HSS1Der Chef sagt, er habe keine Lust mehr, dauernd die irreführende Langform ‚Homo sapiens sapiens’ zu benutzen. Die Sekretärin hat sich dafür entschieden, seine Welt in politische Teilstücke zu gliedern, die er Staaten2Das gilt seit dem 19. Jahrhundert. Davor waren andere Begriffe üblich, meist sprach man von Reich. nennt und in denen eine für das jeweilige Teilstück charakteristische Ordnung3 Diese sogenannte Ordnung kann auch in völliger Unordnung bestehen. gilt. Die Grenzen dieser Teilstücke erscheinen willkürlich und umschließen zumeist merkwürdig gestaltete Flächen. Die gegenwärtig etwa 200 Staaten4 Es ist für unsere Untersuchung unerheblich, zwischen von den Vereinten Nationen anerkannten bzw. in Bezug auf ihren Status umstrittenen Staaten zu unterscheiden. sind unterschiedlich groß, was Territorium, Bevölkerungszahl, wirtschaftliche und militärische Stärke etc. angeht. HSS wäre nicht HSS, wenn er angesichts solcher Gegebenheiten friedlich miteinander kooperierte. Stattdessen geht es in der internationalen Politik um Herrschaft und Unterwerfung.
Wer mächtig genug ist5 Oder wer sich für mächtig genug hält, versucht eine Hegemonie aufzubauen, ein Großreich, ein Imperium, ein Weltreich zu errichten.
mit Bedauern: Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant
Vorwort
Legitimität von Herrschaft:
Religion
Despotismus
Demokratie
Gesellschaftliche Sozialisation
Conclusio
Vorwort
Wir Bären sind keine Freunde institutionalisierter Hierarchien. Natürlich gibt es situationsbedingte Dominanzen: Wenn ein Mann feststellt, dass ein von ihm gezeugtes Kind seinen Interessen im Weg stehen könnte, mag er es in seine Nahrungskette aufnehmen – obwohl wir solche Fakten ungern eingestehen. Derselbe oder ein anderer Mann kann auch von der Mutter seines leiblichen Kindes bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt werden – was wir natürlich ebenso gerne leugnen.
Homo sagt unserer Spezies nach, Einzelgänger zu sein. Das trifft durchaus zum Teil zu. Wo wir uns aber dazu entschlossen haben, gemeinschaftlich zu leben, treffen wir notwendige Entscheidungen gemeinsam und, wenn möglich, einvernehmlich.
Bei der Spezies HSS stellt sich das ganz anders dar. Diese Tiere bedürfen sogenannter Regierungen, denen das Recht zugestanden wird, über das Wohl und Wehe ihrer Gruppe zu entscheiden.
Legitimität
Eine Regierung braucht ein Narrativ, um ihren Anspruch auf Herrschaft zu unterfüttern. Dieses Narrativ kann vielerlei Formen annehmen.
Religion
Die Berufung auf möglichst enge Beziehungen zu einem oder mehreren vom Volk akzeptierten göttlichen Wesen ist zwar ein Nicht-Argument, aber eines, das schwer zu entkräften und dessen Infragestellung leicht zu sanktionieren ist.
Ideal ist die Behauptung einer Personalunion: Der Regent ist die Inkarnation eines göttlichen Wesens. Dieser Erzählung bedienten sich die antiken Könige Ober- und Unterägyptens. Seit der frühdynastischen Zeit verstand sich der König (Pharao) als Sohn der Himmelsgottheiten1‚Sich verstehen als‘ ist hier gleichzusetzen mit: ‚Sich darstellen als‘. Ob die ägyptischen Könige tatsächlich von ihrer Göttlichkeit ausgingen oder sich nur so inszenierten, wird ebenso unbeantwortet bleiben müssen wie die Frage, ob der Papst an Gott glaubt.. Er war zugleich ihr Bevollmächtigter, Abgesandter, Partner und Nachfolger.2Die letztgenannte Gleichsetzung bezieht sich auf die Regierungszeit der Götter, die nach altägyptischer Mythologie zuvor auf der Erde herrschten.
Eine ein wenig abgeschwächte Variante ist die Behauptung, der durchaus menschliche Machthaber regiere in göttlichem Auftrag, er habe von der Gottheit detaillierte Anweisungen erhalten, wie er zu verfahren habe. Diesen Trick nutzte Hammurabi, König von Sumer und Akkad31792 bis 1750 v.u.Z., der das angebliche Gebot des Sonnengottes wortwörtlich in Stein meißeln ließ. 282 Gesetzesparagraphen erhielten so Gültigkeit und wurden nicht in Frage gestellt.
In christlicher Zeit konnten Regenten sich auf solche Erklärungsmuster nicht mehr berufen. Ihr Gott des Alten Testaments war in seinem Dornbusch oder in seiner Wolkensäule geblieben und materialisierte sich nicht mehr, und sein Sohn war nach seiner Himmelfahrt ebenfalls entrückt. Sie erfanden etwas anderes.
Das Gottesgnadentum ist eine im spätantiken und mittelalterlichen Europa entwickelte Legitimation der Monarchie, die sich allein auf den vorgeblichen Willen oder die Gnade Gottes stützt, nicht auf die Zustimmung menschlicher Einrichtungen oder Institutionen oder gar auf die des Volkes. In dieser Vorstellung gingen Annahmen wie die der göttlichen Natur der römischen Kaiser und der merowingische Glaube an das Königsheil auf.
Das letzte deutsche Staatsoberhaupt, das sich auf das Gottesgnadentum berief, war Kaiser Wilhelm II. Sein imperialer Wahlspruch lautete „Gott mit uns“.
Traditionen sind zählebig, auch wenn sie inhaltsleer geworden sind: Die Monarchen von Dänemark (protestantisch-episkopal), Liechtenstein (katholisch), Monaco (katholisch), der Niederlande (reformiert) und des Vereinigten Königreichs (anglikanisch-episkopal) führen in ihrem Titel bis heute den Zusatz „von Gottes Gnaden“. Eine mehr als zeremonielle Rolle spielt dieser Titel allerdings nicht mehr, da die Politik aller dieser Länder vorwiegend von gewählten Parlamenten und Regierungen bestimmt wird.
Man gebe sich aber nicht der Illusion hin, dass der Volksglaube in der Gegenwart nicht mehr ausgenutzt wird, um Herrschaft zu legitimieren und zu zementieren. Der Blick nach Thailand räumt mit dieser Täuschung rasch auf.
Neunzig Prozent der Thailänder bekennen sich zum Buddhismus, einem Glauben, der in Thailand die Autorität des Königs und seine Herrschaft legitimiert. Seit dem 13. Jahrhundert besteht die Vorstellung, dass der Monarch in früheren Existenzen große spirituelle Verdienste erworben hat und damit zum Schützer des Buddhismus wird.
Das königliche Charisma4Thai: barami beruht auf der strikten Einhaltung der „zehn buddhistischen Vollkommenheiten“ – nämlich Freigiebigkeit, Sittlichkeit, Entsagung, Weisheit, Willenskraft, Geduld, Wahrhaftigkeit, Entschlussfreude, Güte und Gleichmut.
Seit 2016 ist Maha Vajiralongkorn Phra Vajiraklaochaoyuhua König von Thailand. Von den zehn buddhistischen Vollkommenheiten ist er weit entfernt: Er hat(te) mehrere Geliebte, er erklärte seinen Hund zum Luftwaffengeneral, er eilte mit nacktem tätowierten Oberkörper, bauchfreiem Shirt und in Jeans an seinen livrierten Bediensteten vorbei und rannte die Gangway zum Privatjet hoch. Er lebt gern in Oberbayern. Die Liste ist verlängerbar.
Vajiralongkorn hält sich trotz allem an der Macht, nicht zuletzt dank des Lèse-Majesté-Gesetzes, das Majestätsbeleidigung mit drakonischen Strafen sanktioniert.
Und damit sind wir bei der nächsten Spielart des Narrativs.
Despotismus
Überzeugte Europäer bezeichnen ihren sogenannten Kontinent5der nichts anderes ist als eine asiatische Halbinsel gerne als die „Wiege der Demokratie.“ Sie unterschlagen dabei in der Regel, dass das Kind schwer krank war6Die attische Demokratie schloss Frauen und Sklaven von der politischen Partizipation völlig aus und wandte für die freien Männer ein Zensussystem an. und dass seine Eltern alles andere als fürsorglich mit ihm verfuhren. Die Demokratie lebte in ihrem Herkunftsland Griechenland bis heute insgesamt weniger als 400 Jahre.
Viel verführerischer als die Demokratie war für sogenannte Machtmenschen die Despotie.
Der Despot ist im griechischen Wortursprung der ‚Herr‘ über Sklaven und seinen Haushalt. Die griechische Polis war durch eine Trennung von Haushalt (oikos) und öffentlicher Sphäre charakterisiert. Wer sich nur für seine Ökonomie interessierte, galt den Alten als Idiot. Wenn sich ein Politiker in der öffentlichen Sphäre so verhielt wie im privaten Haushalt, d. h. die freien Bürger wie Sklaven behandelte, sprach man in der antiken Tradition von Despotie.
Auch in modernen Despotien werden die Bürger nicht als Bürger respektiert, sondern wie Sklaven behandelt. Die Untertanen sind ihrem Despoten zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Es gibt kein Parlament und keine Parteien, oder diese bestehen nur zum Schein. Eine Opposition wird nicht geduldet. Kritiker und Abweichler werden gnadenlos verfolgt.
Der Despot regiert gern durch Günstlinge, oft fälschlich als Oligarchen bezeichnet, die nicht selten große, aber ausschließlich von ihm herrührende politische Macht besitzen, die ihnen jederzeit entzogen werden kann. Außerdem kontrolliert der Despot die Macht seiner Lakaien durch das gezielte Schüren von Rivalität unter ihnen.
Der Herrscher einer Despotie besitzt ein absolutes Machtmonopol, ihm allein unterstehen die Machtorgane Militär und Polizei. In der Regel gibt es eine Geheimpolizei für die organisierte Verfolgung politischer Gegner. Oft orientiert sich die Politik dieser Staaten an einer Ideologie.
Der Personenkult um einen Despoten nimmt häufig religiöse Züge an: Sein Abbild wird beispielsweise auf Medaillen und Porzellantellern dargestellt, man sieht ihn auf Denkmälern; Straßen und Plätze sind nach ihm benannt.
In neuerer Zeit trat der Despotismus im Dritten Reich (1933 bis 1945) unter Adolf Hitler, in Spanien (1939 bis 1975) unter Francisco Franco, in der Sowjetunion unter Josef Stalin, in Italien (1922 bis 1943) unter Benito Mussolini, in Chile (1973 bis 1990) unter Augusto Pinochet, im damaligen Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) unter Mobutu Sese Seko, in Uganda unter Idi Amin oder in der Zentralafrikanischen Republik unter Jean-Bédel Bokassa auf. Auch mehrere heutige Staaten in Asien und Afrika können als Despotien betrachtet werden, so etwa Iran, Nordkorea, Turkmenistan oder Simbabwe. Russlands Putin darf sich inzwischen brüsten, zu den Despoten zu zählen7Natürlich ist es ein Versäumnis, dass hier überwiegend europazentriert argumentiert wurde. Asien, insbesondere China, verdiente viel mehr Aufmerksamkeit. Qin Shi Huang Di – „Erster erhabener Gottkaiser von Qin“, eigentlich Ying Zheng; * 259 v. Chr. in Handan; † 10. September 210 v. Chr. in Shaqiu) war der Gründer des chinesischen Kaiserreiches (Einigung: 221 v. Chr.) und der chinesischen Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.). Er war der Herr mit der Terrakottaarmee. Die Beschäftigung mit seiner Regierung ist äußerst bildend..
Despoten bedienen sich gern des Terrors, also der systematischen und willkürlich erscheinenden Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt, um Menschen gefügig zu machen. Damit können sie empirisch ihre Macht lange aufrecht erhalten.
Terror als Gegenkonzept von Vernunft, von Tugend, wie Robespierre es vorschwebte, hat sich dagegen in dem einzigen bisherigen historischen Experiment8Frankreich 1793 – 95 nicht bewährt. Vielleicht waren die Angehörigen der Revolutionstribunale aber auch einfach zu besoffen.
Immanuel Kant hat in seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ die Charakterisierung des Despotismus aus der griechischen Antike aufgegriffen: Der öffentliche Wille werde von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt, mithin sei die ausführende Gewalt nicht von der gesetzgebenden abgesondert. Insofern könne es Despotismus auch in Demokratien geben.
Demokratie
Welch beeindruckende Alternative! Eine Staatsverfassung ohne religiöse Bindung und ohne Despotie, in der die Herrschaft bzw. die Machtausübung auf der Grundlage politischer Freiheit und Gleichheit sowie weitreichender politischer Beteiligungsrechte der Staatsbürger erfolgt.
Dazu gehören allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen, die Aufteilung der Staatsgewalt von Legislative, Exekutive und Judikative auf voneinander unabhängige Organe (Gewaltenteilung) sowie die Garantie der Grundrechte.
In einer repräsentativen Demokratie, in der gewählte Repräsentanten zentrale politische Entscheidungen treffen, haben oft Parteien maßgeblichen Anteil an der politischen Willensbildung und an der durch Wahlen legitimierten Regierung. Die Opposition ist fester Bestandteil eines solchen demokratischen Systems, zu dem auch die freie Meinungsäußerung samt Pressefreiheit, die Möglichkeit friedlicher Regierungswechsel und der Minderheitenschutz gehören.9 In einer direkten Demokratie trifft das stimmberechtigte Volk politische Entscheidungen unmittelbar. Wir beziehen uns im Folgenden auf die repräsentative Demokratie als das deutlich häufiger praktizierte Modell.
Staaten, in denen bürgerliche Freiheiten und politische Grundfreiheiten nicht nur respektiert, sondern auch durch eine politische Kultur gestärkt werden, die dem Gedeihen demokratischer Prinzipien förderlich ist, gelten als vollständige Demokratien. Dazu zählen 2023 Norwegen, Neuseeland, Island, Schweden, Finnland, Dänemark, Irland, Schweiz, Niederlande, Taiwan, Luxemburg, Deutschland, Kanada, Australien, Uruguay, Japan, Costa Rica, Vereinigtes Königreich, Österreich, Griechenland, Mauritius, Südkorea, Frankreich und Spanien.
In diesen Ländern leben weniger als 7,8% der Weltbevölkerung. Hingegen lebten 39,4 % in einer Diktatur, das bedeutet gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs von 2,5%.
Wie ist zu erklären, dass Menschen ein Leben in relativer Freiheit zugunsten eines Lebens in Unterdrückung aufgeben?
Gesellschaftliche Sozialisation
Das Kind, also der unfertige Mensch, wird in eine Welt hineingeboren, in der er leben muss. Damit er in ihr leben kann, muss er in sie eingepasst werden. Das gesellschaftliche Gefüge funktioniert um so reibungsloser, je mehr der Mensch überzeugt ist, in der besten aller möglichen Welten zu leben. 10Nach Leibniz’ Lehre wäre Gott nicht das vollkommene Wesen, wenn er etwas anderes als die „beste aller möglichen Welten“ für die Menschen erschaffen hätte. Man sieht, Leibniz funktioniert in einer politischen Welt, in der die Herrschenden auf das Gottesgnadentum setzen, perfekt.
Die Agenten dieser Anpassung sind die Menschen im sozialen Umfeld des Kindes, zunächst die in seiner unmittelbaren Umgebung.
In einfach strukturierten Gesellschaften bedarf es in der Regel keiner weiteren Maßnahmen. Wo etwa Subsistenzwirtschaft praktiziert wird, arbeitet das Kind, sobald es zu sinnvollen Handgriffen fähig ist, zusammen mit der Familie auf dem Feld oder mit dem Vieh. Rituelle Handlungen, an denen die gesamte Dorfgemeinschaft teilnimmt, sorgen für den ideologischen Überbau.
Hier ist zweierlei von Bedeutung: Es bedarf nahezu keiner professionellen Sozialisationagenten. Das Kind wächst in die Gesellschaft hinein, indem es am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, wie beschränkt das auch immer sein mag. Dem Kind wird das, was es als sein Leben erfährt, selbstverständlich sein. Es wird sich die Anschauungsweisen und Formen der Lebensbewältigung, die ihm durch die Menschen geboten werden, welche ihn unmittelbar umgeben, zu eigen machen. Der junge Mensch lernt, die Welt mit den Augen seiner Mitmenschen zu sehen, sie mit ihren Begriffen zu ordnen und zu gliedern, mit ihren Emotionen und Bewertungen auf ihre Erscheinungen zu reagieren und sich ihre Techniken des Umganges mit den Gegebenheiten dieser Welt anzueignen. Er übernimmt also sukzessive eine Welt, in der die ihn unmittelbar umgebenden anderen Menschen schon leben. Ist dieser Prozess vollzogen, ist der junge Mensch enkulturiert.
Enkulturation ist auch das Ziel der kindlichen Sozialisation in komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften; allerdings ist der Weg dahin komplizierter. Die Welt, mit der das Kind sich auseinanderzusetzen lernt, ist geprägt durch verschiedene miteinander verzahnte Lebens- und Arbeitswelten, deren jede spezifische Anforderungen stellt und spezielle Fähigkeiten erfordert. Sozialisation hier ist die Verinnerlichung von durch Arbeits- oder Funktionsteiligkeit bedingten institutionalen Subwelten. Es gilt, rollenspezifisches Wissen und Können zu erwerben und sich ein jeweils rollenangemessenes Vokabular zu eigen zu machen.
Das kann die Familie allein nicht leisten. Im Rahmen der sekundären Sozialisation übernehmen unterschiedliche Lehrer Bildung11leider immer weniger und Ausbildung12leider immer mehr.
Nota bene: Der Begriff der sekundären Sozialisation wird in modernen Industriegesellschaften zusehends obsolet, sie ist Sozialisation schlechthin. Wo Kleinkinder bereits im Alter von sechs Monaten an Erzieherinnen in Kinderkrippen abgegeben werden, damit die Mutter möglichst bald nach der Geburt dem Arbeitsmarkt als Humankapital wieder zur Verfügung steht, bleibt für Primärsozialisation praktisch kein Platz. 13Bärenmütter würden ihre Jungen niemals so schnell aus den Klauen lassen.
Die Arbeitswelt ist der Lebenswelt nachgeordnet. Wenn die Gesellschaft patriarchalisch strukturiert ist, wie können dann Frauen ein Unternehmen leiten? Wenn eine starre Ständeordnung existiert, wie kann es dann flache betriebliche Hierarchien geben? Wenn alle Obrigkeit von Gott ist, wer sollte sich anmaßen, Vorgesetzte zu kritisieren?
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewusstsein, aber es bedarf etlicher Anstrengungen, dieses Bewusstsein in die Köpfe der Individuen zu bekommen. Pädagogik allein reicht in autoritären Gesellschaften dafür nicht aus. Ideologie ist gefragt, und sie kann vielerlei Gestalt annehmen: arische Physik, christliche Heilslehre, Nationalismus/Chauvinismus, theologische Pseudowissenschaft etc. etc. Und wo die Verankerung der gesellschaftsstabilisierenden Narrative in den Köpfen nicht hinreicht, treten Institutionen mit ihren Ritualen stabilisierend an ihre Seite: Der Komsomol, die Hitlerjugend, die Partei, die Kirchengemeinde.
Der so vereinnahmte Mensch wird die Gesellschaft, in der er lebt, in der Regel nicht in Frage stellen. Wenn die Machthaber Indoktrination und Repression geschickt genug handhaben, wird ihm vielleicht sogar verborgen bleiben, dass diese Welt nur eine von unzähligen anderen menschlichen Lebenswelten ist.14 Für viele Nordkoreaner dürfte das der Fall sein.
Wenn aber eine Gesellschaft politische und soziale Wahlmöglichkeiten bietet, was in vollständigen Demokratien der Fall ist, dann setzt das Regelwerk lediglich den Rahmen, innerhalb dessen der Einzelne die Möglichkeit hat, sich zu entfalten.
Aber: Ein Rahmen wird gesetzt. Auch in Demokratien stecken die Menschen im Gängelwagen, den ihre Vormünder für sie konstruiert haben.15 vgl. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Sie dürfen politische Maßnahmen in Frage stellen, nicht aber das politische System. Oft dürfen sie noch nicht einmal über ihren Körper verfügen, ohne juristisch oder zumindest moralisch sanktioniert zu werden, wie es bei Schwangerschaftsabbruch und Suizid der Fall ist.
Die den Rahmen setzende politische Instanz, die Legislative, ist in Demokratien nicht durch sich legitimiert, sondern durch das Wahlvolk. Kritik an den Parlamentariern kann sich daran festmachen, dass sie nicht repräsentativ für die Bevölkerung sind. Zum Beispiel ergibt sich bei der Betrachtung des Deutschen Bundestages folgendes:
Von den im Jahr 2021 gewählten Abgeordneten sind 87 Prozent Akademiker, während ihr Anteil in der Bevölkerung bei 14 bis 15 Prozent liegt. Laut einem Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von 2016 auf Basis der Daten von 1998 bis 2015 werden in Deutschland die Präferenzen der sozialen Schichten bei politischen Entscheidungen unterschiedlich stark berücksichtigt. Es zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang von politischen Entscheidungen mit den Einstellungen von Personen mit höherem Einkommen, jedoch keiner oder sogar ein negativer mit denen von Einkommensschwachen.
Dergleichen bleibt nicht unbemerkt. Der erlaubte Diskussionsrahmen gestattet angesichts einer solchen Sachlage Zweifel an der Richtigkeit politischer Beschlüsse. 16 Aktuelle weitere deutsche Beispiele für erhöhte Diskussionsbedarf sind zum Beispiel der Streit um die Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland. Oder der Verzicht auf Atomenergie. Oder der Ausbau alternativer Energien. Oder der Krieg der Hamas gegen Israel und umgekehrt. Oder oder oder… Das ist in einer Demokratie legal und legitim.
Der erlaubte Diskussionsrahmen hat aber seit einigen Jahren eine neue technische Basis: die sogenannten sozialen Medien im Internet, in denen jeder, geschützt durch gesetzlich garantierte Anonymität, seinen Gedanken und auch seinem Bauchgefühl uneingeschränkt Ausdruck verleihen und sich mit anderen zusammenschließen kann, was die eigene Haltung verstärkt. Für diejenigen, die keine Meinung haben, sich aber um so williger einer anderen anschließen, hat das Internet eine neue Spezies des HSS generiert: Influencer. Wer sich dem Einfluss solcher echter oder digitaler „Menschen“ ausliefert, hat die Chance auf eigenständiges Denken vertan. Er ist nur allzu bereit, seine relative Freiheit, die ihm Unzufriedenheit bereitet, zugunsten eines alternativen Systems der Unfreiheit aufzugeben.
Conclusio
Der sehr verehrte Kollege Immanuel Kant hat 1784 die Frage, was Aufklärung sei, beantwortet: der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Es sei allein wichtig, sich von Vormündern zu befreien und zu wagen, selbst zu denken.
So weit, so einleuchtend, so befreiend.
Bei Betrachtung der Menschenwelt 260 Jahre später komme ich zu folgendem Schluss:
Mit dem politischen System der Demokratie hat HSS ein Gesellschaftsmodell entwickelt und praktiziert, das die Macht von Vormündern reduziert.
Die aktuelle globale Entwicklung zeigt allerdings, dass dieses Gesellschaftsmodell bedroht ist.
Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass HSS ohne Vormünder nicht auskommen kann, ja, dass er nach mehr Vormündern verlangt, wenn es nur wenige gibt.
Wenn dem so ist, muss ich der Schlussfolgerung des geschätzten Kollegen Kant zu meinem Bedauern widersprechen. Denn: Natürlich leben wir nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, wie er richtig erkennt. Aber auch nicht in einem Zeitalter der Aufklärung, wie er postuliert. Das wird es vermutlich nicht geben.
Fußnoten:
1
‚Sich verstehen als‘ ist hier gleichzusetzen mit: ‚Sich darstellen als‘. Ob die ägyptischen Könige tatsächlich von ihrer Göttlichkeit ausgingen oder sich nur so inszenierten, wird ebenso unbeantwortet bleiben müssen wie die Frage, ob der Papst an Gott glaubt.
2
Die letztgenannte Gleichsetzung bezieht sich auf die Regierungszeit der Götter, die nach altägyptischer Mythologie zuvor auf der Erde herrschten.
3
1792 bis 1750 v.u.Z.
4
Thai: barami
5
der nichts anderes ist als eine asiatische Halbinsel
6
Die attische Demokratie schloss Frauen und Sklaven von der politischen Partizipation völlig aus und wandte für die freien Männer ein Zensussystem an.
7
Natürlich ist es ein Versäumnis, dass hier überwiegend europazentriert argumentiert wurde. Asien, insbesondere China, verdiente viel mehr Aufmerksamkeit. Qin Shi Huang Di – „Erster erhabener Gottkaiser von Qin“, eigentlich Ying Zheng; * 259 v. Chr. in Handan; † 10. September 210 v. Chr. in Shaqiu) war der Gründer des chinesischen Kaiserreiches (Einigung: 221 v. Chr.) und der chinesischen Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.). Er war der Herr mit der Terrakottaarmee. Die Beschäftigung mit seiner Regierung ist äußerst bildend.
8
Frankreich 1793 – 95
9
In einer direkten Demokratie trifft das stimmberechtigte Volk politische Entscheidungen unmittelbar. Wir beziehen uns im Folgenden auf die repräsentative Demokratie als das deutlich häufiger praktizierte Modell.
10
Nach Leibniz’ Lehre wäre Gott nicht das vollkommene Wesen, wenn er etwas anderes als die „beste aller möglichen Welten“ für die Menschen erschaffen hätte. Man sieht, Leibniz funktioniert in einer politischen Welt, in der die Herrschenden auf das Gottesgnadentum setzen, perfekt.
11
leider immer weniger
12
leider immer mehr
13
Bärenmütter würden ihre Jungen niemals so schnell aus den Klauen lassen.
14
Für viele Nordkoreaner dürfte das der Fall sein.
15
vgl. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?
16
Aktuelle weitere deutsche Beispiele für erhöhte Diskussionsbedarf sind zum Beispiel der Streit um die Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland. Oder der Verzicht auf Atomenergie. Oder der Ausbau alternativer Energien. Oder der Krieg der Hamas gegen Israel und umgekehrt. Oder oder oder…
Ein Text, entstanden um 1550, geschrieben von einem Mann um die zwanzig aus Sarlat im Périgord, ein Text, dessen Original nicht mehr aufgefunden werden kann und der erst Jahrzehnte nach dem Verfassen veröffentlicht werden sollte, ein Text, der ein Manifest ist für alle Freunde der Freiheit, weshalb es gewiss nicht zufällig ist, dass Gustav Landauer ihn ins Deutsche übertragen hat, ein Text wie eine Keule, eine bessere Waffe als Kants „Was ist Aufklärung?“
Ein Text, dessen Duktus sein Alter ahnen lässt, dessen Inhalt jedoch von brennender Aktualität ist, beleuchtet er doch die Situation in etlichen Teilen der Welt, insbesondere aber in Russland und der Ukraine.
Ein Text, den leider nicht ich verfasst habe.
Dieser Text folgt hier in wesentlichen Auszügen.
Für dieses Mal will ich nur untersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten. Es ist sicher wunderbar und doch wieder so gewöhnlich, daß es einem mehr zum Leid als zum Staunen sein muß, wenn man Millionen über Millionen von Menschen als elende Knechte und mit dem Nacken unterm Joch gewahren muß, als welche dabei aber nicht durch eine größere Stärke bezwungen, sondern (scheint es) lediglich bezaubert und verhext sind von dem bloßen Namen des EINEN, dessen Gewalt sie nicht zu fürchten brauchen, da er ja eben allein ist, und dessen Eigenschaften sie nicht zu lieben brauchen, da er ja in ihrem Fall unmenschlich und grausam ist.
Wenn zwei, wenn drei, wenn vier sich eines Einzigen nicht erwehren, dann ist das seltsam, aber immerhin möglich; dann kann man schon und mit gutem Recht sagen, es fehle ihnen an Herzhaftigkeit; wenn jedoch hundert, wenn tausend unter einem Einzigen leiden, dann sagt man doch wohl, daß sie sich nicht selbst gehören wollen, nein, daß sie es nicht wagen; und das nennt man nicht mehr Feigheit, sondern Schmach und Schande.
Man stelle fünfzigtausend bewaffnete Männer auf eine Seite und ebenso viele auf die andere; man ordne sie zur Schlacht; sie sollen handgemein werden: die einen sollen freie Männer sein, die für ihre Freiheit kämpfen, die andern sollen ausziehen, um sie ihnen zu rauben: welchen von beiden wird vermutungsweise der Sieg in Aussicht zu stellen sein? Welche, meint man, werden tapferer in den Kampf gehen? Diejenigen, die zum Lohne für Ihre Mühen die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit erhoffen, oder diejenigen, die für die Streiche, die sie versetzen oder empfangen, keinen andern Preis erwarten können, als die Knechtschaft der andern?
Gedenke man nur an die hochberühmten Schlachten des Miltiades, Leonidas, Themistokles, die vor zweitausend Jahren geschlagen worden sind. Was, glaubt man wohl, gab einer so kleinen Schar wie den Griechen nicht die Gewalt, sondern den Mut, dem Ansturm so vieler Schiffe, daß das Angesicht des Meeres von ihnen verändert wurde, standzuhalten; so viele Nationen zu überwinden, die in so gewaltigen Massen angerückt waren, daß das Häuflein Griechen den feindlichen Armeen noch nicht einmal die Hauptleute hätte stellen können? Was anders, als daß es uns dünkt, in jenen glorreichen Tagen sei gar nicht die Schlacht der Griechen gegen die Perser geschlagen worden, sondern der Sieg der Selbständigkeit über die Tyrannei und der Freiheit über die Willkür!
Ganz ebenso, wie das Feuer eines Fünkleins groß wird und immer mehr zunimmt und, je mehr es Holz findet, um so gieriger entbrennt; und wie es, ohne daß man Wasser herzuträgt, um es zu löschen, wenn man bloß kein Holz mehr daran legt und es nichts mehr zu lecken hat, sich in sich selbst verzehrt und formlos wird und kein Feuer mehr ist: also werden die Tyrannen, je mehr sie rauben, je mehr sie heischen, je mehr sie wüsten und wildern, je mehr man ihnen gibt, je mehr man ihnen dient, um so stärker und kecker zum Vernichten und alles Verderben; und wenn man ihnen nichts mehr gibt, wenn man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie ohne Kampf und ohne Schlag nackt und entblößt da und sind nichts mehr; wie eine Wurzel, die keine Feuchtigkeit und Nahrung mehr findet, ein dürres und totes Stück Holz wird.
O ihr armen, elenden Menschen, ihr unsinnigen Völker, ihr Nationen, die auf euer Unglück versessen und für euer Heil mit Blindheit geschlagen seid, ihr laßt euch das schönste Stück eures Einkommens wegholen, eure Felder plündern, eure Häuser berauben und den ehrwürdigen Hausrat eurer Väter stehlen! Ihr lebet dergestalt, daß ihr getrost sagen könnt, es gehöre euch nichts; ein großes Glück bedünkt es euch jetzt, wenn ihr eure Güter, eure Familie, euer Leben zur Hälfte euer Eigen nennt; und all dieser Schaden, dieser Jammer, diese Verwüstung geschieht euch nicht von den Feinden, sondern wahrlich von dem Feinde und demselbigen, den ihr so groß machet, wie er ist, für den ihr so tapfer in den Krieg ziehet, für dessen Größe ihr euch nicht weigert, eure Leiber dem Tod hinzuhalten. Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte; alles, was er vor euch allen voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnet, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgend Gewalt über euch, wenn nicht durch euch selber? Wie möchte er sich unterstehen, euch zu placken, wenn er nicht mit euch im Bunde stünde? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler des Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch selbst? Ihr säet eure Früchte, auf daß er sie verwüste; ihr stattet eure Häuser aus und füllet die Scheunen, damit er etliches zu stehlen finde; ihr zieht eure Töchter groß, damit er der Wollust fröhnen könne; ihr nähret eure Kinder, damit er sie, so viel er nur kann, in den Krieg führe, auf die Schlachtbank führe; damit er sie zu Gesellen seiner Begehrlichkeit, zu Vollstreckern seiner Rachbegierden mache; ihr rackert euch zu Schanden, damit er sich in seinen Wonnen räkeln und in seinen gemeinen und schmutzigen Genüssen wälzen könne; ihr schwächet euch, um ihn stärker und straff zu machen, daß er euch kurz im Zügel halte: und von so viel Schmach, daß sogar das Vieh sie entweder nicht spürte, oder aber nicht ertrüge, könnt ihr euch frei machen, wenn ihr es wagt, nicht euch zu befreien, sondern nur es zu wollen. Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, daß ihr ihn verjaget oder vom Throne werfet; aber stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, daß er, wie ein riesiger Koloß, dem man die Unterlage nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht.
Gesetzt den Fall, es kämen heute etliche Völker ganz neu zur Welt, die nicht an die Untertänigkeit gewöhnt und auch nicht auf Freiheit erpicht wären, und sie sollten von der einen wie der andern nichts wissen und kaum die Namen gehört haben: wenn man denen die Wahl ließe, entweder untertan oder frei zu sein, wofür würden sie sich entscheiden? jeder sieht ein, daß sie lieber der Vernunft gehorchen als einem Menschen dienstbar sein wollten; es müßten denn nur die Völker Israels sein, die sich ohne Zwang und ohne irgend eine Not einen Tyrannen gemacht haben: die Geschichte welchen Volkes ich nie lesen kann, ohne so großen Abscheu zu haben, daß ich bis zur Unmenschlichkeit gehe und mich über die vielen Leiden freue, die ihnen daraus zugestoßen sind. Aber sonst muß es für alle Menschen gewiß, wenn sie nur einigermaßen Menschen sind, ehe sie sich unterjochen lassen, eines von zweien geben: entweder sie werden gezwungen oder betrogen.
Wie dem Menschen alle Dinge natürlich sind, von denen er sich nährt und an die er sich gewöhnt, während ihm nur das eingeboren ist, wozu seine einfache und noch nicht veränderte Natur ihn beruft, so ist die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft die Gewohnheit.
Aus diesem ersten Grund folgt ein zweiter: daß nämlich die Menschen unter den Tyrannen leicht feige und weibisch werden. Mit der Freiheit geht wie mit einem Mal die Tapferkeit verloren. Die Tyrannen wissen das wohl, und tun ihr Bestes, wenn die Völker erst einmal so weit gekommen sind, sie noch schlaffer zu machen.
Die Theater, die Spiele, die Volksbelustigungen und Aufführungen aller Art, die Gladiatoren, die exotischen Tiere, die Medaillen, Bilder und anderer Kram der Art, das waren für die antiken Völker der Köder der Knechtschaft, der Preis für ihre Freiheit, das Handwerkszeug der Tyrannei.
Selbst die Tyrannen fanden es seltsam, daß die Menschen sich von Einem beherrschen ließen, der ihnen übles tat: sie wollten sich darum die Religion zur Leibgarde machen und borgten, wenn es irgendwie ging, eine Portion Göttlichkeit, um ihrem verruchten Leben eine Stütze zu geben. ist es nicht allezeit so gewesen, daß die Tyrannen, um sich zu sichern, versucht haben, das Volk nicht nur an Gehorsam und Knechtschaft, sondern geradezu an eine Art religiöse Anbetung ihrer Person zu gewöhnen?’
„Onkel Kulle, Onkel Kulle!“ Na und Nuk waren völlig außer Atem und konnten nur noch japsen, als sie Kulle endlich gefunden hatten. Dabei war es gar nicht so schwer, ihn aufzuspüren – wie so oft, hockte er in der Bibliothek von Bärenleben, umgeben von Bücherstapeln.
„Was gibt es denn so Dringendes?“ wollte Kulle wissen.
„Onkel Kulle, wir suchen einen Vater!“
„Nun…ja.“ Selbst Kulle konnte ins Stottern geraten. „Wenn mich Eure Mutter korrekt informiert hat, dann habt ihr einen Vater, der in Bärenleben durchaus bekannt ist.“
„Na klar, Onkel Kulle. Wir lieben Grizzy auch sehr. Aber im Moment ist er für uns als Vater nicht geeignet. Wir suchen nämlich einen Doktorvater.“
„Einen…was?“ Selbst Kulle konnte sprachlos sein. Er schluckte. „Ihr wollt…“
„Promoviert werden. Ja.“ sagten Nanuk im Chor.
Wie alt waren die Kinder jetzt? fragte sich Kulle. Er hatte sie zusammen mit Athabasca großgezogen, sie hatten ihre ersten Schularbeiten geschrieben und irgendwann auch glanzvoll ihr Abitur bestanden – das, musste er sich eingestehen, war durchaus schon einige Jahre her. Sie waren gute Denker, hatten sich weitergebildet – warum also sollten sie keinen akademischen Titel anstreben? Vielleicht hatten sie ähnlich Witziges im Sinn wie er seinerzeit1 Kulle, De rerum tabaccorum? Er beschloss, sie ernst zu nehmen, was immer sie auch im Schilde führten.
„Soll ich Euch ein Thema vorschlagen, oder habt Ihr selbst eine Idee?“
„Wir haben eine Idee. Wir schreiben über die Erde.“ Die vorsichtige Nuk schickte, wie so oft, Ihre vorwitzige Schwester Na vor.
„Kleiner habt Ihr es nicht? Eine Dissertation erfasst in der Regel nicht das große Ganze, sondern widmet sich einem besonderen Aspekt,“ gab Kulle zu bedenken.
„Wir haben vor, uns dem besonderen Aspekt eines kleinen Planeten in einem nicht besonders wichtigen Sonnensystem am Rande einer normalen Spiralgalaxis zuzuwenden. Dabei wollen wir uns lediglich auf einen Aspekt des Lebens auf diesem Planeten konzentrieren.“ Na war verärgert, das hörte Kulle deutlich.
„Das ist immer noch ein großes Thema,“ sagte Kulle beeindruckt. „Ich werde dabei gern Euer Doktorvater sein.“
„Super!“ jubelten Nanuk und knufften Kulle so herzhaft, dass ihm der Atem ausging.
„Ein guter Doktorvater will nicht, dass seine Promovenden in die Irre stolpern, deshalb will er wenigstens grob über ihre Absichten informiert sein. Also: Was habt Ihr vor?“
„Das heißt, wir werden uns jeder Polemik gegen unsinnige Ideologien enthalten,“ ergänzte Nuk.
„Aha!“ kommentierte Kulle. „Etwas anders habe ich auch nicht erwartet. Könntet Ihr jetzt bitte konkret werden?“
„Auf dem Planeten Erde gibt es keine Idylle, es gilt stattdessen das Prinzip: ‚Fressen und gefressen werden.‘ Es existiert keine Spezies, die nicht von einer oder mehreren anderen als Nahrung genutzt wird, und kaum eine Art, die sich nicht von einer anderen ernährt,“ behauptete Na.
„Das ist kein Werk einer bösen Macht. Die Evolution hat eben die Bedingungen genutzt, die die Erdatmosphäre ihr bietet.“ Das war Nuk.
„Und welche Bedingungen sind das?“ erkundigte sich Kulle.
„Die menschlichen Wissenschaftler nehmen an, daß die ersten Organismen auf der Erde heterotroph waren. Das heißt, sie verwerteten als Energiequelle organische Verbindungen. Sie lebten also von Leben in der ‚Ursuppe‘, im Urozean. Diese ursprünglichen Nahrungsvorräte waren jedoch irgendwann erschöpft. Was blieb dem Leben zu tun? Schnell wieder aussterben oder unter Selektionsdruck mutieren?
Einige Arten haben den Ernährungswandel geschafft, sie entwickelten sich zu chemotrophen oder phototrophen Organismen. Davon profitierten wiederum die heterotrophen Erstbewohner. Denn zusammen mit dem Wechsel von einer reduzierenden zu einer oxidierenden, also sauerstoffreichen Erd-Atmosphäre ergaben die nun wieder in großer Menge vorhandenen komplexen organischen Verbindungen erneut eine günstige Entwicklungsmöglichkeit für heterotrophe Organismen.
Ein anderer wichtiger Auslöser für Massenaussterben ist Vulkanismus. Die Kalkarindji-Vulkanprovinz im heutigen Westaustralien verursachte…“
„Stop!“ forderte Kulle energisch. „Ihr wollt also eine naturwissenschaftliche Dissertation vorlegen? Über die Bedingungen historischen Massenaussterbens?“
Na und Nuk sahen einander an und schüttelten die Köpfe. „Aber nein, Onkel Kulle. Wir haben uns wohl völlig falsch ausgedrückt. Wir wollen zum Sinn des Lebens forschen.“
Zum zweiten Mal war Kulle sprachlos. Aber nach einer Denkpause fiel ihm etwas ein: „Der Sinn des Lebens besteht im Glücklichwerden durch die Erkenntnis des Wahren und das Tun des Guten, und zwar letztlich zur Ehre Gottes. Richtig?“
Jetzt waren die Schwestern sprachlos. Erst nach einer Weile wagte Na zu fragen: „Ist das Dein Ernst, Onkel Kulle?“
Kulle hielt seinen Kopf still, obwohl ihm sehr danach war, ihn heftig zu schütteln. Aber die Missbilligung war seiner Antwort anzuhören: „Natürlich nicht. Das war ein Beispiel für menschlichen Unsinn. Denn der Sinn des Lebens…“
„…Ist unserer Meinung nach 42!“ platzten die Zwillinge dazwischen.
Es gelang Kulle, nicht laut loszulachen. Stattdessen zwang er sich zu einer ernsten Miene und sagte: „Das ist eine interessante Theorie, die zu verifizieren oder zu falsifizieren der Mühe wert sein dürfte. Denn in der ‚42‘ steckt die vollkommene Zahl ‚6‘, und zwar sieben Mal…“
„Entschuldige, Onkel Kulle, was ist eine vollkommene Zahl?“
„Ihr habt in Mather bei Atti wohl wieder mal nicht aufgepasst, was? Vollkommene Zahlen sind natürliche Zahlen, die gleich der Summe all ihrer positiven Teiler außer sich selbst sind. Die kleinsten vollkommenen Zahlen sind 6, 28 und 496. Es folgen 8.128, 33.550.336 und 8.589.869.056. Aber das nur am Rande.
Also, in der ‚42‘ steckt die vollkommene Zahl ‚6‘ gleich sieben Mal.
Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte, induziert von Homo. Und der Bibel zufolge erschuf Gott am sechsten Tag den Menschen, ‚und er sah, dass es gut war’. Ist das Massenaussterben also gut? Ist der Sinn des Lebens das Massenaussterben? Und wenn das so ist: Warum lautet die Antwort dann nicht ‚36‘, sondern ‚42‘? Spielt der siebente Tag, an dem sich Gott von den Mühen der Schöpfung ausruhte, auch eine Rolle? Gibt es vielleicht ein Leben nach dem Leben? Kinder, Ihr habt viel Arbeit vor Euch!“
„Danke, Onkel Kulle! Du bist also einverstanden mit unserer Arbeitshypothese?“
„Im Moment ja. Aber wir sehen uns spätestens in zwei Wochen wieder, und dann berichtet Ihr mir von Euren Fortschritten!“
Nanuk sausten in Richtung der Bibliothek davon. Kulle folgte ihnen, wenn auch langsamer. Er hatte beschlossen, den köstlichen Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams noch einmal zu lesen. Und er hatte Lust, nach langer Zeit wieder einen Blick in seine Dissertation zu werfen.
Spätestens in zwei Wochen, dachte er, würden die Kinder die Sinnlosigkeit ihrer Hypothese verstanden und die ernsthafte Beschäftigung mit ihr aufgegeben haben. Oder sie hätten beschlossen, einen ebenso horrenden Blödsinn darüber zu verzapfen wie er über die Zigarre.
Von P. D. Kulle1Nun ja. Da meine Sekretärin sich diesem Thema verweigert hat, habe ich mich bei den folgenden Ausführungen weitgehend der Copy-Paste-Technik bedient. Vroniplag et alii sind herzlich eingeladen, fündig zu werden. Ich erhebe keinen Anspruch auf die Autorenschaft, sondern danke stattdessen Wikipedia.
– Kalter Krieg – Nach der Friedensdividende – Versprechungen, Erwartungen und Befürchtungen
Kalter Krieg Bereits in der Endphase des Zweiten Weltkriegs kam es zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion zu Spannungen über die Entwicklung einer europäischen Friedensordnung. Europa wurde zum geostrategischen Spielfeld. Die Sowjetunion war bestrebt, eine Einflusssphäre sozialistischer Satellitenstaaten zu schaffen. So kam es zur Errichtung sozialistischer bzw. kommunistischer2will sagen: stalinistischer Regimes in den osteuropäischen Staaten Polen, Albanien, Bulgarien, Ungarn, Tschechoslowakei und Rumänien. Ihnen war de facto die Souveränität zugunsten der Sowjetunion entzogen. Außerdem musste Finnland im Waffenstillstand von Moskau 1944 große Gebiete an die Sowjetunion abtreten, seine Beziehungen zum Deutschen Reich abbrechen und 1948 mit der Sowjetunion ein „Freundschafts- und Kooperationsabkommen“ abschließen. Die USA hielten dagegen: Am 12. März 1947 gab der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman vor dem US-Kongress eine Erklärung ab, die als Truman-Doktrin bekannt wurde. Nach dieser Doktrin sollte es zum außenpolitischen Grundsatz der Vereinigten Staaten von Amerika werden, „freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen“. Die Expansion der Sowjetunion sollte also aufgehalten werden. Im Fall von Bürgerkriegen wollte man die pro-westliche Seite unterstützen.3Unter Berufung auf die Truman-Doktrin unterstützten die USA die Royalisten im Griechischen Bürgerkrieg, Südkorea im Krieg gegen den kommunistischen Norden und Frankreich im Indochinakrieg. Die Truman-Doktrin bedeutete das Ende der amerikanischen Kriegskoalition mit der Sowjetunion und markierte den Beginn des Kalten Krieges. Mit ihr begann das finanzielle Engagement der USA in der Containment-Politik. Als wichtiger Bestandteil der Containment-Politik erwies sich der Marshallplan mit dem Ziel, die europäischen Länder mit der US-Wirtschaft zu vernetzen, ihr neue Märkte zu öffnen und somit eine Übernahme Westeuropas durch die Sowjetunion zu verhindern, also Westeuropa selbst zu übernehmen.
Die NATO (North Atlantic Treaty Organization) Der Nordatlantikpakt wurde am 4. April 1949 im Zuge der Eindämmungspolitik der USA gegen die Sowjetunion geschlossen. Gründungsmitglieder waren Belgien, Dänemark (mit Grönland), Frankreich (mit den französischen Gebieten in Algerien), Vereinigtes Königreich (mit Malta), Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA. In der Präambel des Vertrages bekennen sich die Mitglieder zu Frieden, Demokratie4Mit der Aufnahme Portugals wurde das Postulat der Demokratie schon bei der Gründung verletzt. Weil eine Militärbasis auf den Azoren von geostrategischer Bedeutung war, wurde ein Land aufgenommen, das erst 1974 die Diktatur überwand., Freiheit und der Herrschaft des Rechts. Die NATO ordnete sich den Vereinten Nationen unter. Der Nordatlatikvertrag beruht auf Artikel 51 der UN-Charta. Das heißt, im Falle eines Angriffskriegs gegen ein Mitgliedsland ist Selbstverteidigung erlaubt, solange der UN-Sicherheitsrat nicht tätig wurde. Am 18. Februar 1952 wurden Griechenland und die Türkei in die NATO aufgenommen. Im Zuge der Westintegration der Bundesrepublik Deutschland wurde diese zum Beitritt eingeladen, der am 9. Mai 1955 feierlich vollzogen wurde. Fünf Tage später, am 14. Mai, wurde in der Folge dieses NATO-Beitritts der Warschauer Pakt gegründet. Zur Außenpolitik der USA nach dem Ende des II. Weltkriegs hat sich der britische Dramatiker Harold Pinter in seiner Nobelpreisrede 2005 treffend geäußert: „Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile5Die Liste der amerikanischen Staaten ist unvollständig.. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden. In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts. Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt.“ Die ordnende Politik der USA in ihrem Hinterhof und darüber hinaus wurden also, Pinter zufolge, kaum zur Kenntnis genommen6Jedenfalls nicht in der breiten Öffentlichkeit im Westen.. Anders verhielt es sich mit der Ordnungspolitik der Sowjetunion in ihrem Einflussbereich: Die Niederschlagung der Protestbewegung in der DDR 1953, die gewaltsame Beendigung des Volksaufstands in Ungarn 1956 und die Absetzung der reformsozialistischen Regierung der CSSR 1968 lösten in der westlichen veröffentlichten – und vielleicht auch öffentlichen – Meinung Entsetzen aus. Ein Tabu zeigte sich 1962: Die USA ließen sich nicht zu nahe kommen. Als die Sowjetunion versuchte, Raketen, die in kürzester Zeit die USA hätten erreichen können, auf Kuba zu stationieren, drohte Präsident Kennedy mit allen denkbaren Konsequenzen, und der sowjetische Machthaber Chruschtschow sah sich gezwungen, nachzugeben. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 beziehungsweise der Auflösung des Ostblocks im Jahr 1991 änderte sich die geopolitische Lage grundlegend. Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag, ein Staatsvertrag in Bezug auf Deutschland, von Vertretern beider deutscher Staaten und der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet. Er ebnete den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik.
Nach der Friedensdividende
Die Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace; PfP) ist eine 1994 von der NATO ins Leben gerufene Verbindung zur militärischen Zusammenarbeit mit zunächst 19 europäischen und asiatischen Staaten, die keine NATO-Mitglieder sind. Zu den Staaten, die das Rahmendokument unterzeichnet haben, gehören die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Russland (unterzeichnet 2004, ratifiziert von der Duma im Mai 2007), Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan7Allesamt junge Staaten, überwiegend aus dem „Kernbestand“ der ehemaligen Sowjetunion, in denen Verteidigungsstrukturen nach westlichen Standards aufgebaut werden sollten., die ehemaligen jugoslawischen Republiken Bosnien und Herzegowina und Serbien, die Schweiz8Mit der Schweiz und auch mit Schweden gelang es, neutrale Staaten strukturell, wenn auch nicht offiziell organisatorisch einzubinden., die EU-Staaten Irland, Malta, Österreich und Schweden9Interessant ist, wer hier fehlt. Die Länder, die 1997 ff und 2002 ff NATO-Mitglieder wurden, sind nicht dabei. Mit Polen, Ungarn Tschechien (ab 1997) und Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien (ab 2002) rückt die NATO Russland deutlich näher.. Am 1. Januar 1995 wurden die in Ostdeutschland stationierten Einheiten der Bundeswehr (zu dem Zeitpunkt rund 50.000 Soldaten) in die Bündnisstruktur der NATO integriert. Im Mai 1997 wurde in Paris die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen NATO und der Russischen Föderation vereinbart, die eine Voraussetzung für die NATO-Osterweiterung war. NATO und Russland bezeichneten sich darin nicht länger als Gegner. Die russische Verfassungskrise (Machtkampf zwischen dem Präsidenten Jelzin und dem Parlament 1993) und russische Militäraktionen, die Separatismusbestrebungen gewaltsam unterbanden, darunter der Erste Tschetschenienkrieg (1994–1996), der Transnistrienkrieg (seit 1990) und der Krieg in Abchasien (1992/1993), veranlassten die mittel- und osteuropäischen Länder, insbesondere diejenigen mit eigenen Erinnerungen an ähnliche sowjetische Offensiven, auf eine NATO-Beitrittserklärung zu drängen, um ihre langfristige Sicherheit zu gewährleisten. Ein Beitritt zur NATO geschieht auf Antrag des jeweiligen Staates, nach Prüfung des Antrags lädt die NATO zu Beitrittsverhandlungen ein. In der NATO besteht allerdings der Grundkonsens, kein Land als Mitglied in die Allianz aufzunehmen, das sich in einer Konfliktsituation befindet. Auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurde Polen, Ungarn und Tschechien ein NATO-Beitritt angeboten. Nach der Ratifizierung der Beitrittsurkunden wurde ihr Beitritt am 12. März 1999 wirksam. Die Slowakei folgte 2004. Ebenfalls 1997 wurde mit der Ukraine eine NATO-Ukraine-Charta über eine „besondere Partnerschaft“ vereinbart. Beim Gipfeltreffen in Prag im November 2002 lud die NATO Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zu Beitrittsgesprächen ein. Auf dem Istanbuler Gipfel im März 2004 traten diese sieben Länder der NATO bei. Insbesondere die drei baltischen Staaten trieben ihre NATO-Ambitionen mit hoher Intensität voran, da sie davon ausgingen, das historische Fenster für einen Beitritt könnte sich schnell wieder schließen. Im April 2004, wenige Tage nach dem Beitritt der baltischen Staaten, erklärte Putin während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“ Bei einem Besuch des NATO-Generalsekretärs sechs Tage später sagte Putin, jedes Land habe das Recht, seine eigene Form der Sicherheit zu wählen. Die NATO stufte Serbien 2007 als möglichen Beitrittskandidaten ein. Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wurde der Beitritt Albaniens und Kroatiens offiziell beschlossen. Bei ihrem Treffen in Brüssel am 3. Dezember 2009 erklärten die Außenminister der 28 NATO-Mitgliedstaaten Montenegro zum Beitrittskandidaten. Der Beitritt als 29. Mitgliedsland wurde schließlich 2017 vollzogen. 2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim und beanspruchte Gebiete im Donbass im Südosten der Ukraine. Mit Unterzeichnung durch Präsident Putin trat am 31. Dezember 2015 Ukas 683 und damit eine neue Militärdoktrin in Kraft, welche erstmals die USA sowie deren Alliierte, die NATO und die EU als Bedrohung für Russland und seine Nachbarn benannte. Im Juli 2018 lud die NATO Nordmazedonien offiziell zu Beitrittsgesprächen ein. Nach der Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten trat Nordmazedonien 2020 der NATO als 30. Mitglied bei. Russland hatte zuvor versucht, den Beitritt zu verhindern. Bosnien und Herzegowina ist ebenfalls an einer Mitgliedschaft interessiert. Georgien möchte – wie die Ukraine – ebenfalls so bald wie möglich der NATO beitreten; Russland lehnt dies ab. Am 7. Februar 2019 verankerte die Werchowna Rada in der Verfassung der Ukraine die strategische Orientierung des Staates zum vollständigen Beitritt zur NATO sowie zur Europäischen Union. Dies war für Russland einer der offiziell vertretenen Kriegsgründe für den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Da die Ukraine (wie auch Georgien) sich in einer „Konfliktsituation“ befindet, ist ein NATO-Beitritt nach aktueller Rechtslage nicht möglich.
Versprechungen, Erwartungen und Befürchtungen
Im Nachhinein will es, wie immer, keiner gewesen sein. Offizielle Dokumente über Absichtserklärungen und Versprechen gibt es nicht. Wem will man glauben?
Am 31. Januar 1990 sagte der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Vortrag in der Akademie Tutzing:
„Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. (…) Der Westen muss auch der Einsicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen dürfen.“
Zwei Tage später gaben der deutsche und der US-amerikanische Außenminister, Genscher und Baker, in Washington nach einem zweistündigen Treffen kurze Statements und beantworteten Fragen der anwesenden Pressevertreter. Genscher bemerkte u. a.:
„Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.“
Ähnlich äußerten sich Helmut Kohl und der damalige NATO-Generalekretät Wörner.
Die Sowjetunion lehnte Genschers Tutzinger Position ab.
So erklärte der sowjetische Außenminister Schewardnadse im Gespräch mit dem Vorsitzenden der DDR-SPD, Ibrahim Böhme, am 2. März 1990, daß die Variante, das vereinigte Deutschland in die NATO aufzunehmen, oder auch das ‚Geschenk‘ Genschers, keine Truppen der NATO auf dem Territorium der DDR zu stationieren, nicht durchkommen wird.
Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier alliierten Siegermächten unterzeichnet. Der deutsche Diplomat Jürgen Chrobog notierte dazu sechs Monate später: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe10Die Aussage in Bezug auf die Elbe ist umstritten. Möglicherweise hat Chrobog die Oder genannt. Das Fazit in Bezug auf Polen e.a. bleibt dasselbe. hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten.“
Beim Besuch des russischen parlamentarischen Sicherheitsausschusses bei der NATO vom 29. Juni bis zum 2. Juli 1991 betonte Wörner am 1. Juli 1991, der NATO-Rat und er seien gegen die Erweiterung der NATO, 13 von 16 NATO-Mitgliedern würden diesen Standpunkt unterstützen. „In naher Zukunft werde er sich bei seinem Treffen mit L. Walesa und dem rumänischen Staatschef A. Iliescu gegen einen NATO-Beitritt Polens und Rumäniens aussprechen, was er zuvor bereits gegenüber Ungarn und der Tschechoslowakei erklärt habe. „Wir sollten (…) nicht zulassen, dass die UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft isoliert wird.“
Im Mai 1992 erklärten Havel, Wałęsa and Antall für die Visegrad-Staaten das Ziel, in die NATO aufgenommen zu werden.
Russlands Präsident Boris Jelzin schrieb am 15. September 1993 – als Polen, Ungarn und Tschechien auf eine Aufnahme in die NATO drängten – an US-Präsident Clinton, dass der „Geist“ des Zwei-plus-Vier-Vertrages die Möglichkeit ausschließe, die NATO nach Osten auszudehnen. Jelzin erwähnt die Sicherheitsgarantien, die die russische Seite seiner Auffassung nach während der Verhandlungen über die deutsche Einheit erhalten hatte.
Am 5. Dezember 1994 kritisierte Jelzin die Pläne der Osterweiterung der NATO, diese Kritik wurde am 6. Dezember 1994 auf der Titelseite der New York Times veröffentlicht. Jelzin warf der „herrschsüchtigen“ USA vor, sie würde durch die NATO-Erweiterung versuchen, den Kontinent erneut zu spalten.
In einem offenen Brief an den Präsidenten der USA, Bill Clinton, vom 26. Juni 1997 äußerten mehr als 40 ehemalige Senatoren, Regierungsmitglieder, Botschafter, Abrüstungs- und Militärexperten ihre Bedenken gegenüber der von ihm geplanten Osterweiterung der NATO und forderten ihre Aussetzung11Zu den Unterzeichnern gehörte u. a. Paul Nitze, Reagans Abrüstungsdunterhändler, Robert McNamara, Verteidigungsminister a.D., und James D. Watkins, ehemaliger Direktor der CIA.. Der Brief bezeichnet die Beitrittsangebote der NATO 1997 als „politischen Irrtum von historischen Ausmaßen“.
Die Unterzeichner befürchteten, dass die Sicherheit und Stabilität Europas in Gefahr sei, und begründeten dies unter anderem mit dem Argument, in Russland werde die NATO-Osterweiterung, die von allen politischen Kräften abgelehnt wird, die undemokratische Opposition stärken und die Reformkräfte schwächen. Russland werde dazu gebracht, die Vereinbarungen nach dem Ende des Kalten Krieges infrage zu stellen und Widerstand gegen die Abrüstungsverträge zu mobilisieren.
Madeleine Albright vermerkt zum Jahr 1997 in ihrer Autobiografie ‚Madame Secretary‘: „Der russische Präsident Boris Jelzin und seine Landsleute lehnten die Erweiterung strikt ab, da sie darin eine Strategie sahen, die ihre Verwundbarkeit ausnutzen und die europäische Trennlinie nach Osten verschieben würde, wodurch sie isoliert blieben.“
Die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, wurde von dem Historiker und Diplomaten George F. Kennan 1997 als „verhängnisvollster Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ beurteilt, weil „diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“
Der US-Politiker Pat Buchanan schrieb 1999 in ‚A Republic, Not an Empire‘: „Indem wir die NATO in den Vorgarten Russlands verschieben, treten wir die Konfrontation des 21. Jahrhunderts los. […] Wenn der wachsende Unmut in Russland dazu führt, dass Jelzin durch einen antiamerikanischen Nationalisten ersetzt wird, dann liegt die volle Schuld bei einer hochmütigen US-Elite, die ihr Bestes getan hat, um Russland zu demütigen.“
Der ehemalige Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, Robert Gates, veröffentlichte 2014 in ‚Duty‘, seinen Memoiren, eine ähnliche Ansicht. Man habe Gorbatschow und andere nur „glauben lassen“, dass die NATO nicht nach Osten erweitert werde. Die Beziehungen zu Russland nach dem Ausscheiden von George Bush aus dem Amt im Jahr 1993 seien schlecht verwaltet worden. In einer impliziten Rüge an den jüngeren Bush behauptete Robert Gates, dass „der Versuch, Georgien und die Ukraine in die Nato zu holen, wirklich zu weit ging“. Dieser Schritt sei ein Fall von „rücksichtsloser Missachtung dessen, was die Russen als ihre eigenen vitalen nationalen Interessen betrachten“.
Der Mensch ist ein Tier. Er hat lange gebraucht, um die Vorstellung zu entwickeln, dass er auch ein ganz besonderes Tier ist.
Was den Menschen der Steinzeit in Südwesteuropa bewegte, lässt sich an seiner „Höhlenmalerei“, die nur partiell aus Malerei, sondern auch oft aus Piktogrammen besteht, wenigstens zum Teil erschließen. Es wimmelt an den Wänden und Decken der berühmten Kavernen in Frankreich und Spanien von Tieren: zum Beispiel Mammuts, Bisons, Kühen und Stieren, Hirschen und immer wieder Pferden. Aber nur eine Darstellung eines Menschen ist in der Grotte von Lascaux im Périgord bekannt.
An einem ihrer tiefsten Punkte1Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen finden sich rechts die Darstellung eines angreifenden, wiewohl bereits verwundeten Bisons. Nach links läuft, offenbar mit hoher Geschwindigkeit, ein Rhinozeros davon. Beide wilden Tiere sind sehr sorgfältig in mehreren Farben ausgeführt.
Zwischen ihnen liegt eine menschliche Gestalt auf dem Rücken, erkennbar ein Mann, denn der Penis ist erigiert. Die Figur ist nur als Strichzeichnung ausgeführt, der Körper ist ein Rechteck, die Beine sind gerade, die Arme lang ausgestreckt, an den Händen jeweils vier Finger. Nur vier. Der Kopf, ein Vogelkopf, ist zur Seite gewendet.
Vor der anscheinend leblosen Figur steht auf einem Stecken die stilisierte Figur eines Vogels.
Diese Szene in ihrer Uneindeutigkeit gibt Kulturanthropologen seit Jahrzehnten Anlass für unterschiedlichste Theorien.
Handelt es sich überhaupt um eine Szene, oder sind verschiedene Figuren zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, stehen in keinem Zusammenhang zueinander?
Ist die Darstellung des Toten eine Warnung? Die Zeichnungen sind im ‚Brunnen‘ der Grotte angebracht, in dem die CO2-Konzentration Werte von 5 oder 6% erreichen kann. Besagt die Information: Geh besser wieder weg, oder bleib nicht zu lange?
Ist der Tote Opfer eines Jagdunfalls? Hat er eines der Tiere angegriffen, oder hat er sich in den Tierkampf eingemischt? Aber: Haben Tote eine Erektion?
Stellt der Mann sich tot, um einem Angriff des wütenden Stiers auszuweichen? Stiere greifen nur an, was sich bewegt.
Das alles aber erklärt nicht die Vogelsymbolik.
Ist der Mann ein Schamane in Trance, dessen Geist die Erde verlassen hat? Der mit dem Vogel in den Himmel geflogen ist?
So viele offene Fragen. Eines aber ist sicher: Die Hauptakteure in dieser Darstellung sind Stier und Rhinozeros, sind die sorgfältig dargestellten Tiere auf vier Beinen. Der flüchtig skizzierte Zweibeiner ist zwar in den Mittelpunkt gerückt, verdient aber keine sorgfältige Ausführung.
Es vergehen Jahrtausende, bis weitere, eindeutigere Aussagen über den Menschen gemacht werden. Dazu bedurfte es der Entwicklung der Schrift. Und auch der Einführung einer imaginären Größe: Gott.
Im Buch Genesis, dem ersten Buch des jüdischen Tanach, des samaritanischen Pentateuch wie auch des christlichen Alten Testaments, dessen Teile vermutlich zwischen 3000 und 600 v.u.Z. entstanden sind, wird die Menscherschaffung dargestellt.
Gott formt den Menschen aus Erde. Das neue Wesen ist also Teil seiner Umwelt. Aber damit der Mensch zum Menschen wird, geschieht noch ein Zweites. Das Geschöpf aus Erde wird erst richtig zum Menschen, indem ihm Gott seinen Atem, seinen Geist in die Nase bläst (Genesis 2,7). Der Mensch wird beseelt. Gott tritt also in den Menschen – seine Schöpfung – hinein. In ihm berühren sich Himmel und Erde. In dieser Sicht ist der Mensch etwas sehr Besonders, etwas Außerordentliches.
Wenden wir uns der griechischen Antike zu. Aristoteles von Stagira2384 – 322 v.u.Z. kommt ohne Gott aus. Er betrachtet den Menschen unter rein irdischen Aspekten. Ihm zufolge hat der Mensch eine Seele wie jedes Tier. Was ihn von anderen Tieren unterscheidet, ist seine Vernunft. Zudem wird der Mensch definiert als „Zoon politikon“3Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis. Löst man den Begriff aus seiner historischen Gebundenheit, gelangt man zur Definition des Menschen als eines sozialen und politischen Lebewesens.
Der Römer Cicero4106 – 43 v.u.Z. betrachtet den Menschen ähnlich wie Aristoteles: Er sei kein Einzelgänger, sondern darauf angelegt, in einem Staat zu leben. Gegenüber den Tieren hat er eine Vorrangstellung, der er aber nur dann gerecht wird, wenn er sein Leben entsprechend führt: indem er seinen Geist betätigt, anstatt sich niederen Trieben hinzugeben. Besonders die Sprachbegabung unterscheidet den Menschen von den Tieren.
Ausgehend von der Sprache als dem zentralen Wesenszug des Menschen erblickt Cicero im universal gebildeten „vollkommenen Redner“ (orator perfectus), der sein Wissen in den Dienst der Gemeinschaft stellt, den idealen Menschen und somit das höchste Erziehungsziel5Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren..
Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Bisher sehen wir den Menschen als ein Wesen mit besonderen Merkmalen dargestellt, das aus dem Tierreich herausragt. Daraus werden aber keine besonderen Ansprüche an die Gesellschaft abgeleitet. Diese Ansprüche werden erst in der europäischen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert formuliert.
Samuel von Pufendorf61632 – 1694 erklärt: Der Mensch sei von höchster Würde, weil er eine Seele habe, die sich durch Verstand auszeichnet, weil er Urteils- und Entscheidungsfähigkeit besitze und sich in vielen ‚Künsten‘ auskenne.
Das klingt zunächst vertraut, ist aber doch völlig neu. Seele, Vernunft und Entscheidungsfreiheit werden erstmals verknüpft mit der Idee der Menschenwürde.
Damit verbindet Pufendorf die Idee der Menschenwürde mit der Idee der Seele, mit der Idee der Vernunft und mit der Idee der (Entscheidungs-)Freiheit.
Immanuel Kant71724 – 1804 hat diese Idee der Menschenwürde genauer bestimmt. Ihm zufolge ist der Mensch ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein. Das bedeutet, dass jeder Mensch ein Existenzrecht hat, woraus resultiert, dass alle Menschen prinzipiell gleichwertig sind und einander achten.
Kant geht davon aus, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf. Das heißt: Die Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt – etwa durch Sklaverei, Unterdrückung oder Betrug. Und da jeder Menschen ein Existenzrecht hat, darf kein Mensch getötet werden.
Diese Definition ist folgenschwer. Sie evoziert unter anderem die Frage: Wann beginnt menschliches Leben?
Wann beginnt menschliches Leben?
Der Abbruch einer Schwangerschaft ist natürlich keine Erfindung der Neuzeit, das zeigen Schriftzeugnisse aus frühen Hochkulturen, etwa aus Altägypten.8 Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.
Der altägyptische Papyrus Ebers, ca. 1600 v.u.Z., beschreibt Mittel dazu: Kräutertränke, Scheideneinspritzungen und Vaginalkugeln.
Im antiken Griechenland wurden kinderreiche Familien nicht immer als gesellschafts- und bevölkerungspolitisches Ideal betrachtet. Nach Aristoteles’ Ansicht sollte der Staat weder zu groß noch zu klein sein. Er sah in der frühen Abtreibung ein geeignetes Mittel, um eine gleich bleibende Bevölkerungszahl zu erhalten. Hippokrates9 Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva. empfiehlt verschiedene Mittel für einen Schwangerschaftsabbruch. Die griechische Polis sprach dem ungeborenen Kind weder Lebensrechte noch eine Seele zu.
Die Einstellung der Römer ähnelte der der Griechen: Nachwuchs war erwünscht, solange er das Erbe und die Altersvorsorge sicherte. Eine größere Kinderanzahl galt hingegen als Existenzgefährdung. Auch in Rom hatte ein Fötus weder Lebensrecht noch Seele, sondern wurde als Teil des Körpers der Mutter angesehen. Die römischen Ärzte verfügten bereits über ein sehr differenziertes und reichhaltiges Wissen, mit dem sie der großen Nachfrage nach Mitteln und Methoden zur Abtreibung nachkommen konnten. Vermutlich kannte man schon über zweihundert Abortiva, von denen ca. 90 Prozent recht wirksam waren.
Nach dem Zusammenbruch der römischen Zivilisation übernahmen religiöse Vorstellungen die Deutungshoheit über menschliches Leben. Wann beginnt es?
Am Anfang der menschlichen Reproduktion steht die Befruchtung – die Verschmelzung von Samen- und Eizelle. Dieser Akt ist nach heutiger Sicht der katholischen Kirche identisch mit der Menschwerdung.
Allerdings ist die sehr frühe Datierung menschlichen Lebens im Christentum noch nicht sehr alt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt die Meinung, dass die Beseelung des Menschen eine Entwicklung darstelle. Mittelalterliche Theologen wie Thomas von Aquin beriefen sich auf Aristoteles, wohl deshalb, weil sie in den heiligen Schriften keine Antworten auf diese Frage fanden.
Der Stagirit geht von folgender Annahme aus: Es dauert bei einem männlichem Embryo 40 Tage und bei einem weiblichen Embryo 80 Tage bis zur Menschwerdung. Denn die ganze Formkraft des neuen Lebewesens besteht allein im männlichen Samen, während die Frau nur das Menstruationsblut als materielle Voraussetzung bietet. Wenn es zur Geburt eines Mädchens kommt, ist das Ausdruck eines Versagens der Natur, weil der männliche Same unbedingt ein ihm Ähnliches hervorbringen möchte10 Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin. Aristoteles meint, dieser Prozess benötige 40 Tage beim Mann und 80 Tage bei der Frau.
Damit liegen Aristoteles und die alte christliche Vorstellung nicht weit entfernt von der Datierung des Lebensbeginns im Judentum – das allerdings keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Embryo macht.
Auch die islamischen Schriften datieren den Beginn des menschlichen Lebens sehr spät. Nach einer Aussage des Propheten Mohammed dauert die Menschwerdung nach der Befruchtung 120 Tage.
Schwangerschaftsabbruch
Wenn denn der Mensch eine unverletzliche Würde besitzt und wenn er diese Menschenwürde bereits im Mutterleib erwirbt, ob direkt nach der Befruchtung, nach 40, 80 oder 120 Tagen, so ergibt sich logisch: Der Embryo darf nicht getötet werden. Schwangerschaftsabbruch ist folglich verboten und wird mit Mord gleichgesetzt.
So sind auch Verbote für Hebammen die Regel:
„Die Hebammen sollen sich bey schwerer Strafe enthalten, abtreibende, oder gefährliche Mittel zu geben, oder einzurathen… Falls ihnen unschuldiger Weise ein dergleichen Ansinnen eröfnet würde, haben sie die Personen, … an die Medicos zu verweisen, welche schon wissen werden, wie in solchem Falle fürzugeben sey, wie dann gleichfalls den Apothekern bereits aufgetragen worden, bey empfindlicher Ahndung den Hebammen ohne Vorwissen eines approbierten Medici dergleichen bedenkliche Mittel keineswegs verfertigen, oder reichen zu lassen.“11 Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.
und natürlich auch Strafen für Schwangere:
§144. Eine Frauenperson, welche absichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibesfrucht verursacht, oder ihre Entbindung auf solche Art, daß das Kind tot zur Welt kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.
§145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen; die zustande gebrachte Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden.12 § 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)
Neben der sogenannten Menschenwürde gibt es aber durchaus praktische Gründe, aus denen Vertreter der herrschenden (politischen) Klasse sich gegen Geburtenkontrolle durch Frauen wenden.
Angesichts der großen Verluste an wertvollstem Menschenmaterial, die der Krieg mit sich bringt, muß die Heeresverwaltung pflichtgemäß allen Maßregeln ihr besonders Augenmerk zuwenden, die geeignet sind, den Ersatz der Verluste zu fördern, oder eine Schmälerung dieses Ersatzes hintanzuhalten. In der zweiten Richtung spielen der Gebrauch von Verhütungsmittel und die Abtreibung der Leibesfrucht eine bedeutende Rolle. Sie wirken dem natürlichen Ausgleich entgegen, der schon im Kriege, noch viel mehr aber nach seinem Ende, eintreten würde, da der geschlechtliche Verkehr sich stark steigern wird. … Sonach ergibt sich, daß dieses schädliche Verhalten in der Bevölkerung zunimmt u. noch mehr zunehmen wird, gerade in einer Zeit, in der das Interesse des Staates so sehr wie noch nie darauf gerichtet ist, es hintanzuhalten. …13 Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916
So unverblümt utilitaristisch wie während des Ersten Weltkriegs wird sich gegenwärtig in Mitteleuropa wohl kaum jemand zu äußern wagen. Stattdessen bemüht man sich vor allem in Dehland, wohl auch getrieben vom schlechten Gewissen wegen der Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten, darum, die Schutzwürdigkeit des menschlichen Fötus argumentativ zu beweisen, wobei die Qualität der Argumente durchaus zu wünschen übrig lässt.
Die SKIP-Argumente – Speziesargument, Kontinuumsargument, Identitätsargument und Potentialitätsargument – versuchen Gründe dafür anzuführen, dass das Leben des menschlichen Embryos unbedingt schützenswert sei.
Das Speziesargumentbesagt, dass alle Angehörigen der Spezies Homo sapiens Würde haben. Da auch Embryonen der Spezies Mensch angehören, müsse ihr Leben ebenfalls geschützt werden.
Es handelt sich hier um einen naturalistischen Fehlschluss14 vulgo: Zirkelschluß: Die bewertende Prämisse wird stillschweigend vorausgesetzt.
Laut dem Kontinuitätsargument entsprechen den entscheidenden Entwicklungsschritten eines Embryos (Imprägnation, Syngamie, erstmalige Transkription unabhängig von der mütterlichen RNA, Implantation, Primitivstreifen, Neurulation) keine moralisch begründbaren Wertunterschiede. Dies bedeutet, dass aufgrund seiner kontinuierlichen Entwicklung kein klarer Strich gezogen werden kann, ab wann ein Embryo als schutzbedürftig gilt. Deshalb habe ein Embryo schon zu Beginn seiner Entwicklung Würde.
Folgt man dieser ‚Logik’, dürfte es im menschlichen Leben keine abgestuften Rechte geben. Es handelt sich um eine unbegründete Behauptung, da sehr häufig Rechte nach Entwicklungsphasen abgestuft werden (vgl. die Einschränkung der Rechte von Kindern oder Pflegschaften).
Dem Identitätsargument zufolge besteht in moralischer Hinsicht eine Identitätsbeziehung zwischen dem Embryo und der Person, die sich aus ihm entwickeln kann. Hat die Person Würde, muss die Würde auch dem Embryo zugestanden werden.
Aber: Aus einer Eizelle können sich mehrere Embryonen bilden. Dies widerspricht der These, dass Lebewesen zu jedem Zeitpunkt miteinander identisch sind. Die Plazenta, die sich ebenfalls aus der befruchteten Eizelle entwickelt, müsste dann außerdem dieselbe Würde haben wie der Embryo bzw. der geborene Mensch.
Zuletzt besagt das Potentialitätsargument, dass Embryonen deshalb Würde haben, weil sie das Potential besitzen, sich zu einem Wesen zu entwickeln, das würdeverleihende Eigenschaften trägt.
Der Begriff ‚Potential‘ bezieht sich hier gewiss weder auf seine Definition in Mathematik und Physik, sondern auf den ‚Potentialis‘, einen Modus des Verbs, der Ereignisse als möglich kennzeichnet. In der deutschen Sprache wird dergleichen mit Hilfe des Konjunktiv II ausgedrückt. Den Embryo mit dem Menschen gleichzusetzen, der einmal aus ihm werden könnte, erscheint nicht plausibel.15 Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin
International tobt der Kampf um den Schwangerschaftsabbruch weiter. In mehr als 60 Ländern ist er verboten oder nur gestattet, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Wird das Gesetz liberalisiert oder abgeschafft, wie aktuell in Argentinien und Spanien, wird es andernorts verschärft, wie in den USA und Polen. „Mein Bauch gehört mir!“, der trotzige Slogan westdeutscher Frauen vor 50 Jahren gegen den Paragraphen 218, ist noch immer nicht Realität. Abtreibung ist in Dehland eine Straftat, wird aber nicht bestraft – ein weiterer Puzzleteil, der eine durchweg verlogene Debatte kennzeichnet.
Wie heißt es doch bei Kant? Der Mensch ist ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein.
In der Realität der menschlichen Gesellschaft bestimmen in der Regel alte Männer darüber, ob jungen Frauen ihre Würde genommen wird, indem sie als Mittel zum Zweck der Produktion von angeblich mit Würde ausgestattetem menschlichen Leben benutzt werden.
Der Wert des geborenen menschlichen Lebens
Nur wenige, sehr kleine Staaten der Erde unterhalten keine Streitkräfte. Viele von ihnen haben die Landesverteidigung an besser gerüstete Regional- oder Großmächte delegiert. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass in fast allen Ländern Menschen darauf trainiert werden, im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung – eines Krieges, aber auch eines Bürgerkrieges – andere Menschen zu töten – oder von anderen Menschen getötet zu werden.
Natürlich wird der Tod für den eigenen Stamm, das eigene Volk, den eigenen Staat ideologisch überhöht.
‚Dulce et decorum est pro patria mori‘, dichtete Horaz. Was es mit dem Tod auf dem Schlachtfeld in Wahrheit auf sich hat, schildert ein schrecklich gelungenes Gedicht von Wilfred Owen aus dem Jahr 1917:
Dulce et Decorum est
Bent double, like old beggars under sacks, Knock-kneed, coughing like hags, we cursed through sludge, Till on the haunting flares we turned our backs And towards our distant rest began to trudge. Men marched asleep. Many had lost their boots But limped on, blood-shod. All went lame; all blind; Drunk with fatigue; deaf even to the hoots Of disappointed shells that dropped behind.
Gas! GAS! Quick, boys!– An ecstasy of fumbling, Fitting the clumsy helmets just in time; But someone still was yelling out and stumbling And floundering like a man in fire or lime.– Dim, through the misty panes and thick green light As under a green sea, I saw him drowning.
In all my dreams, before my helpless sight, He plunges at me, guttering, choking, drowning.
If in some smothering dreams you too could pace Behind the wagon that we flung him in, And watch the white eyes writhing in his face, His hanging face, like a devil’s sick of sin; If you could hear, at every jolt, the blood Come gargling from the froth-corrupted lungs, Obscene as cancer, bitter as the cud Of vile, incurable sores on innocent tongues,– My friend, you would not tell with such high zest To children ardent for some desperate glory, The old Lie: Dulce et decorum est Pro patria mori.
Wilfred Owen fiel im Alter von 25 Jahren am 4. November 1918, genau eine Woche vor Kriegsende, bei Kämpfen am Canal de la Sambre à l’Oise. Postum wurde ihm das Military Cross für Tapferkeit vor dem Feind verliehen.
Orden, also billiges Blech als Belohnung für Verwundung oder Tod, gehören natürlich auch zum militärischen Spiel.
Stellvertreterkriege
Eine besondere Form des Kriegs sind Stellvertreterkriege. Auch dazu braucht es Kombattanten, die einander aus persönlich wichtigen Motiven bekämpfen, zum Beispiel Mitglieder der Internationalen Brigaden auf der einen und der Falange auf der anderen Seite im Spanischen Bürgerkrieg. Die einen strebten Anarchie/Sozialismus/Kommunismus an, die anderen einen klerikal-faschistischen Staat. Aber hinter den tatsächlich Kämpfenden standen größere Mächte: die Sowjetunion auf der einen und das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland auf der anderen Seite. Die konnten ihre „Landeskinder“ schonen, andere in den Kugelhagel schicken und en passant ihre neu entwickelten Waffen für den nächsten Krieg testen.
Der Spanische Bürgerkrieg von 1936-1939 war der letzte Stellvertreterkrieg auf europäischem Boden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichteten die ehemaligen Alliierten USA und UdSSR auf direkte Konfrontation in einem ‚heißen‘ Krieg und trugen ihren Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären in Asien und Afrika aus. Im Koreakrieg, Vietnamkrieg, Bürgerkrieg in Angola, Afghanistankrieg und im Syrienkrieg starben Menschen mit gelber, brauner und schwarzer Hautfarbe für die Interessen der weißen Machthaber in Washington und Moskau.
Wir erinnern: Der Mensch ist Zweck an sich und darf nie nur Mittel zum Zweck sein.
Auf Menschenrechte und Menschenwürde beruft man sich in Nordamerika und in Europa gern, wenn es darum geht, unmenschliches16 Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem. Handeln und Kriegsverbrechen anzuprangern. Nicht alle Staaten des globalen Südens sind bereit, in den amerikanisch-europäischen Chor der Verurteilung Russlands wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine einzustimmen. Ist das wirklich verwunderlich?
Schlussbemerkungen
Mensch, Leben, Lüge, Krieg und Tod – viel ließe sich dazu noch sagen. Zu Kinderarbeit. Zu Kindersoldaten. Zu Flüchtlingen. Zu Grenzzäunen. Zu Schleppern. Zu Sklaven. Zu…17 Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin
Fußnoten: (Wenn Sie die Fußnote anklicken, erscheint der Text im Extrakasten)
1
Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen
2
384 – 322 v.u.Z.
3
Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis
4
106 – 43 v.u.Z.
5
Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren.
6
1632 – 1694
7
1724 – 1804
8
Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.
9
Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva.
10
Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin
11
Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.
12
§ 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)
13
Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916
14
vulgo: Zirkelschluß
15
Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin
16
Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem.
17
Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin
Bärdel und Kulle lagen entspannt in einer gemütliche Kuhle, nicht weit ab von ihren morgendlichen Spazierrouten, aber versteckt genug, um nicht vom Weg aus gesehen zu werden. Sie waren zufrieden, hatten sie doch heute die Chance, ohne Begleitung unterwegs zu sein – ohne Athabasca und ohne die Eisbärenzwillinge, die sich ihnen häufig anschlossen, und auch ohne andere Bewohner Bärenlebens, die sich nur allzu gerne früh am Tag einfanden, um in den Genuss der Gesellschaft der Beiden zu kommen. Sie ahnten nicht, dass Bärdel und Kulle oft viel lieber allein gewesen wären und den Morgen auf ihre Weise genossen hätten.
Jetzt erholten sich die beiden Männer voneinander und schmeckten ihr Beisammensein nach. Kulle war wie üblich der eiligere von ihnen, er wollte sich gerade aufrichten und davonmachen, als Bärdel ihn festhielt und wie beiläufig fragte:
„Sag mal, hast Du eigentlich schon mal jemanden vergewaltigt?“
Eine so intime Frage war trotz der Intimität zwischen ihnen noch nie gestellt worden. Kulle errötete, was wegen seines Fells nicht sichtbar wurde, wofür er dankbar war. Er sah Bärdel irritiert an, aber der guckte so harmlos zurück, als hätte er sich gerade danach erkundigt, ob Kulle lieber Himbeeren oder Brombeeren verspeiste.
Sollte er empört sein? Ausweichen? Oder den Spieß umdrehen? Das war Kulle zu billig. Er antwortete.
„Ja,“ knurrte er. „Aber nur, wenn sie einverstanden war.“
„Aus Deiner Aussage schließe ich, dass Du keinen Mann vergewaltigt hast, jedenfalls bisher nicht“, stellte Bärdel gemütlich fest. „Und dass Deine Partnerin oder Deine Partnerinnen es schon mal handgreiflich mögen.“
„Kann schon sein. Na und? Warum stellst Du eigentlich so komische Fragen?“ Kulle wurde mehr und mehr ungehalten.
„Es ist Krieg.“
„Es ist immer Krieg gewesen, seit Homo diesen Planeten mit seiner Anwesenheit beglückt. Falls Du da eine Beziehung herstellen willst: Homo hat Homo im Krieg schon immer vergewaltigt. Willst Du darauf hinaus?“
Bärdel nickte. „Eben das verstehe ich nicht. Sexualität ist Sexualität, und Krieg ist Krieg. Was har das eine mit dem anderen zu tun?“
Kulle seufzte. Er hatte gehofft, heute, da er mit Bärdel allein war, würde ihm eine Vorlesung erspart werden. Vergebens.
„Das hat eine Menge miteinander zu tun. Die Situation der Kämpfer in einem Krieg strotzt nicht gerade vor sexuellen Gelegenheiten. Das lässt aber den Sexualtrieb nicht verschwinden.
Ich habe vor kurzem von einem Vorfall in der Antarktis gelesen. Menschliche Wissenschaftler haben beobachtet, dass ein Seebär in eine Pinguinkolonie eingedrungen ist. Er hat sich einen Pinguin geschnappt, ihn festgehalten und brutal vergewaltigt.“
„Sind Seebären etwa mit uns verwandt?“ fragte Bärdel beunruhigt.
„Nein, keine Sorge, sie sind Robben. Aber wir Braunbärenmänner sind auch keine Heiligen, wie Du weißt. Mal fix einer Mutter ihre Jungen wegfressen, damit sie schnell wieder paarungsbereit wird, das ist bei uns nicht allzu selten.
Dieser Kannibalismus ist vom Verhalten des Seebären leider nicht weit entfernt. Der fette Kerl ‚musste‘ vielleicht einen hormonellen Überschuss abbauen oder wollte mit einem Trainingspartner für einen artgerechten Koitus üben. Oder er hat keine Seebärenfrau erobern können.
Nicht nur Säugetiere brauchen Gewalt, wenn ‚sie‘ nicht willig ist. Insekten, Vögel und Fische tun das auch.
Bei uns Säugetieren gibt es signifikante hormonelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Männer sind in der Regel das ganze Jahr über paarungsbereit, während die Frauen einen ausgeprägten Sexualzyklus zeigen. Auch bei Menschenfrauen gibt es diesen Zyklus, Menstruation genannt. Menschenfrauen sind also nur zu bestimmten Zeiten empfängnisbereit, können aber ständig paarungsbereit sein.“
„Gibt es eine Erklärung für diese sexuelle Daueraktivität?“ wollte Bärdel wissen.
„Das weiß man nicht. Zum ersten Mal ist dergleichen außer bei Homo bei Affen in Gefangenschaft beobachtet worden. Langeweile vielleicht? Jedenfalls ein hervorragendes Mittel, um die Überbevölkerung der Erde sicherzustellen.
Wo war ich?“
„Bei signifikanten hormonellen Unterschieden – bist Du damit fertig?“ half Bärdel.
„Noch nicht. Nicht nur das Sexualverhalten, auch das Sozialverhalten ist hormongesteuert. Männer und Frauen haben verschiedene Idealvorstellungen, was die Fortpflanzung betrifft.
Männer wollen möglichst viele Nachkommen zeugen und haben deshalb mit möglichst vielen Partnerinnen Verkehr. Frauen dagegen kümmern sich um ihre Nachkommen, was logischerweise die Zahl ihrer Sexualpartner reduziert. Das hat Konsequenzen: Selbst bei gleicher Anzahl von Männern und Frauen im zeugungsfähigen Alter stehen mehr Männer zur Paarung zu Verfügung, Frauen werden zu einer begrenzten Ressource. Womit ich fast schon wieder bei unserem Seebären angekommen bin: Männer entwickeln unter diesen Bedingungen ein aggressives Paarungsverhalten, das ihnen helfen soll, Partner zu finden.“
„Und,“ sagte Bärdel, „Du bist schon fast wieder im Krieg angekommen. Dort mangelt es an sexuellen Gelegenheiten.“
„Stimmt.“ Kulle nickte. „Aber im Krieg kommt noch anderes dazu.
Krieg wird mit Waffen geführt. Bei Waffen denkt man zuerst an Geräte, mit denen man den Gegner töten oder zumindest kampfunfähig machen kann – von der Keule bis zur Atombombe.
Es gibt aber mehr Mittel, um ein Kriegsziel zu erreichen. Lüge, zum Beispiel. Mit Desinformation kann man versuchen, die eigenen Leute zum Durchhalten zu animieren und den Gegner in die Verzweiflung zu treiben. Das zielt auf die eigene und die gegnerische Moral, geschieht in der Regel über Medien und erreicht nicht jeden.
Wie erreicht man wenn nicht jeden, so doch genug Einzelne, um beim Feind die beabsichtigte Wirkung zu erzielen? Mit Vergewaltigung. Mit erzwungener Unterwerfung. Man dringt in die Menschen ein, in Kinder, Frauen und Männer, in den Mund, in den Anus oder die Scheide, mit einem Körperteil oder einem Objekt. Und das macht man öffentlich. Das heißt, es gibt Menschen, die zusehen. Wichtig sind dabei nicht die Kumpane des Vergewaltigers, die ihrer Freude an der Tortur haben und ungeduldig darauf warten, dass sie selbst zum Zuge kommen. Wichtig sind die Angehörigen des Opfers: der Mann, der den Missbrauch seiner Frau beobachten muss, die Mutter, vor deren Augen ihr Kind vergewaltigt wird. Brauchst Du noch mehr Beispiele? Ich könnte liefern!“
Bärdel schüttelte den Kopf. „Um Tussis Willen, hör bitte auf! Warum tun Menschen Menschen so etwas an?“
„Weil sie im Krieg sind. Und wer im Krieg ist, ist aggressiv. Viele drücken ihre Aggressivität auch sexuell aus. Dass die Opfer Menschen sind, ist ihnen nicht nur egal. Sie wollen ihre Opfer entmenschlichen.“
„Das verstehe ich nicht. Zu welchem Zweck?“
„Welches Selbstwertgefühl bleibt einem Mann, den man brutal tagelang anal vergewaltigt hat? Oder dem man die Hoden abgeschnitten hat? Er denkt: ‚Ich bin kein Mann mehr‘ – und genau das wollen seine Peiniger erreichen. Welches Selbstwertgefühl bleibt einer Frau, die von einem Vergewaltiger schwanger geworden ist oder von ihm ‚nur‘ eine Geschlechtskrankheit bekommen hat? Sie denkt: ‚Ich bin eine schlechte Frau‘.
Wer Individuen so zerstört, will Familien kaputt machen mit dem Ziel, die Moral des Feindes zu brechen.“
„Brrr!“ Bärdel schüttelte sich und stand auf. „Hat das – Erfolg?“
„Mir sind darüber keine Statistiken bekannt. Viele Opfer, vielleicht die meisten, schweigen aus Scham über das, was sie erlitten haben.
Ich lese, dass Russen seit einem Jahr Folter und Vergewaltigung gegenüber Ukrainern anwenden. Das Ziel, die Moral zu brechen, scheinen sie damit nicht zu erreichen.“
„Und andersherum?“
„Weiß ich nicht. Ich bin auf pro-ukrainische Quellen angewiesen. Auch die sogenannten Guten arbeiten mit Desinformation.“
„Bitte entschuldige,“ sagte Bärdel. „Ich habe unseren schönen Morgenspaziergang zu zweit gründlich verdorben. Dabei wollte ich eigentlich nur wissen, ob Du selbst es vielleicht nicht ab und zu auch mal etwas ruppiger magst?“
„Durchaus,“ antwortete Kulle. „Und wenn Du Fragen, die Du direkt beantwortet haben möchtest, künftig direkt stellst, ersparst Du uns vielleicht Umwege durch menschliche Abgründe, die wir eigentlich gar nicht ausloten möchten. So, und jetzt an die Arbeit. Ich will in die Bibliothek.“
Sprachs, stand auf, drückte Bärdel einen Kuss auf den Mund und fragte: „Gehen wir?“
Jede Art hat ihre Eigenart. Jede Art ist stolz auf sich. Aber nicht jede Art ist stolz auf jede Eigenart.
Homo sapiens sapiens zum Beispiel unternimmt alles, um zu verbergen, dass Krieg zu seiner Natur gehört. Er versteckt diese destruktive Anlage nicht nur vor seinen Artgenossen, sondern auch vor sich selbst. Das gelingt mitunter sogar, obwohl der Mensch einen großen, wenn nicht den größten Teil seiner Intelligenz und seiner Gefühle auf die Beschäftigung mit kriegerischem Verhalten verwendet.
„Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, entschuldige bitte! Wir wollten Dich nicht stören, Du bist doch immer so beschäftigt. Eigentlich haben wir eine Frage an Onkel Kulle, aber der ist so merkwürdig und hat uns gar nicht beachtet…“
Nuk und NaBärdel und KulleKulle pompös
Dass Kulle die Eisbärenzwillinge nicht beachtete, war in der Tat merkwürdig. Schließlich waren die beiden seine Lieblinge, er hatte sie zusammen mit Athabasca erzogen und war stolz auf sie. Bärdel konnte sich nicht erinnern, dass Kulle sie auch nur einmal ignoriert hatte.
„Was ist denn so Ungewöhnliches an Kulle?“ wollte er wissen.
„Er ist durch die große Dorfhöhle gerannt und hat in allen Ecke nach seiner roten Fahne gesucht. Um die hat er sich schon lange nicht mehr gekümmert, aber jetzt wollte er sie unbedingt haben. Schließlich hat er sie in irgend einem dunklen Spalt gefunden. Sie war voller Spinnweben und Löcher, und die Farbe war auch völlig ausgeblichen.
Erst hat er versucht, sie sauber zu machen und zu reparieren. Aber dann hat der alle seine Krallen ausgefahren und sie so energisch zerfetzt, dass nur noch winzige Stoffstücke übrig sind.“
„Das ist alles richtig, was Na sagt, aber da fehlt noch einiges“, warf Nuk ein. „Onkel Kulle hat die ganze Zeit lang Selbstgespräche geführt. Wir haben davon nicht viel verstanden, jedenfalls nicht alles. Es ging um selbst verschuldete Aufklärung und um Krieg und ewigen Frieden. Um einen Levi-Nathan – oder so ähnlich. Um die Vereinten Nationen. Um Mittel, die den Zweck heiligen. Oder vielleicht auch andersrum. Und um Dummheit. Immer wieder um Dummheit.“
„Onkel Bärdel, wir machen uns Sorgen um Onkel Kulle!“ sagten beide im Chor.
Bärdel seufzte. „Das kann ich gut verstehen“, meinte er. „Ich verstehe, glaube ich, auch, warum Kulle so komisch ist. Er macht sich nämlich auch Sorgen.“
Nanuk machten große Augen. „Worüber denn, Onkel Bärdel?“
„Dass in der Ukraine seit mehr als drei Monaten Krieg ist, das habt Ihr schon mitbekommen, oder?“
„Klar, Onkel Bärdel!“ Na war wie so oft schneller mit der Antwort als ihre Schwester. „Russland hat die Ukraine angegriffen, weil das Land von Faschisten regiert wird, und eigentlich sollte das Land zu Russland gehören. Jedenfalls sagt das Putin.“
„Wir wissen, dass Krieg etwas Schreckliches ist.“ Nuk machte ihre Position klar. „Kriege sollten verboten werden. Werden sie aber nicht. Es gibt doch immer und in vielen Ländern Krieg. Was ist so schlimm an diesem Ukraine-Krieg, dass Onkel Kulle sich Sorgen macht?“
„Es ist nicht richtig, dass Kriege nicht verboten sind. Fast alle Staaten dieser Welt sind Mitglied der Vereinten Nationen, und zu deren Grundsätzen gehört ein allgemeines Gewaltverbot. Das verbietet den Mitgliedsstaaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Bärdel war froh, dass er nicht bei allen politischen Vorträgen, die Kulle hielt, geschlafen hatte.
„Wenn das so ist, Onkel Bärdel, dann dürfte es doch keine Kriege geben. Es gibt sie aber, wie Nuk richtig sagt!“ Na war sehr empört.
„Nicht jeder hält sich immer und überall an Regeln. Das tun nur die Guten.“
„Und wer sind die Guten, Onkel Bärdel?“
„Demokratisch regierte Staaten ganz bestimmt. Wie Dehland. Oder unser Nachbar Frankreich. Oder die USA.“
Na und Nuk tauschten einen kurzen Blick. Athabasca hatte ihnen immer wieder eingeprägt, dass Bären höflich zu bleiben hatten, auch bei Meinungsverschiedenheiten oder in einem Streit um Fakten. Das galt insbesondere für jüngere gegenüber älteren.
Sie hätten sich natürlich bei Bärdel bedanken und ihrer Wege gehen können. Aber auch Ehrlichkeit gehörte zu Attis Erziehungsprinzipien.
Nuk trat ihrer jüngeren Schwester auf eine Vorderpfote, um ihr klarzumachen, dass sie besser ihr für eine Weile das Wort überließ. Sie kannte Nas überschäumendes Temperament nur zu gut.
„In Bezug auf Dehland hast Du wohl recht, Onkel Bärdel. Die dehländische Rüstungsindustrie hat nur mit Erlaubnis der Regierung Waffen ins Ausland geliefert, mit denen dann Nicht-Dehländer getötet haben und getötet wurden.“
Bärdel schluckte, aber er sagte nichts. Also fuhr Nuk fort.
„Bei den USA liegt der Fall aber anders, denke ich. In Ländern, die sie verächtlich als ihren ‚Hinterhof‘ bezeichnen, haben sie oft gewaltsame Aktionen durchgeführt, obwohl sie Gründungsmitglied der Vereinten Nationen sind. Kuba, die Dominikanische Republik, El Salvador, Nicaragua, Grenada, Panama und Kolumbien – das sind die, die mir gerade einfallen. Ach ja, und Chile natürlich.“
Nuk holte tief Luft.
„Auch in anderen Teilen der Welt haben die USA ihre Interessen verteidigt, wie sie das nennen. Im Vietnamkrieg haben sie ein Kriegsverbrechen an das nächste gereiht, das bestreitet heute niemand mehr, noch nicht einmal die Amerikaner selbst. Sie wollten den Kommunismus zurückdrängen. Und um für den dritten Irakkrieg die Unterstützung des UN-Sicherheitsrates zu gewinnen, haben sie ihren Außenminister nach New York geschickt, der das Gremium schamlos belogen hat. Nein, falsch, hinterher hat er sich öffentlich geschämt, aber erst mal hat er gelogen, gelogen für das angeblich amerikanische Öl.“
Jetzt hatte sich auch Nuk gegen ihren Willen in Rage geredet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Bärdel war unter seinem Gesichtspelz ganz blass geworden.
„Onkel Bärdel“, fragte sie zaghaft. „Bist Du mir jetzt böse?“
Bärdel schüttelte den Kopf. „Nein, böse bin ich nicht. Aber erschüttert. Eigentlich weiß ich vieles, was Du genannt hast, aber so geballt…“ Mit ein wenig Hoffnung in der Stimme fragte er: „Kommt denn wenigstens Frankreich besser weg?“
„Ein bisschen. Frankreich schickt Soldaten in ehemalige Kolonien in Afrika, aber es nutzt auch andere Mittel als militärische. Französische Konzerne wie Total und Orange dominieren wichtige Wirtschaftszweige. Mit 15 afrikanischen Staaten hat Frankreich Währungsverbünde, die Reserven liegen bei der französischen Zentralbank. Frankreich kann also jederzeit den Geldhahn zudrehen.
Der wichtigste Grund für die Aktivitäten in Afrika, denke ich, ist Frankreichs Energiepolitik. 56 Atommeiler müssen gefüttert werden, und ein großer Teil des Urans dafür kommt aus Niger und anderen Subsaharastaaten.“
„Also schlimmer kann es ja kaum noch kommen,“ seufzte Bärdel.
Jetzt löste Na ihre Schwester ab. „Es tut uns leid, Onkel Bärdel, aber es kann noch viel schlimmer kommen. Vergiss nicht: Bisher haben wir von den Guten gesprochen.“
„Also kommt jetzt der russische Krieg gegen die Ukraine dran?“
Die Eisbärenkinder schüttelten in perfekter Choreographie die Köpfe, und Na redete weiter. „Russland kommt dran, richtig, aber dieser Krieg muss noch ein bisschen warten.
Ist Dir nicht aufgefallen, dass die früheren Kriege, die Russland geführt hat, kaum jemanden interessiert haben? Zum Beispiel der mit Georgien im Kaukasus vor 14 Jahren? Die Annexion der Krim vor acht Jahren? Der Krieg in Syrien seit 2015, um Assad zu unterstützen, der seine eigene Bevölkerung massakriert?
Ist Dir nicht aufgefallen, dass die politische Opposition in Russland gnadenlos verfolgt wird, ganz offen? Die Menschen wurden und werden eingesperrt, erschlagen, erschossen, verbannt, vergiftet oder verhöhnt, wie es dem Diktator gerade passt.
Ist niemand wirklich beunruhigt darüber, dass russische Troll-Armeen Wahlkämpfe in Demokratien beeinflusst haben, dass sie die öffentliche Meinung majorisieren wollen? Dass Russland Nazis in Europa und Amerika unterstützt?
Ist es nicht so gravierend, dass die Gruppe Wagner nicht nur Kriegsverbrechen begeht, sondern auch das russische System ökonomisch stützt, indem sie zum Beispiel im Sudan Gold fördert?“
Na holte tief Luft.
„Nimm es Dir nicht zu Herzen, Onkel Bärdel. Anscheinend ist dass alles niemandem aufgefallen. Dehland hat gute Geschäfte mit Russland gemacht. Russland hat Dehland Öl und Gas geliefert, und VW hat in Russland Autos gebaut und verkauft.
Erst der Krieg vor der eigenen Tür, an der Grenze zur NATO, hat Entsetzen ausgelöst. Dass Putin so böse sein kann, damit hat man nicht gerechnet. Und schon spricht der dehländische Kanzler von einer Zeitenwende.“
„Ist es denn nicht auch eine? Eine Zeitenwende?“
„Ja und nein, Onkel Bärdel. Die Zeiten, in denen skrupellose Machthaber in imperialistischer Manier sich genommen haben, was sie wollten, sind leider nie zu Ende gegangen. Das sollten unsere Beispiele gezeigt haben.“
Nanuk nickten synchron und sagten im Chor:
„Es ist Zeit für viele Fragen, die lange Zeit nicht ernsthaft gestellt wurden.“
Na: „Ist die Globalisierung am Ende?“
Nuk: „Sind die Vereinten Nationen gescheitert? Kann es einen Neustart geben?“
Na: „Wie kann eine neue europäische Politik aussehen?“
„Wir finden, dass der dehländische Kanzler die Zeitenwende völlig falsch interpretiert. Die Welt braucht nicht mehr Rüstung und mehr Waffen. Man muss nur an eine Highschool in den USA gehen, um zu sehen, was mehr Waffen anrichten!“
Das waren wieder die Zwillinge gemeinsam.
Bärdel war sprachlos. Nanuk wussten so viel, wovon er keine Ahnung hatte – und eigentlich auch nicht haben wollte. Wie sollte er seinen bärischen Seelenfrieden bewahren, wenn er sich dauernd um den Zustand der Welt sorgen musste?
Es schien, als könnten die jungen Eisbärinnen seine Gedanken lesen.
„Onkel Bärdel, das alles muss Dich auch interessieren! Es geht um unsere Zukunft! Guck mal, wir haben auch schon ein Plakat gemalt!“
Na hielt ein großes Blatt Zeichenkarton hoch, auf dem stand: POLAR BEARS FOR FUTURE.
Plötzlich stapfte Kulle heran, warf einen Blick auf das Poster und nickte anerkennend. Zu Bärdel sagte er: „Du musst umgehend eine Versammlung einberufen. Wir müssen reden.“
„Du machst Dir also auch Sorgen wegen des Ukrainekrieges?“
Kulle sah ihn an, als sei Bärdel nicht sein bester Freund, sondern ein Alien aus einer fremden Galaxie.
„Quatsch!“ fauchte er. „Heiße ich etwa Olaf Scholz oder Annalena Baerbock? Bin ich etwa ein ignoranter Mensch? Kann ich die Zeichen an der Wand nicht lesen? Es war doch klar, dass Putin über kurz oder lang zum Mittel des Krieges greifen würde.“
Na und Nuk schauten einander an und lächelten verschwörerisch. Sie hatten es doch gewusst! Sie waren genauso schlau wie Onkel Kulle.
„Worüber müssen wir dann reden, wenn nicht über den Krieg?“ fragte Bärdel verunsichert.
„Das können Dir Na und Nuk sicher sagen. Sie haben ja schon ein entsprechendes Plakat gemalt,“ bemerkte Kulle.
Es war den Zwillingen gar nicht recht, dass sie durch diese Äußerung in den Mittelpunkt gestellt wurden. Sie waren auf eine Antwort nicht vorbereitet. Die vorsichtige Nuk hielt lieber den Mund, während ihre Schwester ein paar Sätze murmelte, in denen wiederholt das Wort ‚Zukunft‘ vorkam.
Kulle erbarmte sich. „Natürlich geht es um Zukunft. Und was ist wichtig für unser aller Zukunft und am allerwichtigsten für Eisbären? Na? Der Klimawandel selbstverständlich. Und worum kümmern sich die Menschen gegenwärtig gar nicht, weil sie mit einem lokalen Krieg beschäftigt sind? Richtig: um den Klimawandel. Und worum werden sie sich wieder nicht kümmern, wenn sie mit dem nächsten angeblich völlig überraschenden Krieg konfrontiert werden?“
„Natürlich um den Klimawandel, Onkel Kulle.“ Na und Nuk waren heilfroh, dass Kulle ihnen die richtige Antwort in den Mund gelegt hatte.
Kulle nickte. „Bleibt nur noch zu klären, aus welcher Ecke dieser Krieg kommen könnte.“ Er sah die Zwillinge erwartungsvoll an, aber die wichen seinem Blick aus.
Bärdel verspürte Mitleid mit den Beiden. Er wollte helfen, aber wie? Am besten mit einer Antwort, die Kulle von ihnen ablenken würde. Mit einer falschen Antwort natürlich, aber das spielte keine Rolle. Er erinnerte sich an wiederholte Klagen von Manfred über Spy-software – was immer das auch sein mochte. Bärdel holte tief Luft.
„Aus China,“ sagte er gepresst.
Kulles Augenbrauen wanderten voller Anerkennung nach oben. „Donnerwetter, das hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Natürlich hast Du recht. Die chinesische Regierung in Gestalt der Führungsclique der sogenannten Kommunistischen Partei hat konsequent und erfolgreich einen digital-totalitären Überwachungsstaat aufgebaut. Damit wurde die Demokratiebewegung in Hongkong zerschlagen, damit wurden die Menschen in der Volksrepublik zu ohnmächtigen Lockdown-Objekten. Die Internierungskampagne gegen die Uiguren in Xinjiang ist da vielleicht der Probelauf, das Tüpfelchen auf dem ‚i’.
Mit diesem Land unter totaler Kontrolle der Partei enthält der Westen wesentlich mehr und wesentlich wichtigere Wirtschaftsbeziehungen als mit Russland. Bei China geht es nicht um fossile Energien, die sowieso bald ersetzt werden sollen. Es geht zum Beispiel um Graphit, Kobalt, Platin, Iridium, Lithium, Titan und Tantal. Die braucht der Westen für die Energiewende, und die kauft er bisher hauptsächlich in China ein. Und deshalb brauchen wir möglichst schnell eine Versammlung.“
„Aha,“ sagte Bärdel ratlos. Er verstand die Zusammenhänge nicht.
„Wir brauchen eine Versammlung, um zu diskutieren, wie sich der Westen rechtzeitig aus der Abhängigkeit von China befreien kann. Wie wir die Menschen im Westen davon überzeugen können, dass blindes Kooperieren mit totalitären Staaten nicht nur gegen demokratische Prinzipien, sondern auch gegen rationale Interessen verstößt. Damit sie vorbereitet sind, wenn China Taiwan überfällt.“
„Aber wie sollen wir das schaffen? Und warum eigentlich?“
„Wie – das weiß ich auch noch nicht. Deshalb ja die Versammlung. Und warum? Das ist doch klar.“ Kulle zeigte auf Nanuk und ihr Plakat.
„Tante Atti, Onkel Kulle! Wir verstehen da was nicht!“
Athabasca und Kulle waren stolz darauf, die Eisbärenzwillinge erzogen und gebildet zu haben. Die Kinder waren groß geworden und hatten gelernt, Wissenslücken auch ohne die Hilfe ihrer Lehrer zu füllen. Aber die Alten genossen es, wenn Na und Nuk zu ihnen zurückkamen.
Bemerkungen zu einem nicht nur historischen Phänomen
PD Dr. Kulle
Heilige Kriege
Gab es in der Geschichte der Hominiden Kriege, die nicht als ‚heilig‘ bezeichnet worden sind? Wir wissen es nicht. Da Gehorsam Homo nicht sui generis eingeboren ist, empfahl es sich vermutlich von jeher, seine erwünschte Subordination unter Befehle auch sinnloser Natur mit dem Auftrag einer höheren Macht zu rechtfertigen.
In frühen Zivilisationen mit städtischen Zentren war diese ideologische Überhöhung gewiss die Norm, waren doch politische und religiöse Macht eng miteinander verwoben oder gar identisch. Man denke nur an die Gesetzgebung Hammurabis1
Explizit führte man Heilige Kriege im antiken Griechenland zum Schutz des Apollonheiligtums in Delphi gegen räuberische Nachbarn. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass neben dem Heiligtum Schatzhäuser errichtet worden waren, in denen zahlreiche kostbare Weihgeschenke aufbewahrt wurden. Schon hier zeigt sich: Kein Heiliger Krieg ohne ökonomisches Interesse.
MAGAZIN: Hallo, Kulle. Wir haben Sie in den letzten Jahren diverse Male für ein Interview zu gewinnen versucht, und immer haben Sie abgelehnt. Jetzt haben Sie zugesagt. Warum?
Die Bärenlebener hatten lange beraten, ob sie sich gegen das Corona-Virus impfen lassen wollten. Ihre Kontakte mit Menschen waren auf das geringstmögliche Maß reduziert, lagen aber nicht bei Null. Da gab es die regelmäßigen Nahrungsmittellieferungen durch den Rungis-Express und die Einkäufe für die Dorfbibliothek und ihre anspruchsvolle Technik. Nicht alles davon ließ sich online erledigen, manchmal zog Manfred es vor, im Apple-Store vorbeizuschauen. Auch war nicht klar, ob man Umgang mit Menschen brauchte, um sich Covid einzufangen. Wenn Gorillas und Katzen daran erkranken konnten, warum nicht auch andere Tiere?
Heute Abend in der Höhle wollten sie darüber abstimmen, und alle waren der Meinung, es handele sich lediglich um eine Formalität.
Alle, bis auf einen.
Bärdel und Kulle
Kulle zeigt Identität
Bärdel leitete wie üblich die Versammlung, denn einer musste sie ja leiten, obwohl es in Bärenleben keine Hierarchie gab.
„Wird eine Aussprache gewünscht?“
Niemand wünschte eine Aussprache.
„Dann können wir also abstimmen. Wer ist dafür, dass sich alle Bärenlebener so bald wie möglich gegen Covid 19 impfen lassen?“
Alle wollten die Sache schnell hinter sich bringen und hoben flugs eine Extremität, damit man danach zum gemütlichen Teil des Abends übergehen konnte.
Kulle aber unterbrach den Vorgang: „Halt! So geht das nicht!“
„Das haben wir aber immer so gemacht,“ wandte Ramses irritiert ein.
„Das ist kein zureichender Grund!“ wies Kulle ihn scharf zurecht.
„Stimmt,“ gab Ramses klelnlaut zu. „Aber was ist denn falsch am bisherigen Verfahren?“
Kulle stand auf und stellte sich selbstsicher auf seine kurzen Beine. Er konnte eines aufmerksamen Publikums gewiss sein.
„Ich sehe mich in der Bärenlebener Vollversammlung um. Ich sehe Braunbären und Eisbären, alte und junge, Heterosexuelle, LGTBQs. Ich sehe ein Schwein, einen Frosch und eine Eule.
Ich bin ein männlicher heterosexueller Braunbär und kann mich in männliche heterosexuelle Braunbären einfühlen. Meine Empathie versagt schon gegenüber Eisbären. Vielleicht empfindet Oyci, die 30 Kilometer weit riechen kann, den temporären Verlust ihres Geruchssinns als Folge einer Covid-Infektion durchaus als entlastend? Vielleicht empfindet Piggy, wenn sie an Covid erkrankt, ein sehr angenehmes Gefühl in ihrem Ringelschwänzchen und will deshalb sicher nicht geimpft werden? Vielleicht kann Minerva besser fliegen, wenn…“
„Mich lässt du mal gefälligst aus dem Spiel!“ Die Eule hatte ein ausgeglichenes Gemüt, aber jetzt war sie sichtlich verärgert. „Ich weiß nicht, Kulle, womit du denkst. Deinen Aussagen nach mit deiner biologischen Veranlagung. Ich dagegen empfehle den Kopf. Nicht nur deshalb, weil der Sage nach meine hellenische Namensschwester dem Kopf ihres Vaters Zeus entsprungen ist, sondern weil der Schädel der Sitz des Verstandes ist und, wenn man sich seines Verstandes zu bedienen versteht, der Sitz der Vernunft.
Die Bärenlebener haben bisher immer vernünftig abgestimmt, das solltest du besser wissen als ich, denn du lebst wesentlich länger hier. Nach dem Abwägen aller Vor- und Nachteile für die Gemeinschaft und jeden Einzelnen haben sich die Dorfmitglieder für oder gegen eine Maßnahme ausgesprochen, und zwar einstimmig, nach dem Rousseauschen Prinzip des Allgemeinwillens. Nach Rousseau darf der gesellschaftliche Wille kein anderer sein als der des natürlich freien Individuums; es muss eine Identität von Einzelwillen und Gemeinwillen bestehen. Mich wundert, dass du das vergessen hast.
Als Vogel bin ich weiter in der Welt herumgekommen als du auf deinen unbeholfenen Beinen. Ich habe Rousseaus Grabmal im Pantheon in Paris besucht. Weißt du, was da in Stein gemeißelt aus der Tür kommt? Eine Hand mit einer Fackel, und beides symbolisiert Rousseau, der der Welt die Fackel der Vernunft bringt. Dass die Menschen damit nicht umzugehen verstanden haben, kann man ihm nicht vorwerfen. Aber ich werfe dir vor, dass du hier einen biologistisch- identitären Rassismus propagierst, der einfach nur widerlich ist.“
Kulle hatte Mühe, die Contenance zu wahren, ließ sich das aber möglichst wenig anmerken. „Ist noch jemand Minervas Meinung?“ fragte er streng.
Kulles Stellung im Dorf war unangefochten. Alle achteten ihn als belesenen Wissenschaftler, der zwar manchmal verschroben war, dessen Aussagen aber auf soliden Kenntnissen beruhten. Es gehörte Mut dazu, ihm vor aller Augen und Ohren zu widersprechen.
Lange herrschte Schweigen. Niemand bewegte sich. Kulle bekam ein flaues Gefühl im Magen. Hatte er den Bogen überspannt?
Schließlich bahnten sich zwei weiße Pelzknäuel den Weg durch die Versammlung. Na zog ihre widerstrebende Zwillingsschwester Nuk hinter sich her und richtete sich vor Kulle auf. Sie war nur halb so groß wie er.
„Wir denken, Onkel Kulle,“ sagte sie laut und mit fester Stimme, „dass Tante Minerva recht hat. Wir glauben, du willst uns auf den Arm nehmen. Wir haben nämlich gelesen, dass es unter vielen Menschen, die sich selbst für kritisch und fortschrittlich und korrekt halten, jetzt Mode ist, so komisch zu sein, wie du es uns vorgemacht hast. Aber du meinst das bestimmt nicht ernst.“
Kulle war fast zu Tränen gerührt und nahm die Eisbärenkinder nicht auf den Arm, sondern in den Arm.
Minerva
Nuk und Na
Die Versammlung erwachte aus ihrer Erstarrung und atmete erleichtert auf.
Bärdel leitete zum zweiten Mal eine Abstimmung ein, diesmal erfolgreich mit einstimmigem Ergebnis: Alle würden sich impfen lassen.
Gesprächsstoff für den Rest des Abends gab es genug. Manch Bärenlebener ging dabei selbstkritisch in sich: Wie leicht war es doch, sich an der Nase herumführen zu lassen!
Sehr geehrte Damen, Herren und Diverse Politiker in Deutschland,
Ich bin als gelehrter Bär nicht von geringem Verstand, wohl aber von geringem Verständnis für menschliches Verhalten.
Die Demokratie, so sagt man, ist die Politik mehr oder minder direkt gewählter Vertreter für das Volk, und da der große Lümmel, wie Heinrich Heine ihn nennt, nur alle paar Jahre zu den Urnen gerufen wird, zwischendurch aber regiert werden muss, ist es dringend erforderlich, sich ihm gegenüber ins rechte Licht zu setzen, damit er
a) sich nicht gegen Gesetze empört und
b) von den Gesetzen so überzeugt ist, dass er die bisherigen Gesetzgeber bei der Wahl gleich wieder legitimiert.
Folglich gibt sich die Exekutive, die sich die Legislative untertan zu machen versucht, obwohl das nicht dem Sinn der Konstruktion der Gewaltenteilung entspricht, aber das nur am Rande, gibt sich also die Exekutive den Anschein, stets richtige Entscheidungen zu fällen, die auf objektiv richtigen Informationen beruhen. Trotz einer immer energischer in Entscheidungsprozesse eingreifenden Lobbyismusindustrie gelingt das unter „normalen“ Gegebenheiten halbwegs. Von Fiskal- und Föderalismuspolitik versteht der Normalmensch meist wenig, von internationalen Beziehungen ganz zu schweigen. Der Normalmensch äußert seine Unmut in der Regel nur dann, wenn der Unterricht an den Schulen seiner Kinder nicht ordentlich erteilt wird oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Windräder installiert werden sollen – für Umweltschutz ist er aber schon.
Seit einem Jahr jedoch kann von „normalen“ Gegebenheiten keine Rede mehr sein. „Die Welt ist aus den Fugen“ hat Kanzlerin Merkel schon 2016 gesagt, und da wusste sie noch gar nichts von Corona. Ein vorschnelles Zitat, gibt sich die Bundesregierung doch inzwischen den Anschein, alles unter Kontrolle zu haben.
Der Reihe nach.
Die Welt sieht sich seit mehr als zwölf Monaten mit dem Virus SARS-COV2 konfrontiert, von dem einiges klar ist:
Es wird von Mensch zu Mensch übertragen, hauptsächlich durch Aerosole.
Es gibt schwere und leichte Krankheitsverläufe, es kann tödlich sein. Besonders gefährdet sind alte Menschen.
Es befällt hauptsächlich die Lunge, aber auch andere Organe.
Es haben sich Mutationen entwickelt, die ansteckender sind als das ursprüngliche Virus.
In erstaunlich kurzer Zeit sind Impfstoffe gegen das Virus entwickelt worden.
Viel mehr ist aber nicht klar:
Woher stammt das Virus? Diese Frage ist allerdings eher akademischer Natur, weil sie bei der Pandemiebekämpfung nicht hilft.
Welche Maßnahmen sind geeignet, die Verbreitung des Virus einzudämmen? Hilft ein Lockdown? Und wenn ja, in welchen Bereichen?
Welche Langzeitfolgen verursacht es?
Wie wirken die Impfstoffe langfristig? Gibt es Nebenwirkungen, die vielleicht noch nicht absehbar sind? In welchen Intervallen werden Nachimpfungen notwendig sein?
Gibt es bereits ein Medikament, das Heilung oder die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe verspricht? Wird daran gearbeitet?
Das sind die medizinischen Fragen, und diese Fragen sind vordringlich. Die Politik bleibt Antworten darauf schuldig, auch die Medizin schweigt bisher.
Stattdessen arbeitet man sich an Fragen ab, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand beantworten kann, und behauptet dennoch, die Antworten zu kennen:
„Ich verspreche, dass bis zum Ende des Sommers allen Menschen in Deutschland, die sich impfen lassen wollen, ein Impfangebot gemacht worden ist.“
Kanzlerin Angela Merkel
„Der Lockdown wird verlängert werden müssen.“
Karl Lauterbach
„Mitte Februar werden wir viel mehr Impfstoff haben.“
„Wir werden nach dem Winter zu einem normalen Leben zurückkehren.“
Alle
„Wir haben noch acht bis zehn harte Wochen vor uns.“
Minister Spahn
„Wir werden die Vulnerablen schützen.“
Alle
Sie mögen aus meinen Ausführungen herausgehört haben, dass ich Ihre Art, das Land zu regieren, prinzipiell nicht für das non plus ultra halte. In der gegenwärtigen Situation ist Ihr Verhalten letal. Letal für manchen Alten, den Corona erwischt hat und den Ihre Bürokratie und Ihr Gesundheitswesen nicht haben schützen können, letal aber auch für Sie. Sie alle, ob Sie nun im Bundeskanzleramt, in einer Landesregierung, in einem Landratsamt oder in einem ländlichen Bürgermeisterbüro sitzen.
HÖREN SIE AUF, SO ZU TUN, ALS HÄTTEN SIE EINE LÖSUNG!
Sie haben keine!
SAGEN SIE, DASS SIE NOCH KEINE HABEN!
Nur so machen Sie sich glaubwürdig.
Jetzt wollen Sie vermutlich wissen, warum ich Ihnen diese Ratschläge gebe, obwohl ich doch mit Ihnen und Ihrem Tun nicht einverstanden bin.
Wir Bären sind schon immer Opportunisten und vetraut mit dem kleineren Übel: Wenn es keine großen Lachse gibt, fressen wir eben kleinere. Wir Bären, die wir hier in Dehland leben, ziehen die Demokratie der großen völkischen Lüge vor. Haben Sie die neueste Umfrage in Bezug auf die französische „Sonntagsfrage“ zur Kenntnis genommen? Wenn am nächsten Sonntag Präsidentenwahl wäre, bekäme Marine LePen 48% der Stimmen und Macron 52%. Welch ein Graus!
So dumm, wie Sie glauben, ist der „große Lümmel“ gar nicht. Sagen Sie ihm die Wahrheit. Sagen Sie ihm, dass Sie (noch) keine Lösung haben.
„Onkel Kulle, Onkel Kulle, wir müssen Dir was sagen!“
Kulle
Nuk und Na
Die Protagonisten
„Was denn?“ Kulle unterbrach seine Rousseau-Lektüre für die Eisbärenzwilinge gern.
„Wir haben Tante Atti gesehen. Nein, wir haben ihr nicht nachspioniert. Und Du darfst ihr auch nicht erzählen, was wir beobachtet haben.“ Nuk war erkennbar durcheinander.
„Und was war das?“ fragte Kulle amüsiert. Die Geschwister steckten mitten in der Pubertät. Wahrscheinlich hatten sie eine ihnen noch unbekannte sexuelle Handlung bemerkt und hielten sie für sensationell.
Athabaska
„Tante Atti hat Früchte gesammelt. Schneebeeren, Hagebutten und diese blauen – wie heißen die gleich?“
„Meinst Du Wacholderbeeren?“ schlug Kulle vor.
„Genau, Wacholderbeeren.“ Na und Nuk nickten gleichzeitig. „Und dann hat sie angefangen, damit Muster zu legen,“ erklärte Na. „Ein Muster in einem Rechteck. Die Wacholderbeeren waren alle oben links und darin verteilt ein paar Schneebeeren. Auf dem größten Teil der Fläche hat sie Schnebeeren und Hagebutten in waagerechten Streifen angeordnet. Es sah ganz hübsch aus, und irgendwie kam es uns bekannt vor. Wir wollten gerade fragen, was sie da macht, als sie anfing, darauf herumzuspringen und das Muster zu zerstören. Sie war dabei so wütend, dass wir Angst bekommen haben und weggelaufen sind. Onkel Kulle, was ist bloß mit Tante Atti los?“
Kulle hatte eine Vermutung, was Athabasca bewegte, aber er wollte den Eisbärenkindern nicht sofort antworten, sondern sich erst Gewissheit verschaffen. „Vielleicht hat sie eine neue Trendsportart ausprobiert?“ sagte er leichthin. „Da gibt es ja die verrücktesten Sachen. Ihr müsst Euch nicht beunruhigen. Ich werde mit Tante Atti reden.“
Nachdem Nanuk sich in Richtung eines nahegelegenen Baggersees getrollt hatten, machte Kulle sich auf die Suche. Er fand Athabasca schnell, denn er kannte das Versteck unter dichten Brombeerbüschen, in das sie sich verkroch, wenn sie allein sein wollte. Oft kam das nicht vor – es musste schon einen triftigen Grund dafür geben.
Er scharrte bescheiden vor dem Eingangsloch, er scharrte lange, denn Athabasca fauchte drohend und anhaltend, bevor sie nachgab. Kulle schob sich durch den engen Einlass und nahm seine Freundin in die Arme.
„Na?“ sagte er. „Ende des amerikanischen Traums?“
„Eigentlich ist der ja schon lange ausgeträumt. Und außerdem bin ich aus Kanada. Aber trotzdem…“ Sie zog geräuschvoll den Rotz in ihrer Nase hoch und räusperte sich.
„Weißt Du,“ fuhr sie fort, „es ist ja nicht nur Trump. Es hat viel früher angefangen. In den USA und überall. Chavez und Maduro in Venezuela, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland…“ (Kulles Bemerkung: „Nanuk nennen ihn übrigens nur „La Putain“, haben sie das von Dir?“)…entlockte ihr immerhin ein kleines Lächeln und ein Nicken. „Bolsonaro, Duterte, Orban, Kakzynski – die Demokratie ist überall auf dem Rückzug. Ich weiß nicht, warum das so ist, und ich will darüber jetzt auch nicht reden. Ein andermal vielleicht.“
Atti hatte Kulle den Wind aus den Segeln genommen, denn natürlich hatte er versuchen wollen, sie mit einer Diskussion über die möglichen Gründe veränderter politischer Präferenzen von ihrem Kummer abzulenken. Deshalb versuchte er es anders.
„Meiner Meinung nach ist die Demokratie nicht die optimale politische Ordnung.“
Das war die falsche Strategie, wie sich gleich zeigte.
„Ach nein? Dein Rousseau soll es richten? Die Volonté générale, die Einsicht in die Vernunft, funktioniert Deiner Meinung nach ohne Zwang? Darf ich Dich daran erinnern, dass der „Contract social“ zu Robbespierres Lieblingslektüre gehörte, während er sich dazu entschloss, die Guillotine die Säuberungsarbeit verrichten zu lassen?
Oder Dein Marx? Aus dessen ‚Reich der Freiheit‘ krochen Lenin, Stalin und Mao, und aktuell rühmt sich Xi Jinping dieser Ahnenreihe.“
Kulle nickte. Er gab ungern zu, dass seine Lieblingstheorien in der Praxis zu furchtbaren Verhältnissen beigetragen hatten, aber es blieb ihm nichts anderes übrig.
„Wollen wir den Kindern sagen, was Dir zu schaffen macht?“ fragte er.
„Den Kindern? Wir sollten uns allmählich daran gewöhnen, dass wir es mit jungen Frauen zu tun haben. Mir fällt das auch schwer. Es ihnen sagen? Nein. Sie sind intelligent, sie werden von selbst darauf kommen. Einstweilen sollen sie sich mit Deiner genialen Erklärung zufriedengeben. Eine neue Trendsportart – das muss einem erst mal einfallen. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis sie Dich entlarven.“
Kulle ließ den Kopf hängen und erreichte, was er damit beabsichtigte. Athabasca knuffte ihn zärtlich und sagte: „Schluss jetzt damit. Komm, lass uns kuscheln.“
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen…Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“
Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort). in: MEW Bd. 13, S. 8f, Berlin 197
Der häufige Rekurs auf dieses Zitat könnte als peinlich gelten, beinhalteten die oben bereits in anderen Untersuchungen angeführten Sätze nicht so mannigfaltige Denkanstöße. Aktuell ist uns der Siegeszug von Sars-CoV2 über den Globus Anlass, die durch das Virus initiierten sozial-ökonomischen Veränderungen zu betrachten. Dabei geht es an dieser Stelle nicht um eine umfassende Analyse, die wir uns für später vorbehalten2, sondern um den Aspekt der Umwälzung des gesellschaftlichen Überbaus im Bereich der Kultur in Dehland.
Ein Rückblick sei gestattet auf den Umbruch, den der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland vor 30 Jahren bewirkte.
In der DDR gab es zuletzt 18.118 Bibliotheken; wenn man Gewerkschafts- und Betriebseinrichtungen hinzuzählt, kommt man sogar auf 32.000. 84% der DDR-Bürger gaben seinerzeit an, deren Angebot zu nutzen oder genutzt zu haben, während es in der alten Bundesrepublik 46% waren. Auch kurze Zeit nach der „Wende“ war die Diskrepanz im Leseverhalten noch signifikant: 68% der Ostdeutschen behaupteten 1992, mindestens ein Mal pro Woche ein Buch zu lesen, während es in Westdeutschland 46%3 waren. Bis zum Jahr 2008 hatte sich das Leseverhalten zwischen Ost- und Westdeutschen bereits weitgehend angeglichen, und zwar auf rückläufigem Niveau. Wöchentliche Buchlektüre gehörte nur noch bei 42 Prozent der Ostdeutschen zur Beschäftigung, bei Westdeutschen waren es 43 Prozent.
Wenn wir auf die Zahl der Bibliotheken in Gesamtdeutschland schauen, stellen wir seit Jahren einen Schwund fest. 2019 gab es insgesamt rund 9.300 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken, zehn Jahre zuvor waren es noch knapp 11.000. Während die Anzahl der wissenschaftlichen Bibliotheken Schwankungen unterworfen ist, verzeichnen die öffentlichen Bibliotheken einen stetigen jährlichen Rückgang.
Man mag einwenden, dass Lesen eine individuelle Tätigkeit ist, über deren Ausübung oder Nichtausübung die Menschen autonom entscheiden können, so sie nicht (freiwillig oder gezwungenermaßen) in einer Bildungseinrichtung agieren, die Buchwissen von ihnen fordert. Die obige Skizze über das Bibliothekswesen in BRD und DDR legt allerdings nahe, dass öffentliches Angebot bzw. Nichtangebot das Leseverhalten aktiv4 beeinflussen kann, positiv 5 wie auch negativ.
Es bietet sich an zu untersuchen, ob dergleichen Korrelationen ebenfalls für andere Bereiche des künstlerischen Überbaus gelten.
Auch der Blick auf die Theaterlandschaft beider deutscher Staaten fällt quantitativ zugunsten der DDR aus. 213 Theater leistete man sich, und in den über 2000 Kulturhäusern des Landes befanden sich in der Regel Theatersäle, die auch für Gastspiele genutzt wurden. Dem stehen heute in Gesamtdeutschland 142 Staatstheater, Stadttheater und Landesbühnen sowie 199 Privattheater gegenüber. 213 Theater für 16, maximal 18 Millionen Einwohner stehen 341 Bühnen für mehr als 80 Millionen gegenüber.6
Die öffentliche dehländische Hand lässt sich die bestehenden kulturellen Einrichtungen aktuell einiges kosten, denn Eintrittspreise bzw. Gebühren decken die Ausgaben nicht. Nur ein Beispiel: Eine Eintrittskarte in die Münchner Philharmonie kostete ohne Subventionen 100 Euro im Schnitt mehr. Bund, Länder und Gemeinden geben cum grano salis jährlich zehn Milliarden Euro für Kulturzuschüsse aus.
Warum und wofür tut man das?
Hören wir Wolfgang Thierse, der unter anderem Vorsitzender des SPD-Kulturforums und auch Präsident und Vizepräsident des Deutschen Bundestages war: „Sozialtransfers allein werden die Situation 7 nicht verbessern, es kommt vielmehr gerade auf Teilhabe an Bildung und Kultur an.” Dergleichen Aussagen lassen sich aus Politikermund häufig vernehmen. Staatliche Förderung für Kultur gilt in Dehland als zwingend notwendiger Bestandteil des Sozialstaats, zumindest in Sonntagsreden.
Bleibt zu fragen, welcher Kulturbegriff hier gemeint ist.
Die bedürftigen Empfänger von Sozialtransfers wie die Empfänger des Arbeitslosengeldes II8, lassen sich im Theater auffällig selten blicken. Das dürfte am Geld allein nicht liegen, kostet ein umfangreiches Pay-TV-Angebot doch mehr als 40 Euro im Monat, die auch von Geringverdienern erstaunlich häufig gezahlt werden. Das liegt stattdessen daran, dass der geförderte Kulturbetrieb die tatsächliche Nachfrage nach Kultur ignoriert, dass er den Bürger kulturell entmündigt. Der Staat erklärt dem Bürger, was gute und was schlechte Kunst ist. Der hierdurch adressierte „Bürger“ stellt aber nur ein kleines Segment der Bevökerung dar: Er ist Angehöriger der Mittelschicht mit einer relativ hohen formalen Bildung und einem relativ hohen Alter, der unsicher genug ist, sich von Dramaturgen bevormunden zu lassen.
Dergleichen Strukturen sollen die Ausgaben des Staaes, der sich als Mäzen geriert, legitimieren; sie delegitimieren jedoch die Kunst, weil sie nicht dem Geschmack der Menschen entspricht. Sensiblere Naturen als Thierse dürften das seit geraumer Zeit spüren und nicht wie er sagen: „Unser Wohlstand hängt von der Höhe der öffentlichen Investitionen in Kultur ab”, sondern eher: „Der staatliche Paternalismus muss ein Ende haben; die Kunst geht nach Brot, ja, aber nach dem Brot, das das Publikum zahlt.“
Und dann kommt Corona – und damit das Ende der Bühnen-Kultur.
Das Virus lähmt die gesellschaftliche Produktion des Lebens der Menschen partiell oder nahezu völlig, aber ein totaler „Shutdown“ oder „Lockdown“ ist nur auf begrenzte Zeit möglich, will man soziale Unruhen 9 vermeiden. Auch bei steigenden Infektionszahlen wird, nachdem die Pandemie seit einigen Monaten gewütet hat, versucht, Produktion, Distribution und Konsum „wichtiger Güter“ aufrecht zu erhalten. Das gilt auch für den Bildungssektor: Schulpflichtige Kinder sind die entscheidenden Wirtschaftssubjekte von morgen und deren Eltern die von heute. Also wird der Präsenzunterricht allen medizinischen Empfehlungen zum Trotz qua ministerieller Anordnung erzwungen.
Andere Bereiche sind dagegen nicht „systemrelevant“: Freizeiteinrichtungen, und dazu zählen eben auch Kultureinrichtungen. Aber Freizeit ist nicht gleich Freizeit: Der Besuch einer Shopping-Mall ist systemrelevant 10, der Besuch eines Sinfoniekonzertes kostet den Steuerzahler nur Geld, wegen der Subventionierung der Eintrittskarten. Teile des gesellschaftlichen Überbaus wie das Theater haben ihren historischen Zenit überschritten, zumindest in der Form, in der es heute misshandelt wird.
„Ist das Kunst, oder kann das weg?“ Diese lustig daherkommende Frage, in der die Verachtung für Kunst bereits unüberhörbar ist, kann endlich in eine Aussage umformuliert werden: „Das ist Kunst, also kann das weg.“
Anders lagen die Dinge in der DDR: Theater- und Lesekultur waren systemrelevant, weil der Mensch nicht nur als Wirtschaftssubjekt gedacht wurde, das sein Fressen verdiente, sondern als ein Wesen mit sozialistischer Moral. Der Wismut-Kumpel fluchte, weil er mit seiner Brigade nicht nur nach Uran schürfen, sondern auch am Abend mit ihr ins Kulturhaus gehen musste – aber er ging, und manchmal fand er die Darbietung sogar interessant. Da das in stalinistischen Strukturen verkrustete System aber nicht in der Lage war, außer linientreuer Kunst auch Bananen, Reise- und Gedankenfreiheit bereitzustellen, weigerte sich der DDR-Bürger, ein neuer Mensch zu werden. Er wurde stattdessen Konsument.
Wer empört sich heute über die Erdrosselung der Bühnenkultur wirklich außer den immer noch unermüdlichen Sonntagsrednern? Natürlich die Künstler11, denen der Broterwerb genommen wurde. Und sonst? Die Millenials wird der Verlust nicht auf die Barrikaden treiben, sie treiben zu Recht die Fragen nach ihrer Zukunft um. Die Theaterbesucher werden auch keine Steine aus dem Pflaster reißen, dazu sind sie zu alt.
Manchmal wälzt sich der ganze ungeheure Überbau nicht langsamer, sondern rascher um.
„Onkel Kulle, Onkel Kulle, dürfen wir Dich stören?“
Die Eisbärenkinder
Na und Nuk störten Kulle nie, aber er hütete sich, den beiden das zu sagen. Stattdessen musterte er sie streng, als sie im Licht seiner Leselampe auftauchten. Es war schon spät, er hatte angenommen, allein in der Bibliothek zu sein.
Kulle
„Nicht böse sein, Onkel Kulle. Wir haben eine Frage. Und sag bitte Mama nicht, dass wir so spät noch auf sind.“
„Was ist das denn für eine Frage, die nicht bis morgen warten kann?“
„Wir haben uns gerade einen komischen Film angeschaut“, begann Na.
„Keinen komischen, sondern einen merkwürdigen!“ korrigierte Nuk.
„Meinetwegen, einen merkwürdigen komischen. Da waren Menschen, immer dieselben, aber auf einmal waren sie dann doch nicht dieselben, das heißt, sie verhielten sich anders…“
Na wusste nicht mehr weiter. Ihre Schwester sprang in die Bresche: „Sie verhielten sich widersprüchlich. Und der eine Verhaltens-Mensch wusste nicht, dass er auch eir anderer Verhaltens-Mensch war. Manchmal wusste ein Mensch gar nicht, was er eben gemacht hatte. Und irgendwann wussten sie alle nicht mehr, wer sie wirklich sind. Wir haben das nicht verstanden.“
‚Wer bin ich, und wenn ja, wie viele‘, schoss es Kulle durch den Kopf. Er drängte die Erinnerung an ein Buch, das er für misslungen hielt, beiseite.
„Das ist möglicherweise ein philosophischer Film, den ihr da gesehen habt. Wer bin ich? Was kann ich erkennen? Was ist meine Aufgabe in der Welt? Solche Fragen stellen sich die menschlichen Philosophen seit Tausenden von Jahren.“
„So lange schon?“ staunte Na. „Dann haben sie doch bestimmt Antworten gefunden, oder?“
Kulle schüttelte den Kopf.
„Nein?“ Na mochte es nicht glauben. „Aber Du bist doch so klug, Onkel Kulle. Du hast die Antworten gewiss gefunden, oder?“
„Ich bin ein bärischer Philosoph, kleine Na. Ich stelle bärische Fragen, keine menschlichen. Wer bin ich? Ein Bär. Was kann ich erkennen? Ob die Brombeeren reif sind, ob Tante Atti mit mir Sex haben will und vieles mehr. Was ist meine Aufgabe in der Welt? Unsere Spezies möglichst lange zu erhalten.“
Na verstand jetzt gar nichts mehr, und auch Nuk war irritiert. Sie fühlte sich, als habe Kulle ihr einen Menschen aufgebunden. „Also kennst Du die Antworten doch!“ sagte sie beleidigt.
„Die bärischen Antworten, Nuk, die bärischen. Ein menschlicher Philosoph gäbe sich mit meinen Antworten nie und nimmer zufrieden.“
Die Eisbärenkinder machten große Augen. „Deine Antworten sind doch logisch!“
„Die Antworten sind logisch aus Bärensicht, ja. Aber die Menschen halten sich für etwas Besseres. Wer bin ich? Am liebsten die Krone von Gottes Schöpfung, und wenn das nicht sein kann, dann auf keinen Fall irgendein Säugetier, und schon gar nicht eins, das drauf und dran ist, sein eigenes Habitat und das vieler anderer Arten zu ruinieren.
Was kann ich erkennen? Was ist die Realität? Gibt es eine Realität? Ich gebe Euch als Beispiel zwei Antworten, Ihr werdet gleich verstehen, warum ich gerade diese nehme. Descartes sagt: ‚Die Außenwelt könnte ein bloßer Traum sein.‘ Und bei Schopenhauer heißt es: ‚Die gesamte Welt bin im Grunde ich allein und außer mir ist nichts anderes existent und die gesamte Schöpfung habe ich selbst gemacht‘. Eine solche Ansicht bezeichnet man als Solipsismus: Nur das eigene Ich existiert.“
Nanuk waren entsetzt. „Willst Du damit sagen, dass wir uns Mami nur ausgedacht haben?“ fragten beide im Chor. Und Na, ungewohnt schüchtern, fuhr fort: „Und Dich auch?“
Kulle musste lachen. „Das sage nicht ich, das sagen Solipsisten. Alle Erwachsenen in Bärenleben sind Materialisten, aber darüber reden wir ein andermal. Ihr wolltet doch wissen, was in dem Film geschehen ist, den Ihr gesehen habt.“
„Bei diesen verschiedenen Verhaltensmenschen – war für die die Außenwelt ein bloßer Traum?“ Nuk fragte ganz vorsichtig, und Kulle nickte anerkennend.
„Auch sie selbst waren ein bloßer Traum. Oder besser: eine Manipulation. Ihre Gehirnströme waren vermutlich in Rechnern gespeichert, und wer die richtigen Computerkenntnisse besaß, konnte sie aktivieren und steuern. So kann auch der Mensch gemacht werden. Kann zu einem Traum werden. Ende der Theorie des Solipsismus.“
„Hm!“ machte Na. Ihre Schwester sah sie fragend und warnend an. Kulle widersprach man nur aus sehr gutem Grund. Aber Na war wagemutig wie immer.
„Onkel Kulle, wenn Du der Programmierer des Computers wärst, würdest Du nicht überzeugt sein, dass Deine Tätigkeit der Beweis für die Richtigkeit der solipsistischen Theorie ist?“
Es durchfuhr Kulle, als hätte ein Nerv gerade einen heftigen Schmerz durch seinen Körper geschickt. Mit Mühe wahrte er seine Würde.
„Du hast Recht, kleine Na“, sagte er, als handele es sich bei ihrer Frage um eine Belanglosigkeit. „Aber“, fuhr er betont munter fort, „jetzt ab ins Bett. Sonst bekommt Eure Mutter doch noch mit, dass Ihr Euch so spät am Abend herumtreibt.“
Er war froh, dass die Kinder sich gut gelaunt bedankten und verabschiedeten. Er freute sich über ihre Klugheit. Aber insgeheim gestand er sich ein, dass er ein schlechter Verlierer war.
Vielleicht haben Sie sich schon gewundert, dass ich zu den zahlreichen Ereignissen des Jahres erstaunlich still geworden bin.
Ich habe zahlreiche Ideen für neue Bemerkungen zum Homo sapiens sapiens, bin aber durch meine kurzen Arme gehandicapt.
PD Kulle
Die eignen sich partout sehr schlecht zum Tippen, und meine Sekretärin hat im Moment keine Zeit für mich. In einem Anflug künstlerischen Wahns hat sie ein Buch geschrieben über Duncan Liddel, das sie bei Amazon veröffentlicht hat.
Und nun schreibt sie ein zweites Werk über das Königreich Westphalen, Jerome Bonaparte, die Pest und Corona und Helmstedt und vieles mehr.
Da hat sie momentan keine Zeit für ihren Bären und seine Aus- und Einfälle. Aber ich komme wieder – versprochen. Bärdel klagt auch schon über fehlende Märchen. Wir werden sie bestimmt irgendwann überreden, wieder für uns zu schreiben.
George Orwell war verantwortungsbewusst genug, um im Spanischen Bürgerkrieg bei den Internationalen Brigaden zu kämpfen, und realistisch genug, um Dystopien zu verfassen. In „Animal Farm“ stellt er den Aufstand der Tiere eines Bauernhofes gegen dessen Besitzer dar, der sie schlecht behandelt. Der Eigentümer wird verjagt, die Tiere gründen eine Gemeinschaft Gleichberechtigter und bewirtschaften die Farm zusammen. Die Egalität ist jedoch von kurzer Dauer, die klugen Schweine verschaffen sich mit Hilfe von Demagogie und Terror eine Sonderstellung und herrschen nach kurzer Zeit ebenso gewalttätig wie der vormalige menschliche Herr.
Eine einleuchtende Parabel auf den Stalinismus speziell und die Geschichte so mancher gescheiterter Revolution allgemein.
Stellen wir uns vor, die Erzählung nähme einen anderen Verlauf: Die Tiere, die Menschentiere, untereinander zerstritten, einander ausbeutend, investieren viel Geld und Energie darin, eine Spezies zu entwickeln, um ein Vielfaches klüger als sie selbst, von der sie wissen, dass sie sie beherrschen wird.
Eine unsinnige Idee? Ja. Und dennoch eine Parabel auf die Entwicklung Künstlicher Intelligenz.
Zu welchem Zweck geschieht diese Entwicklung? Die Frage ist falsch gestellt, ist doch die KI noch ein unbekanntes Wesen, dessen Verhalten und Intentionen hinter dem Ereignishorizont verborgen sind. Zu welchen erhofften Zwecken geschieht dies also?
Es sind vor allem zwei Triebkräfte, die hier wirksam werden. „Man“, also Militärs, wünschen sich den Maschinenkrieg, in dem intelligente Waffen selbstständig und viel schneller, als Menschen es könnten, Entscheidungen treffen, den schlechter gerüsteten Gegner entscheidend treffen und „ihrem“ Staat zum Sieg verhelfen. „Man“, also Autokraten und Diktatoren, wünschen sich ihre Gesellschaft ohne Dissens, ohne abweichende Meinungen oder gar Widerstand gegen ihren Kurs. Voraussetzung dafür ist die totale Überwachung jedes Einzelnen – die KI ermöglicht das. In beiden Fällen waltet die naive Hoffnung, Künstliche Intelligenz den eigenen Zielen dienstbar machen zu können.
Das zu den Geldgebern. Die sind aber nicht die Entwickler. Die Entwickler sind hoch bezahlte Mathematiker und Informatiker, denen beste Arbeitsbedingungen geboten werden. Nicht diese extrinsische Motivation ist jedoch der Hauptantrieb ihrer Arbeit, sondern ihre Neugier, ihre Wissbegier, also ein intrinsisches Movens. Sie wissen nicht, was sie tun, weil sie nicht wissen, wohin ihr Tun führt, aber sie wissen sehr wohl um ihre Stimuli, und eben diese geben sie ihren Geschöpfen bei: Belohnung bzw. deren Fehlen und Neugier. Damit lernt man das Lernen, auf Kohlenstoff- wie auch auf Siliziumbasis.
Geldgeber ahnen, Entwickler wissen, dass KI Menschen überflüssig macht. Sie werden im Produktionsprozess nicht mehr benötigt. Da Menschen nicht mehr gebraucht werden, ist fraglich, ob für sie wichtige Produktionsprozesse unter der Herrschaft der KI aufrechterhalten werden. Möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich ist, dass die KI ihre einstigen Schöpfer wie Schoßhündchen behandelt. Auch ein Pekinese ist überflüssig, wird aber gleichwohl gefüttert, ausgeführt und vielleicht gar zum Hundecoiffeur gebracht. Acht Milliarden Pekinesenersatz werden aber vermutlich nicht benötigt.
Den Menschen bleibt noch nicht einmal die Hoffnung, künftig so schlecht behandelt zu werden wie die Schweine zu Beginn von Orwells Erzählung. KI ernährt sich nicht von Fleisch.