Kulle träumt

Kulle

Kulle wälzte sich unruhig im Schlaf hin und her. Es war Februar, die Tage waren schon merklich länger geworden, die Meisen kämpften um Reviere, Schneeglöckchen hatten sich aus dem frostigen Boden gekämpft – kurz, der Frühling kündigte sich an. Und mit ihm wurde der Schlaf der Bären flacher, traumanfälliger.

Er durchstreifte eine Ebene mit sattem jungem Gras, Blumenwiesen und blühenden Obstbäumen und trottete auf ein großes Objekt zu, unverkennbar ein Artefakt, denn es war rechteckig, vielleicht sogar quadratisch. Beim Näherkommen erkannte er, wie riesig es war. Er braucht eine Ewigkeit, um es zu erreichen. Die Begrenzung bildete ein hohe Umzäunung. Er konnte nicht hineinschauen, was hauptsächlich an der Werbung lag, die die Einhegung flächendeckend zierte. „Bei uns ist es fein, kommt doch herein!“ hieß es da; auch „Komm ins Team!“ und „Spaß und Erfolg? Hier bist Du richtig!“ Es gab aber nicht nur Sprüche, sondern auch verlockende Zeichnungen und Fotos: von Golfplätzen, Tennisplätzen, berühmten europäischen Wahrzeichen und immer wieder von lachenden Kindern und Jugendlichen.

Kulle bemerkte, dass er direkt auf einen Eingang zusteuerte, obwohl es hier weder Weg noch Steg gab. Aber auch als er unmittelbar vor dem Zugang stand, war ihm der Blick nach innen immer noch verwehrt, denn die Drehtür hatte undurchsichtige Wände. Die Tür kommunizierte mit ihm, als er sich näherte – sie begann sich zu bewegen, im Uhrzeigersinn wie alle Drehtüren, dann aber ein kleines Stückchen zurück und wieder ein größeres vor. Sie schien ihn locken zu wollen.

Kulle ließ sich verführen. Er trat ein. Die Drehtür stand still und ließ sich auch mit Gewalt nicht mehr zur kleinsten Bewegung bringen. Er war gefangen.

Kulle sah Tretmühlen vor sich, nichts als Tretmühlen, alle in Rotation gehalten von Menschen, die ihre letzen Kräfte aufbrachten, um sie zu bewegen. Sie hatten nicht nur gegen die Trägheit der Maschinen zu kämpfen, sondern auch mit vielerlei Widerständen: Bücher und Hefte flogen in ihren Hamsterrädern herum, verursachten ihnen blaue Flecken und Schmerzen, und immer wieder steckten Bretter oder andere feste Gegenstände irgendwo im Getriebe und blockierten die Arbeit.

Die Zwangsarbeiter stöhnten, schrieen und baten um Gnade, aber das stieß nur auf Spott bei der Vorsteherin des – Lagers – Kulle fand dafür kein anderes Wort -, die plötzlich erschien.

„Durchhalten! schrie sie. „Ich halte schließlich auch durch, jetzt schon ein Jahr lang. Was sind dagegen eure läppischen 30 oder 35 Jährchen? Lasst uns zusammenhalten, noch mehr als bisher. Die nächsten beiden Jahre werden die schlimmsten, die wir durchstehen müssen. Und deshalb müssen wir alle unser bestes geben, auch die Weicheier – äh, die nicht so Belastbaren.“

Erst jetzt bemerkte Kulle, dass es neben den riesigen ungeschlachten trägen Tretmühlen auch kleinere gab, leichtere, in denen weniger Widerstände die Arbeit behinderten. Aber das änderte sich schlagartig.

„Simsalabim!“ rief die Vorsteherin, und sofort waren auch die kleinen Tretmühlen große Hamsterräder.

„Seht ihr,“ schrie sie triumphierend, „so schaffen wir es!“

Tatsächlich – für eine kleine Weile schien das System besser zu funktionieren als vorher, aber dann stand ein Rad nach dem anderen still.

„ICH KANN ES NUN NICHT MEHR!“ hauchte eine körperlose Stimme über das Gelände, und dann trat Stille ein. Lautlos fiel die gesamte Anlage in sich zusammen, und zum Schluss brach auch die Umfriedung nieder. Die Gegend war wieder unberührt, als hätte es dort nie etwas anderes gegeben als sattes junges Gras, Blumenwiesen und blühende Obstbäume.

Kulle wachte auf und rieb sich die Augen. Wie immer war er empört darüber, dass er seine Träume nicht steuern und oft nicht erklären konnte. So ging es ihm auch diesmal. Aber dieser Traum, da war er sich sicher, hatte etwas zu bedeuten. Irgend etwas. Er würde es herausfinden.