Die Konferenz


 

Die Konferenz
Es war einmal ein ganz normaler Tag auf der Erde. Überall überprüften hunderttausende Sekretärinnen und Sekretäre in zehntausenden von Büros am Morgen ihren Terminkalender. So auch Oso Ursa. Sie war Chefsekretärin bei der Berliner Vertretung der UAO und Streß gewohnt. Deshalb ließ sie sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als ihre Notizen sie daran erinnerten, daß in zwei Tagen der internationale Kongreß der UBO beginnen würde. Im Global Village waren solche Treffen Routine, aber dennoch gab es noch einiges zu organisieren.

Die Hauptarbeit war zum Glück schon getan. Zimmer in den ersten Hotels am Platze waren reserviert, Teilnehmer, die sich betrügerisch hatten einschmuggeln wollen, hatten höflich formulierte Absagen erhalten. Am Abschlußkommunique der Konferenz arbeitete eine Expertenkommission seit fünf Wochen. Was blieb, war die Sorge für die Bequemlichkeit und das leibliche Wohl der Delegierten.

„Ursa von der UAO Berlin, Guten Morgen. Ich brauche übermorgen zehn Ersatzbrillen in verschiedenen optischen Stärken, zwei mindestens sieben Meter hohe Bäume im Konferenzsaal, zwanzig Kilo gemischte Lebendinsekten, so viel lebende Robben, wie Sie in der kurzen Zeit auftreiben können, etliche Fäßchen Honig und eine Tonne Laub und Gras. Ach ja, und Bambus – die Konferenz soll drei Tage dauern, also dürften einhundertzwanzig Kilo genügen. Die Rechnung schicken Sie bitte wie üblich an die UAO-Verwaltung.“

„Danke für den Auftrag, Frau Ursa. Wird alles wie gewohnt prompt erledigt!“

Befriedigt legte der Juniorchef der Firma IWIUB (Ihr Wunsch ist uns Befehl) den Hörer auf und rieb sich die Hände. Es war eine richtige Entscheidung gewesen, ein Serviceunternehmen für die Erfüllung ausgefallener Wünsche zu gründen, als die UAO beschloß, Berlin zu ihren Hauptsitz in Europa zu machen. Diesmal schien eine merkwürdige Versammlung bevorzustehen – Robben vielleicht? Ob die Insekten fraßen? Aber das konnte ihm letztlich egal sein, er wollte nur genug Geld verdienen, um möglichst bald seine erste Filiale in Bern zu eröffnen. Jetzt aber an die Arbeit! Er wählte sich ins Netz ein und begann zu faxen.

„Meine Damen und Herren, liebe Freunde! Ich begrüße Euch zur dritten ordentlichen Konferenz der UBO und hoffe, daß wir erfolgreiche Arbeit leisten werden!“

Allmählich erstarb das Summen und Brummen der informellen Gespräche im Saal. So konnte die Präsidentin ungehindert weitersprechen.

„Wir alle wissen, welch hohes Ziel wir uns gesteckt haben: Die Zukunft soll von internationaler Zusammenarbeit und nicht von nationalen, ethischen oder weltanschaulichen Gegensätzen geprägt sein. Jedem von uns ist aber leider auch bewußt, daß unsere ersten beiden Zusammentreffen uns noch nicht zum erwünschten Ziel gebracht haben. Deshalb haben wir, wie Ihr Euch sicher erinnern werdet, zur Vorbereitung dieser Konferenz regionale Konsultationen vereinbart, um noch bestehende unterschiedliche Sichtweisen abzubauen. In diese Konsultationen sollten auch VertreterInnen der UIO und der UMmO einbezogen werden, da die Interessen von einigen von uns die ihren unmittelbar tangieren. Ich hoffe, daß diese Verständigungsversuche Erfolg gehabt haben, und bitte um Berichte.“

Als einziger meldete sich daraufhin ein Delegierter aus Nordkanada. Die Präsientin versuchte ihn zunächst zu ignorieren, aber da sonst niemand das Wort ergreifen wollte, mußte sie ihn schließlich doch offiziell wahrnehmen.

„Bitte, sprich!“

„Wir haben mit den Vertretern gesprochen, die uns die UMmO geschickt hat“, röhrte er.

Ein leises Raunen ging durch den Saal. Der riesige Delegierte benahm sich äußerst unhöflich: Er hatte die Versammlungsteilnehmer nicht angemessen angesprochen, er gestikulierte so ausgreifend, daß seine Nachbarn rechts und links erschrocken auszuweichen suchten, aber trotzdem noch kräftige Backpfeifen einstecken mußten, und er hatte ersichtlich kein Mundspray benutzt – sein schlechter Atem voller Verwesungsgestank erfüllte den gesamten Saal.

„Die UMmO war nicht verhandlungsbereit,“ fuhr er ungerührt fort. „Wir haben ihnen eine Lösung auf Kontingentbasis angeboten und vorgeschlagen, einen Teil unserer Bedürfnisse mit Pisces zu befriedigen – unser Angebot war 50%, also sehr großzügig, aber sie haben abgelehnt.“

Hinter seiner Glaswand auf der Pressetribüne machte sich der Korrespondent der UFO mit grimmiger Miene Notizen.

„Da sie sich uneinsichtig gezeigt haben und wir ziemlichen Hunger hatten, haben wir sie ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt.“

Krachend ließ der Abgeordnete sich auf seinen Sitz zurückplumpsen.

Der Präsidentin blieb keine andere Wahl – liebend gern hätte sie jetzt die Diskussion eröffnet, aber der erste Tagesordnungspunkt lautete nun einmal „Berichte“.

„Wird weiterhin das Wort gewünscht?“

Der Abgeordnete aus Sri Lanka hob die Hand. Als einziger. Oh Gott, dachte sie.

„Bitte, sprich!“ sagte sie.

Eine zierliche Gestalt erhob sich. Der Asiate hatte bestenfalls ein Viertel der Körpermasse des Kanadiers, aber er trat nicht weniger energisch auf.

„Ich kann den Worten des Kollegen – bei aller notwendigen Abstraktion – nur zustimmen. Wir haben VertreterInnen der UIO sowohl nach Colombo als auch nach Kalkutta eingeladen und ihnen klarzumachen versucht, daß wir gezwungenermaßen auf ihre Dienstleistungen angewiesen sind. Auch sie waren uneinsichtig, vor allem die Abgesandten der staatenbildenden Spezies.“

Der Ceylonese bemerkte nicht, daß der Korrespondent der UIO es auf der Pressetribüne nicht mehr ausgehalten hatte und jetzt direkt über seinem Kopf kreiste. Deshalb sprach er ruhig weiter: „So haben auch wir sie ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt.“

Äußerlich ruhig setzte er sich, lächelte und ließ sich nicht anmerken, daß ihn eine Biene ins Innenohr gestochen hatte.

Zwei Arme stachen in die Luft. Immerhin, dachte sie, jetzt kommen die Egoisten, nicht mehr die Imperialisten. Welch Fortschritt! Sie erteilte das Wort, obwohl nicht ganz korrekt, zuerst der Vertreterin Chinas. Schüchtern lächelte diese und begann zu lispeln.

„Liebe Freunde, wir konnten leider keine bilateralen oder multilateralen Verhandlungen führen, weil unsre Nahrungsgrundlage zu schmal ist. Ihr alle kennt das Bambusproblem…“

Während sie sprach, war die Delegierte immer leiser geworden und das Murmeln im Saal immer lauter. Natürlich kannten alle das Bambusproblem – sie versuchte jetzt zum dritten Mal, es darzulegen. Niemand wollte es mehr hören. Und währen sie verschüchtert in ihren Sessel zurücksank und weiter vor sich hin murmelte, erhielt der Chef der chilenischen Delegation das Wort. Er war kleiner als die Chinesin, aber deutlich energischer.

„Delegierte!“ sagte er. „Wir haben, wie Ihr alle wißt, keine Probleme mit der UIO oder der UMmO, auch nicht mit der UFO, die nach den Worten des kanadischen Kollegen durchaus ihre Interessen tangiert sehen könnte, aber wir haben optische Schwierigkeiten. Wir sind nun mal kurzsichtig und brauchen Sehhilfen, sonst sehen wir unsere Nahrungsblätter vor lauter Wald nicht. Deshalb konnten wir auch zwischen den Sitzungen nicht verhandeln oder zu vermitteln verhelfen – wir sind einfach zu blind! Deshalb appellieren wir, wie schon wiederholt, nochmals an diese Konferenz, uns…“

Wieder hörte niemand mehr zu. Der Chilene blieb unbeirrt stehen und redete weiter, obwohl die Präsidentin bereits einer anderen Delegierten das Wort erteilt hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht nur einen Seh-, sondern auch einen Hörfehler.

„Kolleginnen und Kollegen;“ zirpte eine glockenhelle Stimme. Ich danke Euch für die Einladung zu dieser Konferenz und für Eure Aufmerksamkeit! Wie Ihr sicher alle wißt, lebt mein Volk überall auf dieser Welt und hat deshalb keine regionalen Interessen zu berücksichtigen. Deshalb kann ich vielleicht zwischen Euch vermitteln. Ich möchte Euch sagen: Seht doch nicht alles so verkniffen! Lebensfreude ist die wahre Freude! Taumelt von Blume zu Blume, von Genuß zu Genuß! Trinkt Nektar, riecht, begattet Euch! Dann könnt Ihr ruhig sterben – und sicher sein, daß Euch im nächsten Jahr die Wiedergeburt erwartet! Denn die Philosophie…“

Ein Tumult brach los.

„Pfui, sexuelle Libertinage!“

„Olfaktorischer Absolutismus!“

„Das ist eine Verletzung meiner religiösen Überzeugungen!“

„Wer ist diese Frau überhaupt?“

„Woher kommt sie?“

„Die ist doch nicht echt!“

„Die ist doch nicht echt!“

„Die ist doch nicht echt!“

Vergebens läutete die Präsidentin ihre Glocke, aber sie konnte nicht verhindern, daß die Delegierten drohend auf die zierliche Sprecherin eindrangen und ihr die Maske vom Gesicht rissen. Mit Mühe und Not konnte die Spinnerin flüchten. Sie flatterte hoch und fand ein offenes Deckenlicht. Obwohl der Feind entkommen war, brach im Saal eine herzhafte Keilerei aus. Die Präsidentin mußte die Saaldiener rufen – kräftige Burschen aus Nordamerika, die die Ordnung mit Ohrfeigen, Knüffen und Püffen rasch wieder herstellten.

Als endlich Ruhe herrschte, sagte die Präsidentin tonlos: “Ich vertage die Sitzung auf morgen.“

Mühsam gelang es ihr, Haltung zu bewahren, bis sie die Tür ihres Büros erreicht hatte. Drinnen aber brach sie in Tränen aus. Diese Konferenz würde scheitern, sie mußte scheitern!

Und alle würden ihr vorwerfen, versagt zu haben. Schon meinte sie die höhnischen Stimmen zu hören: „Typisch Quotenfrau! Das kommt davon…Frauen sind dazu da, die Brut aufzuziehen, und nicht dafür, Diplomatie zu betreiben – das können wir Männer nun mal besser.“

Elend war ihr zumute, und sie fror entsetzlich – wie kalt war es in diesem Saal gewesen, zwar nicht physisch, wohl aber psychisch: klirrend kalt.

Es klopfte. Schnell wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Hoffentlich war das nicht der brutale Kanadier – oder die weinerliche Chinesin – oder…

„Herein!“

Oso Ursa trat ein.

„Guten Abend“, sagte sie geschäftsmäßig. „Ich dachte, Du hättest vielleicht noch etwas für mich zu…“ Ihr Blick fiel auf die Präsidentin. „Was ist denn mit Dir los? War es so schlimm?“

Der künstlich aufgebaute Panzer zerbrach.

„Es war noch schlimmer“, schluchzte sie. „Und ich friere schrecklich!“

Oso widerstand dem Impuls, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Gegenüber einer Präsidentin gehörte sich das einfach nicht.

Betont gleichgültig sagte sie:

„Dann koche ich Dir erst mal einen Bärentraubenblättertee – das fehlte gerade noch, daß Du mitten in der Konferenz eine Blasenentzündung kriegst. Und beim Tee kannst Du mir alles erzählen, wenn Du magst!“

Natürlich mochte die Präsidentin. Während sie berichtete und ihren Tee trank, beruhigte sie sich allmählich. Oso hörte aufmerksam zu.

„Gut, für die Spinnerin kannst Du nichts. Das ist ein altes Problem: Seit es unsere Konferenzen gibt, gibt es auch Entristen – wir hatten schon Raupen, Hunde, Halbaffen und sogar Krebse. Die tarnen sich häufig so gut, daß sie erst während der Konferenz entlarvt werden – oder gar nicht. Die Sehstörung der Lateinamerikaner kriegen wir in den Griff – ich habe bei IWIUB verschiedene Brillen bestellt, und Nachlieferungen sind in kürzester Zeit möglich. Morgen früh kannst Du da also einen Erfolg verkünden…Aber der Kanadier und der Typ aus Sri Lanka – dazu fällt mir erstmal nichts ein.“

Der Präsidentin ging es schon wieder so gut, daß sie analytisch denken konnte. Aber sie wollte das nicht allein tun, sie brauchte die Versicherung durch Worte. So begann sie ein eigentlich überflüssiges Frage- und Antwortspiel.

„Beide sind Carnivoren?“

„Ja.“

„Das heißt, ihre Physiologie ist auf tierische Nahrung angewiesen?“

„Ja. Ja und nein. Vor langer Zeit hat sich der Kanadier anders ernährt. Vegetarisch. Von unserem asiatischen Verwandten mit den langen Lippen und den Schlappohren wissen wir dagegen nichts.“

„Warum hat sich der Kanadier anders ernährt?“

„Klimawechsel.“

„Warum wissen wir nichts von den Lippenverwandten?“

„Das hängt zusammen mit der europäischen Kolonialpolitik. Als die Engländer in 18. Jahrhundert…“

„Schon gut, ich weiß Bescheid“, unterbrach sie die Präsidentin.
„Als die Engländer im 18. Jahrhundert nach Indien kamen, haben sie uns erschossen, anstatt mit uns zusammenzuleben. Wir waren also auf der Flucht, und sie haben keine wissenschaftlichen Untersuchungen angestellt. Das hilft uns aber auch nicht weiter…“

Eine lange Pause folgte.

„Danke!“ sagte die Präsidentin schließlich. „Du hast mir wirklich geholfen. Würdest Du jetzt bitte für mich eine Konferenzschaltung veranlassen? Ich glaube, ich sollte einige Leute trotz der späten Stunde aus dem Bett, aus dem Baum oder aus dem Bau holen.“

Oso Ursa ging, und nur wenige Minuten später erhellten sich zahlreiche Monitore im Büro der Präsidentin. Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und drückte dann auf den Einschaltknopf. Oh weh – ihre Gesprächspartner sahen weit weniger freundlich aus! Auf einem zweigeteilten Bildschirm summte rechts ein zorniger Bienenschwarm, während links ein nicht weniger wütendes Ameisenvolk durcheinanderwimmelte. Der Ceylonese lächelte arrogant und wischte sich lässig mit seiner langen Zunge eine Hornisse in den Mund, die sich verzweifelt zu wehren versuchte. Eine Robbenmutter schluchzte verzweifelt und streckte ihr anklagend ein Junges entgegen, dem die rechte Flosse fehlte. Und der Kanadier gähnte so hingebungsvoll, daß sein eindrucksvolles Gebiß den gesamten Schirm ausfüllte.

Am liebsten hätte die Präsidentin sofort wieder ausgeschaltet, aber sie nahm all ihren Mut zusammen. Zuerst das kleinere Problem, sagte sie sich. Ganz ruhig bleiben. Wenn es nicht klappt, kann ich mir immer noch einen Mann suchen und in aller Ruhe Junge aufziehen. Es gibt da ein paar wunderschöne Ecken in den Rocky Mountains, wo ich schon immer mal…

Sie verbot sich die Träumerei und konzentrierte sich.

„Guten Abend, liebe Freundinnen und Freunde“, sagte sie betont munter. „Ich bitte Euch, die späte Stunde zu entschuldigen. Aber es wäre doch schön, wenn wir unsere UBO-Konferenz morgen harmonisch weiterführen könnten und der internationalen Öffentlichkeit einig gegenübertreten. Deshalb habe ich zwei Konfliktparteien hier versammelt. Wir sollten darauf verzichten, nochmals unsere Standpunkte darzulegen – die Fronten sind allen klar. Ich will versuchen, zwischen Euch zu vermitteln.“

Bewußt überhörte sie das Gemurmel, das aus verschiedenen Lautsprechern quoll: „Vermitteln…unmöglich…fressen…gefressen werden“. Unbeirrt fuhr sie fort: „Zuerst habe ich eine Frage an unsere Insektenfreundinnen: Wie hoch ist Eure Vermehrungsrate?“

Aufgeregt begannen die Bienen zu tanzen, während die Ameisen sich zu zweit oder in größerem Kreis zu olfaktorischem Meinungsaustausch trafen. Wenig später kamen die ersten Rückmeldungen: „Ziemlich hoch…Unsere Königin hat letztes Jahr 29000 Eier gelegt…Unsere noch mehr…“ Majestätisch bewegte die Bienenkönigin ihren schweren Hinterleib, und sofort trat Ruhe ein. Gewichtig sagte sie: „Je nach Spezies verschieden. Die Mittelwerte dürften sich zwischen 50 und 50000 bewegen.“

Die Präsidentin holte tief Luft, bevor sie zu ihrer zweiten Frage ansetzte. Scheinbar beiläufig erkundigte sie sich: „Was würde wohl passieren, wenn Ihr keine natürlichen Feinde hättet?“

Wieder setzte aufgeregte Aktivität ein, bis alles schlagartig zum Stillstand kam und eine unnatürliche Stille eintrat. Eine vorwitzige Jungbiene wurde mit ihrer Erkenntnis nicht recht fertig und versuchte deshalb zu witzeln: „Wir wären endlich genug, um alle Lippenbären totzustechen.“ Aber niemand lachte. In das Schweigen hinein sprach wieder die Bienenkönigin:
„Ich verstehe.“ Jeder hörte, wie schwer ihr die folgenden Worte fielen: „Wir wären zu viele.“

Erleichtert atmete die Präsidentin aus. „Zu diesem Ergebnis bin ich auch gekommen“, sagte sie, als bedeutete diese Erkenntnis gar nichts. „Euer genetisches Programm setzt die Existenz von Freßfeinden voraus, und zur Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts müßt Ihr das akzeptieren, so schmerzvoll es für Euch auch sein mag. Aber natürlich können wir versuchen, zu Modalitäten zu kommen, die Euch übergroßen Schmerz ersparen. Es würde die Barentsburger Konvention über die unveräußerlichen Tierrechte verletzen, solltet Ihr weiterhin gezungen sein zuzusehen, wie geliebte Schwarm- oder Stammesmitglieder aus Eurer Mitte gerissen werden. Vermutlich wäre es das Beste, wenn Ihr künftig einen kleinen Prozentsatz Eurer Eier und Larven für die Alimentation der Lippenbären zur Verfügung stellen würdet.“

„Einverstanden, einverstanden“, grunzte der Ceylonese entzückt. Junges Fleisch – das war die Lieblingsspeise aller Lippenbären, aber bisher war es schwer gewesen daranzukommen, weil Eier und Larven so gut behütet waren.

„Gut“, sagte die Bienenkönigin zögernd und deutlich weniger begeistert. „Das könnte eine Basis für eine langfristige Einigung sein. Über Quoten muß natürlich noch verhandelt werden. Wir werden versuchen, das bilateral zwischen UIO und UBO zu regeln.“

„Geschafft“, dachte die Präsidentin. „Aber freu Dich nicht zu früh – die nächste Hürde ist nicht so leicht zu nehmen!“

Wie recht sie hatte!

Schon gröhlte der Kanadier los: „Jetzt reicht´s mir aber! Ich schwitze hier schon seit einer halben Stunde! Ameisen und Bienen interessieren mich überhaupt nicht! Was soll ich hier eigentlich?“

Gleichzeitig mit ihm greinte die Robbenmutter: „Wann wird endlich dieser Schlächter und Mörder verurteilt?“

Die Präsidentin dankte dem Himmel für ihr Stichwort.

„Du schwitzst?“ fragte sie freundlich. „Ja, warum denn?“

„Siehst Du blöde Kuh denn nicht…“, polterte er los, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig. „Frau Präsidentin“, fauchte er süffisant, wie vielleicht auch Baribals wie Du wissen, haben Eisbären ein dickes Fell.

„Ich muß meine Unkenntnis leider eingestehen“, erwiderte sie liebenswürdig. „Ich weiß recht wenig von Eisbären. Habt Ihr das dicke Fell schon immer?“

Der Kanadier ließ sich becircen. Es war äußerst selten, daß einmal jemand Interesse an Eisbären zeigte – die meisten Zeitgenossen, ob Bär oder nicht, suchten schleunigst das Weite, wenn sie einen auch nur von ferne sahen.

„Seit ich lebe jedenfalls“, brummte er. „Und meine Mutter hatte es auch. Aber es gibt Eisbärenmärchen, die sagen, daß es einmal anders war. Unser Fell war graubraun, nicht weiß, und es war viel dünner. Die Märchen sagen auch, daß unsere Welt damals nicht weiß war, sondern in den hellen Monaten grün.“

„Märchen sind schön“, murmelte die Präsidentin verträumt. Wenn jetzt nur nicht die Robbenmutter dazwischenfunkte! Zum Glück verhielt sie sich still. „Bären brauchen Märchen!“ Nein, erzähl ihm jetzt nichts von der Theorie von Charles Bärenheim! Sie wagte den Sprung: „Manchmal erzählen Märchen auch etwas, was wahr ist…“

„Blödsinn!“ knurrte der Eisbär gefährlich laut. „Märchen sind etwas für kleine Kinder und Grimmbären!“

„Aber nein“, schnurrte die Präsidentin verträumt. „Märchen erzählen von Veränderungen, und Veränderungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Soll ich Dir mal eine Veränderung zeigen, die wahrscheinlich iin den nächsten Jahrzehnten stattfinden wird?

Der Kanadier hielt zwar wirklich nichts von Märchen, aber wie alle Bären war er schrecklich neugierig. So winkte er mit seiner Riesenpranke gnädig Zustimmung: „Wenn´s denn sein muß…“

Sofort drückte die Präsidentin einen Knopf und ließ einen 45-Minuten-Film ablaufen. Man sah Wald, der abstarb, Berge, die ins Rutschen gerieten, Flüsse, die im Sommer trockenfielen und im Winter zu wenig Platz hatten für die Wassermassen, die sie transportieren sollten, und Inseln, die im Meer versanken. Es gab keine Bilder aus Grönland oder Nordkanada, aber trotzdem begriff der Eisbär die Botschaft.

„Das alles kann in den nächsten Jahren passieren?“

„Ja. Es muß nicht, aber es kann.“

„Warum?“

„Klimaveränderung.“

„Ursache?“

„Menschliche Mißwirtschaft.“

Lange Pause.

„Was bedeutet das für mich?“

„Es wird wärmer werden in Deinem Lebensraum – so warm, wie es früher schon einmal war, vielleicht auch noch wärmer. Du solltest versuchen, Dich anzupassen!“

„Das heißt – dünneres Fell?“

„Auch.“

„Was noch?“

„Es wird Pflanzennahrung für Dich geben – wie früher.“

Noch einmal lehnte sich der Eisbär auf. „Grünfutter? Nie!“

Jetzt aber war die Robbenmutter in ihrem Element. Sie hatte aufmerksam zugesehen und zugehört , außerdem wußte sie sich in sicherer Entfernung von ihrem Feind.

„Denk doch erst mal nach, Du Dummkopf! Ist doch arktisklar, daß Du eigentlich kein richtiger Fleischfresser bist. Darf ich Dich daran erinnern, wie oft Du Krämpfe und Dünnschiß – Verzeihung: Diarrhöe – hattest, nach einer fetten Robbenmahlzeit ? Gib`s doch zu: Immer dann hast Du Dich nach einem saftigen Grasbüschel gesehnt, zum Entspannen und zur Darmreinigung – es gab nur keins in all dem Schnee und Eis…“

Dumpfe Erinnerungen tauchten im Kopf des Kanadiers auf, aber er gab ihnen keinen Raum, sondern wehrte sich.

„Selbst wenn Ihr recht hättet – diese Veränderungen kommen nicht von heute auf morgen. Was sollen wir in der Übergangszeit fressen?“

Zufrieden schaltete sich die Präsidentin wieder ein. „Niemand will Euch verhungern lassen, und Euer Metabolismus braucht Zeit zur Umstellung. Auch hier wird verhandelt werden müssen, aber das kann nur Erfolg haben, wenn willkürliche Übergriffe Eurerseits in Zukunft unterbleiben. Wie ich heute von Dir in der Konferenz gehört habe, habt Ihr bereits einen potentiell erfolgversprechenden Versuch unternommen, nämlich die UFO in Eure Überlegungen einzubeziehen. Eure Herangehensweise war allerdings äußerst ungeschickt – in diesem kleinen Kreise darf ich das sagen, es bleibt alles unter uns. Trotz der exorbitanten Überfischung der Meere durch die Menschen haben einige Fischarten noch überproportionale Reproduktionsraten aufzuweisen – mittelfristig könnte sich Euer Problem so lösen lassen, bevor Ihr zu einer wirklich weltverträglichen Lebensweise zurückkehrt. Was hältst Du davon?“

„Na ja“, brummelte der Eisbär überrumpelt. „Ich muß mal darüber nachdenken.“

„Tu das“, sagte die Präsidentin zufrieden. Und allen sagte sie: „Die Videokonferenz ist beendet.“

Die Konferenz dauerte noch zwei wenig aufregende Tage lang und erschöpfte sich weitgehend in Geschäftsordnungs- und Antragsdebatten. Für die Leitung der nächsten turnnusmäßigen Sitzung wurde die Präsidentin nicht wiedergewählt – sie habe die Versammlung nicht souverän genug geleitet, war die Meinung der meisten Delegierten. An ihre Stelle trat ein Kragenbär aus dem Himalaya, der sein Halsfell eindrucksvoll bedrohlich aufplustern konnte.

Das Abschlußkommuniqué lautete:

Die 25. ordentliche Konferenz der United Bears Organisation hat ihre Ziele uneingeschränkt erreicht. Dank der Einsicht der Delegiertengruppen aus Kanada und Indien und aufgrund der Kooperationsbereitschaft der United Insects Organisations und der United Mammals Organisation wurden letters of intent formuliert, die in absehbarer Zeit der parlamentarischen Verabschiedung zugeführt werden dürften. Erstmalig vereinbarte Gespräche mit der United Fisch Orgnisation haben bereits stattgefunden und versprechen allseits zufriedenstellende Ergebnisse.