Jobsuche

Nach sechs Stunden Marsch konnte Manfred allmählich erleichtert durch Dehland wandern. Tumus Tränen, als sie ihn ziehenlassen mußte, Tränen, die er schließlich mitgeweint hatte, waren vergessen. Die tagelangen Diskussionen mit Bärdel beschäftigten ihn allerdings immer noch.
„Du willst dir einen Job suchen? Bei den Menschen? Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen“?
Manfred war standhaft geblieben. Schließlich hatte er gute Argumente: Auch seinem Vater war es schon gelungen, sich gegenüber Menschen als Mensch auszugeben (vergleiche Außergewöhnliches Beispiel von Menschenliebe bei einem wilden Tiere), warum also sollte er enttarnt werden? Und: Wenn man etwas über Menschen lernen wollte und es unabdingbar für das eigene Überleben war, möglichst viel über sie zu wissen – welche besseren Lehrer könnte man finden als die Menschen selbst? Er hatte Bärdel sogar dazu bewegen können, ihm zu allen möglichen Zeugnissen zu verhelfen. Aus der Bärenfälscherwerkstatt trug er Dokumente über Abschlüsse dehländischer Schulen und Hochschulen und angebliche Bescheinigungen real existierender Firmen mit sich, die ihm bestätigten, ein hervorragender Mitarbeiter gewesen zu sein, den man mit Bedauern hatte gehen lassen. Da Menschen das Alter von Bären, die sich als Menschen ausgeben, überhaupt nicht einschätzen können, konnte er mit diesen Unterlagen nach Belieben spielen.
Ob das wirklich richtig ist, was ich mache? fragte er sich. Aber natürlich gab er sich die richtige Antwort: Ein Mann geht seinen Weg! Und das, obwohl Manfred noch nie einen Western gesehen hatte…

Er hatte keine genaue Vorstellung davon, wie er sein Ziel erreichen sollte. Auch wußte er nicht, ob es geschickter war, sein Glück in einem Dorf, einer Klein- oder Großstadt zu versuchen. So ging er einfach geradeaus – im dicht besiedelten Dehland würde er schon bald über irgend etwas stolpern und dann entscheiden.
Er stolperte bald. Als er von einem Waldweg aus eine Straße und an deren Rand ein Ortsschild wahrnahm, das Lehrte“ ankündigte, zog er aus seinem Rucksack – den er als vierfüßiger Bärenwanderer als Bauchsack getragen hatte – Hemd, Hose und Jacke und zog sie an. Danach schulterte er sein Gepäckstück und richtete sich auf. Zum Abschied pflückte er eine Himbeere, ie ihn verführerisch rot anblinzelte, und nahm mit ihr vorerst Abschied von seinem Bärendasein.

Lehrte, entdeckte er bald, war eine Kleinstadt. Stellenangebote, nach denen er Aussschau hielt, gab es nicht. Aber damit hatte er gerechnet. Er wußte, daß Menschen Jobs in der Zeitung fanden – oder beim Arbeitsamt.
Also ging er in ein Papierwarengeschäft. Auf einer Bank im nahen Park schlug er die Zeitung auf, die er erworben hatte: die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“. Wochenendausgabe. Er ging die Stellenanzeigen durch.
Erst jetzt fiel ihm auf, daß er sich bisher nur wenig konkrete Vorstellungen gemacht hatte. Er wollte bei den Menschen arbeiten — nun gut. Aber was? Was war besonders gut geeignet, um sie kennenzulernen? Die Zeitung verwirrte ihn nur – Stellenanzeigen allgemein, Außendienst, Kaufmännisches, Gewerbliches, medizinisch-soziale Berufe. Diese Klassifizierung führte wohl nicht weiter. Also stellte er sich die wichtigste Frage überhaupt: Was macht mir Spaß? Unter diesem Gesichtspunkt fand eine Annonce sein Interesse: Eine Versicherungsgesellschaft suchte einen Executive Assistent für die Abteilung Versicherungsmathematik. Voraussetzungen für den Job waren eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung (die hatte er, sagten seine Zeugnisse), ein gutes Zahlenverständnis (rechnen konnte er) und körperliche Einsatzbereitschaft (Als junger Bär liebte Manfred es zu raufen, wenn er auch nicht so recht verstand, wieso diese Vorliebe in einem menschlichen Beruf gefragt war.). Das Problem war: Man wollte von ihm wissen, welche Gehaltsvorstellungen er hatte. Also: Bist du billiger als die anderen Bewerber, hast du gewonnen. Oder doch nicht? Vielleicht bedeutete ein Billigangebot ja auch: Ich bin schlecht? Und was war überhaupt bei den Menschen in Dehland gegenwärtig billig, was teuer? Ob Bärdel das gewußt hätte? Jedenfalls hatte er ihn nicht gefragt…
Er las weiter. Anderen Jobangeboten entnahm er, daß sich die Bezahlung bei den Menschen häufig an BAT orientierte. Was das wohl sein mochte? Bären- Arbeits-Tarif? Unwahrscheinlich…

Neben seiner Parkbank stand eine Telefonzelle, und ordentlich, wie es in Dehland nun einmal war, hing das örtliche Telefonbuch neben dem Apparat. Manfred schlug es auf und suchte : BAT – nicht vorhanden. Wahllos blätterte er weiter – schließlich hatte er noch nie ein menschliches Telefonbuch gesehen. Von einem bärischen ganz zu schweigen – Bären hatten kein Telefon, sie redeten noch wirklich miteinander. Bei O stolperte er über Ordnungsamt. Ein für die Ordnung zuständiges Amt müßte doch eigentlich ordentlich erklären können, was Unverständliches bedeutete. Er wählte die Nummer.
Tuut,tuut,tuut, didadidadidadidadah, dadadah, dadadah, bitte warten, didadidadidadidadah, dadadah, dadadah, bitte warten…

„Ordnungsamt Hannover“!
„Guten Tag. Ich wollte Sie nur um eine Auskunft bitten. Was, bitte, bedeutet BAT“?
„Eine solche Auskunft gehört eigentlich nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Ich sage es Ihnen trotzdem: Bundesangestelltentarif“.
„Und wie hoch ist der? Ich meine, wieviel Geld verdient man da“?
„Zu wenig, guter Mann, viel zu wenig. Ich werde nach BAT bezahlt, ich weiß, wovon ich rede“.
„Ja – aber – entschuldigen Sie: Was heißt denn das konkret“?
„Sie dürften selbst wissen, daß man über Geld nicht redet. Wenn Sie einen Paß oder Personalausweis beantragen wollen, stehen wir Ihnen gerne in der Zeit von…“

Manfred legte auf. Er war so schlau wie vorher, aber eine Auskunft, die ihm weiterhalf, würde er hier nicht bekommen. Also gut – dann galt es eben zu pokern.
Er rief die Versicherungsgesellschaft an und vereinbarte einen Gesprächstermin für den nächsten Tag.

Das aber bedeutete, daß er für die Nacht eine Unterkunft brauchte. Nächtigen in Lehrte? Zwar war das Leben in diesem Nest für einen Bären schon wahrhaft aufregend, aber wenn er jetzt die Gelegenheit hatte, wollte er möglichst viel kennenlernen. Er stapfte zum Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte ins nahe Hannover.
Als er dort aus dem Zug hüpfte, machte er einen Fehler: Er wandte sich Richtung Raschplatz.
Für einen Bären, der an gegenseitige Rücksichtnahme und wechselseitige Hilfestellung in allen Lebenslagen gewöhnt ist, ist eine menschliche Großstadt, in der sich keiner um den anderen kümmert, auch wenn es dem noch so schlecht geht, ein Schock. Das ist schon schlimm genug, wenn er an Orte gerät, an denen es den meisten Menschen gutgeht.
Der Raschplatz war kein solcher Ort. Manfred bediente sich der üblichen Mechanismen intelligenter Lebewesen, die versuchen, einen überwältigenden Eindruck zu verarbeiten: Er bemühte sich, Worte für seine Wahrnehmung zu finden. Er mußte lange suchen, obwohl er über einen großen Wortschatz verfügte. Schließlich kamen ihm fünf Buchstaben in den Sinn, die er auf einer Wanderung durch den Harz auf einem Ortsschild gesehen hatte: Elend. Elend – das paßte. Das quäkende Lautgebilde beschrieb Dreck, zerstochene und zerschundene Haut, Orientierungslosigkeit und Gestank. Alles war überlagert von einem noch penetranteren Geruch, dem der Gleichgültigkeit.

Von Panik ergriffen, kehrte er um und ergriff das Bärenpanier. Kaum ein Passant wunderte sich darüber, daß ein etwa menschengroßes Wesen halb aufrecht, halb auf allen Vieren erst durch die Bahnhofs- und dann durch die Karmarschstraße hetzte. Als er das geschafft hatte, verlangsamte Manfred sein Tempo: erstens ging ihm allmählich die Puste aus, und zweitens gab es nach zehn Minuten wilder Jagd keine Menschen mehr, die ihn verunsicherten. Er war im Maschpark angekommen. Langsam trottete er über die gewundenen Pfade, kreuzte noch eine Straße und legte sich dann zwischen Rosenrabatten auf die Bärenhaut. Hier war kein Mensch. Er spürte, daß auch keiner kommen und ihn stören würde.
Sein Bäreninstinkt hatte ihn richtig geleitet: Welcher Hannoveraner geht schon auf den 1945 angelegten Friedhof der von den Nazis ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen? Die meisten wissen noch nicht einmal, daß es ihn gibt…

Ausgeschlafen sprang er ein paar Stunden später am frühen Morgen in den Maschsee. Nach dem Bad, bei dem er einem ausführlichen philosophischen Disput der Seekarpfen lauschte, von dem er nur wenig verstand, war es allmählich Zeit, sich zur Versicherung aufzumachen. Auf dem Weg dorthin schüttelte Manfred hin und wieder immer noch den Kopf: Was diese Fische umtrieb! Richtig beredsam wurden sie bei der Frage, ob die Hannoveraner es wert seien, zu Weihnachten und Silvester von ihnen gefüttert zu werden. Anstatt sich auf die universellen Tierrechte zu berufen und sich jedem Gefressenwerden zu verweigern!

Wenig später saß er auf einem niedrigen Stuhl einem großen Schreibtisch gegenüber, hinter dem in einem hohen Sessel eine Menschenfrau thronte. Sie hatte sich ihm als Sabine Schreiner vorgestellt. An der Tür, durch die sie ihn gerade geführt hatte, hing ein Schild, das Personalbüro besagte. Jetzt redete sie, ohne dabei etwas zu sagen. Manfred kannte diese Art der Nichtmitteilung, diesen Fluß von Leerformeln und höflichen Lügen, und es war ihm trotz höchster Konzentration nicht möglich, inhaltlich zu folgen. Das war kein Nachteil. Wichtig war allein, im entscheidenden Moment richtig zu reagieren. Also konzentrierte er sich nur auf den Augenblick, in dem sie ihre Stimme am Ende eines Satzes hob.
„Das hat mich schon immer interessiert“, antwortete er auf ihre Frage. „Sehen Sie, es gibt Dinge, bei denen die Menschen Hilfe benötigen. Ich denke, ich könnte da von Nutzen sein“.
In Bärenleben hatte Manfred bei Kulle nämlich einmal einen Rhetorikkurs belegt. Was er gerade reproduziert hatte, war Kulles Patentantwort Nummer Eins, passend für alle Situationen: Sie war angemessen als Reaktion auf die Behauptung, daß die Welt von Gott verlassen sei, ebenso wie auf die Feststellung, daß die Arbeitslosenzahlen ständig stiegen. Selbst als Reaktion auf eine Liebeserklärung konnte sie, ein wenig modifiziert, zur Not durchgehen.
Manfred hatte auch gelernt, daß eine derartige Aussage zwar gut ankam, aber sofort eine Frage provozierte. Wollte man der entkommen, mußte man selbst eine Frage stellen. Natürlich war Manfred ein gelehriger Schüler gewesen, also fuhr er ohne Pause fort:
„Was erwarten Sie von mir?“
Statt einer direkten Antwort legte sie ihm einen Schriftsatz vor.
„Machen Sie sich damit in aller Ruhe vertraut. Ich lasse Ihnen einen Kaffee kommen und lasse Sie allein. In einer halben Stunde bin ich wieder da“.
Kaffee – das mußte wohl sein. Mitleidig sah Manfred den Ficus Benjamini an, der die braune Brühe würde schlucken müssen. Bären und Kaffee – das vertrug sich einfach nicht miteinander.
„Danke“, sagte er höflich und schlug den Ordner auf.
Den Fall durchschaute er schnell. Der Studienrat Michael Strauß hatte im Alter von 40 Jahren eine private Zusatz-Rentenversicherung abgeschlossen und 25 Jahre lang regelmäßig seine Beiträge gezahlt. Der letzte Zahlungseingang lag zwei Jahre zurück. Strauß war jetzt 67 und erhielt seit seiner Pensionierung seine Privatrente.
Ein klarer Fall ohne irgendwelche Probleme. Manfred schüttelte den Kopf. Er verstand nicht im Geringsten, was solche klaren, eigentlich abgeschlossenen Fälle mit Versicherungsmathematik und körperlicher Einsatzfähigkeit zu tun hatten.
Als Sabine Schreiner zurückkam, schenkte sie ihm neben einem charmanten Lächeln ein erwartungsvolles: „Nun, Herr Bär“?
Manfred pokerte – auch das hatte er von Kulle gelernt . und hob die Schulter. „Ganz klare Sache, keine Frage“.
„Hervorragend“! Frau Schreiner war sichtlich erleichtert. „Ich hatte gleich den Eindruck, daß Sie für derlei verantwortungsvolle Aufgaben geeignet sind. Die Zusammenarbeit mit unserer Gesellschaft wird Sie nicht reuen. Wir zahlen gut – 1000 DM Prämie pro Fall, zuzüglich Spesen. Erfahrungsgemäß bearbeiten unsere Mitarbeiter zwischen acht und fünfzehn Fälle pro Monat“.
Also acht- bis fünfzehntausend Mark im Monat, rechnete Manfred blitzschnell. Das war sehr viel Geld, soviel immerhin wußte er. Merkwürdig – jetzt machte sie ihm ein Angebot, aber in der Anzeige hatte gestanden, daß er Forderungen stellen sollte. Er ging darüber hinweg.
„Ich denke, das kann ich auch leisten“.
Manfred legte alle ihm zur Verfügung stehende Seriosität in seine Stimme. Er verriet Sabine Schreiner nicht, daß er noch immer nicht wußte, was er in seiner neuen Stellung zu tun haben würde. Trotzdem – oder gerade deshalb – bekam er den Job. In drei Tagen sollte er anfangen. Zur Einarbeitung, wie Sabine Schreiner sagte, drückte sie ihm ein Köfferchen voller Papiere in die Hand.
Dank ihrer Vermittlung fand er auch eine kleine Wohnung. Schade eigentlich – er hatte sich auf dem sowjetischen Friedhof und bei den Karpfen sehr wohl gefühlt. Für Menschen brauchte er aber künftig wohl eine menschliche Adresse. Das Wichtigste im Augenblick jedoch war, daß er einen Vorschuß erhielt.

Manfred verschwendete keine Zeit damit, sich Möbel anzuschaffen. Er gab sein Geld für Fahrscheine für die Stadtbahn aus und ließ sich zur Universität kutschieren.
Ich glaub, ich bin in England, brummelte Manfred vor sich hin, als er auf das Tudorschloß zusteuerte, in dem Hannovers Universität beheimatet war. Aber dann kümmerte er sich nicht mehr um Architektur, sondern fragte sich zum Immatrikulationsamt durch und schrieb sich ein: Manfred Bär, Volkswirtschaftslehre.
Als er wieder in seiner Wohnung war, schaute er sich zunächst den Inhalt von Sabine Schreiners Geschenk an. Der Aktenkoffer seiner neuen Firma war prall gefüllt mit Papieren. Fünfzehn Personalakten stapelten sich darin, alle von ähnlicher Qualität wie die des Studienrates Michael Strauß. Daneben lag eine in Folie eingeschweißte Tabelle. Über den zahlreichen Spalten standen merkwürdige Überschriften: Geb.-Jr., Verf.-Jr. oder Neg.-Zeitr. fanden sich da.
Manfred verstand, daß er nichts verstand. Aber das beunruhigte ihn nicht. Er hatte die Bärenruhe weg, und noch hatte er zwei Tage Zeit. Der Student Manfred Bär würde schon herausbekommen, was hier gespielt wurde.

Früh am nächsten Morgen verschwand er im Lesesaal der Universitätsbibliothek. Er entschwand buchstäblich allen Blicken, denn bald türmten sich auf dem Tisch vor ihm meterhohe Bücherstapel.
Zuerst widmete er sich dem Band Empfehlenswerte Abkürzungen im Versicherungswesen, herausgegeben von E. N. T. Täusch, und ließ sich darüber belehren, daß Geb.-Jr. Geburtsjahr hieß. Verf-Jr. bedeutete Verfallsjahr, und Neg-Zeitr. war der Negativzeitraum. Empfehlenswert, so der Herausgeber im Vorwort, seien diese Abkürzungen vor allem deshalb, weil sich der Versicherungsnehmer in den wenigsten Fällen unter ihnen etwas vorstellen könne. Manfred stimmte aus vollem Herzen zu – auch den Volltext verstand er nur zum Teil.
So kam er also wohl nicht weiter. Es galt, die Angelegenheit grundsätzlich anzugehen. Grundlagen des Versicherungswesens. Eine Einführung – Prof. Dr. R. Eibach würde ihm mit seinem dicken Wälzer weiterhelfen, hoffte er.
Manfred lernte, daß eine Versicherung auf die planmäßige und entgeltliche Deckung eines risikogerechten Eventualbedarfs abzielt, also Schäden, die nach Anzahl, Zeitpunkt und Höhe unbestimmt sind, deckt. Eintritt und Höhe der Bedarfsfälle, so Prof. Eibach, ließen sich um so sicherer berechnen, je größer die Zahl der zu einer Gefahrengemeinschaft vereinigten Einheiten sei.
Den zweiten Gedanken verstand Manfred. Tumu hatte ihn gründlich in die Wahrscheinlichkeitsrechnung eingeführt – alle jungen Bären lernten das, und als Material benutzten sie mit Vorliebe Brombeeren. Mit dem ersten Satz aber hatte er Schwierigkeiten: Wieso deckte eine Versicherung nur Schäden? Der Studienrat Strauß hatte doch keinen Schaden erlitten, sondern freute sich über sein Rentnerdasein! Aber dann dämmerte es ihm: Was Michael Strauß freute, war in den Augen der Versicherung ein Schaden. Strauß kostete Geld.
Entsetzen durchschoß ihn: Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen bekamen die Worte Verfallsjahr und Negativzeitraum plötzlich eine Bedeutung. Für einen kurzen Moment durchzuckte ihn eine Idee, was sein neuer Arbeitgeber wirklich von ihm wollte. Aber dieser Gedanke erschien ihm so absurd, daß er ihn sofort aus seinem Kopf verbannte.
Dennoch – plötzlich war ihm übel. Hastig verließ er den Lesesaal und suchte frische Luft.
Also: Vermutlich hatte seine Versicherung Probleme mit ihren privaten Altersversicherungen. Das Verfallsjahr schien das Jahr zu sein, von dem ab der Rentner mehr Geld als Rente bekam, als er vorher als Prämie eingezahlt hatte. Von diesem Jahr ab begann für die Versicherung der Negativzeitraum. Natürlich kamen solche Fälle immer mal vor, aber sie sollten theoretisch ausgeglichen werden – durch diejenigen, die so früh starben, daß sie die von ihnen angesparte Summe nicht mehr in Anspruch nehmen konnten. Mathematische Stochastik – das Gesetz der großen Zahl. Und versicherungsmathematisch, überlegte Manfred sich, war die Prämie natürlich so kalkuliert, daß bei einer berechenbaren Zahl von kurz- und langlebigen Versicherten noch genug Geld in der Firma hängenblieb…
Entweder reichte seiner Versicherung der Normalprofit nicht mehr, so daß sie ihre Versicherten vor deren natürlichem Ende loswerden wollte, oder sie hatte sich verrechnet.
Manfred wurde bewußt, daß er jetzt schon ganz selbstverständlich von der Hypothese ausging, daß er als Mörder gedungen werden sollte. Seine sonst so kräftigen Bärenbeine sackten unter ihm weg, er mußte sich setzen. Jetzt wußte er, warum sein Vater ihn hatte überzeugen wollen dazubleiben, warum seine Mutter so viele Tränen geweint hatte. Das Denken der Menschen war mörderisch (Die Menschen selbst nennen das in Verkennung ihrer Natur inhuman) , und es färbte ab. Er begann zu weinen.
„Natürlich guckt wieder kein Schwein“, hörte er plötzlich neben sich eine laute Stimme. „Ein Bär hockt heulend an einem Baum mitten im hannoverschen Georgengarten, dazu noch direkt neben dem Wilhelm-Busch-Museum, und keiner nimmt‘s zur Kenntnis“!
Manfred war kein verklemmter Menschenmann, er fand es also ganz natürlich zu weinen, wenn er traurig oder verzweifelt war. Trotzdem war es ihm peinlich, in aufgelöstem Zustand von einem wildfremden Wesen ertappt worden zu sein. Er wischte sich die Augen, murmelte etwas von Heuschnupfen und wandte dann seinen Kopf zur Seite.
„Du bist ein Schwein!“ entfuhr es ihm.
„Na klar“, grunzte sein Gegenüber, keineswegs beleidigt.
Rosa Haut, Steckdosenschnauze, spitze Ohren, Ringelschwänzchen: Es war zweifellos ein Schwein.
„Wieso sagst Du dann, daß Du nicht guckst? Du siehst mich doch an“!
„Ich habe nur zitiert. Und außerdem bin ich eine Karikatur. Mir ist übrigens kalt, ich gehe wieder rein. Zu Hause bin ich da drüben im Museum. Komm doch mit“.
Manfred in seinem Bärenpelz fror es zwar nicht, aber er fühlte sich trotzdem kalt – von innen heraus. Er rappelte sich auf und folgte dem Schwein ins Haus. Wilhelm-Busch-Museum stand daran und Karikaturenmuseum.
Innen gab es einen Kassenschalter, und Manfred langte nach seiner Geldbörse. Der Kassierer aber grinste nur.
„Lassen Sie das, Sie Kunstfigur! schmunzelte er. Ab in Ihren Rahmen!“
Achselzuckend schlenderte Manfred weiter in die Ausstellung. Die Waechter des Museums begrüßten ihn wie einen alten Bekannten. Außerdem begrüßte ihn das Ausstellungsmotto: Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Gestern noch hatte Manfred geschwankt, ob er sich an der Uni für VWL oder für Politik einschreiben sollte. Heute stellte er fest, daß seine Entscheidung richtig gewesen war. Ein Mini-Politikstudium konnte er hier im Museum absolvieren. Einführung in Soziologie und Psychologie inklusive.

Er schlenderte herum und bildete sich. Der Kanzler war eine Birne. Kernobst als Kopf einer Gesellschaft? Das sprach nicht gerade für die Wähler…
Auf einer anderen Zeichnung versetzte ein Hund zahlreichen Katzen, die sich noch nicht einmal durch Fauchen zur Wehr setzten, Schwere Bisse und jagte sie aus dem Haus. Die Bildunterschrift belehrte ihn, daß ein Mensch namens Hundt Arbeitgeberpräsident war.
Die dritte Karikatur, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigte zwei Männer. Ein Gesicht, dessen Hauptcharakteristik eine große Nase war, neigte sich über ein anderes. Untengesicht hatte eine Sprechblase, in der stand: Herr Kultusminister, das ist zu viel! Obengesicht antwortete: Kein Grund zur Aufregung, Herr Studienrat! Wir haben Ihre Dienstpflichten so kalkuliert, daß Sie sie bis zu ihrer Pensionierung gerade noch werden erfüllen können.

Karikatur
In der Bärenschule hatte Manfred gelernt, was ein Elektroschock war. Er hatte sich nie vorstellen können, wie sich so etwas anfühlen könnte. Jetzt plötzlich hatte er das Gefühl, einen solchen Schock erhalten zu haben. Verblüffenderweise durchlebte er sogar alle Phasen, die zu einer solchen Behandlung gehören: völlige Amnesie, allmähliches Erinnern und schließlich – Glück gehabt! – ein besseres Denkvermögen als vorher.

Das also war des Studienrats Michael Strauß Kern! Der war nicht als Mensch zu alt, sondern als Studienrat! Die Versicherung hatte sein Alter auf der Basis seiner Berufszugehörigkeit kalkuliert, und er hatte es gewagt, nicht gleichzeitig mit seiner Pensionierung zu sterben, sondern zwei Jahre weiterzuleben. Dementsprechend war er für die Versicherung ein Schaden geworden.
Für Manfred war jetzt glasklar, was von einem Executive Assistent der Abteilung Versicherungsmathematik erwartet wurde. Er sollte als Mörder arbeiten, um die fehlerhaften Hypothesen der Versicherungsgesellschaft wieder ins Lot zu bringen.

Was sollte er tun?
Manfred zog sich in eine stille Ecke des Museums zurück und erprobte seine Muskeln. Er ging auf die Toilette, stellte sich vor den Spiegel und zeigte sich selbst seine fürchterlichsten Grimassen. Lautlos übte er dazu seine Kampfschreie.
Dann gab er es auf.
Seine Situation war ihm klargeworden.

Natürlich war es eine verführerische Idee, in Sabine Schreiners Büro zu marschieren, ihr seine Verachtung ins Gesicht zu schmettern und ihr zu erklären, daß er ihre Mordpläne durchschaut hatte. Und dann? Sie würde die Polizei rufen, die die Feuerwehr, und schließlich würde er als die Allgemeinheit gefährdender Bär im Zoo landen – wenn er Glück hatte. Wahrscheinlich würde er als tollwütiges Tier eingeschläfert werden. Einschläfern – so nannten das die Menschen.
Sich mit den Tieren verbünden, zum Beispiel mit dem Schwein? Wenig aussichtsreich – die Tiere schienen damit glücklich zu sein, als Karikaturen existieren zu dürfen.
Es gab nur eins – zurück nach Bärenleben.

Manfred ließ alles stehen und liegen. Zum Glück wußte er, welche Richtung er einschlagen mußte, um nach Hause zu kommen – zu Tumu, zu Bärdel und zu Kulle und all den anderen. Er dachte nicht an das Geld, das er hatte. Er dachte nicht an Verkehrsmittel. Er rannte einfach. Er übersah sogar die Beeren am Wegesrand. Er aß nicht. Er trank nicht. Er rannte. Dann torkelte er. Er wankte vorwärts. Zuletzt kroch er. Er kämpfte um jeden Zentimeter, der ihn Bärenleben näher brachte. Tumu fand ihn schließlich – wer auch sonst? Er hatte es fast geschafft.

„Manfred“!
Unruhig wälzte er sich auf seinem Laublager hin und her.
„Manfred“! Sanft legte sie ihre Tatze auf seine Schulter.
Er zuckte zusammen. Sein Körper rollte sich weg.
Sie griff fester zu. Er wand sich.
„Manfred! Wach auf“!
Bilder: Sabine Schreiner hält ihn fest, eine Statistik in der Hand, die besagt, daß er zu alt ist, sterben muß…
„Manfred! Du bist zu Hause“!
Der Widerstand schwand. Er wachte auf. Er öffnete die Augen und sah Tumu. Er lächelte.
„Mama.“

Tumu brauchte nach dieser anstrengenden Wiederbelebung noch viel Kraft, um Manfred wieder zu einem normalen Jungbären zu machen. Er wollte kaum etwas essen, und es war ihre Rettung, daß sie sich an einige alte Rezepte von Mama Gorilla erinnern konnte (vergleiche die Rezepte in „Grimmis Buch vom Gorillasee“), an denen er Gefallen fand und die ihn schließlich wieder zu Kräften brachten.

Als Manfred wieder aufrecht hocken konnte, bat er darum, den Stammesrat einzuberufen. Tumu sorgte für genügend Platz in der Wohnhöhle, so daß alle gemütlich sitzen konnten. Es war Herbst geworden, draußen pfiff ein starker Wind, und alle Angehörigen der Bärensippe kuschelten sich aneinander.
„Freunde“, sagte Bärdel. „Mein Sohn hat um diese Versammlung gebeten. Ich weiß, daß er Schweres erlebt hat. Ich weiß nicht, was er uns sagen will. Ich bitte, hört ihn freundlich an“.
Bärdel sagte die Wahrheit – und doch nicht. Natürlich hatte er von Tumu einiges darüber erfahren, was Manfred bei den Menschen durchgemacht hatte. Dennoch tat er pflichtgemäß so, als sei er uninformiert – so hatte sich ein objektiver Versammlungsleiter bei den Bären zu verhalten. Gleichzeitig mußte er immer um freundliches Gehör bitten – das gehörte auch zum Ritual.
Zustimmendes Gemurmel antwortete ihm.
„Ich“, sagte Manfred, „habe Unsinn gemacht. Meine Eltern haben mich gewarnt. Ich habe ihnen zuwider gehandelt und bin zu den Menschen gegangen. Ich bin gegangen, weil ich etwas über die Menschen lernen wollte. Ich habe auch etwas gelernt: Menschen rechnen Menschen gegen Geld auf. Wenn es ihnen zu teuer wird, bringen sie die zu teuren Menschen um. Sie heuern sogar Mörder an, um solche angeblich zu teuren Menschen zu töten. Sie haben versucht, mich als einen solchen Mörder anzustellen“.

Stille herrschte in der Bärenhöhle. Unsicher schaute Manfred von einem Gesicht zum anderen. Alle waren ihm zugewandt. Alle lächelten ihm zu.
„Was ist?“ fragte er.
Das Lächeln verstärkte sich.
„Was ist?“
Er sah in die Runde, sah Kulle an. Es war ihm unmöglich, die Beherrschung und Zurückhaltung zu wahren, die in einer Bärenversammlung zum guten Ton gehören.
„Bei Tussi! brach es aus ihm heraus. Glotzt nicht so verständnislos! Es geht um Mord, sogar um Massenmord! Dagegen muß man doch etwas tun!“
Unsanft wies Bärdel ihn zurecht – bei aller Sympathie durfte ein Versammlungsleiter einen solchen Ausfall nicht durchgehen lassen.
Kulle meldete sich zu Wort: „Die negative Weiterentwicklung der Primaten zu den Humanen und die damit einhergehende ethische Regression hat logisch eine Extension der Agression zur Folge, gerade auch intra speciem. Das ist wissenschaftlich unumstritten. Es ist daher…“
Zufällig streifte sein Blick beim Sprechen Manfred, der ihn mit offenem Mund verständnislos anstarrte. Am liebsten hätte er sich vor Ärger eine Pranke voll Haare aus dem Pelz gezogen. Mußte er auch gerade jetzt in seinen alten Fehler verfallen! Immer dann, wenn er gerührt war, drückte er sich viel zu hochgestochen aus. Sofort schaltete er um:
„Es ist daher völlig verständlich, wenn Manfred einen Schock erlitten hat“. „Auch“, fuhr er fort, indem er sich Manfred direkt zuwandte, „auch kann ich gut verstehen, daß Du gegen das Morden etwas unternehmen möchtest. Das geht aber nicht. Hör mir jetzt gut zu: Die Menschen machen das, weil sie Menschen sind. Verstehst Du? Weil! Sie handeln nicht gegen ihre Natur, sondern ihr entsprechend. Wenn Du den Massenmord beenden willst, mußt Du die Menschen vernichten“.
Lastendes Schweigen füllte die Höhle. Langsam setzte sich Kulle.
Erst nach langer Zeit war wieder ein Geräusch zu hören. Manfred räusperte sich die Kehle frei.
„Entschuldigung“ sagte er. „Das wußte ich nicht. Ich habe geglaubt…“. Hilflos brach er ab.
„Alle jungen Bären glauben das“, brummte Bärdel. „Weil sie Bären sind“.
„Aber warum… Warum habt Ihr…?“
„Warum wir Dich haben ziehen lassen? Leicht ist es uns nicht gefallen, das hast Du gemerkt. Die meisten jungen Bären müssen die Menschen direkt kennenlernen. Sonst wissen sie nicht, wie diese Monstren wirklich sind. Die Erzählungen von uns Alten haltet Ihr Jungen für übertrieben.“
„Stimmt“, seufzte Manfred. „Ich habe Euch nie so richtig geglaubt. Aber jetzt habe ich Angst. Sollte man nicht Bärenleben…?“
„Keine Sorge“, schmunzelte Bärdel. „Während Deiner Abwesenheit haben unsere Physiker die Tarnkappe über Bärenleben fertiggestellt. Uns findet keiner – zumindest kein Mensch.“
Plötzlich ertönte vor der Höhle lautes Rülpsen und Grunzen. Höhnisch schien es Bärdel zu widerlegen. Die Bären hockten starr. Ein Kopf schob sich herein: Steckdosenschnauze, spitze Ohren, Ringelschwänzchen.

„Ich bitte um politisches Asyl“, quiekte es.

„Gewährt“, brummte die Bärenhorde im Chor.