwürdig. Aber man kann das doch als Einzelfall werten.

Kulle: Nein, das kann man nicht. Religion durchtränkt die amerikanische Gesellschaft immer stärker.

Nehmen Sie die Kontroverse um den Darwinismus. Da gibt es die dummen Christen, die meinen, die Daten, die im Alten Testament gegeben werden, wörtlich nehmen zu müssen. So kommen sie zu dem Schluss, ihr Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen, und seitdem seien noch nicht einmal 5000 Jahre vergangen. Diese Leute sind so dumm, dass sie selbst in den USA meist ausgelacht werden. Anders verhält es sich mit den Kreationisten, die die Evolutionstheorie deshalb ablehnen, weil das irdische Leben so komplex und folgerichtig sei, dass dieses Leben nur als Schöpfung, also als Werk eines Schöpfers, gedeutet werden könne. Die haben inzwischen in den halben USA die Schulbücher zumindest zum Teil erobert. Noch “cleverer” sind sogenannte Wissenschaftler, die paläontologische und biologische Forschungsergebnisse, die Darwins Theorien beweisen, schlankweg in Frage stellen.

Oder nehmen Sie die Templeton Foundation. 40 Millionen Dollar jährlich investiert diese Stiftung in sogenannte wissenschaftliche Projekte, unter anderem um die Heilkraft des Betens nachzuweisen, nota bene, wissenschaftlich nachzuweisen.

Tempus aktuell: Sie werden aber zugeben, dass die internationale Politik der USA, und damit meinen wir auch die Interventionspolitik, durchaus weltliche Züge trägt.

Kulle: Das gebe ich ohne weiteres zu. Wenn das, was zum Beispiel in Abu Ghraib passiert ist, 3 nicht weltlich war, dann weiß ich nicht, was weltlich ist.

Tempus aktuell: Kulle, Sie sind zynisch.

Kulle: Ich bin Realist. Aber ich gebe zu, dass Realismus zu Zynismus führen kann und manchmal muss.

Tempus aktuell: Kommen wir zu einem anderen Aspekt. Die Menschen in Südostasien und in der sogenannten islamischen Welt sind in der Regel nicht mit den von Ihnen zu Recht hoch geschätzten Ideen der europäischen Aufklärung in Berührung gekommen. Werfen Sie denen auch etwas vor?

Kulle: Vielen Menschen in diesen Gegenden der Welt könnte ich nichts weiter vorwerfen als ihre Existenz, und das wäre unsinnig, denn daran sind sie unschuldig. Sie haben keinen Zugang zu Bildung, leben häufig in Staaten, deren Regierungen ihnen die Beschaffung korrekter Informationen versagen, und haben oft keine Kraft, für die Beseitigung dieser Mängel zu kämpfen, weil es sie alle Energie kostet, ihr Leben zu fristen. Wenn ich also jemandem etwas vorwerfen soll, dann müssen Sie mir schon jemanden nennen, auf den die obige Charakterisierung nicht zutrifft.

Tempus aktuell: Wie wäre es mit Osama Bin Laden?

Kulle: Eine gute Wahl. Osama verfügt über Bildung, er hat Ingenieurwesen und Betriebswirtschaft studiert, und zwar in Saudi-Arabien und im Libanon, ist also ein Kind der islamischen Welt. An Geld mangelt es ihm ebenfalls nicht: Nach dem Tod seines Vaters erbte er etwa 80 Millionen Dollar. Bleibt die Frage nach dem Zugang zu korrekten Informationen.

Tempus aktuell: Und?

Kulle: Ich habe gezögert, weil ich weiter ausholen müsste, um dazu Stellung zu nehmen.

Tempus aktuell: Holen Sie ruhig aus!

Kulle: Nun gut.

Wir müssen zunächst definieren, was korrekt ist, korrekt im gesellschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Sinn, und damit sind wir bei der Problematik von Erkenntnis und Interesse. Das, was objektiv korrekt, also sachlich richtig ist, wie zum Beispiel die Aussage: “Zwei mal zwei ist vier”, muss sich nicht mit den Interessen eines Individuums decken. Ein Mensch kann zum Beispiel wollen, dass Zwei mal Zwei gleich Fünf ist und dass alle seine Meinung teilen. Wenn Sie wissen wollen, wie so etwas möglich ist, lesen Sie “1984” von George Orwell, das ist ein hervorragender und leider immer noch aktueller Roman, aber das nur am Rande; wir sind hier nicht im Literarischen Quartett.

Das falsche Interesse kann die richtige Erkenntnis dominieren, das ist schlimm genug. Schlimmer noch: Interessierte erkennen in der Regel nicht, wenn sie aufgrund ihres Interesses nicht in der Lage sind, Erkenntnis zu gewinnen. Sie setzen Erkenntnis und Interesse gleich. Demzufolge wollen sie nur das zur Kenntnis nehmen, was ihrem Interesse entspricht.

Aber es ist ebenfalls durchaus möglich, dass Erkenntnis und Interesse deckungsgleich sind. Was ist zum Beispiel falsch an der Erkenntnis, dass die Energiereserven im arabischen Raum, also primär das Rohöl, überwiegend nicht von den dort lebenden Muslimen kontrolliert und verwertet werden, sondern von westlichen Ölkonzernen? Was ist falsch an dem Interesse, dass diese Rohstoffe nicht von amerikanischen, französischen, britischen oder spanischen Multis ausgebeutet werden, sondern von dort ansässigen nationalen Unternehmen? Letzteres ist übrigens eine zentrale Forderung Bin Ladens.

Tempus aktuell: Moment mal – Sie verteidigen den Mann?

Kulle: Ich verteidige niemanden, und ich klage auch niemanden an. Ich analysiere. Das hätten Sie eigentlich inzwischen begreifen sollen.

Tempus aktuell: Entschuldigung.

Kulle: Bitte. Wenn Sie gestatten, würde ich meine Analyse gerne fortsetzen. Ich war noch nicht fertig.

Tempus aktuell: Wir bitten darum.

Kulle: Danke.

Es gibt andere Ziele Bin Ladens, bei denen ein Urteil schwerer fällt als bei dem obigen Beispiel. Ich will darauf nicht im einzelnen eingehen, weil ich annehme, dass Sie in der nächsten Ausgabe der Tempus aktuell noch anderes publizieren wollen als das Interview mit mir. Nur so viel: Die Forderung nach Beendigung der US-Militärpräsenz in islamischen Staaten wie Saudi-Arabien erscheint mir durchaus diskussionswürdig. Inakzeptabel ist dagegen die Zielsetzung, Staaten mit islamischer Bevölkerung in Theokratien umzuwandeln und das gesellschaftliche Leben an den Grundsätzen der Scharia auszurichten – das widerspräche den Forderungen der Aufklärung.

Kommen wir von den Zielen zu den Mitteln. Da Kants oben bereits erwähnter Kategorischer Imperativ zweifellos der sinnvollste Grundsatz ist, der jemals von Menschen über menschliches Zusammenleben geäußert worden ist, sind terroristische Methoden in jedem Fall abzulehnen, gleichgültig, ob sie sich gegen einzelne prominente politische Individuen oder gegen anonyme Massen richten.

Tempus aktuell: Wie stoppt man einen Osama Bin Laden?

Kulle: Gar nicht.

Tempus aktuell: Wie dürfen wir das verstehen?

Kulle: Wie ich es gesagt habe.

Tempus aktuell: Sie meinen also, der Kampf gegen al-Qaida sei hoffnungslos?

Kulle: Wieso? Eben noch sprachen wir über Bin Laden, und nun bringen Sie eine Organisation ins Spiel, deren Kopf Osama angeblich und vermutlich sogar tatsächlich ist. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Tempus aktuell: Inwiefern?

Kulle: Der Kampf gegen einen Menschen wie Osama Bin Laden, der den Fall orthodoxer Kalifate betrauert, der jeglichen westlichen Einfluss als Intrigen von “Kreuzzüglern” diffamiert und der gegen Sozialismus wettert, ist aussichtslos. Aussichtslos insofern, als es vermutlich nicht gelingen wird, ihn von seinen Ansichten abzubringen.

Der Kampf gegen eine Organisation wie al-Qaida ist dagegen sehr vielversprechend. al-Qaida ist eine Hydra mit vielen Köpfen: Die heißen Unwissenheit, Hoffnungslosigkeit, Verunsicherung, eschatologische Verheißung. Und es gibt einen kleinen Kopf mit Namen intellektueller Verblendung und Selbstgerechtigkeit. Den wird man nie abschlagen können – denken Sie zum Beispiel an Theodore John Kaczynski4, aber es ist leicht, die anderen zu dekapitieren.

Tempus aktuell: Wie wollen Sie die anderen Hydra-Köpfe abschlagen?

Kulle: Ich will das zwar, aber ich kann es nicht, denn ich bin ein Bär. Sie haben es mit einem menschlichen Problem zu tun. Sie als Menschen müssen das wollen und tun. Wenn Sie das wollen, ist es einfach: Sie brauchen nur eine gerechte Weltpolitik zu betreiben und dabei die Menschenrechte zu beachten. Sie brauchen nur die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und das Geld auf den Platz zu verweisen, den es einnehmen muss, wenn Sie als Menschen denn schon ohne Geld nicht auskommen, auf den Platz des allgemeinen Warenäquivalents und nicht auf den des Kapitals.

Tempus aktuell: Kulle, wir danken für das Gespräch.

Kulle: Das ist schön von Ihnen, aber ich bin mit Ihnen noch nicht fertig. Ich habe nämlich auch noch eine Frage, Wie stoppt man einen George Walker Bush?

Tempus aktuell: Ähhh – gar nicht…

Kulle: ich danke für das Gespräch.

Kulle

Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Du sollst nicht töten.
  2. Die “Ringparabel” gilt als Kernstück von Gotthold Ephraim Lessings Drama “Nathan der Weise”. Die Kernaussage der Parabel lautet, dass die drei monotheistischen Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam vor Gott gleichwertig sind. Sie fordert die Gläubigen indirekt auf, einander nicht zu bekämpfen, sondern den Geboten ihres Gottes, der ihrer aller Gott ist, mit Barmherzigkeit und (Nächsten-)liebe zu gehorchen.
  3. In dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib haben die Bewacher aus den Reihen der US-amerikanischen Besatzungstruppen Häftlinge gefoltert, unter anderem in Form sexueller Demütigung.
  4. Theodore J. Kaczynski, bekannt als “Unabomber”, wurde wegen Mordes in den USA verurteilt. weil er etwa 18 Jahre lang Briefbomben an verschiedene Personen geschickt hatte. Dadurch wurden drei Adressaten getötet und 29 verletzt. Als Motiv gab Kaczynski an, er habe gegen die negativen Auswirkungen des technischen Fortschritts kämpfen wollen.

 

Der proteische Mensch

Dr. phil. Kulle, P.D.

Inhalt:

  1. Vorwort
  2. Proteus
  3. Die Moderne
  1. Der Begriff der Moderne
  2. Der Mensch der Moderne
  1. Die Postmoderne
  1. Geistesgeschichtliche Hintergründe
  2. Merkmale der Postmoderne
  3. Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch
  1. Nachbemerkung

Vorwort

Ein Gespenst geht um 1, nicht nur in Europa, sondern in der gesamten so genannten zivilisierten, also vulgo industrialisierten Welt. Es handelt sich um den proteischen Menschen. Dieses Phantom geistert durch die Köpfe vieler menschlicher Männer 2 , die sich selbst als postmoderne Philosophen bezeichnen oder gerne bezeichnen lassen. Dieses Gespenst bereitet mir, anders als das Gespenst des Kommunismus, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 beschworen haben, keine Hoffnungen. Dieses Gespenst des 19. Jahrhunderts war nämlich real und verhieß eine lebenswerte Zukunft. Das neue Gespenst bereitet mir auch keine Furcht. Es existiert nämlich nicht. Was zu beweisen sein wird.

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Proteus

Wer oder was war oder ist der Namensgeber des angeblich existierenden proteischen Menschen? Auszuschließen sind der sechste gleichnamige Mond des Planeten Neptun, Proteus anguinus, der Grottenolm, und ebenso die Proteusbakterien, die im menschlichen Körper schwere Blasen- und Nierenbeckenentzündungen verursachen können 3. Auch ein Flugzeug der Firma Scaled Composites kommt nicht in Betracht, ebenso wenig wie manches andere 4. Näher kommen wir der Antwort auf unsere Frage, wenn wir einen Blick auf die Homer zugeschriebene “Odyssee” werfen. Dort begegnen wir Proteus, einem alten, weisen und wandlungsfähigen Meeresgott, der auf der Insel Pharos als Robbenhüter lebt. Im Zentrum und auf dem Gipfel der griechischen Mythologie, auf dem Olymp, finden wir schließlich den wahren Proteus, den Ur-Proteus als Glied der zeusschen Götterfamilie. Er ist ein Meister der Verwandlung und kann jede beliebige Gestalt annehmen.

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Die Moderne

Der Begriff der Moderne

Mir als seriösem Wissenschaftler ist der Begriff “Moderne” zutiefst zuwider, stammt er doch aus einem Bereich des gesellschaftlichen Überbaus, dem naturgemäß ein Übermaß an Freiheit und Kreativität, damit auch an Unernsthaftigkeit, zugesprochen wird, nämlich aus der Kunst bzw. der Kunstgeschichte. Wie dem auch sei, der Begriff wurde allmählich auch von ernsthaften Wissenschaften wie der Soziologie adaptiert und so zur Quantité non négligeable.
Die Vorstellungen von Anfang und Ende dieser Epoche sind jedoch bis zum heutigen Tag ebenso unscharf wie der Epochenbegriff selbst. Begann die Moderne 1789 mit der Französischen Revolution oder erst am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen des Naturalismus in Deutschland? Endete sie 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 5, 1990 mit dem Ende der Bipolarität, oder dauert sie noch an? Das ist alles umstritten.
Ich erspare es mir und dem Leser, an dieser Stelle die angeblichen oder tatsächlichen Merkmale dieser so genannten “Epoche” aufzulisten – das lässt sich ebenso gut bei Wikipedia 6 oder in anderen Lexika nachlesen. Zentral und unbestritten ist jedoch, dass dieser wie auch immer definierte Zeitabschnitt der Menschengeschichte von einem bisher unbekannten und revolutionären Wirtschaftssystem dominiert wurde, nämlich dem Kapitalismus 7. Ja, revolutionär. Zwar stellte der Kapitalismus die Welt nicht vom Kopf auf die Füße 8, aber er verpasste ihr eine ordentliche Drehbewegung.

Der Mensch der Moderne

Welches Menschen bedarf ein Wirtschaftssystem, das auf Privateigentum an Produktionsmitteln basiert und nur ein Ziel verfolgt, das der Profitmaximierung? Hier gilt es zu differenzieren.
Der Mensch im Kapitalismus, sei er Bourgeois oder Proletarier, ist ohne Arbeitsethik nicht überlebensfähig, ob er sie sich nun freiwillig aneignet wie die protestantische Ethik 9 oder von der “Peitsche” des “Aufsehers” bei Strafe seiner Entlassung dazu gezwungen wird. In der Phase der ursprüngliches Akkumulation ist daneben die Bereitschaft zu bescheidenem Lebenswandel gefordert – knappes Kapital muss reinvestiert werden, mit Hungerlöhnen müssen große Familien ihr Leben fristen. Anders stellt sich die Lage dar, wenn der Kapitalismus in die Phase der Massenproduktion von Waren nicht nur mit Maschinen, sondern auch durch Maschinen eingetreten ist – dann ist nicht mehr Asketentum erwünscht, sondern Konsum; dann wird die Warenwelt weiter und weiter entfaltet, so dass alle tatsächlichen oder von den Marketingabteilungen der Unternehmen vorgegaukelten materiellen Bedürfnisse befriedigt werden können. Zumindest theoretisch. Die Kehrseite der Produktion von Waren und auch Dienstleistungen durch Maschinen besteht darin, dass die menschlichen Produzenten und Dienstleister ihre Arbeit verlieren, ihrer gewünschtern Rolle als Konsumenten also nur noch äußerst eingeschränkt gerecht werden können, was wiederum der Produktion Grenzen setzt.

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Die Postmoderne

Geistesgeschichtliche Hintergründe

In Bezug auf die Moderne wird immer wieder behauptet, sie sei von einem großen Fortschrittsglauben geprägt worden. Für das 19. Jahrhundert ist das zweifelsohne der Fall. Wenn allerdings die Erosion oder gar das Ende des Fortschrittsvertrauens auch das Ende der Moderne eingeläutet oder bedeutet haben sollte, dann müsste das bereits 1912 der Fall gewesen sein, als die “unsinkbare” Titanic von den Fluten des Atlantiks verschlungen wurde. Aber lassen wir das.
Fortschrittsglaube, menschlicher Fortschrittsglaube impliziert die Vorstellung, die Welt erkennen und beherrschen zu können. Verfechter der These, die menschliche Gesellschaft befinde sich heute nicht mehr in der Phase der Moderne, sondern in der der Postmoderne, argumentieren gerne damit, beides habe sich als Illusion erwiesen, und zitieren zum “Beweis” mit Vorliebe den Physiker Werner Heisenberg oder den Mathematiker Kurt Gödel. Beide haben in der Tat erkannt, dass Termiten an ihren jeweiligen wissenschaftlichen Gebäuden nagen.
Heisenberg kam zu der Feststellung, dass im Quantenraum eine objektive Beobachtung unmöglich ist, weil der Beobachter das Experiment beeinflusst. Wohlgemerkt, im Quantenraum, also im Picobereich – das bedeutet 10-12 m und kleiner. Postmoderne “Wissenschaftler” weisen unter Berufung auf diese Heisenbergsche Unschärferelation die Idee einer festen, objektiven Realität zurück. Bei Rifkin heißt es:
“Die Welt ist den Postmodernisten zufolge ein menschliches Konstrukt”. 10
Rifkin zitiert Heisenberg:
“Unsere wissenschaftliche Arbeit in der Physik besteht darin, Fragen über die Natur zu stellen in der Sprache, die wir besitzen.” 11
Die Sprache der Physik ist die Mathematik, das steht schon bei Galilei, und in mehr als 400 Jahren hätte man das lernen können. Aber welche Folgerungen ziehen postmodernefreundliche Bestsellerautoren aus dieser Aussage?
“Realität ist damit also eine Funktion der Sprache.” 12
Hier liegen nicht nur Leseschwäche und ein kapitaler wissenschaftlicher Lapsus in Bezug auf Schlussfolgerungen vor, sondern auch ein Rückfall in subjektiven Idealismus, ja mehr, in Solipsismus. Anstatt eines bärischen Wutausbruches über so viel Dummheit lasse ich lieber Goethe sprechen, der einen Solipsisten sagen lässt:
“Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein.”, worauf ihm Mephisto, der Teufel, antwortet:
“Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein.” 13
Jedenfalls ist mit derlei “Theorie” keine neue Epoche zu machen.

Merkmale der Postmoderne

Wie wir gesehen haben, ist es um die theoretische Legitimation der Postmoderne schlecht bestellt. Wie viel schwerer haben es deren Verfechter da erst auf der materiellen Ebene angesichts der Tatsache, dass die grundlegenden Produktionsverhältnisse des Kapitalismus dieselben geblieben sind, ja, sich sogar nach der Implosion des so genannten “real existierenden Sozialismus” auf den gesamten Globus ausweiten konnten! Aber sie begreifen dergleichen keineswegs als Fortschreibung des alten, sondern erfinden flugs einen neuen Kapitalismus.
Wir haben es angeblich mit einer neuen Ära zu tun, der des kulturellen Kapitalismus, in der nur noch die Verfügbarkeit, der Zugang, zählten, wohingegen das Eigentum immer bedeutungsloser werde 14. Dinge herzustellen, auszutauschen und Eigentum zu akkumulieren, sei nebensächlich geworden 15. Dieser neue Kapitalismus habe Zeit, Kultur und gelebte Erfahrungen warenförmig gemacht. 16
Immerhin – Lyotard, Baudrillard und wie sie alle heißen, geben zu, dass sie im Kapitalismus leben. Sie meinen, eine neue Qualität des Kapitalismus zu benennen, und verkennen, dass es sich lediglich um eine quantitative Verschiebung des Systems handelt. Niemand leugnet, dass moderne kapitalistische Gesellschaften Dienstleistungsgesellschaften sind, dass sie also, wie Rifkin formuliert, Zugang und Verfügbarkeit ermöglichen. Angesichts einer immer stärkeren Vernetzung der Menschenwelt einerseits – niemand kann sich das Internet kaufen, jeder kann sich nur gegen eine Gebühr einloggen – und der durch Arbeitslosigkeit und Lohndumping auf internationaler Ebene prekären finanziellen Situation der abhängig Beschäftigten in den Industrieländern andererseits ist ein anderer Weg unrealistisch. Daraus aber die Schlussfolgerung zu ziehen, der Kapitalismus habe sich dergestalt gewandelt, dass Eigentum und die Herstellung von Produkten nicht zählten, ist völlig falsch. Eine solche Argumentation betrachtet nur die Konsumentenperspektive und nicht die der Produzenten, die immer noch all das herstellen und über dessen Qualität verfügen, was die Massen in Abhängigkeit hält: Kühlschränke, MTV, Soap Operas und Autos, oft auf der Basis von Nutzungsverträgen. Nicht zuletzt verfügen die Besitzer der Produktionsmittel über das (Aktien-) Kapital, an dessen Mehrung sie interessiert sind.

Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch

Wie wir oben gesehen haben, ist der griechische Gott Proteus ein Formwandler. Ähnliche Fähigkeiten werden von den Postmodernisten auch dem proteischen Menschen zugesprochen. In der Postmoderne verändern die Menschen angeblich zwar nicht ihre äußere Form, wohl aber ihre Persönlichkeit zu Persönlichkeiten 17. Rifkin versteigt sich gar zu der Formulierung:
“Ein neuer menschlicher Archetyp wird gerade geboren. Einen Teil des Lebens bequem in virtuellen Welten des Cyberspace verbringend, vertraut mit den Funktionsweisen einer vernetzten Wirtschaft, weniger daran interessiert, Dinge zu sammeln als daran, aufregende und unterhaltsame Erfahrungen zu machen, fähig, simultan in parallelen Welten zu interagieren, rasch dabei, die eigene Persönlichkeit zu ändern, um sie irgendeiner neuen Realität, die ihnen – ob simuliert oder echt – begegnet, anzupassen …” 18
Große Worte, in der Tat. Dem angeblich so großen Neuen kann man analytisch-theoretisch und empirisch zu Leibe rücken.
Der proteische Mensch ist, glaubt man Rifkin, souverän. Angelehnt an Freud’sche Kategorien formuliert: Er besitzt “Iche-Stärken”. Ich-Stärke kann er nicht haben, denn er hat keine Persönlichkeit mehr, wohl aber Persönlichkeiten. Für Menschen ist es nicht leicht, angesichts der widerstreitenden Forderungen von “Es” und “Über-Ich” überhaupt ein angemessen starkes “Ich” auszubilden – nun soll dieser Prozess auf einmal multifunktional ein Kinderspiel sein? Die traditionelle Soziologie kennt den Begriff der Rollenambiguität – in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft muss der Mensch sein Handeln, seine Rolle gemäß seiner Position modifizieren. Schon diese Anforderung überfordert die meisten Menschen – woher soll also die Fähigkeit zur Ausbildung multipler Persönlichleiten kommen? Eine Mutation ist jedenfalls nicht in Sicht…

Betrachtet man den real existierenden Menschen, zum Beispiel in Dehland, so stellt man Folgendes fest:

  • er hat überwiegend Angst um seinen Arbeitsplatz oder ist arbeitslos
  • er hat keine Zeit, sich bequem in den virtuellen Welten des Cyberspace zu tummeln, oder er hat keinen Internetzugang. Wenn er sich einloggt, ist das häufigste Suchwort “Sex” – das ist nicht gerade ein Beweis für Bequemlichkeit und Souveränität.
  • Er sieht intensiv und viel zu lange fern und lässt sich von geschauspielerten Pseudopersönlichkeiten gefangen nehmen, die mit der Realität und ihm selbst nichts zu tun haben, obwohl er sich mit ihnen identifiziert
  • Er versteht nichts von der Wirtschaft und deren Funktionsmechanismen
  • er will selbstverständlich aufregende und unterhaltsame Erfahrungen machen (Ist das eigentlich “selbst verständlich”?), landet aber im Urlaub, so er sich diesen leisten kann, auf Mallorca oder in der Dominikanischen Republik – all inclusive, selbstverständlich, und ist dort auf sich selbst zurückgeworfen.
  • Seine eigene Persönlichkeit, falls vorhanden, ändert er mitnichten, weil er froh ist, wenigstens etwas zu haben, woran er sich festhalten kann.

Der proteische Mensch, vielleicht gedacht als innengeleitetes Individuum 19 , ist eine schöne Idee, die aber weder der gesellschaftlichen Realität noch den in ihr zum Leben gezwungenen Menschen gerecht wird.

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Nachbemerkung

  1. Qed.
  2. Ich erspare mir dieses Mal ein Fazit – es wäre zu deprimierend, weil es den bisherigen aufs Haar gliche. Allerdings ist es mir ein Anliegen, meiner abgrundtiefen Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass etliche Menschen, denen noch nicht einmal ich die prinzipielle Fähigkeit zum Denken absprechen will, ihre geistigen Kapazitäten darin erschöpfen, angebliche neue Epochen zu erfinden, anstatt ihr Gehirnschmalz darauf zu verwenden, über die Rettung unseres Planeten nachzudenken, was überfällig, wenn nicht bereits zu spät ist, jedenfalls aus bärischer wie menschlicher Perspektive betrachtet.
  3. Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich diesmal (fast) ernsthaft war.
  4. Falls Jeremy Rifkin meine bescheidenen Anmerkungen lesen und sich ärgern sollte, würde ich mich freuen, aber ich weiß, dass er nicht Deutsch kann.
  5. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.
PD Kulle


Fußnoten:

Wenn Sie sie Maus kurz über einer Fußnote stehen lassen, erscheint der Text. Falls das nicht klappt: hier sind noch einmal alle Fußnoten im Zusammenhang:

  1. Ich bitte um Entschuldigung. Natürlich bediene ich mich eines gängigen Zitats, aber das ist unumgänglich. In dem Fall, den wir zu untersuchen haben, handelt es sich tatsächlich um ein Gespenst.
  2. Falls ich übersehen haben sollte, dass es auch philosophisch dilettierende Frauen gibt, die dem Phänomen des proteischen Menschen nachjagen, dann möge man mir Kenntnis davon geben – meine email-Adresse ist bekannt (kulle@baerdel.de).
  3. Der Glaube an den proteischen Menschen affiziert dagegen eher das Gehirn.
  4. Ich verweise hier nur auf die Riesenschildkröte in: Goethe, “Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ und auf den ägyptischen König Proteus in Euripides‘ “Helena“.
  5. Diese Meinung vertritt Amitai Etzoni, was ich für völligen Unsinn halte. Entweder hat die Moderne die faschistische Barbarei verdaut und überstanden, oder sie hat mit deren Beginn geendet.
  6. http://www.wikipedi.org
  7. Mehr dazu bei Karl Marx.
  8. Das wird, was unmittelbar einleuchtet, erst eine kommunistisch-anarchisch organisierte Assoziation freier Produzenten leisten können.
  9. Vgl. Max Weber
  10. vgl. Jeremy Rifkin, Access, Frankfurt 2000, S. 256, 260
  11. nach Angaben von Rifkin aus: Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Frankfurt/Berlin 1990, S. 40
  12. vgl. Rifkin, ebd., S. 261
  13. Goethe, Faust II, V. 6791f
  14. vgl. Rifkin, ebd., S. 183. Im Übrigen wäre zu klären, was Kapitalismus mit Kultur zu tun hat, aber das ist schon wieder ein anderes Thema.
  15. Vgl. ebd., S. 263
  16. Vgl. ebd., S. 252
  17. vgl. ebd., S. 283
  18. ebd., S. 250
  19. vgl. David Riesman, The Lonely Crowd, New York 1950

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Kulles Schöpfung

Kulles Überlegungen zum menschlichen Selbst- und Weltverständnis

Aufgrund meiner zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten verzichte ich darauf, die hier vorliegende als wissenschaftliche Veröffentlichung zu katalogisieren, zumal der Gegenstand kein wissenschaftlicher ist. Es ist mir allerdings, das möchte ich vor allem gegenüber meinen menschlichen Kollegen betonen, ein Vergnügen, meine Reflektionen zu veröffentlichen.

Die Schöpfung

2

Der Anfang von allem war niemals, weil alles immer schon war, oder irgendwann, falls es damals eine Zeit gab und oder oder es jetzt einen Verstand gibt, der diesen Zeitpunkt bestimmen kann, und vielleicht vor der Materie, die es seitdem gibt und vielleicht vorher nicht oder doch. Niemand weiß das 3 , aber es gibt sie, die Zeit und die Materie, und daraus ward das vergängliche Leben, und alles Sein ist ein Teil von ihr und von ihm, auch der Mensch.
Dem Menschen, der seinen Charakter erkannte, weil er mit der unheilvollen und heilsamen Gabe der Denkfähigkeit ausgestattet war, war es unheimlich ob seiner Bösartigkeit, und er erfand sich ein moralisches Gesetz, das über ihm steht und unerreichbar ist, weil er selbst unfähig ist, sich Gesetze zu geben, die er auch einhält. Dieses Gesetz nennt er Gott.
Und weil er nicht wusste und weiß, woher er kommt und was sein Lebenszweck ist, musste er die Geschichte seines Werdens erfinden. Er hat nicht genug Selbstvertrauen, deshalb schiebt er den Vorgang seinem Gott, seinem Gesetz in die Schuhe.
In der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte zum Beispiel hat der Mensch – wer sonst? Oder spricht Gott von sich in der 3. Person Singular? – geschrieben:
“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“
Dieser Satz wirft ein schlagschattenklares Bild auf den Menschen, denn da er über seine Herkunft keine Auskunft geben kann, erfindet er eine höheres Wesen, das für die Schöpfung verantwortlich gemacht wird und über dessen Herkunft folglich das Geschöpf 4 auch keine Auskunft geben muss. Klug ist er, der dumme Mensch! Die Klugheit beweist sich auch in den beiden ersten angeblichen Schöpfungen: Himmel und Erde. So hat der Mensch zwei Fakten benannt, die sein Leben bestimmen: Die Erde, auf der er steht, und den gestirnten Himmel 5 , der sich über ihm wölbt.
Aber wie geht es weiter? Die nächsten Verse lauten:
“Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“
Nun gut, wir nehmen das zur Kenntnis. Am Ende des ersten Schöpfungstages haben wir Licht. Es ist ja auch durchaus positiv, wenn der Schöpfer, der offenbar auf Augen angewiesen ist, etwas sehen kann. Da die Elektrizität noch unbekannt ist, da der Mensch noch nicht einmal das Feuer entdeckt hat, um es sich nutzbar zu machen, da noch nicht einmal vom Menschen die Rede ist, müssen wir annehmen, dass das benannte Licht das Licht der Gestirne ist.
Merkwürdig jedoch, dass wir weiter hinten lesen:
“Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf Erden. Und es geschah also. Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.“
Aus diesem Zitat lassen sich mehrere Erkenntnisse ziehen.
Erstens ist der hier sprechende Gott – oder der Mensch, der sich stammelnd göttliche Kompetenz anmaßt – ein “Meister“ der Redundanz, ja, der direkten Wiederholung. Mehrmals scheiden die Lichter Tag und Nacht und sind gleich dreimal an der “Feste des Himmels“ befestigt – auf welche Weise auch immer.
Zweitens steht der Autor dieser Zeilen auf Kriegsfuß mit dem Konjunktiv 6 .
Drittens, und das ist das eigentlich Gravierende, ist dieser Schöpfergott vermutlich ein richtiger Chaot. Merkt er denn nicht, dass er seine Schöpfung dupliziert? Hat er vergessen, dass er erst vor drei Tagen sein “Fiat lux!“ gesprochen hat 7 ? Da es schon tagsüber hell ist, ist die Sonne ein überflüssiges Gestirn, und nachts sollte es nach der Planung des ersten Schöpfungstages eigentlich dunkel sein.
Vielleicht ist der Schöpfer aber einfach nur erschöpft. Muss er sich doch, nach nur sechstägiger Arbeit, bereits am siebenten Tage ausruhen. Auch eine andere Textstelle lässt darauf schließen, dass der Schöpfer nicht im Vollbesitz seiner physischen Kräfte ist:
“Und sie 8 hörten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war.“
Sollte ein Schöpfer in der Blüte seiner Jahre seine Geschöpfe nicht auch in der Mittagshitze besuchen können, anstatt sich wie ein Rentner in der Dämmerung im Park zu ergehen, und noch nicht einmal wissen, wo sich die “Krone“ der von ihm geschaffenen Welt aufhält, sondern fragen muss, wo der Mensch ist? 9

Der Mensch

Der Mensch als Autor einer Schöpfungsgeschichte der Erde – und wir behaupten inzwischen mit hundertprozentiger Sicherheit, nicht nur aus ideologischen Gründen 10 , dass der Mensch Autor des ersten und auch der folgenden Bücher Moses ist, denn ein Schöpfergott würde sich nicht als senilen schonungsbedürftigen Greis darstellen – der Mensch als Autor seiner Schöpfungsgeschichte stellt sich gewiss in den Mittelpunkt, und zwar als positiven Helden. Wir werden untersuchen, ob das zutrifft. Unser Untersuchungsgegenstand ist zunächst der sechste Schöpfungstag.
“Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.
Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.
Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise,
und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das da lebt auf Erden, dass sie allerlei grünes Kraut essen. Und es geschah also. 11

Wir wollen uns nicht ein zweites Mal über Redundanzen, Wiederholungen und grammatische Schwächen mokieren, sondern nehmen nur zur Kenntnis, dass sie in diesem Werk der Fiktion unvermeidlich zu sein scheinen. Konzentrieren wir uns auf die Inhalte. Folgendes ist dabei festzustellen:

  • Der Mensch ist als Ebenbild Gottes konstruiert worden, und zwar zweigeschlechtlich; die Erschaffung von Mann und Frau fand, wenn wir den Text beim Wort nehmen, zeitgleich statt. Die Ebenbildhaftigkeit dürfte kaum rein äußerlich zu verstehen sein, zumal Informationen über die Physiognomie des Schöpfergottes völlig fehlen, vielmehr ist anzunehmen, dass eine Art Seelenverwandtschaft intendiert ist.
  • Der so beschaffene Mensch wird mit einem doppelten Arbeitsauftrag versehen: Er soll über alles tierische Leben auf der Erde herrschen, wobei ein Ziel dieser “Herrschaft“ nicht formuliert wird. Um Domestikation zum Zwecke der Nutztierhaltung kann es nicht gehen, sind doch Menschen wie auch alle Tiere Vegetarier, was übrigens eine sehr positiv zu bewertende Idee ist. An pflanzlicher Nahrung scheint kein Mangel zu bestehen, Raubtiere, die eventuell den Menschen bedrohen, gibt es nicht. Zweckfreie Herrschaft hat keinen Inhalt, erfüllt keinen Zweck, das Bedürfnis danach drückt aber sehr wohl eine Haltung aus, einen Charakterfehler, und wir müssen konstatieren, einen Charakterfehler sowohl dieses hier angeblich sprechenden Gottes als auch des tatsächlich schreibenden Menschen, nämlich schiere Machtgier. Der zweite Teil des Arbeitsauftrages, Bedingung des oben betrachteten, besteht darin, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Letzteres haben, wie Bibel- und Geschichtskenner wissen, nicht nur Adam und Eva, sondern auch die meisten ihrer Nachfahren mit erschreckendem quantitativem Erfolg getan. Allerdings wissen Soziologen und Politologen auch, dass Menschen primär dann unkontrolliert Nachwuchs zeugen, wenn ihre Lebensumstände tierunwürdig 12 sind. Der status quo im beginnenden Jahr 2005 verzeichnet weit über sechs Milliarden Menschen – legt man die biblische Zählung zu Grunde, die die Schöpfung zwischen 4000 und 5000 vor der christlichen Zeitrechnung beginnen lässt, bedeutet das im Schnitt nur knapp 2,2 Kinder von jeder Frau, davon die Hälfte Töchter, die auch das geburtsfähige Alter erreichen und ihrerseits ihre Fortpflanzungspflicht tun – keine sonderlich beachtliche Fertilität, wohl aber eine bedrohliche!
    Aber diese mathematische Geburtenrate 13 setzt wahrhaft paradiesische Zustände voraus, und die sind mitnichten gegeben. Hat der Schöpfer doch der Menschenfrau in seinem Zorn geflucht:
    “du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“ 14
    und dem Menschenmann gedroht:
    “verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.“ 15
    Hinter den “Schmerzen“ und dem “Kummer“ verbergen sich in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag Kindersterblichkeit, Hungersnöte, Epidemien, Genozid und Kriege, häufig miteinander verwoben. Das hat die überlebenden Frauen der Menschheit zu einer weit höheren, mathematisch kaum messbaren Fertilität gezwungen.

So weit, so schlecht. Aber der Ungereimtheiten sind noch nicht genug. Es gibt nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft, im zweiten Kapitel des ersten Buches Mose, einen zweiten Schöpfungsmythos, der nicht das uns sattsam bekannte und letztlich harmlose Kriterium der Redundanz erfüllt, sondern völlig neue Inhalte präsentiert. Dieser Version zufolge hat Gott am siebenten Tage geruht und kommt erst danach auf die Idee, den Menschen zu machen, weil er offenbar gewahr wird, dass es niemanden gibt, der das Land bebauen kann 16. Welch auffälliges Misstrauen des Schöpfers gegenüber der soeben von ihm kreierten Pflanzenwelt! Jeder Wald überall auf der Welt spricht diesem Misstrauen Hohn. Wie dem auch sei, Gott geht, übrigens hier ohne explizit formuliertes Leitziel, ans Werk:

„Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also war der Mensch eine lebendige Seele.“ 17
Wie erfrischend kommt das daher! Eine lebendige Seele begegnet uns, ein fühlendes Wesen, vielleicht gar mit einem Gewissen ausgestattet, denken wir, mit einem Gespür für Falsch und Richtig; aber, wie sich weisen wird, weit gefehlt. Was wir gewiss wissen, ist, dass dieses Geschöpf einsam ist, eine Partnerin ist ihm nicht beigegeben.
Machen wir das Folgende kurz! Der Schöpfergott macht anschießend ein Biotop für sein Menschlein, den Garten Eden, und “setzt“ 18 es hinein. Auch hier geht es nicht ohne Arbeitsauftrag ab:
„Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn baute und bewahrte.“ 19
Respekt, Respekt! Der Gedanke der nachhaltigen Entwicklung anstelle von Herrschaft und Ausbeutung – ich muss gestehen, dass der Schriftstellerkollege, der für diesen Gedanken verantwortlich ist, mir durchaus imponiert.
Der “lebendigen Seele“, dem Menschlein, wird sogleich ein erster Verhaltenskodex gegeben, auf den wir gleich noch eingehen werden. Wichtig ist: Er wird nur dem noch einsamen Mann mitgeteilt. Erst danach, nachdem der Mensch die Aufgabe erledigt hat, allen Tieren, die ihm anscheinend paarweise vorgeführt werden, Namen zu geben, wird festgestellt, dass allein für den Menschen “keine Gehilfin“ 20 vorhanden war. Bereits aus dieser Wortwahl wie auch aus dem folgenden Schöpfungsakt wird die intendierte inferiore Stellung der Menschenfrau ersichtlich:
“Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloss die Stätte zu mit Fleisch.
Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 21

Da haben wir also die Frau, nach der ersten Version Ebenbild Gottes und gleichzeitig mit dem Mann geschaffen, nach der zweiten Variante lediglich “Gehilfin“, aus dem Körper des Mannes erschaffen. Es wird nicht davon gesprochen, dass auch dieses weibliche Wesen eine “lebendige Seele“ sei. Beiden Frauen ist jedoch eines gemeinsam: Sie wissen nichts von einem göttlichen Verbot – nur der Mann hat dieses vernommen. Es lautet:
“Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten;
aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.“ 22

Schau, schau! Das “Ebenbild Gottes“ soll über keine moralischen Kriterien verfügen! Es wird gar mit dem Tode bedroht, wenn es sich diese erwirbt. Welches egoistische Interesse hat der Schöpfer an diesem Verbot? Die Bibel gibt auf diese Frage keine Antwort, der geneigte Leser denke sich sein Teil.
Die Frau, das Weib, die “Männin“ 23 erfährt jedoch auf nicht bekannte Weise von dem Verbot, wenn auch nur rudimentär, denn sie sagt zur Schlange:
“Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret’s auch nicht an, dass ihr nicht sterbet.“ 24

Interessant, dass der “inferioren“ Frau das Verbot ohne kausale Begründung mitgeteilt worden ist. Interessant auch, dass auf einmal eine “Schlange“ auftaucht. Sie wird beschrieben als “listiger denn alle Tiere auf dem Felde“ 25. Wozu brauchen die Tiere des Schöpfungsberichtes List? Wozu braucht eines gar besonders viel? Wie oben bereits erläutert, herrscht Vegetarismus. List benötigen Tiere zum Täuschen und in Sicherheit wiegen, zum Überwältigen ihrer Beute. Pflanzen allerdings pflegen nicht wegzulaufen, wenn sie gefressen werden sollen. Hat der Schöpfergott die notwendigen intellektuellen Kapazitäten seiner Geschöpfe nicht hinreichend reflektiert? Hat er Tiere mit Fähigkeiten ausgestattet, die sie zu ihrem Leben gar nicht benötigen, und das Leittier, den Menschen, mit Möglichkeiten, die er als Schöpfer nicht realisiert sehen möchte – wie anders ist das Verbot zu erklären?
Wie dem auch sei, mit der Schlange ist das in der Welt, was Theologen “das Böse“ zu nennen pflegen. Aber das “Böse“ obsiegt zu Recht – die Menschenfrau kennt keine Begründung für das göttliche Verbot, die Schlange bietet ihr aber einen sehr plausiblen Grund dafür, es zu brechen:
“Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ 26

O göttliches Weib! Was dem Mann Grund war, das Verbot zu akzeptieren, ist der Frau Grund, es zu brechen. Sie bekam Lust auf die Früchte des Baumes, “weil er klug machte“ 27.
Die Antwort der Bibel auf diesen “Sündenfall“ ist erschreckend peinlich. Angeblich entdeckten Mann und Frau nach dem Verkosten der Erkenntnisfrucht ihre Nacktheit und begannen, sich zu schämen und ihre Blöße mit Feigenblättern zu bedecken. Welch intellektuelles Armutszeugnis, welch literarisches Feigenblatt!
Erklären lässt sich dies nur durch den krampfhaften Versuch der Autoren der Bücher Mose, ihren Gott, der doch im Zentrum des Geschehens stehen soll, positiv darzustellen. Das gelingt nur in Grenzen. Nach unbefriedigender Klärung der “Schuldfrage“ stößt Gott eine Philippika von Verwünschungen und Drohungen aus, die auf seinen Charakter und sein Selbstbewusstsein ein nicht gerade gutes Licht werfen. Bevor die beiden “Sünder“ aus dem “Garten Eden“ geworfen werden, gibt es immerhin eine göttliche Geste guten Willens – offenbar ist dem Schöpfer an der Weiterexistenz seiner Kreaturen, die nun unter widrigen Umständen leben müssen, gelegen:
“Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie.“ 28
Wahrlich nett, wenn man bedenkt, dass “Gott der Herr“ zuvor der Frau Schmerzen, sexuelles Verlangen und Unterordnung unter den Mann, dem Mann schwere körperliche Arbeit, Mangel und Tod “versprochen“ hat. Der Eindruck, dass dieser Gott erratisch handelt und nicht weiß, was er tut, verdichtet sich immer mehr. Allerdings erhärtet sich auch, dass dieser Gott Geschöpfe braucht, weil er sich sonst seiner selbst nicht vergewissern kann.
Kommen wir zum Schluss. Dieser eifersüchtige Gott, der seine Kreatur unterschätzt hat, kennt zumindest am Anfang der menschlichen Existenz noch Mittel und Wege, einen knappen Vorsprung zu behalten:
“Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!
Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden…“ 29

Wir stellen fest, dass es dem Menschen, dem Verfasser oder den Verfassern der ersten Kapitel des Alten Testaments, nicht nur nicht gelingt, seinen Gott positiv darzustellen, sondern auch sich selbst nicht. Vielleicht ist letzteres Absicht: Nur wer fehlerhaft ist, braucht einen Gott, der strafen kann. Aber immerhin – der Mensch behält sich einen Joker vor – die göttlich formulierte Möglichkeit des ewigen Lebens. 30
Wie dem auch sei mit der Schöpfung: Wir 31 sind alle draußen aus dem Paradies. Schön ist es hier nicht. Aber war es das im “Garten Eden“, schön, widerspruchsfrei, logisch, berechenbar? Für Menschenfrauen und Schlangen jedenfalls nicht. Vielleicht für Menschenmänner. Die benehmen sich, was Logik und Rationalität angeht, auch hier draußen bis zum heutigen Tag wie Gott der Herr bei der Schöpfung.

Schlußwort: Ich danke – wie immer – meiner Sekretärin!


Fußnoten: Wenn Sie den Cursor für einen kleinen Moment über der Fußnote stehen lassen, erscheint der Text in einem Extra-Fenster. Zurück!

Ausbeutung

Einige Bemerkungen zur Entwicklung der Ausbeutung vor unserer Zeitrechnung

von P. D. Kulle

Kulle

Inhalt

 

  1. Persönliche Vorbemerkung
  2. Der Begriff der Ausbeutung
  3. Die Klassengesellschaft
  4. Entstehung
  5. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
  6. Die Sklavenhaltergesellschaft
  7. Intellektueller Reflex
  8. Conclusio
  9. Persönliche Nachbemerkung

I. Persönliche Vorbemerkung

Wir, also ich und meine Sekretärin, werden uns bemühen, meine Forschungsergebnisse in Bezug auf menschliches Verhalten in gewohnt prägnanter und präziser Weise zu Papier zu bringen, obwohl der Verfasser unter einer tiefen Depression leidet. Dieser Gemütszustand resultiert aus der Erkenntnis, dass vermutlich1 Ausbeutung keine notwendige, sondern eine Glück2 retardierende Bedingung menschlichen Zusammenlebens ist und dass Alternativen zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen existieren, dass das Wissen darum in der Geschichte dieser Spezies aber immer nur kurzfristig aufblitzte und gegenwärtig praktisch nonexistent ist.
Diese Depression hat auch zur Folge, dass wir uns trotz großer Bedenken entschlossen haben, den Gegenstandsbereich unserer Untersuchungen mit Rücksicht auf unsere begrenzten Kräfte unzulässig einzuengen und auf Europa und dessen näheres Umfeld zu beschränken3. Dagegen betrachten wir es als legitim, unsere Forschungen auf den Zeitraum zu beschränken, den meine abendländischen menschlichern Historikerkollegen gemeinhin als „vor Christus“ bezeichnen. In den für unser Thema relevanten annähernd drei Jahrtausenden vor der Hinrichtung jenes Handwerkersohnes, der nicht zuletzt deshalb sterben musste, weil ihm Besitz und Kirchenfrömmigkeit verabscheuenswürdig waren, ist alles Entscheidende geschehen. Unserem psychischen Zustand ist die Tragödie gemäß, nicht die Farce.4

II. Der Begriff der Ausbeutung

Trotz meiner hohen Wertschätzung für die Forschungsergebnisse des Kollegen Marx definiere ich „Ausbeutung“ nicht als Resultat eines Prozesses, der die private Aneignung der materiellen Differenz von Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft beinhaltet, sondern als Aneignung der Arbeitsergebnisse anderer qua materieller Macht.5

III. Die Klassengesellschaft
a. Entstehung

Die Klassenspaltung einer Gesellschaft ist nur möglich in einer sogenannten Hochkultur.6 Ihre Teilung in Besitzende und Nichtbesitzende ist sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung der Ausbeutung, macht sie doch die Nichtbesitzenden davon abhängig, dass die Besitzenden ihrer bedürfen.7
In Stadtstaaten wie Ur, Uruk, Lagasch, Nippur und Kisch in Mesopotamien verzeichnen wir bereits im Jahr 2733 vor „unserer“ – i.e. der menschlichen – Zeitrechnung8 erstes Privateigentum9. 62 Jahre später ist im gesamten Zweistromland alles noch existierende Gemeineigentum privatisiert.
In Ägypten ist eine parallele Entwicklung nur wenig später zu beobachten: 2606 tritt Privateigentum an Grund und Boden an die Stelle des bisherigen „allen gemeinsamen Königsgutes“. In späteren Überlieferungen, z. B. aus Israel oder Griechenland, ist von Gemeineigentum schon gar nicht mehr die Rede.
Eigentumsverhältnisse erfordern juristische Verhältnisse, die ihnen entsprechen – es ist also nur logisch, dass weitere 50 Jahre danach, 2621, das Privateigentum in Mesopotamien für unantastbar und heilig10 erklärt wird.
Von solchen Entwicklungen profitieren Großgrundbesitzer, Händler, das Priestertum und das Königshaus – in der Regel in Personalunion.11 Da wir unsere Leser nicht unterfordern wollen, ersparen wir uns zu erklären, wer darunter leidet.

b. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
In einer sozial gespaltenen Gesellschaft ist Appeasementpolitik notwendig. So werden zum Zwecke des Verbraucherschutzes z. B. in Mesopotamien 2580 für Kupfer, Wolle, Korn und Öl Höchstpreise festgesetzt, 2379 wird ein Höchstzins festgelegt – 20% für Silber, 33% für Waren -; und 2365 werden die Begräbniskosten um 80% gesenkt. In Athen sorgt Solon um 550 für einen allgemeinen Schuldenerlass, durch den viele Bauern aus Schuldknechtschaft und Hörigkeit befreit werden.12
Die folgenden Beispiele zeigen jedoch, dass die herrschende Klasse keinen Spaß kennt, wenn es nicht nur um Peanuts,13 sondern um ihr Eigentum geht: König Agias von Sparta wird 240 wegen seiner radikalen Bodenreformen von den Ephoren erwürgt; Tiberius Gracchus wird 133 mit 200 Anhängern ermordet, weil er mit einer Bodenreform versuchte, die verarmte und entrechtete Landbevölkerung wieder zum Träger des Staates zu machen. Ähnlich liegt der Fall des Katilina, der als Politiker Bodenreform und Schuldenerlass anstrebte, bei Wahlen unterlag, den Aufstand probte und 62 mit seinen Verbündeten dabei ums Leben kam. Die Liste ist verlängerbar.
Auch benötigt eine solche Gesellschaft ein Straf- und Zivilrecht, das von den herrschenden Rechts- und Besitzverhältnissen ausgeht und bei den Beherrschten nicht etwa ketzerische Gedanken aufkommen lässt wie Konnotationen von Eigentum und Diebstahl.14 Dergleichen besorgte schon frühzeitig bekanntermaßen Hammurabi (1760 – 1686), Kaiser von Assyrien, aber vor ihm vermutlich viele andere Herrscher. Ähnlich wie Uru-Kagina15 2363 publizierte er seine Gesetze nicht als Produkte menschlichen Willens, sondern als göttliches Gebot, um ihnen mehr Gewicht zu verschaffen.16

IV. Die Sklavenhaltergesellschaft

Die Einführung der Sklaverei in einer Klassengesellschaft ist der zweite Schritt zum Untergang des Gemeinwesens, besagt sie doch, dass die Besitzenden der „freien“ Nichtbesitzenden nicht mehr bzw. immer weniger bedürfen. Sklaverei stellt also Sprengstoff im doppelten Sinne dar: Sie vertieft die soziale Spaltung der Gesellschaft, und die hohe Zahl der Sklaven mit ihrem Potenzial zum Widerstand bedroht die Gesellschaft insgesamt.
Sklaverei entwickelt sich in der Antike schnell – so umfasst die Mitgift der Mitanni-Prinzession Gilu in Mesopotamien im Jahre 1403 317 Sklavinnen17. Wenige Jahrhunderte später ist der Zerfall der Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten; er ist bedingt durch das schnelle Anwachsen der Zahl der Sklaven.18
Eine nur geringe Rolle spielt die Sklaverei in Ägypten und Israel, obwohl wir uns des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Geschichtsschreibung die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse nicht immer zureichend wiedergibt. Während zum Beispiel israelitische Überlieferungen19 voll sind mit Schilderungen von der qualvollen „Babylonischen Gefangenschaft“ des jüdischen Volkes, wird der Tatsache, dass eben diese Gefangenen, 42000 Köpfe stark, bei ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft im Jahre 537 7500 eigene Sklaven mitbrachten, in der Regel höchstens eine Fußnote gewidmet.
Eindeutig gravierend stellt sich das Problem der Sklaverei in Griechenland dar. Die Bedeutung der Sklavenfrage lässt sich unter anderem an wiederholten Bemühungen zu ihrer Lösung erkennen, vorrangig an den Versuchen, die Zahl der Sklaven zu begrenzen. So wird bereits 588 in Korinth die Anschaffung von weiteren Sklaven verboten, und 509 erhalten in Athen zahlreiche Sklaven Freiheit und Bürgerrecht. Diese Maßnahmen vermögen jedoch nicht zu verhindern, dass 450 in Korinth die Zahl der Sklaven die der freien Bürger übersteigt. 377 kommen in Athen zehn Sklaven auf einen Bürger.
Angesichts dieser Zahlen löst es Erstaunen aus, dass die Sklaverei keine Erosion der griechischen Poleis20 bewirkt hat. Die Annalen verzeichnen lediglich einen erfolglosen Sklavenaufstand (494) und die Flucht von 20000 Sklaven aus Athen (413). Erlaubt sei jedoch die Vermutung, dass der der griechischen Gesellschaft inhärente Sprengstoff sehr wohl explodiert wäre, wenn nicht ein Dritter vorher die Zerstörung übernommen hätte: das Römische Imperium.
Obwohl erst im Jahre 140 die Zahl der Sklaven die der Freien im Römischen Reich übersteigt, kommt es lange vorher zu Sklavenerhebungen. Schon 419 scheitert in Rom ein Sklavenaufstand; 198-196 vereinigen sich Sklaven in mehreren Teilen Italiens (Latium, Etrurien) zu aussichtslosen Freiheitskämpfen, 185 wird eine Erhebung in Apulien niedergeschlagen. Sucht man nach Gründen für dieses verzweifelte Aufbegehren einer schlecht ausgerüsteten Minderheit, so empfiehlt sich ein Blick in eines der Werke Catos des Älteren (234 – 149), „Über den Landbau“. Darin gibt er Ratschläge für Gutsherren und empfiehlt die rücksichtslose Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als wichtige Voraussetzung für Rentabilität.
Ernster wird der Fortbestand des römischen Staates zwischen 136 und 71 gefährdet. Wiederholt erschüttern Aufstände das Reich, nicht nur im italischen Kernland, sondern auch in den Kolonien, und die Aufständischen sind nicht nur Sklaven, sondern auch Proletarier, die sich zu Hunderttausenden vereinen und zum Teil jahrelang große Gebiete kontrollieren. Angesichts exzessiven Großgrundbesitzes und in Anbetracht riesiger Mengen importierten Getreides aus den Kolonien zum Nulltarif bleibt der Plebs ebenso wie den Sklaven nichts anderes als die Vision einer anderen Gemeinschaft. Aber eben daran, an der mangelnden Vision, scheitern diese Erhebungen; eben deshalb ist es den römischen Heeren möglich, selbst einen Aufstand wie den des Spartakus ohne Probleme zu beenden.21

V. Intellektueller Reflex

„Die Vornehmen sind voll Klagen und die Geringen voll Freude. Gold und Lapislazuli sind um den Hals der Sklavinnen gehängt und die einstigen Herren verrichten niederste Sklavenarbeit. Der Reiche schläft durstig, und wer ihn sonst um die Neige bat, trinkt jetzt starkes Bier. Diejenigen, die früher Gewänder besaßen, sind jetzt in Lumpen, die Armen aber besitzen Herrliches. Jede Stadt sagt: Lasst uns die Mächtigen aus unsrer Mitte vertreiben. Alles dreht sich wie eine Töpferscheibe.(Ipuwer , 2273 – 2188)

Revolutionäre Werke wie das des ägyptischen Dichters Ipuwer sind selten. Wesentlich häufiger sind Klagen über die herrschenden Zustände.22 Diesen Texten ist jedoch gemeinsam, dass sie Werke der Literatur sind.
Dichter bzw. Schriftsteller als Gesellschaftskritiker sind ebenso für das ägyptische Reich wie auch für das frühe Griechenland typisch. Wir erwähnen hier nur Hesiod (753 – 680), der als erster Dichter Griechenlands die bedrückte Lage der verarmten Bauernschaft thematisiert, Archilochos (705 – 637), Sohn eines Sklaven, der die Klassenteilung der Gesellschaft anklagt und – welch kühner Gedanke – die Forderung nach freier Entfaltung der Persönlichkeit erhebt, und schließlich Äsop (636 – 564), der sich in zahlreichen Fabeln für die Rechte der Armen einsetzt.23
In den griechischen Stadtstaaten werden die gesellschaftskritischen Dichter bald von anderen Intellektuellen abgelöst: den Philosophen. Anthistenes, Phaleas, Plato, Diogenes, Zeno, Euhemeros, Dikäarch und Chrysipp – welche eine illustre Reihe von Denkern vom 5. bis zum 3. Jahrhundert, welche eine Fülle von Ideen! Da stellt Dikäarch fest, dass die Existenz von Privateigentum einen Abfall vom Naturgesetz bedeute, und Plato kommt zu dem Schluss, Klassengegensätze und Privatbesitz seien die Ursachen für die Fehler einzelner wie auch der Gemeinschaft. Besitz und Genuss, ergänzt Anthistenes, seien die Hauptübel der Menschheit. Aus der Kritik erwachsen produktive Forderungen: Notwendig seien die Veränderung der Besitzverhältnisse (Phaleas) und Gütergemeinschaft (Diogenes). Ob das neue Gemeinwesen nun die Form eines Inselparadieses (Euhemeros) oder eines Weltreiches (Zeno, Chrysipp) annehmen soll – kommunistische Eigentumsverhältnisse und selbst-bewusste Menschen24 sind allen Utopien gemeinsam.25
Eine völlig andere Quelle der Gesellschaftskritik finden wir in Israel vor. Ahia, Elias, Elisa, Amos, Jesaja, Hesekiel – hier sind es die Propheten, die sich gegen die Reichen aussprechen und für die Rechte der Armen eintreten. Natürlich haben die oben Genannten einen deutlich engeren Denkhorizont als die griechischen Philosophen, die, wie z. B. Euphemeros, Götter als idealisierte Menschengestalten deuten. Die Propheten sind gefangen in der Überzeugung, einem Gott zu dienen, der exklusiv ein Volk, nämlich das, dem sie angehören, als das seine auserwählt hat, und betrachten es als ihre Aufgabe, dem Volk und dessen Herrschern den Willen dieses Gottes kundzutun. So verkündet etwa Amos (802 – 745), Jahwe sei der Herr der Welt und das Volk Israel dazu berufen, seine Herrschaft über die Erde zu verbreiten. Gleichzeitig tritt er für die Rechte der Armen ein – ein wenig einleuchtendes Doppelziel.26
Dichter, Philosophen, Propheten – vertreten sind damit Ästhetik, Ethik und Religion. Nota bene – Jahrhunderte lang, Jahrtausende lang treten die intelligentesten Vertreter der Menschheit27 einer unsinnigen Ökonomie auf Ebenen entgegen, die mit ihr nichts, aber auch gar nichts zu tun haben! Der Versuch, Ausbeutern ihr Verhalten mit der Vorhaltung der Menschenrechte auszutreiben, ist eher zum Scheitern verurteilt als Don Quichottes Kampf gegen die bekannten Windmühlenflügel. Nur eine korrekte wirtschaftswissenschaftliche Argumentation könnte hier Erfolg haben.28

Kulle

VI. Conclusio

Wir müssen zugegeben, dass wir die Unfähigkeit menschlicher Kritik nicht beweisen wollten, weil wir sie am Beginn dieser Arbeit noch nicht ins Kalkül gezogen haben, dass wir sie aber leider wissenschaftlich korrekt beweisen mussten. Also doch: QED.

VII. Persönliche Nachbemerkung

 

  1. Der Verfasser leidet immer noch unter Depressionen und zusätzlich unter Übelkeit.
  2. Ich danke dem Kollegen Peters für die Zurverfügungstellung29 etlicher Daten und Zusammenhänge.
  3. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

 


Fußnoten:

1 Diese Vermutungen beziehen sich selbstverständlich auf Menschen. Wir müssen zugeben, dass die menschliche Psychobiologie sich dem bärischen Verständnis weitgehend verschließt. Allerdings sind wir Bären in Hinblick auf unsere eigene mentale Gesundheit für dieses Faktum auch äußerst dankbar.

2 Selbstverständlich ist das bärische Interesse an menschlichem Glück marginal. Allerdings vermögen wir uns sehr gut vorzustellen, dass glückliche Menschen nicht auf die Idee verfallen, Bären zu jagen und zu töten, weil es ihnen Spaß macht.

3 Eine europazentrierte Sicht auf die Weltläufte ist zwar prinzipiell zulässig, sollte jedoch tunlichst unterlassen werden – die Kolonialgeschichte zeigt, wozu dergleichen führt!

4 Vgl. dazu meinen geschätzten Kollegen Karl Marx.

5 Mittels der Marx’schen Definition sind z. B. weder die ökonomischen Verhältnisse in der Sklavenhaltergesellschaft noch zahlreiche Erscheinungen der automatisierten Produktion und die Profitmaximierung im tertiären und quartären Sektor moderner Industriegesellschaften erklärbar. Genauere Erläuterungen hierzu müssen einer späteren wissenschaftlichen Arbeit vorbehalten bleiben.

6 Der Begriff der „Hochkultur“ bezieht sich ausschließlich auf von Menschen organisierte Gesellschaften. Er beschreibt ökonomische Beziehungen des ungleichen Austausches, bei denen der wertmäßig geringere Teil (z. B. Zauberheilung) als der wertmäßig/ideologisch höhere betrachtet und höher bewertet wird als zum Beispiel die Nahrungsmittelproduktion.

7 Dieses Abhängigkeitsverhältnis existiert natürlich auch vice versa, wird als solches in der Regel jedoch nicht wahrgenommen.

8 Im Folgenden werden wir in der Regel auf den Zusatz „vor unserer Zeitrechnung“ verzichten, wenn er selbstverständlich ist.

9 Mit Privateigentum ist hier selbstredend Privateigentum an Ressourcen gemeint, dessen Nutzung der Allgemeinheit dienlich sein könnte, also im weitesten Sinne an Produktionsmitteln, nicht privater Besitz.

10 Wir werden auch im Folgenden wiederholt feststellen, dass juristische und politische, also weltliche Belange religiöse Formen annehmen, und dergleichen ist auch im beginnenden 21.
Jahrhundert die Regel und mitnichten die Ausnahme. Wir überlassen es dem intelligenten Leser, nach geeigneten aktuellen Beispielen zu suchen.

11 So entsteht z. B. 2443 in Ägypten Großgrundbesitz. König Lugal-Anda von Lagasch (2449 – 2367), selbst Großgrundbesitzer und Großhändler, bedient sich der Priesterschaft, um die Bevölkerung effektiver ausbeuten zu können.

12 Parallelen zu aktuellen Formen moderner Sozialpolitik sind selbstredend nicht gegeben – schließlich gehört die freie Preisbildung zu den Grundpfeilern der Marktwirtschaft. (Ich glaube, der Chef meint das ironisch. Die Sekretärin)

13 vgl. den Flick-Bestechungsskandal

14 Vgl. Baboeuf (viel später)

15 2422 – 2360 König in Lagasch

16 vgl. Anmerkung 7

17 Tatsächlich spricht die uns vorliegende Quelle nur von weiblichen Sklaven. Der Prinzessin – wie auch unserer Fantasie – hätte es sicherlich besser gefallen, wenn auch männliche Sklaven zur Mitgift gehört hätten.

18 Dieses ursächliche Phänomen des Gesellschaftszerfalls wird uns auch im Folgenden noch begegnen. In Mesopotamien ist es unter dem Kaiser Asurbanipal zu beobachten, dessen übrigens lobenswerte bildungspolitische Anstrengungen – er veranlasste die erste planmäßig angelegte Bibliothek der Welt – die soziale Erosion seines Reiches nicht verhindern konnten.

19 Einschließlich des Alten Testaments

20 Das ist kein Tippfehler, sondern der Plural von Polis. Die Sekretärin.

21 Man könnte es allerdings als Problem bezeichnen, dass die Via Appia von Süditalien bis nach Rom danach im Abstand von 50 Metern von Gekreuzigten gesäumt war.

22 Vgl. Chun-Anup (2185 – 2123), Klage eines Bauern

23 Die wissenschaftliche Redlichkeit erheischt es leider, zumindest in einer Fußnote Tyrtaios (686 – 613) und Alkaios (639 – 562) zu erwähnen, die die Adelsherrschaft preisen und sich gegen jede Beteiligung des Volkes an der Regierung aussprechen.

24 Wir würden an dieser Stelle den Begriff der „allseits entwickelten Persönlichkeit“ verwenden, wenn er nicht durch den selbst ernannten „real existierenden Sozialismus“ bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden wäre.

25 In seiner Begeisterung hat der Chef bei diesem Absatz die sonst gewohnte historische Korrektheit mitunter vermissen lassen. Die Sekretärin.

26 An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob Schizophrenie nicht eine notwendige Voraussetzung für die Dienstpostenbeschreibung eines Propheten ist.

27 Selbstverständlich gibt es dabei mehr als graduelle Unterschiede, vgl. z. B. Anmerkung 26.

28 An diesem Sachverhalt hat sich bis heute kaum etwas geändert. Der geschätzte Kollege Marx hat sich zwar bemüht, ökonomischen Entwicklungen mit ökonomischen Argumenten zu begegnen, er hat sich aber leider a) immer wieder von diesem Gegenstand ablenken lassen und ist b) zu früh gestorben.

29 Dem Chef muss es wirklich schlecht gehen – er lässt sich auch mit den besten Argumenten nicht davon abbringen, dieses Wortungetüm zu benutzen. Die Sekretärin.