Pluralismus

Na und Nuk

„Was meinst Du – sollen wir nicht doch mal?“ fragte Na.

„Was sollen wir ‚doch mal‘?“ Nuk bemühte sich um Höflichkeit.

„Manfred hat uns letztens geraten, wie er früher einmal in eine Menschenschule zu gehen – fändet du das nicht lustig? Es wäre ein tolles Abenteuer!“

„Du spinnst! Man würde uns sofort als Eisbärinnen erkennen. Manfred als Braunbär kann sich ohne Probleme als Mensch geben, aber wir…“

„Das können wir auch! Wir binden uns ein Kopftuch um, und schon sind wir Muslimas. Dazu gehören natürlich körperverhüllende Gewänder, und schon erkennt uns niemand. Die Sache mit dem aufrechten Gang kannst Du doch, oder?“

„Frag nicht so dumm! Schließlich unterrichtet Tante Atti uns auch im Tanzen, obwohl ich mich immer wieder frage, wozu das gut sein soll. Ich könnte also dank ihres Unterrichts auch auf den Zehenspitzen zur Menschenschule gehen, wenn es sein müsste.“

„Prima!“ Na freute sich. „Morgen melde ich uns dann an. Ich dachte an die vorletzte Klasse. Da gibt es noch keine ernsthaften Prüfungen, aber unser Niveau dürfte der Unterricht dort in etwa haben.“

„Woher weißt du das?“

„Reine Spekulation. Aber im vorletzten Jahr vor der Erreichung der allgemeinen dehländischen Hochschulreife sollte man doch etwas erwarten können, oder?“

Die neuen Schülerinnen Na Ibrahima und Nuk Abdallahi wurden problemlos in den elften Jahrgang aufgenommen. Selbstverständlich belegten sie alle Kurse gemeinsam. Als erstes Fach hatten sie Deutsch. Man beschäftigte sich mit Goethes „Faust“. Nanuk versuchten, ein Gähnen zu unterdrücken – diese Lektüre lag schon ein paar Monate hinter ihnen. Aber sie setzten sich brav in die letzte Reihe, in der noch zwei Plätze frei waren. Vor ihnen zählten sie die Köpfe und kamen auf fünfundzwanzig.

„Haben die Menschen in Dehland vielleicht kein Geld für effektiven Individualunterricht?“ flüsterte Nuk ihrer Schwester zu. Aber die junge Lehrerin hatte gute Ohren und fuhr schnell dazwischen: „Hier wird nicht geschwatzt, junge Dame, hier wird aufgepasst. Was meinen Sie – nähert sich Faust dem ihm unbekannten jungen Mädchen in angemessener Weise?““

Nuk musterte die Lehrerin unter ihrem Schleier hervor, was diese nicht bemerkte. Statt auf ihre Augen konzentrierte sich die junge Pädagogin auf deren kunstvoll geschlungenes Kopftuch und schürzte dabei verächtlich die Lippen. Kopftücher können nicht denken, schlussfolgerte Nuk aus dieser Mimik. Na warte!

„Sie müssen entschuldigen – meine Schwester und ich sind neu hier, und wir kennen den Roman, den Sie lesen, nicht.“

Nuk registrierte mit Genugtuung das Stirnrunzeln, als sie ‚Roman‘ sagte. Sie dachte, sie hätte sich genug dumm gestellt.

„Ein bisschen haben wir aber schon mitbekommen. Die Handlung spielt in der dehländischen oder einer ähnlichen fiktiven Vergangenheit. Damals war es äußerst unhöflich, einem jungen Mädchen seinen Arm anzubieten, Ein „Fräulein‘, wie Faust das Mädchen nennt, ist eine adelige junge Dame. Wahrscheinlich ist diese Anrede unpassend – wie gesagt, wir kennen den Roman nicht. Ich habe den Eindruck, Faust will Gretchen möglichst schnell ins Bett kriegen.“

Sie biss sich auf die Lippen – woher sollte sie wissen, dass der Name des Mädchens Gretchen war? Aber zu ihren Glück merkte die Lehrerin nichts, und die Klasse döste sowieso vor sich hin.

„Sie halten Faust also für einen Egoisten?“

Ich halte Faust für notgeil, dachte Nuk, aber das sagte sie natürlich nicht.

„Ganz sicher ist Faust ein Egoist!“ antwortete Nuk und knuffte ihre Schwester heftig in die Rippen – also in die wallenden Gewänder, unter denen sie deren Rippen vermutete. Sie brauchte jetzt Unterstützung.

„Ganz bestimmt ist Faust ein Egoist!“ echote Na mit einer unverdächtigen Mädchenstimme. „Er sollte besser ein, naja, ein Besserer sein, das wäre bestimmt besser für das Mädchen. Was ist das Gegenteil von einem Egoisten?“

„Das ist eine gute Einschätzung!“ lobte die Lehrerin. „Und ein guter Alternativvorschlag! Das Gegenteil von einem Egoisten ist übrigens ein Pluralist.“ Sie lächelte gönnerhaft.

„Wie bitte?“ Na wollte es nicht glauben. „Das Gegenteil eines Egoisten ist ein Pluralist?“

Der Lehrerin entging die elegante Genitivkonstruktion ebenso wie der Sarkasmus.

„Ja, natürlich. Ego, das heißt auf lateinisch ich, ist also Singular. Plural ist die Mehrzahl. Wenn jemand also an die Allgemeinheit denkt, anstatt an sich, ist er ein Pluralist und kein Egoist. Pluralismus heißt, an andere denken.“

„Dieser Logik zufolge ist das Gegenteil eines Egoisten ein Nosist!“ Na kicherte unkontrolliert, und das Gesicht der Lehrerin signalisierte Verständnislosigkeit.

„Alter!“ grunzte Nuk aus tiefstem Eisbärenrachen. Ein paar Gesichter wandten sich ihr zu. Zoff mit einem Lehrer macht auch den müdesten Schüler munter.

„Solche umgangssprachlichen Töne schätzen wir an einem Gymnasium gar nicht!“ tadelte die Lehrerin. „Wir legen hier Wert auf ein gewisses Niveau.“

„Wissen Sie, was ‚alter‘ auf lateinisch heißt?“ erkundigte sich Nuk zuckersüß.

Die Lehrerin versuchte, sich herauszuwinden: „Sie vergessen, dass wir hier im Deutschunterricht sind.“

„Entschuldigung, aber Sie haben mit Herleitungen aus dem Lateinischen angefangen, nicht ich.“

Die Pädagogin wurde von dem deus ex machina gerettet, der in jeder Schule lauert, sich regelmäßig meldet und schon zahllose Lehrer davor bewahrt hat, sich völlig zu blamieren: dem Stundengong. Sobald er ertönte, erwachten alle 25 jungen Menschenkinder aus ihrer Lethargie, begannen zu schwatzen, packten ihre Sachen ein und schenkten dem Deutschunterricht und der Unterrichtenden keinerlei Beachtung mehr. Nanuk waren überzeugt, dass sie „Faust“ bereits erfolgreich vergessen hatten. Die Lehrerin schien sie nicht ungern ziehen zu lassen. Als dann aber auch die Zwillinge ihre Sachen packten, langsam und voller Unglauben, denn selbstverständlich hatten sie eine Hausaufgabe erwartet, wurden sie aufgehalten. „Nuk Abdallahi, bleiben Sie bitte noch hier!“

Widerstrebend ließ Na ihre Schwester allein zurück.

Die Lehrerin setzte sich hinter ihren Tisch und ließ Nuk davor stehen. „Warum wollen Sie Ärger mit mir?“ fragte sie unvermittelt. „Vergessen Sie nicht, dass Sie an dieser Schule nur zur Probe aufgenommen worden sind. Sie sollten es sich mit Ihren Lehrern nicht verderben.“

„Ich möchte keinen Ärger mit Ihnen,“ antwortete Nuk zögernd. Sie wägte ihre Worte wohl, denn sie hatte Angst, Bärenleben durch zu ehrliche Auskünfte zu gefährden. „Na und ich werden auch nicht wiederkommen. Wir haben gehofft, hier etwas lernen zu können – intellektuell, meine ich. Das wird nicht der Fall sein. Allerdings haben wir etliche Erkenntnisse in Bezug auf schulische Gruppensoziologie gewonnen. Dafür möchte ich mich bedanken.“

Die Lehrerin schien jetzt hellwach zu sein. „Wer sind Sie?“ fragte sie scharf und stand auf.

„Ich bin Nuk Abdallahi. Ich bin gläubig. Ich denke gerne. Ich gehe dahin zurück, wo mein Denken gefördert wird.“

„In den Dschihad?“ Das Entsetzen war greifbar.

Ach du dicke Tussi! dachte Nuk. Jetzt habe ich aber Robbenmist vom Feinsten gebaut! Die hysterische Tante schickt uns noch den Verfassungsschutz an den Hals.

„Natürlich nicht.“ flötete sie. „Mein Glaube steht in der Denktradition von Dschâbir Ibn Zaid. Wir Ibaditen pflegen Toleranz und lieben den Frieden und die Wissenschaften. Wir setzen uns für das Wohl anderer ein. Wir sind Altruisten.“

Sie hatte nicht zu dick aufgetragen, wie sie befürchtet hatte. „Wo liegt denn das Paradies, aus dem Sie stammen?“ fragte die Lehrerin beeindruckt.

„In der Ebene Albern (Anagramm für Baerenleben). Das ist ziemlich weit weg von hier. Deshalb muss ich jetzt auch schnell gehen. Vielen Dank für alles.“

Nuk raffte ihre Gewänder und stürzte aus der Tür. Na stand auf dem Gang und wurde mitgerissen.

„Ist was passiert?“ fragte sie ängstlich.

„Ja. Nein.“ Nuk kicherte nervös. „Wir sind entlassen und müssen jetzt eilig in die Ebene Albern. Komm, ehe es die Tante sich anders überlegt. Und ja: Vielleicht hat sie zugehört und weiß jetzt, was Faust anstelle eines Egoisten sein sollte.“

September/Oktober 2014 (nach einer wahren schulischen Begebenheit)