Zwischengeburtstag

An einem 22. Oktober, dem Tag also, der genau sechs Monate vor und sechs Monate nach ihrem Erinnerungstag, dem Tag, an dem sie erinnert werden wollte oder, wenn es niemanden gab, der sie erinnerte, sich erinnern wollte, nämlich daran erinnern, dass sie die Bewegerin dieses einen Universums unter anderen zahllosen Universen war, deren Bewegerinnen zahllose andere Entitäten waren, am 22. April also, denn aus Gründen, die nur Tussi, denn von ihr ist die Rede, hell sein konnten, legt sie Wert darauf, ihren Erinnerungstag an dem Datum zu begehen, an dem Immanuel Kant und Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, das Licht dieser Welt, also des dritten Planeten des Solarsystems am Rand ihres Universums, erblickt haben, an dem Tag  zwischen den Erinnerungstagen lädt Tussi alle Bewohner Bärenlebens zum Robbenreiten vor der Insel Norderney ein.

Tussi und Merkel

Kulle fand wenig Vergnügen am Reiten von Robben, nicht in der Vergangenheit und auch nicht beim aktuellen Anlass. Er hasste kaltes Wasser, und er glitschte immer wieder von den dicken Tieren mit ihrem fettigen Fell, das keinen festen Griff erlaubte, hinunter. So stapfte er nach einem kurzen Intermezzo im Meer erleichtert wieder an den Inselstrand.

Kulle

„Na, kleiner Stinker? Schon die Nase voll vom Dorfvergnügen?“

Kulle zuckte zusammen, ertappt und schuldbewusst. Einer Göttin zeigt man nun einmal nicht, dass man ihr Unterhaltungsprogramm nicht schätzt. Aber Tussi gab sich huldvoll.

„Schon gut. Ich sollte mir vielleicht was Neues einfallen lassen, solange noch Zeit ist.“ 

Vor der großen Fröschin materialisierte sich ein silberner Kübel, aus dem der Hals seiner Champagnerflasche ragte, daneben stand ein schlanker Kelch. Vor Kulle erschienen zwei irdene Töpfchen.

„Sanddornhonig und Sanddorncreme für dich, Champagner für mich. Recht so?“

Kulle nickte. Süßherbe Düfte stiegen ihm in die Nase. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen, nicht sofort Pfote und Schnauze in die Leckereien zu stecken, sondern zu warten, bis Tussi den ersten Schluck genommen hatte, wie es sich gehörte. Aber noch viel mehr Beherrschung kostete es ihn, Tussi nicht sofort mit Fragen zu überfallen. Tussi war hier! Mit ihm allein! Tussi wusste alles! Er konnte alles erfahren! Er musste es nur geschickt anstellen…

„Sag mal…“

„Sag mal…“

Beide hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen. Beide sahen einander an. Beide nickten. Und beide fuhren gleichzeitig fort:

„Was wolltest Du fragen“?

„Was wolltest Du fragen?“

Kulle war verwirrt, aber er gab sich galant: „Du hast natürlich den Vortritt!“

„Sag mal – wie gefällt es Dir auf meiner Welt?“

Oh weh! Eine solche Frage eines Gottes oder einer Göttin wagt nur der Teufel ehrlich zu beantworten, und Kulle suchte bei ihm Zuflucht.

„Von Sonn‘ und Welten weiß ich nichts zu sagen,

Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.

Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,

Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.

Ein wenig besser würd er leben,

Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,

Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“

„Ja,“ sagte Tussi nachdenklich und nippte am Champagner, „Goethe war ganz schön klug. Dem hätte ich gerne Gesellschaft geleistet, aber ich habe von seiner Existenz erst erfahren, als er schon tot war. Man kann eben nicht alles haben!“

„Aber ich dachte, Du seist allwissend!“

„Das hast Du nicht gedacht, sondern gemutmaßt. Aber das nur am Rande. Und was den Inhalt Deiner Annahme angeht: Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst Du im Ernst, ich könnte hier sitzen und es mir gut gehen lassen, wenn ich alles wüsste, was vorgeht?“

„Aber ich denke – äh, ich nehme an, Du machst alles?“

„Präteritum, mein Lieber, Präteritum! Ich habe alles gemacht, vor langer Zeit, als es Eurer Physik zufolge noch gar keine Zeit gab, und seitdem gucke ich nur zu, was passiert, oder ich schaue auch weg, wenn es zu fürchterlich ist. Um ehrlich zu sein, ich sehe meistens weg.“

„Es gefällt Dir also auch nicht auf der Erde, wo ‚sich die Menschen plagen’ und mit ihrem Verstand überfordert sind, wie Mephisto sagt?“

„Nein. Im Prinzip ist die Erde ein ‚Failed Planet’. Aber man muss nehmen, was man hat, auch als Schöpferin: Allzu viele Planeten mit annehmbaren Umweltbedingungen haben sich in meinem Universum nicht entwickelt, um es vorsichtig zu formulieren. Terra nimmt eindeutig diesbezüglich eine Spitzenposition ein. Ein paar akzeptable Ecken gibt es hier schon.“

„Europa zum Beispiel?“

„Nicht zum Beispiel.  Nur Europa. Nur ein paar europäische Länder.“

„Dann ist Dein Kriterium nicht Reichtum!“

„Richtig erkannt. Du bist ein kluger kleiner Stinker. Ginge es um Reichtum, hätte ich mich in den USA niedergelassen. Habe ich aber nicht.“

„Also geht es um Frieden?“

„Natürlich.“

„Welche europäischen Länder meinst Du?“

„Frankreich, Benelux, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Schweiz, Westdeutschland…“

„Also nicht die DDR? Nicht zum Beispiel Spanien, Portugal, Griechenland?“

„Nein.“

„Also nur die Länder, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges demokratische Strukturen entwickeln konnten, in denen es keine Diktaturen gab?“

„Du bist wirklich ein kluger Stinker. Iss von Deinem Honig und Deiner Creme – die sind gut für Dein Gehirn.“

Kulle war jedoch zu aufgeregt zum Essen.

„Wirst Du länger hierbleiben?“

„70 Jahre Frieden. Das ist in Europa ein einmalig langer Zeitraum. Die europäischen Länder, in denen so lange Frieden herrscht, machen etwa zwei Prozent der Kontinentallandmasse aus – die Antarktis lasse ich außer Acht, weil sie nicht von Menschen besiedelt ist. Wenn ich unterstelle, dass der heutige Mensch die Erde seit 70.000 Jahren besiedelt;­ ein Durchschnittswert, in Afrika lebt der Mensch viel länger, in den Amerikas erschien er erst später , dann entsprechen 70 Jahre einem Promille.“

Jetzt griff Kulle doch in den Honigtopf.

„Du wirst also nicht länger hierbleiben?“

„Die Stochastik spricht dagegen.“

„Vielleicht“, sagte Kulle und sah aufs Meer hinaus, wo Bärdel und Atti und Manf sich, auf dem Rücken von Seehunden reitend, mit Wasser bespritzten, „vielleicht sollte ich jetzt doch noch die Freuden des Meeres genießen. Wer, weiß, wie lange es die noch gibt.“

Oktober 2015