Wenn der Mensch der Würde würdig wäre

Kulle

Von P. D. Kulle

Inhalt:

Was ist der Mensch?

Der Mensch ist ein Tier. Er hat lange gebraucht, um die Vorstellung zu entwickeln, dass er auch ein ganz besonderes Tier ist.

Was den Menschen der Steinzeit in Südwesteuropa bewegte, lässt sich an seiner „Höhlenmalerei“, die nur partiell aus Malerei, sondern auch oft aus Piktogrammen besteht, wenigstens zum Teil erschließen. Es wimmelt an den Wänden und Decken der berühmten Kavernen in Frankreich und Spanien von Tieren: zum Beispiel Mammuts, Bisons, Kühen und Stieren, Hirschen und immer wieder Pferden. Aber nur eine Darstellung eines Menschen ist in der Grotte von Lascaux im Périgord bekannt.

An einem ihrer tiefsten Punkte1Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen finden sich rechts die Darstellung eines angreifenden, wiewohl bereits verwundeten Bisons. Nach links läuft, offenbar mit hoher Geschwindigkeit, ein Rhinozeros davon. Beide wilden Tiere sind sehr sorgfältig in mehreren Farben ausgeführt.

Zwischen ihnen liegt eine menschliche Gestalt auf dem Rücken, erkennbar ein Mann, denn der Penis ist erigiert. Die Figur ist nur als Strichzeichnung ausgeführt, der Körper ist ein Rechteck, die Beine sind gerade, die Arme lang ausgestreckt, an den Händen jeweils vier Finger. Nur vier. Der Kopf, ein Vogelkopf, ist zur Seite gewendet.

Vor der anscheinend leblosen Figur steht auf einem Stecken die stilisierte Figur eines Vogels.

Diese Szene in ihrer Uneindeutigkeit gibt Kulturanthropologen seit Jahrzehnten Anlass für unterschiedlichste Theorien.

Handelt es sich überhaupt um eine Szene, oder sind verschiedene Figuren zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, stehen in keinem Zusammenhang zueinander?

Ist die Darstellung des Toten eine Warnung? Die Zeichnungen sind im ‚Brunnen‘ der Grotte angebracht, in dem die CO2-Konzentration Werte von 5 oder 6% erreichen kann. Besagt die Information: Geh besser wieder weg, oder bleib nicht zu lange?

Ist der Tote Opfer eines Jagdunfalls? Hat er eines der Tiere angegriffen, oder hat er sich in den Tierkampf eingemischt? Aber: Haben Tote eine Erektion?

Stellt der Mann sich tot, um einem Angriff des wütenden Stiers auszuweichen? Stiere greifen nur an, was sich bewegt.

Das alles aber erklärt nicht die Vogelsymbolik.

Ist der Mann ein Schamane in Trance, dessen Geist die Erde verlassen hat? Der mit dem Vogel in den Himmel geflogen ist?

So viele offene Fragen. Eines aber ist sicher: Die Hauptakteure in dieser Darstellung sind Stier und Rhinozeros, sind die sorgfältig dargestellten Tiere auf vier Beinen. Der flüchtig skizzierte Zweibeiner ist zwar in den Mittelpunkt gerückt, verdient aber keine sorgfältige Ausführung. 

Es vergehen Jahrtausende, bis weitere, eindeutigere Aussagen über den Menschen gemacht werden. Dazu bedurfte es der Entwicklung der Schrift. Und auch der Einführung einer imaginären Größe: Gott.

Im Buch Genesis, dem ersten Buch des jüdischen Tanach, des samaritanischen Pentateuch wie auch des christlichen Alten Testaments, dessen Teile vermutlich zwischen 3000 und 600 v.u.Z. entstanden sind, wird die Menscherschaffung dargestellt.

Gott formt den Menschen aus Erde. Das neue Wesen ist also Teil seiner Umwelt. Aber damit der Mensch zum Menschen wird, geschieht noch ein Zweites. Das Geschöpf aus Erde wird erst richtig zum Menschen, indem ihm Gott seinen Atem, seinen Geist in die Nase bläst (Genesis 2,7). Der Mensch wird beseelt. Gott tritt also in den Menschen – seine Schöpfung – hinein. In ihm berühren sich Himmel und Erde. In dieser Sicht ist der Mensch etwas sehr Besonders, etwas Außerordentliches.

Wenden wir uns der griechischen Antike zu. Aristoteles von Stagira2384 – 322 v.u.Z. kommt ohne Gott aus. Er betrachtet den Menschen unter rein irdischen Aspekten. Ihm zufolge hat der Mensch eine Seele wie jedes Tier. Was ihn von anderen Tieren unterscheidet, ist seine Vernunft. Zudem wird der Mensch definiert als „Zoon politikon“3Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis. Löst man den Begriff aus seiner historischen Gebundenheit, gelangt man zur Definition des Menschen als eines sozialen und politischen Lebewesens.

Der Römer Cicero4106 – 43 v.u.Z. betrachtet den Menschen ähnlich wie Aristoteles: Er sei kein Einzelgänger, sondern darauf angelegt, in einem Staat zu leben. Gegenüber den Tieren hat er eine Vorrangstellung, der er aber nur dann gerecht wird, wenn er sein Leben entsprechend führt: indem er seinen Geist betätigt, anstatt sich niederen Trieben hinzugeben. Besonders die Sprachbegabung unterscheidet den Menschen von den Tieren.

Ausgehend von der Sprache als dem zentralen Wesenszug des Menschen erblickt Cicero im universal gebildeten „vollkommenen Redner“ (orator perfectus), der sein Wissen in den Dienst der Gemeinschaft stellt, den idealen Menschen und somit das höchste Erziehungsziel5Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Bisher sehen wir den Menschen als ein Wesen mit besonderen Merkmalen dargestellt, das aus dem Tierreich herausragt. Daraus werden aber keine besonderen Ansprüche an die Gesellschaft abgeleitet. Diese Ansprüche werden erst in der europäischen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert formuliert.

Samuel von Pufendorf61632 – 1694 erklärt: Der Mensch sei von höchster Würde, weil er eine Seele habe, die  sich durch Verstand auszeichnet, weil er Urteils- und Entscheidungsfähigkeit  besitze und sich in vielen ‚Künsten‘ auskenne.

Das klingt zunächst vertraut, ist aber doch völlig neu. Seele, Vernunft und Entscheidungsfreiheit werden erstmals verknüpft mit der Idee der Menschenwürde.

Damit verbindet Pufendorf die Idee der Menschenwürde mit der Idee der Seele, mit der Idee der Vernunft und mit der Idee der (Entscheidungs-)Freiheit.

Immanuel Kant71724 – 1804 hat diese Idee der Menschenwürde genauer bestimmt. Ihm zufolge ist der Mensch ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein. Das bedeutet, dass jeder Mensch ein Existenzrecht hat, woraus resultiert, dass alle Menschen prinzipiell gleichwertig sind und einander achten.

Kant geht davon aus, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf. Das heißt: Die Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt – etwa durch Sklaverei, Unterdrückung oder Betrug. Und da jeder Menschen ein Existenzrecht hat, darf kein Mensch getötet werden.

Diese Definition ist folgenschwer. Sie evoziert unter anderem die Frage: Wann beginnt menschliches Leben?

Wann beginnt menschliches Leben?

Der Abbruch einer Schwangerschaft ist natürlich keine Erfindung der Neuzeit, das zeigen Schriftzeugnisse aus frühen Hochkulturen, etwa aus Altägypten.8 Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.

Der altägyptische Papyrus Ebers, ca. 1600 v.u.Z., beschreibt Mittel dazu: Kräutertränke, Scheideneinspritzungen und Vaginalkugeln.

Im antiken Griechenland wurden kinderreiche Familien nicht immer als gesellschafts- und bevölkerungspolitisches Ideal betrachtet. Nach Aristoteles’ Ansicht sollte der Staat weder zu groß noch zu klein sein. Er sah in der frühen Abtreibung ein geeignetes Mittel, um eine gleich bleibende Bevölkerungszahl zu erhalten. Hippokrates9 Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva. empfiehlt verschiedene Mittel für einen Schwangerschaftsabbruch. Die griechische Polis sprach dem ungeborenen Kind weder Lebensrechte noch eine Seele zu.

Die Einstellung der Römer ähnelte der der Griechen: Nachwuchs war erwünscht, solange er das Erbe und die Altersvorsorge sicherte. Eine größere Kinderanzahl galt hingegen als Existenzgefährdung. Auch in Rom hatte ein Fötus weder Lebensrecht noch Seele, sondern wurde als Teil des Körpers der Mutter angesehen. Die römischen Ärzte verfügten bereits über ein sehr differenziertes und reichhaltiges Wissen, mit dem sie der großen Nachfrage nach Mitteln und Methoden zur Abtreibung nachkommen konnten. Vermutlich kannte man schon über zweihundert Abortiva, von denen ca. 90 Prozent recht wirksam waren.

Nach dem Zusammenbruch der römischen Zivilisation übernahmen religiöse Vorstellungen die Deutungshoheit über menschliches Leben. Wann beginnt es?

Am Anfang der menschlichen Reproduktion steht die Befruchtung – die Verschmelzung von Samen- und Eizelle. Dieser Akt ist nach heutiger Sicht der katholischen Kirche identisch mit der Menschwerdung.

Allerdings ist die sehr frühe Datierung menschlichen Lebens im Christentum noch nicht sehr alt.  Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt die Meinung, dass die Beseelung des Menschen eine Entwicklung darstelle. Mittelalterliche Theologen wie Thomas von Aquin beriefen sich auf Aristoteles, wohl deshalb, weil sie in den heiligen Schriften keine Antworten auf diese Frage fanden.

Der Stagirit geht von folgender Annahme  aus: Es dauert bei einem männlichem Embryo 40 Tage und bei einem weiblichen Embryo 80 Tage bis zur Menschwerdung. Denn die ganze Formkraft des neuen Lebewesens besteht allein im männlichen Samen, während die Frau nur das Menstruationsblut als materielle Voraussetzung bietet. Wenn es zur Geburt eines Mädchens kommt, ist das Ausdruck eines Versagens der Natur, weil der männliche Same unbedingt ein ihm Ähnliches hervorbringen möchte10 Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin. Aristoteles meint, dieser Prozess benötige 40 Tage beim Mann und 80 Tage bei der Frau.

Damit liegen Aristoteles und die alte christliche Vorstellung nicht weit entfernt von der Datierung des Lebensbeginns im Judentum – das allerdings keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Embryo macht.

Auch die islamischen Schriften datieren den Beginn des menschlichen Lebens sehr spät. Nach einer Aussage des Propheten Mohammed dauert die Menschwerdung nach der Befruchtung 120 Tage.

Schwangerschaftsabbruch

Wenn denn der Mensch eine unverletzliche Würde besitzt und wenn er diese Menschenwürde bereits im Mutterleib erwirbt, ob direkt nach der Befruchtung, nach 40, 80 oder 120 Tagen, so ergibt sich logisch: Der Embryo darf nicht getötet werden. Schwangerschaftsabbruch ist folglich verboten und wird mit Mord gleichgesetzt.

So sind auch Verbote für Hebammen die Regel:

„Die Hebammen sollen sich bey schwerer Strafe enthalten, abtreibende, oder gefährliche Mittel zu geben, oder einzurathen… Falls ihnen unschuldiger Weise ein dergleichen Ansinnen eröfnet würde, haben sie die Personen, … an die Medicos zu verweisen, welche schon wissen werden, wie in solchem Falle fürzugeben sey, wie dann gleichfalls den Apothekern bereits aufgetragen worden, bey empfindlicher Ahndung den Hebammen ohne Vorwissen eines approbierten Medici dergleichen bedenkliche Mittel keineswegs verfertigen, oder reichen zu lassen.“11 Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.

und natürlich auch Strafen für Schwangere:

§144. Eine Frauenperson, welche absichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibesfrucht verursacht, oder ihre Entbindung auf solche Art, daß das Kind tot zur Welt kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.

§145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen; die zustande gebrachte Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden.12 § 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)

Neben der sogenannten Menschenwürde gibt es aber durchaus praktische Gründe, aus denen Vertreter der herrschenden (politischen) Klasse sich gegen Geburtenkontrolle durch Frauen wenden.

Angesichts der großen Verluste an wertvollstem Menschenmaterial, die der Krieg mit sich bringt, muß die Heeresverwaltung pflichtgemäß allen Maßregeln ihr besonders Augenmerk zuwenden, die geeignet sind, den Ersatz der Verluste zu fördern, oder eine Schmälerung dieses Ersatzes hintanzuhalten. In der zweiten Richtung spielen der Gebrauch von Verhütungsmittel und die Abtreibung der Leibesfrucht eine bedeutende Rolle. Sie wirken dem natürlichen Ausgleich entgegen, der schon im Kriege, noch viel mehr aber nach seinem Ende, eintreten würde, da der geschlechtliche Verkehr sich stark steigern wird. … Sonach ergibt sich, daß dieses schädliche Verhalten in der Bevölkerung zunimmt u. noch mehr zunehmen wird, gerade in einer Zeit, in der das Interesse des Staates so sehr wie noch nie darauf gerichtet ist, es hintanzuhalten. …13  Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916

So unverblümt utilitaristisch wie während des Ersten Weltkriegs wird sich gegenwärtig in Mitteleuropa wohl kaum jemand zu äußern wagen. Stattdessen bemüht man sich vor allem in Dehland, wohl auch getrieben vom schlechten Gewissen wegen der Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten, darum, die Schutzwürdigkeit des menschlichen Fötus argumentativ zu beweisen, wobei die Qualität der Argumente durchaus zu wünschen übrig lässt.

Die SKIP-Argumente – Speziesargument, Kontinuumsargument, Identitätsargument und Potentialitätsargument – versuchen Gründe dafür anzuführen, dass das Leben des menschlichen Embryos unbedingt schützenswert sei.

Das Speziesargumentbesagt, dass alle Angehörigen der Spezies Homo sapiens Würde haben. Da auch Embryonen der Spezies Mensch angehören, müsse ihr Leben ebenfalls geschützt werden.

Es handelt sich hier um einen naturalistischen Fehlschluss14 vulgo: Zirkelschluß: Die bewertende Prämisse wird stillschweigend vorausgesetzt.

Laut dem Kontinuitätsargument entsprechen den entscheidenden Entwicklungsschritten eines Embryos (Imprägnation, Syngamie, erstmalige Transkription unabhängig von der mütterlichen RNA, Implantation, Primitivstreifen, Neurulation) keine moralisch begründbaren Wertunterschiede. Dies bedeutet, dass aufgrund seiner kontinuierlichen Entwicklung kein klarer Strich gezogen werden kann, ab wann ein Embryo als schutzbedürftig gilt. Deshalb habe ein Embryo schon zu Beginn seiner Entwicklung Würde.

Folgt man dieser ‚Logik’, dürfte es im menschlichen Leben keine abgestuften Rechte geben. Es handelt sich um eine unbegründete Behauptung, da sehr häufig Rechte nach Entwicklungsphasen abgestuft werden (vgl. die Einschränkung der Rechte von Kindern oder Pflegschaften).

Dem Identitätsargument zufolge besteht in moralischer Hinsicht eine Identitätsbeziehung zwischen dem Embryo und der Person, die sich aus ihm entwickeln kann. Hat die Person Würde, muss die Würde auch dem Embryo zugestanden werden.

Aber: Aus einer Eizelle können sich mehrere Embryonen bilden. Dies widerspricht der These, dass Lebewesen zu jedem Zeitpunkt miteinander identisch sind. Die Plazenta, die sich ebenfalls aus der befruchteten Eizelle entwickelt, müsste dann außerdem dieselbe Würde haben wie der Embryo bzw. der geborene Mensch.

Zuletzt besagt das Potentialitätsargument, dass Embryonen deshalb Würde haben, weil sie das Potential besitzen, sich zu einem Wesen zu entwickeln, das würdeverleihende Eigenschaften trägt.

Der Begriff ‚Potential‘ bezieht sich hier gewiss weder auf seine Definition in Mathematik und Physik, sondern auf den ‚Potentialis‘, einen Modus des Verbs, der Ereignisse als möglich kennzeichnet. In der deutschen Sprache wird dergleichen mit Hilfe des Konjunktiv II ausgedrückt. Den Embryo mit dem Menschen gleichzusetzen, der einmal aus ihm werden könnte, erscheint nicht plausibel.15 Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin

International tobt der Kampf um den Schwangerschaftsabbruch weiter. In mehr als 60 Ländern ist er verboten oder nur gestattet, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Wird das Gesetz liberalisiert oder abgeschafft, wie aktuell in Argentinien und Spanien, wird es andernorts verschärft, wie in den USA und Polen.  „Mein Bauch gehört mir!“, der trotzige Slogan westdeutscher Frauen vor 50 Jahren gegen den Paragraphen 218, ist noch immer nicht Realität. Abtreibung ist in Dehland eine Straftat, wird aber nicht bestraft – ein weiterer Puzzleteil, der eine durchweg verlogene Debatte kennzeichnet.

Wie heißt es doch bei Kant? Der Mensch ist ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein.

In der Realität der menschlichen Gesellschaft bestimmen in der Regel alte Männer darüber, ob jungen Frauen ihre Würde genommen wird, indem sie als Mittel zum Zweck der Produktion von angeblich mit Würde ausgestattetem menschlichen Leben benutzt werden.

Der Wert des geborenen menschlichen Lebens

Nur wenige, sehr kleine Staaten der Erde unterhalten keine Streitkräfte. Viele von ihnen haben die Landesverteidigung an besser gerüstete Regional- oder Großmächte delegiert. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass in fast allen Ländern Menschen darauf trainiert werden, im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung  – eines Krieges, aber auch eines Bürgerkrieges – andere Menschen zu töten – oder von anderen Menschen getötet zu werden.

Natürlich wird der Tod für den eigenen Stamm, das eigene Volk, den eigenen Staat ideologisch überhöht.

‚Dulce et decorum est pro patria mori‘, dichtete Horaz. Was es mit dem Tod auf dem Schlachtfeld in Wahrheit auf sich hat, schildert ein schrecklich gelungenes Gedicht von Wilfred Owen aus dem Jahr 1917:

Dulce et Decorum est


Bent double, like old beggars under sacks,
Knock-kneed, coughing like hags, we cursed through sludge,
Till on the haunting flares we turned our backs
And towards our distant rest began to trudge.
Men marched asleep. Many had lost their boots
But limped on, blood-shod. All went lame; all blind;
Drunk with fatigue; deaf even to the hoots
Of disappointed shells that dropped behind.

Gas! GAS! Quick, boys!– An ecstasy of fumbling,
Fitting the clumsy helmets just in time;
But someone still was yelling out and stumbling
And floundering like a man in fire or lime.–
Dim, through the misty panes and thick green light
As under a green sea, I saw him drowning.

In all my dreams, before my helpless sight,
He plunges at me, guttering, choking, drowning.

If in some smothering dreams you too could pace
Behind the wagon that we flung him in,
And watch the white eyes writhing in his face,
His hanging face, like a devil’s sick of sin;
If you could hear, at every jolt, the blood
Come gargling from the froth-corrupted lungs,
Obscene as cancer, bitter as the cud
Of vile, incurable sores on innocent tongues,–
My friend, you would not tell with such high zest
To children ardent for some desperate glory,
The old Lie: Dulce et decorum est
Pro patria mori.

Wilfred Owen fiel im Alter von 25 Jahren am 4. November 1918, genau eine Woche vor Kriegsende, bei Kämpfen am Canal de la Sambre à l’Oise. Postum wurde ihm das Military Cross für Tapferkeit vor dem Feind verliehen.

Orden, also billiges Blech als Belohnung für Verwundung oder Tod, gehören natürlich auch zum militärischen Spiel.

Stellvertreterkriege

Eine besondere Form des Kriegs sind Stellvertreterkriege. Auch dazu braucht es Kombattanten, die einander aus persönlich wichtigen Motiven bekämpfen, zum Beispiel Mitglieder der Internationalen Brigaden auf der einen und der Falange auf der anderen Seite im Spanischen Bürgerkrieg. Die einen strebten Anarchie/Sozialismus/Kommunismus an, die anderen einen klerikal-faschistischen Staat. Aber hinter den tatsächlich Kämpfenden standen größere Mächte: die Sowjetunion auf der einen und das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland auf der anderen Seite. Die konnten ihre „Landeskinder“ schonen, andere in den Kugelhagel schicken und en passant ihre neu entwickelten Waffen für den nächsten Krieg testen. 

Der Spanische Bürgerkrieg von 1936-1939 war der letzte Stellvertreterkrieg auf europäischem Boden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichteten die ehemaligen Alliierten USA und UdSSR auf direkte Konfrontation in einem ‚heißen‘ Krieg und trugen ihren Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären in Asien und Afrika aus. Im Koreakrieg, Vietnamkrieg, Bürgerkrieg in Angola, Afghanistankrieg und im Syrienkrieg starben Menschen mit gelber, brauner und schwarzer Hautfarbe für die Interessen der weißen Machthaber in Washington und Moskau.

Wir erinnern: Der Mensch ist Zweck an sich und darf nie nur Mittel zum Zweck sein. 

Auf Menschenrechte und Menschenwürde beruft man sich in Nordamerika und in Europa gern, wenn es darum geht, unmenschliches16 Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem. Handeln und Kriegsverbrechen anzuprangern. Nicht alle Staaten des globalen Südens sind bereit, in den amerikanisch-europäischen Chor der Verurteilung Russlands wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine einzustimmen. Ist das wirklich verwunderlich?

Schlussbemerkungen

Mensch, Leben, Lüge, Krieg und Tod – viel ließe sich dazu noch sagen. Zu Kinderarbeit. Zu Kindersoldaten. Zu Flüchtlingen. Zu Grenzzäunen. Zu Schleppern. Zu Sklaven. Zu…17 Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin

Fußnoten: (Wenn Sie die Fußnote anklicken, erscheint der Text im Extrakasten)

  • 1
    Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen
  • 2
    384 – 322 v.u.Z.
  • 3
    Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis
  • 4
    106 – 43 v.u.Z.
  • 5
    Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren.
  • 6
    1632 – 1694
  • 7
    1724 – 1804
  • 8
     Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.
  • 9
     Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva.
  • 10
     Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin
  • 11
     Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.
  • 12
     § 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)
  • 13
      Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916
  • 14
     vulgo: Zirkelschluß
  • 15
     Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin
  • 16
     Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem.
  • 17
     Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin

März 2023

Vergewaltigung

Vergewaltigung

Bärdel und Kulle lagen entspannt in einer gemütliche Kuhle, nicht weit ab von ihren morgendlichen Spazierrouten, aber versteckt genug, um nicht vom Weg aus gesehen zu werden. Sie waren zufrieden, hatten sie doch heute die Chance, ohne Begleitung unterwegs zu sein – ohne Athabasca und ohne die Eisbärenzwillinge, die sich ihnen häufig anschlossen, und auch ohne andere Bewohner Bärenlebens, die sich nur allzu gerne früh am Tag einfanden, um in den Genuss der Gesellschaft der Beiden zu kommen. Sie ahnten nicht, dass Bärdel und Kulle oft viel lieber allein gewesen wären und den Morgen auf ihre Weise genossen hätten.

Jetzt erholten sich die beiden Männer voneinander und schmeckten ihr Beisammensein nach. Kulle war wie üblich der eiligere von ihnen, er wollte sich gerade aufrichten und davonmachen, als Bärdel ihn festhielt und wie beiläufig fragte:

„Sag mal, hast Du eigentlich schon mal jemanden vergewaltigt?“

Eine so intime Frage war trotz der Intimität zwischen ihnen noch nie gestellt worden. Kulle errötete, was wegen seines Fells nicht sichtbar wurde, wofür er dankbar war. Er sah Bärdel irritiert an, aber der guckte so harmlos zurück, als hätte er sich gerade danach erkundigt, ob Kulle lieber Himbeeren oder Brombeeren verspeiste.

Sollte er empört sein? Ausweichen? Oder den Spieß umdrehen? Das war Kulle zu billig. Er antwortete.

„Ja,“ knurrte er. „Aber nur, wenn sie einverstanden war.“

„Aus Deiner Aussage schließe ich, dass Du keinen Mann vergewaltigt hast, jedenfalls bisher nicht“, stellte Bärdel gemütlich fest. „Und dass Deine Partnerin oder Deine Partnerinnen es schon mal handgreiflich mögen.“

„Kann schon sein. Na und? Warum stellst Du eigentlich so komische Fragen?“ Kulle wurde mehr und mehr ungehalten.

„Es ist Krieg.“

„Es ist immer Krieg gewesen, seit Homo diesen Planeten mit seiner Anwesenheit beglückt. Falls Du da eine Beziehung herstellen willst: Homo hat Homo im Krieg schon immer vergewaltigt. Willst Du darauf hinaus?“

Bärdel nickte. „Eben das verstehe ich nicht. Sexualität ist Sexualität, und Krieg ist Krieg. Was har das eine mit dem anderen zu tun?“

Kulle seufzte. Er hatte gehofft, heute, da er mit Bärdel allein war, würde ihm eine Vorlesung erspart werden. Vergebens.

„Das hat eine Menge miteinander zu tun. Die Situation der Kämpfer in einem Krieg strotzt nicht gerade vor sexuellen Gelegenheiten. Das lässt aber den Sexualtrieb nicht verschwinden.

Ich habe vor kurzem von einem Vorfall in der Antarktis gelesen. Menschliche Wissenschaftler haben beobachtet, dass ein Seebär in eine Pinguinkolonie eingedrungen ist. Er hat sich einen Pinguin geschnappt, ihn festgehalten und brutal vergewaltigt.“

„Sind Seebären etwa mit uns verwandt?“ fragte Bärdel beunruhigt.

„Nein, keine Sorge, sie sind Robben. Aber wir Braunbärenmänner sind auch keine Heiligen, wie Du weißt. Mal fix einer Mutter ihre Jungen wegfressen, damit sie schnell wieder paarungsbereit wird, das ist bei uns nicht allzu selten.

Dieser Kannibalismus ist vom Verhalten des Seebären leider nicht weit entfernt. Der fette Kerl ‚musste‘ vielleicht einen hormonellen Überschuss abbauen oder wollte mit einem Trainingspartner für einen artgerechten Koitus üben. Oder er hat keine Seebärenfrau erobern können.

Nicht nur Säugetiere brauchen Gewalt, wenn ‚sie‘ nicht willig ist. Insekten, Vögel und Fische tun das auch.

Bei uns Säugetieren gibt es signifikante hormonelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Männer sind in der Regel das ganze Jahr über paarungsbereit, während die Frauen einen ausgeprägten Sexualzyklus zeigen. Auch bei Menschenfrauen gibt es diesen Zyklus, Menstruation genannt. Menschenfrauen sind also nur zu bestimmten Zeiten empfängnisbereit, können aber ständig paarungsbereit sein.“

„Gibt es eine Erklärung für diese sexuelle Daueraktivität?“ wollte Bärdel wissen.

„Das weiß man nicht. Zum ersten Mal ist dergleichen außer bei Homo bei Affen in Gefangenschaft beobachtet worden. Langeweile vielleicht? Jedenfalls ein hervorragendes Mittel, um die Überbevölkerung der Erde sicherzustellen.

Wo war ich?“

„Bei signifikanten hormonellen Unterschieden – bist Du damit fertig?“ half Bärdel.

„Noch nicht. Nicht nur das Sexualverhalten, auch das Sozialverhalten ist hormongesteuert. Männer und Frauen haben verschiedene Idealvorstellungen, was die Fortpflanzung betrifft. 

Männer wollen möglichst viele Nachkommen zeugen und haben deshalb mit möglichst vielen Partnerinnen Verkehr. Frauen dagegen kümmern sich um ihre Nachkommen, was logischerweise die Zahl ihrer Sexualpartner reduziert. Das hat Konsequenzen: Selbst bei gleicher Anzahl von Männern und Frauen im zeugungsfähigen Alter stehen mehr Männer zur Paarung zu Verfügung, Frauen werden zu einer begrenzten Ressource. Womit ich fast schon wieder bei unserem Seebären angekommen bin: Männer entwickeln unter diesen Bedingungen ein aggressives Paarungsverhalten, das ihnen helfen soll, Partner zu finden.“

„Und,“ sagte Bärdel, „Du bist schon fast wieder im Krieg angekommen. Dort mangelt es an sexuellen Gelegenheiten.“

„Stimmt.“ Kulle nickte. „Aber im Krieg kommt noch anderes dazu.

Krieg wird mit Waffen geführt. Bei Waffen denkt man zuerst an Geräte, mit denen man den Gegner töten oder zumindest kampfunfähig machen kann – von der Keule bis zur Atombombe.

Es gibt aber mehr Mittel, um ein Kriegsziel zu erreichen. Lüge, zum Beispiel. Mit Desinformation kann man versuchen, die eigenen Leute zum Durchhalten zu animieren und den Gegner in die Verzweiflung zu treiben. Das zielt auf die eigene und die gegnerische Moral, geschieht in der Regel über Medien und erreicht nicht jeden.

Wie erreicht man wenn nicht jeden, so doch genug Einzelne, um beim Feind die beabsichtigte Wirkung zu erzielen? Mit Vergewaltigung. Mit erzwungener Unterwerfung. Man dringt in die Menschen ein, in Kinder, Frauen und Männer, in den Mund, in den Anus oder die Scheide, mit einem Körperteil oder einem Objekt. Und das macht man öffentlich. Das heißt, es gibt Menschen, die zusehen. Wichtig sind dabei nicht die Kumpane des Vergewaltigers, die ihrer Freude an der Tortur haben und ungeduldig darauf warten, dass sie selbst zum Zuge kommen. Wichtig sind die Angehörigen des Opfers: der Mann, der den Missbrauch seiner Frau beobachten muss, die Mutter, vor deren Augen ihr Kind vergewaltigt wird. Brauchst Du noch mehr Beispiele? Ich könnte liefern!“

Bärdel schüttelte den Kopf. „Um Tussis Willen, hör bitte auf! Warum tun Menschen Menschen so etwas an?“

„Weil sie im Krieg sind. Und wer im Krieg ist, ist aggressiv. Viele drücken ihre Aggressivität auch sexuell aus. Dass die Opfer Menschen sind, ist ihnen nicht nur egal. Sie wollen ihre Opfer entmenschlichen.“

„Das verstehe ich nicht. Zu welchem Zweck?“

„Welches Selbstwertgefühl bleibt einem Mann, den man brutal tagelang anal vergewaltigt hat? Oder dem man die Hoden abgeschnitten hat? Er denkt: ‚Ich bin kein Mann mehr‘ – und genau das wollen seine Peiniger erreichen. Welches Selbstwertgefühl bleibt einer Frau, die von einem Vergewaltiger schwanger geworden ist oder von ihm ‚nur‘ eine Geschlechtskrankheit bekommen hat? Sie denkt: ‚Ich bin eine schlechte Frau‘.

Wer Individuen so zerstört, will Familien kaputt machen mit dem Ziel, die Moral des Feindes zu brechen.“

„Brrr!“ Bärdel schüttelte sich und stand auf. „Hat das – Erfolg?“

„Mir sind darüber keine Statistiken bekannt. Viele Opfer, vielleicht die meisten, schweigen aus Scham über das, was sie erlitten haben.

Ich lese, dass Russen seit einem Jahr Folter und Vergewaltigung gegenüber Ukrainern anwenden. Das Ziel, die Moral zu brechen, scheinen sie damit nicht zu erreichen.“

„Und andersherum?“

„Weiß ich nicht. Ich bin auf pro-ukrainische Quellen angewiesen. Auch die sogenannten Guten arbeiten mit Desinformation.“ 

„Bitte entschuldige,“ sagte Bärdel. „Ich habe unseren schönen Morgenspaziergang zu zweit gründlich verdorben. Dabei wollte ich eigentlich nur wissen, ob Du selbst es vielleicht nicht ab und zu auch mal etwas ruppiger magst?“

„Durchaus,“ antwortete Kulle. „Und wenn Du Fragen, die Du direkt beantwortet haben möchtest, künftig direkt stellst, ersparst Du uns vielleicht Umwege durch menschliche Abgründe, die wir eigentlich gar nicht ausloten möchten. So, und jetzt an die Arbeit. Ich will in die Bibliothek.“

Sprachs, stand auf, drückte Bärdel einen Kuss auf den Mund und fragte: „Gehen wir?“

24. Februar 2023

Krieg, Natur, Mensch

Kulle
PD. Kulle

Krieg liegt in der Natur des Menschen

Überlegungen von PD. Kulle

Jede Art hat ihre Eigenart. Jede Art ist stolz auf sich. Aber nicht jede Art ist stolz auf jede Eigenart.

Homo sapiens sapiens zum Beispiel unternimmt alles, um zu verbergen, dass Krieg zu seiner Natur gehört. Er versteckt diese destruktive Anlage nicht nur vor seinen Artgenossen, sondern auch vor sich selbst. Das gelingt mitunter sogar, obwohl der Mensch einen großen, wenn nicht den größten Teil seiner Intelligenz und seiner Gefühle auf die Beschäftigung mit kriegerischem Verhalten verwendet.

Was ist hier unter Krieg zu verstehen?

„Krieg, Natur, Mensch“ weiterlesen

Katharer, Kataris und Katharsis

Bären halten Winterruhe, das weiß sogar jedes Menschenkind. Winterruhe ist aber nicht gleichzusetzen mit Winterschlaf, und das ist längst nicht jedem Menschen bekannt.

Die Bärenlebener hatten sich angewöhnt, mitten im Winter alle gleichzeitig für ein paar Stunden wach zu sein. Dann feierten sie gemeinsam die Wintersonnenwende. Und einer von ihnen erzählte ein Märchen. Weil ihnen aber keine Wintersonnenwendemärchen bekannt waren, hatten sie sich darauf geeinigt, einem Weihnachtsmärchen zuzuhören1. Davon kannten sie auch nicht allzu viele, und die bekanntesten – Der Schneemann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Der Tannenbaum, Nussknacker und Mausekönig und so weiter – waren längst erzählt. Deshalb setzten die Bärenlebener ihren Ehrgeiz darein, sich selbst eine Geschichte auszudenken. Und man musste gut vorbereitet sein: Das Los bestimmte, wer dieses Jahr für die Unterhaltung der Versammlung zu sorgen hatte.

Nur einer machte sich keine Gedanken über winterliches Märchenerzählen. Fabulieren war seine Sache nicht, er hielt es mit wissenschaftlichen Fakten. Und weil das allen Dorfbewohnern bekannt war, erwarteten sie von ihm keine fantasievolle Geschichte. Und er erwartete, in Ruhe gelassen zu werden, was die Produktion und Präsentation von Fabuliertem anging. Er war sich völlig sicher, dass kein Zettel mit seinem Namen im Lostopf lag.

Weit gefehlt!

„Heute erzählt Kulle uns ein Weihnachtsmärchen!“

Kulles Neuinkarnation mit Fliege

Am liebsten wäre Kulle in seiner Schlafnische verschwunden, um weiter zu träumen,  aber jetzt den Spielverderber geben – das ging wirklich nicht.

„Ein Weihnachtsmärchen ist was mit Religion, oder? Geht es vielleicht auch ohne?“ fragte er, allerdings mit wenig Hoffnung.

„Natürlich mit Religion!“ Alle antworteten im Chor.

„Mit christlicher Religion?“

„Natürlich mit christlicher Religion!“

Kulle schluckte den Fluch herunter, der ihm auf der Zunge lag.

„Na denn,“ sagte er, um wenigstens ein bisschen Zeit zu schinden. Natürlich konnte er der Dorfgemeinde viel aus der Kriminalgeschichte des Christentums erzählen, aber ein Märchen wurde das gewiss nicht. Obwohl – ja, so könnte es gehen.

„Wir alle wissen, dass das Christentum sich wie ein Flächenbrand im Römischen Reich ausbreitete und schließlich sogar zur Staatsreligion wurde. Das Reich zerfiel, das Christentum blieb und wurde immer weiter verbreitet. Die römisch-katholische Kirche organisierte sich hierarchisch mit dem Bischof von Rom an der Spitze, der den Titel ‚Papst‘ annahm.

Den Päpsten damals ging es nicht darum, möglichst fromm zu sein, sondern sie wollten möglichst viel Macht und möglichst viele Reichtümer an sich raffen. Der hohe Klerus protzte mit seinem Luxus. 1000 Jahre nach der Geburt von Jesus, nach der Behauptung der Kirche zu Weihnachten, war von der Lehre dieses Mannes, der als Begründer des Christentums gilt, in der katholischen Kirche nichts mehr übrig. Jesus hatte Armut gepredigt.

Es gab aber viele Menschen, die wirklich nach der christlichen Lehre leben wollten. Es gab sie vor allem auf dem Balkan, dort wurden sie Bogomilen genannt. Und in Okzitanien, heute besser bekannt als Südfrankreich. Dort hießen sie Katharer, die Reinen, oder auch Albigenser, nach der Stadt Albi. Sie waren bewusst arm, sie lebten keusch, sie wollten keine Kinder zeugen, denn ihrer Meinung nach war die Welt das Reich des Bösen. Sie lehnten das Alte Testament ab, weil darin ein böser, rachsüchtiger Gott regierte, und anerkannten nur das Neue Testament.

Sie verhielten sich so vorbildlich, dass sie immer mehr Anhänger gewannen. Die katholische Kirche betrachtete sie folglich als Gefahr.

Damals schickten die Päpste Menschen, die glaubten, dass der Papst Gottes Willen verkündet, in den Krieg gegen sogenannte Ungläubige. Sie versprachen ihnen dafür Reichtümer und nach dem Tod die ewige Seligkeit. Die ersten Ungläubigen, gegen die man vorging, waren Moslems im Nahen Osten. Die hatten nämlich das ‚Heilige Land‘ erobert, und die Christen wollten es ihnen wegnehmen. Sie nähten sich ein Kreuz auf die Kleidung und zogen los. Deshalb nannte man sie Kreuzfahrer. 

Jetzt schickte der Papst zum ersten Mal Kreuzfahrer gegen Christen. Die katharischen Städte wurden erobert, in Brand gesteckt und alle Bewohner wahllos getötet, sofern sie nicht entkommen konnten. Nach zwanzig Jahren waren die letzten Katharer zur Kapitulation gezwungen. Okzitanien wurde ins französische Königreich eingegliedert.“

Sehr alter Bär im Sommer

„Mein sehr junger Bär, nun ist es aber genug!“ Der sehr alte Bär reckte seinen fast kahlen Schädel empört in die Höhe. „Du weißt offenbar nicht, was ein Märchen ausmacht. Das mag an Deinem zarten Alter liegen. Deshalb sage ich Dir: Du hältst uns hier einen historischen Vortrag, in dem es von Abscheulichkeiten nur so wimmelt. Das entspricht nicht unseren Erwartungen!“

Die Versammlung hielt den Atem an. Alle fragten sich, wie Kulle reagieren würde.

„Mein sehr verehrter sehr alter Bär, ich bitte um Verzeihung, dass ich Dir widersprechen muss.“ Kulle bemühte sich um einen höflichen Ton, aber seine Stimme war eine Terz höher als gewöhnlich. Daran konnte man bemerken, dass er sich ärgerte.

„Ich darf Dich daran erinnern, dass auch die Weihnachtsgeschichte aus den Evangelien historische Fakten enthält – oder wenigstens so tut. Es steht dort geschrieben, dass König Herodes alle männliche Erstgeburt töten ließ, weil ihm die Weisen aus dem Morgenland erzählt hatten, es gäbe einen neuen König der Juden. 

Ich darf Dich daran erinnern, dass auch die Weihnachtsgeschichte aus den Evangelien von Abscheulichkeiten nur so wimmelt. Sie beginnt mit der Darstellung herzlos behandelter Reisender und deren Flucht in ein anderes Land und endet mit Folter und Tod des Hauptdarstellers. Sie beginnt also schlimm und endet ganz schlimm.2

Mein Märchen dagegen hat ein Happy End, Du wirst schon sehen!“

Kulle holte tief Luft. Als er weitererzählte, war seine Tonlage wieder normal.

„Die päpstlichen Kreuzfahrer hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, die Katharer umzubringen, aber alle hatten sie nicht erwischen können. Wer überlebte, floh und versuchte, aus dem Machtbereich der katholischen Kirche herauszukommen. Der Weg nach Osten bot sich an, derselbe Weg, den die ersten Kreuzfahrer genommen hatten: der Weg nach Palästina.

Wer heutzutage flüchtet, kommt nicht schnell voran. Früher waren Flüchtlinge noch viel langsamer. Jahre vergingen, bis sie über Griechenland und die Türkei nach Jerusalem gelangten. Die Moslems dort hatten die Kreuzfahrer längst wieder vertrieben und lebten in Frieden, aber die Katharer empfingen sie nicht mit offenen Armen: Christen, was auch immer für Christen, waren ihnen verdächtig. So zogen sie weiter südwärts, immer an der Küste Arabiens entlang, bis sie zu einer abgelegenen menschenleeren Halbinsel kamen. Sie nannten sie Katar und ließen sich dort nieder. Das heißt, eigentlich ließen sie sich nicht nieder, denn damit die Tiere, die sie züchteten, in der Wüste genug Nahrung fanden, mussten sie umherziehen. Sie lebten fast wie früher: in Armut und Bescheidenheit. Nur vergaßen sie im Lauf der Jahrhunderte ihre Religion und übernahmen den Glauben ihrer Beduinennachbarn: den Islam.

Aber als sich vor wenigen Jahrzehnten die Erde auftat, änderte sich alles. Öl schoss aus dem Wüstensand, und alle Welt wollte es kaufen. Auf einmal hatten die Kataris viel Geld, und da sie ihre Religion vergessen hatten, fanden sie daran nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Sie genossen ihren Reichtum und gaben auch viel Geld mit vollen Händen aus. In diesem Jahr haben sie die Welt zu Gast gehabt: Sie haben viele schöne Stadien gebaut, darin spielten die besten Nationalmannschaften um die Fußballweltmeisterschaft der Männer.

Und wenn sie nicht gestorben sind,  dann bauen sie in ihrer Stadt Doha weiter wunderbare künstliche Inseln und genießen das Leben.“

Kulle setzte sich. Die Dorfversammlung blieb eine Weile lang still, dann setzte zaghafter Beifall ein. Bärdel als Versammlungsleiter bedankte sich höflich für die gemeinsame Anwesenheit und das schöne Märchen. Danach wünschte er allen eine weiterhin angenehme Winterruhe.

Kulle und Bärdel blieben allein in der Höhle zurück. Athabasca war an ihnen vorbeigekommen und hatte Kulle en passant den Vogel gezeigt. Na und Nuk hatten ihn fragend angesehen, waren aber weiter gegangen, als er stur an ihnen vorbeigeschaut hatte. Manfred, Tumu, Ramses, Piggy und Minerva – alle hatten den Kopf geschüttelt, und die Eule hatte ihren Hals so sehr verdreht, dass es aussah, als wollte sie sich selbst erwürgen.

„Was um Tussis Willen ist in Dich gefahren? Du weißt doch, was die Menschen mit der Nutzung fossiler Energien dem Klima antun?“

„Natürlich weiß ich das. Ich weiß auch, was Menschen mit der Ausübung von Religion ihresgleichen antun. Den Katharern haben sie viel angetan. Natürlich haben die Kataris nichts mit den Katharern zu tun. Aber wenn sie deren Nachfahren wären, hätten sie die Reinigung von der früheren Furcht und den früheren Schrecken verdient.

Im Übrigen: Nicht die Länder mit den Erdöl- und Erdgaslagerstätten sind in erster Linie verantwortlich für den Anstieg der Treibhausgase, sondern die Gier der Industrieländer.

Und ich weiß auch: Das ‚Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‘ ist vielleicht wahr, aber es impliziert die Lüge, dass der Honeymoon ewig dauert. Wenn Romeo und Julia nicht gestorben wären, dann hätten sie vielleicht als frustriertes zänkisches Ehepaar geendet. Auch für die Kataris dürfte es ein böses Erwachen geben.

Eine Bitte noch: Nehmt meinen Namen für die nächsten Weihnachtsmärchenerzählabende besser aus dem Lostopf.

Und jetzt gehe ich ins Bett.“

Dezember 2022

Motiv

Die Morgenwanderung rund um Bärenleben glich heute dem Zug einer kleinen Karawane. Nicht nur Bärdel und Kulle gingen spazieren, nicht nur die Eisbärenzwillinge und Athabasca waren zusammen mit ihnen unterwegs, auch Anna und Otto hatten höflich gefragt, ob sie sich anschließen dürften. Bisher hatten sie von dem Ritual zu Tagesbeginn lediglich gehört, erlebt hatten sie es noch nicht.

Fünf braune und zwei weiße Bären trabten also auf einsamen Waldwegen dahin, manchmal bahnten sie sich auch ihren Weg durchs Unterholz. Niemand sprach. Atti  arbeitete an einem Szenario für ein Rendezvous mit Kulle in naher Zukunft, Kulle strukturierte im Geiste seine geplante Arbeit über ökologische Kipppunkte, Bärdel dachte über das Programm des Dorffestes zum Frühlingsbeginn nach, und Anna und Otto schwiegen, weil die anderen Erwachsenen stumm blieben. Das wurde den Eisbärenkindern natürlich schnell langweilig.

„Tante Anna, Tante Atti, Onkel Bärdel, Onkel Kulle, Onkel Otto“ – Na holte nach so vielen Anreden in korrekter alphabetischer Reihenfolge erst einmal tief Luft – „können wir bitte ein Spiel spielen?“

„Gerne!“ brummte Otto. „Ich kann aber nur Palindrome suchen.“

Anna knuffte ihn in die Seite. „Halt doch erst mal Deinen Mund!“ zischte sie. „Wir sind neu hier! Warte ab, was die anderen machen!“

Athabasca konnte Na und Nuk nur schwer etwas abschlagen, und auch Bärdel ließ sich schnell erweichen. „Was möchtet Ihr denn spielen?“ erkundigte er sich bei Na, denn die hatte den Vorschlag gemacht. Aber wie so oft: Na hatte geredet, ohne zu Ende zu denken.

Ihre Schwester kam ihr zu Hilfe. „Jeder nennt eine Eigenschaft, die für Menschen typisch ist, für Bären aber nicht. Wer etwas Falsches sagt, oder wem nichts mehr einfällt, der scheidet aus.“

Zustimmendes Gemurmel. Nur Kulle murmelte nicht: Er fand, dass er sich in seinen Arbeiten schon mehr als genug mit Menschen beschäftigte. Das musste er nicht auch noch in seiner freien Zeit machen. Aber er fügte sich in sein Schicksal.

„Und wer soll anfangen?“ fragte Bärdel.

„Wer erster im Alphabet ist,“ erklärte Na. „Also Tante Anna.“

Anna
Anna

Anna erschrak zutiefst. Sie hatte doch kaum Erfahrungen mit Menschen gemacht! Es gab nur die wenigen Kontakte in Bad Kösen. Aber sie hatte keine Wahl.

„Menschenfrauen tragen gerne Kittelschürzen,“ sagte sie tapfer1 „Bärinnen nicht.“

Athabasca brummte unwillig gegen das verhaltene Kichern an, in das alle außer Otto einfielen. „Seid nicht so albern!“ schimpfte sie. „Anna hat völlig Recht. Menschen tragen Kleider, wir tun das nicht. Und jetzt bin ich wohl dran.“ Sie dachte kurz nach und behauptete dann: „Menschen lernen nicht aus ihren Fehlern, Bären schon.“

„Kannst Du das begründen, Tante Atti?“ Natürlich war das Na. Während ihrer Erziehung hatte Athabasca sie dauernd nach Begründungen für ihre unreflektierten Spontanbemerkungen gefragt. Aber die Provokation lief ins Leere.

Athabasca
Athabasca

„Selbstverständlich kann ich das. Die dehländischen Politiker und Wirtschaftsbosse mussten gerade schmerzlich erfahren, dass man sich von unberechenbaren Partnern nicht abhängig machen darf. Konkret: von russischem Öl und Gas. Und was machen sie jetzt? Sie denken nicht daran, ihre Abhängigkeit von der Volksrepublik China zu verringern.

Für die Bärenlebener war es ein Fehler, in die USA auszuwandern. Sie haben den Fehler korrigiert und sind nach Dehland zurückgekommen. Sie haben auch erkannt, dass Bären sich in diesem Land nicht offen zeigen sollten. Dieser Fehler wurde ebenfalls korrigiert.“

Dem war nichts hinzuzufügen.

„Wenn Bären ein Versprechen geben, halten sie es auch. Wir alle wissen das. Bei Menschen ist das anders. Sie unterzeichnen feierlich Verträge und versprechen, sich daran zu halten, und dann machen sie auf einmal das Gegenteil. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich immer mehr Staaten in den Vereinten Nationen zusammengeschlossen und versprochen, die Souveränität und nationale Integrität aller anderen Staaten nicht anzutasten. Russland führt jetzt aber einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und deren Bevölkerung.“ Das war Bärdel.

Anna und Otto staunten und merkten, was sie alles noch lernen mussten. Sie staunten leise, und auch sonst sagte niemand etwas.

Kulle war an der Reihe. Seine Stimme klang müde, und das lag daran, dass er das, was er sagen wollte, schon zu oft sagen musste.

Kulle
Kulle

„Die Menschen, und damit meine ich die Menschen, die die Macht haben, die Verhältnisse zu gestalten, diese Menschen wollen nicht begreifen, dass sie durch ihr Handeln die Lebensgrundlage ihrer Spezies zerstören. Wir Bären machen so etwas nicht. Wir nehmen uns immer nur so viel von der Natur, wie die Natur ersetzen kann. Aber das wisst Ihr ja alles schon. So, und jetzt bist Du an der Reihe, kleine Na.“

Na war überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Schwester und sie auch mitspielen sollten, und hatte deshalb nicht überlegt, was sie sagen sollte. Aber  ihr fiel schnell etwas ein. „Menschen lernen nicht aus ihren Fehlern, Menschen brechen Versprechen, Menschen zerstören die Lebensgrundlage ihrer Spezies. Aber warum? Für dieses unmoralische und dumme Verhalten muss es doch einen Grund geben! Denken können die Menschen doch, intelligent sind sie doch, oder?“

Na hatte Kulle direkt angesprochen und sah ihn an. Alle sahen Kulle an. Kulle seufzte. „Die Menschen sind clever genug, einander übers Ohr zu hauen. Viele denken nur darüber nach, wie ihnen das am besten gelingt. Weiter denken sie nicht. Ich halte das nicht gerade für ein Zeichen von Intelligenz.“

„Onkel Kulle, das ist sicher richtig, aber es beantwortet nicht Nas Frage nach dem Grund,“ hakte Nuk nach.

„Gut, also machen wir es konkret. Warum hat sich Dehland von russischem Öl und Gas abhängig gemacht? Weil es billig war. So konnte man die Produktionskosten niedrig halten – die Kosten für Energie und die Kosten für die Arbeitskraft, denn billige Energie stand auch den abhängig Beschäftigten zur Verfügung. Warum China? Das Land liefert seltene Erden, steht als verlängerte Werkbank zur Verfügung, ist ein großer Absatzmarkt vor allem für dehländische Autos.

Warum will Putin die Ukraine als eigenständigen Staat vernichten? Weil die Ukraine mit ihren Bodenschätzen und ihrer Industrie bis 1990 Teil der Sowjetunion war, die damals zerbrochen ist. Putin will das sowjetische Imperium wiederherstellen und sein Land so wieder zu einer Großmacht machen. Er selbst will als großer Politiker und Stratege in die Geschichte eingehen.

Und die Zerstörung der Lebensgrundlage der menschlichen Spezis? Ein Unternehmen, dessen Geschäftsmodell die Förderung und Verarbeitung von Erdöl ist und das damit sehr viel Geld verdient, will dieses Geschäftsmodell nicht aufgeben. Es hängt sich bestenfalls ein Feigenblatt um und behauptet, neuerdings grüne Energie zu fördern.

Eine Regierung, deren Geschäftsmodell das Wohlwollen oder zumindest die Tolerierung der Bevölkerung ist, und dieses Geschäftsmodell gilt für Demokratien wie Diktaturen gleichermaßen, wenn auch nicht in gleichem Maße, eine solche Regierung kann den Wohlstand der Bevölkerung, so gering er auch sein mag, nicht durch drastische ökologische Maßnahmen gefährden. Und so läuft alles weiter wie bisher.“

„Und der Grund, Onkel Kulle?“

„Kleine Na, in all dem, was ich gerade erklärt habe, steckt der Grund. Er ist noch nicht einmal versteckt, er liegt offen zutage. Kommst Du wirklich nicht darauf?“

Na

Na wäre am liebsten im Boden versunken oder hätte irgendein Ablenkungsmanöver  begonnen, aber bevor sie nach einem Ausweg suchen konnte, wurde sie gerettet.

„REIG! ZIEG!“ brummte Otto. „Entschuldigt bitte, aber Ihr wisst ja, die Palindrome…

Otto

Ich kenne leider keine Sprache, in der diese Eigenschaft in ein schönes Kugelwort verwandelt werden kann. Auf Italienisch heißt sie ávidita. Atidivá ist eine ziemlich gute Annäherung, findet Ihr nicht? Türkisch geht auch: Tamah wird zu hamat. Auf deutsch ist die Sache ziemlich schlecht: Geiz und Gier, Reig und Zieg. Aber abgesehen von den mangelnden Palindromen: Ich habe doch Recht, oder?“

Kulle nickte anerkennend. „Und wie Du Recht hast!“ Mit einem Seitenblick zu Na bemerkte er: „Es ist schön, wenn in Bärenleben Bären leben, die logisch denken können, nicht wahr?“

Na schmollte, aber das würde schnell vorübergehen. Nuk tröstete sie. Otto strahlte. Anna blickte bewundernd. Athabasca und Bärdel verfielen in einen gemütlichen Bärentrott und riefen den anderen zu: „Nun kommt schon! Höchste Zeit fürs Frühstück!“

November 2022

Kein Kanzlerbesuch

„Immer noch keine Anfrage? kein Annäherungsversuch?“ fragte Bärdel seinen Sohn.

„Nö.“

Könntest Du Dein Überwachungssystem bitte noch einmal überprüfen?“

„Könnte ich.“

Bärdel wurde zornig. „Solche unhöflichen Antworten gehören sich nicht, das solltest Du wissen!“ wies er Manfred zurecht.

„Das finde ich auch, Papa,“ stimmte der zu. „Ich habe mir übrigens nur erlaubt zu zitieren. Was der Nummer Drei in Dehland recht ist, sollte einem kleinen Bären in einem klandestinen Dorf doch nur billig sein.“

„Na gut.“ Bärdel beruhigte sich. „Aber unhöflich bleibt unhöflich, auch wenn es der Kanzler ist. Schade, ich habe eigentlich auf seinen Besuch gehofft. Olaf Scholz kennt sich doch aus mit Finanzskandalen und verschwundenen Steuergeldern. Er hätte mir bestimmt einen Tipp geben können, wie ich meinen Ärger mit dem norddehländischen Finanzamt  endlich loswerden kann.“

„Mir tut es auch leid,“ mischte sich Tumu ein. „Ich wollte ihm gerne einen Bananenkuchen backen.“

Tumu

„Seit wann sind wir so nett zu Kanzlern? Bis auf den ersten waren das schließlich alle sehr unsympathische Wesen.“

„Das stimmt schon. Aber der Arme kriegt in Hamburg doch bestimmt immer nur Fisch zu essen. Und in Berlin gibt es zwar ausgezeichnete Restaurants, aber in die darf sich ein Politiker in diesem Land nicht hineinwagen. Die Wähler nähmen das übel und würden ihm Verschwendung vorwerfen, sagt jedenfalls der Bundespräsident. Deshalb der Kuchen. Das Rezept dafür habe ich in einem Gorillakochbuch gefunden. Man braucht dafür auch Erebereblätter, und ich weiß noch nicht, woher ich die bekomme. Ich habe schon bei Rungis angefragt, aber die haben nur verständnislos den Kopf geschüttelt.“

Auch Bärdel und Manfred schüttelten nur verständnislos den Kopf, aber so sanft, dass Tumu es nicht bemerkte. Sorgen hatten die Frauen!

„Also kommt niemand,“ fasste Tumu das bisherige Gespräch zusammen.

Kulle

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Kulle hatte gelauscht. „Der Kanzler ist wohl beratungsresistent. Aber in der Regierung gibt es ja auch Minister, wie man weiß, und ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass von denen jemand hier auftaucht.“

„Wen meinst Du denn?“ wollte Bärdel wissen. „Die Baerbock?“

„Die nun gerade nicht. Die ist auch beratungsresistent, wie der Name schon sagt. Und sie braucht auch keine Beratung. Tapfer ist sie – kämpft wie ein Bär oder kämpft tapfer gegen Bären – und starrsinnig. Bockig. Die wird sich von uns sicher nicht sagen lassen wollen, wie sie ihrem Kollegen Lawrow gegenübertreten soll.

„Und wer dann?“

Als Kulle gerade den Mund auftat, um zu antworten, brach ein Mensch durch die Brombeerbüsche am Dorfrand. Er war erkennbar erschöpft, desorientiert und am Ende seiner Kräfte. Als er erkannte, dass ihm Lebewesen gegenüberstanden, stieß er mit letzter Kraft hervor: „Sag Gas!“ 

Otto als Neubürger in Bärenleben war schüchtern und hatte sich im Hintergrund gehalten, als der Fremde auftauchte, aber als er dessen zwei Worte hörte, konnte er nicht mehr an sich halten, trat eilig vor und stupste aus Versehen Bärdel zur Seite.

Otto

„Du liebst Palindrome!“ strahlte er den Ankömmling an. „Willkommen in Bärenleben!“ Er schob Anna, die sich hinter seiner breiten Schulter versteckt hatte, denn sie hatte immer noch Angst vor Menschen, nach vorn: „Anna neben Otto!“

Otto und Anna

Kulle fasste sich als erster. „Unser Freund hier liebt Sprachspiele, lass Dich davon nicht irritieren. Was das Gas angeht: Bei uns findest Du weder den Emir von Katar noch den russischen Präsidenten. Du bist weder in Doha noch in Moskau.“

„Trollort!“ brummte Otto verächtlich.

 Kulle ließ sich dadurch nicht irritieren: „Wir hier sind Demokraten. Vielleicht keine lupenreinen, aber auf jeden Fall keine Sklavenschinder und Giftmörder. Und wir bedauern: Gas haben wir nicht im Angebot.“

„Schade.“ Der Mensch sank erschöpft ins Gras.

„Ich gase, also bin ich?“ Kulle hatte kein Mitleid mit dem Ankömmling.

Der Mann richtete sich gerade auf und war plötzlich hellwach. „Alles Gasende ist Gas. Und ohne Gas ist alles nichts. Ich meine: Nichts. Jedenfalls im nächsten Winter in Dehland. Tertium non datur.“

Kulle war begeistert. Endlich war da mal jemand, der ihm philosophisch-grundsätzlich gewachsen war. „Klären wir den Begriff!“, forderte er. „Existenz: Gas existiert.“

„Zweifellos. Aber notwendiges immer weniger in Dehland.“

Kulle ließ sich nicht vom Prinzip abbringen: „Identität: Gas ist Gas.“

„Falsch. ‚Gas‘ ist ein Aggregatzustand, sonst nichts. Du meinst wahrscheinlich Erdgas. Erdgas ist ein Gasgemisch. Erdgas ist ein fossiler Energieträger. Ich hasse fossile Energieträger, denn sie tragen wesentlich zur menschengemachten Klimaveränderung bei. Diese Klimaveränderung wird uns umbringen, wenn es schlecht läuft, auf jeden Fall wird sie uns einem Stresstest unterziehen, den wir uns kaum vorstellen können. Wir müssen den Klimakollaps so weit wie möglich abfedern. Deshalb bin ich in dieser Regierung. Aber stattdessen jage ich Gas. Erdgas.“ 

Kulle vermutete, dass der Ankömmling ihm in Sachen Naturwissenschaften über war, wenn auch wohl nicht in Philosophie und Ökonomie. Er gab sich naiv: „Warum konterkarierst Du Deine vernünftigen Ziele durch unvernünftiges Handeln?“

„Weil ich weiß, was Menschen tun, wenn sie ihre Lage als aussichtslos begreifen. Weil…“

Kulle fiel ein: „Weil Du das, was Menschen zivilisierte Verhältnisse nennen, aufrechterhalten willst, solange es möglich ist. Dazu muss alles weiterlaufen wie bisher, vielleicht ein wenig modifiziert, aber nur ein wenig, sonst wird die Unruhe zu groß.“

„Woher wusstest Du, was ich sagen wollte?“ fragte der Mensch verblüfft.

„Das war leicht, denn Du denkst wie die frühere Kanzlerin. Die hat als Physikerin genau gewusst, was auf uns zukommt, und hat trotzdem nichts Entscheidendes unternommen.“

„Ich muss ganz ehrlich sagen…“

Alle Bären verzogen so angewidert das Gesicht, dass der Mensch sich unterbrach.

„Jetzt werde ich Dir mal sagen, was Du sagen müsstest, wenn Du wirklich ehrlich wärst!“  fauchte Tumu ihn an. „Dass Putins Überfall auf die Ukraine zwar ein schreckliches Verbrechen ist, aber den Dehländern die Gelegenheit bietet, etwas zu tun, was schon lange überfällig ist: Fossilen Energieträgern den Rücken zuzukehren. Natürlich ist das brutal von heute auf morgen. Aber was machst Du? Du schaffst neue Infrastruktur dafür, dass Gas und Kohle weiter genutzt werden! Glaubst Du ernsthaft, dass die schönen neuen LNG-Terminals gleich wieder abgebaut werden, wenn es genug Windkraft und Solarthermie gibt? Falls es die gibt!

Und bei wem übst Du den Kotau? Bei wem gehst Du betteln? Bei Alleinherrschern, denen die Rechte anderer am Arsch vorbeigehen. Pardon my french!

Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß hat Churchill 1940 den Briten versprochen. Das war ehrlich! Das Blut könntest Du getrost weglassen, aber den Rest nicht.

Du solltest Dich schämen!“

Bärdel war beeindruckt: So kannte er seine sanftmütige Frau gar nicht.

Noch beeindruckter war der Mensch. Er schlug die Augen nieder und biss sich auf die Lippen. Er machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, und schloss ihn gleich wieder. Vor den Bären stand eine Personifikation schlechten Gewissens.

„Um es philosophisch zu formulieren: Du hast kein Sein gehabt. Kein Selbst-Bewusst-Sein.“ Kulle fand es an der Zeit, das Gespräch auf eine sachliche Ebene zurückzuführen.

„Ich wollte die Koalition nicht gefährden,“ murmelte der Mann.

„Und damit gefährdest Du viel Wichtigeres,“ kommentierte Bärdel. „Und jetzt geh und tue, was richtig ist. Und wenn Du das getan hast, darfst Du wiederkommen.“

„Dann backe ich Dir auch einen Bananenkuchen!“ Tumu hatte sie wieder beruhigt. „Nach Originalrezept! Die Erebereblätter dafür werde ich schon irgendwo auftreiben.“

„Nie solo sein!“ bekräftigte Otto.

Der Mensch nickte und bahnte sich seinen Weg zurück durch die Brombeerbüsche.

„Meint Ihr, dass der wiederkommt?“ fragte Manfred.

„Wir werden sehen,“ antwortete Bärdel. „Ich will das nicht ausschließen. Dann hatten wir vermutlich gerade so eine Art vorgezogenen Kanzlerbesuch.“

Nicht in Bärenleben

August 2022

Ukrainekrieg

Ukrainekrieg

„Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, entschuldige bitte! Wir wollten Dich nicht stören, Du bist doch immer so beschäftigt. Eigentlich haben wir eine Frage an Onkel Kulle, aber der ist so merkwürdig und hat uns gar nicht beachtet…“

Dass Kulle die Eisbärenzwillinge nicht beachtete, war in der Tat merkwürdig. Schließlich waren die beiden seine Lieblinge, er hatte sie zusammen mit Athabasca  erzogen und war stolz auf sie. Bärdel konnte sich nicht erinnern, dass Kulle sie auch nur einmal ignoriert hatte.

„Was ist denn so Ungewöhnliches an Kulle?“ wollte er wissen.

„Er ist durch die große Dorfhöhle gerannt und hat in allen Ecke nach seiner roten Fahne gesucht. Um die hat er sich schon lange nicht mehr gekümmert, aber jetzt wollte er sie unbedingt haben. Schließlich hat er sie in irgend einem dunklen Spalt gefunden. Sie war voller Spinnweben und Löcher, und die Farbe war auch völlig ausgeblichen.

Erst hat er versucht, sie sauber zu machen und zu reparieren. Aber dann hat der alle seine Krallen ausgefahren und sie so energisch zerfetzt, dass nur noch winzige Stoffstücke übrig sind.“

„Das ist alles richtig, was Na sagt, aber da fehlt noch einiges“, warf Nuk ein. „Onkel Kulle hat die ganze Zeit lang Selbstgespräche geführt. Wir haben davon nicht viel verstanden, jedenfalls nicht alles. Es ging um selbst verschuldete Aufklärung und um Krieg und ewigen Frieden. Um einen Levi-Nathan – oder so ähnlich. Um die Vereinten Nationen. Um Mittel, die den Zweck heiligen. Oder vielleicht auch andersrum. Und um Dummheit. Immer wieder um Dummheit.“

„Onkel Bärdel, wir machen uns Sorgen um Onkel Kulle!“ sagten beide im Chor.

Bärdel seufzte. „Das kann ich gut verstehen“, meinte er. „Ich verstehe, glaube ich, auch, warum Kulle so komisch ist. Er macht sich nämlich auch Sorgen.“

Nanuk machten große Augen. „Worüber denn, Onkel Bärdel?“

„Dass in der Ukraine seit mehr als drei Monaten Krieg ist, das habt Ihr schon mitbekommen, oder?“

„Klar, Onkel Bärdel!“ Na war wie so oft schneller mit der Antwort als ihre Schwester. „Russland hat die Ukraine angegriffen, weil das Land von Faschisten regiert wird, und eigentlich sollte das Land zu Russland gehören. Jedenfalls sagt das Putin.“

„Wir wissen, dass Krieg etwas Schreckliches ist.“ Nuk machte ihre Position klar. „Kriege sollten verboten werden. Werden sie aber nicht. Es gibt doch immer und in vielen Ländern Krieg. Was ist so schlimm an diesem Ukraine-Krieg, dass Onkel Kulle sich Sorgen macht?“

„Es ist nicht richtig, dass Kriege nicht verboten sind. Fast alle Staaten dieser Welt sind Mitglied der Vereinten Nationen, und zu deren Grundsätzen gehört ein allgemeines Gewaltverbot. Das verbietet den Mitgliedsstaaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Bärdel war froh, dass er nicht bei allen politischen Vorträgen, die Kulle hielt, geschlafen hatte.

„Wenn das so ist, Onkel Bärdel, dann dürfte es doch keine Kriege geben. Es gibt sie aber, wie Nuk richtig sagt!“ Na war sehr empört.

„Nicht jeder hält sich immer und überall an Regeln. Das tun nur die Guten.“

„Und wer sind die Guten, Onkel Bärdel?“

„Demokratisch regierte Staaten ganz bestimmt. Wie Dehland. Oder unser Nachbar Frankreich. Oder die USA.“

Na und Nuk tauschten einen kurzen Blick. Athabasca hatte ihnen immer wieder eingeprägt, dass Bären höflich zu bleiben hatten, auch bei Meinungsverschiedenheiten oder in einem Streit um Fakten. Das galt insbesondere für jüngere gegenüber älteren.

Sie hätten sich natürlich bei Bärdel bedanken und ihrer Wege gehen können. Aber auch Ehrlichkeit gehörte zu Attis Erziehungsprinzipien.

Nuk trat ihrer jüngeren Schwester auf eine Vorderpfote, um ihr klarzumachen, dass sie besser ihr für eine Weile das Wort überließ. Sie kannte Nas überschäumendes Temperament nur zu gut.

„In Bezug auf Dehland hast Du wohl recht, Onkel Bärdel. Die dehländische Rüstungsindustrie hat nur mit Erlaubnis der Regierung Waffen ins Ausland geliefert, mit denen dann Nicht-Dehländer getötet haben und getötet wurden.“

Bärdel schluckte, aber er sagte nichts. Also fuhr Nuk fort.

„Bei den USA liegt der Fall aber anders, denke ich. In Ländern, die sie verächtlich als ihren ‚Hinterhof‘ bezeichnen, haben sie oft gewaltsame Aktionen durchgeführt, obwohl sie Gründungsmitglied der Vereinten Nationen sind. Kuba, die Dominikanische Republik, El Salvador, Nicaragua, Grenada, Panama und Kolumbien – das sind die, die mir gerade einfallen. Ach ja, und Chile natürlich.“

Nuk holte tief Luft.

„Auch in anderen Teilen der Welt haben die USA ihre Interessen verteidigt, wie sie das nennen. Im Vietnamkrieg haben sie ein Kriegsverbrechen an das nächste gereiht, das bestreitet heute niemand mehr, noch nicht einmal die Amerikaner selbst. Sie wollten den Kommunismus zurückdrängen. Und um für den dritten Irakkrieg die Unterstützung des UN-Sicherheitsrates zu gewinnen, haben sie ihren Außenminister nach New York geschickt, der das Gremium schamlos belogen hat. Nein, falsch, hinterher hat er sich öffentlich geschämt, aber erst mal hat er gelogen, gelogen für das angeblich amerikanische Öl.“

Jetzt hatte sich auch Nuk gegen ihren Willen in Rage geredet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Bärdel war unter seinem Gesichtspelz ganz blass geworden.

„Onkel Bärdel“, fragte sie zaghaft. „Bist Du mir jetzt böse?“

Bärdel schüttelte den Kopf. „Nein, böse bin ich nicht. Aber erschüttert. Eigentlich weiß ich vieles, was Du genannt hast, aber so geballt…“ Mit ein wenig Hoffnung in der Stimme fragte er: „Kommt denn wenigstens Frankreich besser weg?“

„Ein bisschen. Frankreich schickt Soldaten in ehemalige Kolonien in Afrika, aber es nutzt auch andere Mittel als militärische. Französische Konzerne wie Total und Orange dominieren wichtige Wirtschaftszweige. Mit 15 afrikanischen Staaten hat Frankreich Währungsverbünde, die Reserven liegen bei der französischen Zentralbank. Frankreich kann also jederzeit den Geldhahn zudrehen.

Der wichtigste Grund für die Aktivitäten in Afrika, denke ich, ist Frankreichs Energiepolitik. 56 Atommeiler müssen gefüttert werden, und ein großer Teil des Urans dafür kommt aus Niger und anderen Subsaharastaaten.“

„Also schlimmer kann es ja kaum noch kommen,“ seufzte Bärdel.

Jetzt löste Na ihre Schwester ab. „Es tut uns leid, Onkel Bärdel, aber es kann noch viel schlimmer kommen. Vergiss nicht: Bisher haben wir von den Guten gesprochen.“

„Also kommt jetzt der russische Krieg gegen die Ukraine dran?“

Die Eisbärenkinder schüttelten in perfekter Choreographie die Köpfe, und Na redete weiter. „Russland kommt dran, richtig, aber dieser Krieg muss noch ein bisschen warten.

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die früheren Kriege, die Russland geführt hat, kaum jemanden interessiert haben? Zum Beispiel der mit Georgien im Kaukasus vor 14 Jahren? Die Annexion der Krim vor acht Jahren? Der Krieg in Syrien seit 2015, um Assad zu unterstützen, der seine eigene Bevölkerung massakriert?

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die politische Opposition in Russland gnadenlos verfolgt wird, ganz offen? Die Menschen wurden und werden eingesperrt, erschlagen, erschossen, verbannt, vergiftet oder verhöhnt, wie es dem Diktator gerade passt.

Ist niemand wirklich beunruhigt darüber, dass russische Troll-Armeen Wahlkämpfe in Demokratien beeinflusst haben, dass sie die öffentliche Meinung majorisieren wollen? Dass Russland Nazis in Europa und Amerika unterstützt?

Ist es nicht so gravierend, dass die Gruppe Wagner nicht nur Kriegsverbrechen begeht, sondern auch das russische System ökonomisch stützt, indem sie zum Beispiel im Sudan Gold fördert?“

Na holte tief Luft.

„Nimm es Dir nicht zu Herzen, Onkel Bärdel. Anscheinend ist dass alles niemandem aufgefallen. Dehland hat gute Geschäfte mit Russland gemacht. Russland hat Dehland Öl und Gas geliefert, und VW hat in Russland Autos gebaut und verkauft.

Erst der Krieg vor der eigenen Tür, an der Grenze zur NATO, hat Entsetzen ausgelöst. Dass Putin so böse sein kann, damit hat man nicht gerechnet. Und schon spricht der dehländische Kanzler von einer Zeitenwende.“

„Ist es denn nicht auch eine? Eine Zeitenwende?“

„Ja und nein, Onkel Bärdel. Die Zeiten, in denen skrupellose Machthaber in imperialistischer Manier sich genommen haben, was sie wollten, sind leider nie zu Ende gegangen. Das sollten unsere Beispiele gezeigt haben.“

Nanuk nickten synchron und sagten im Chor:

„Es ist Zeit für viele Fragen, die lange Zeit nicht ernsthaft gestellt wurden.“

Na: „Ist die Globalisierung am Ende?“

Nuk: „Sind die Vereinten Nationen gescheitert? Kann es einen Neustart geben?“

Na: „Wie kann eine neue europäische Politik aussehen?“

„Wir finden, dass der dehländische Kanzler die Zeitenwende völlig falsch interpretiert. Die Welt braucht nicht mehr Rüstung und mehr Waffen. Man muss nur an eine Highschool in den USA gehen, um zu sehen, was mehr Waffen anrichten!“

Das waren wieder die Zwillinge gemeinsam.

Bärdel war sprachlos. Nanuk wussten so viel, wovon er keine Ahnung hatte – und eigentlich auch nicht haben wollte. Wie sollte er seinen bärischen Seelenfrieden bewahren, wenn er sich dauernd um den Zustand der Welt sorgen musste?

Es schien, als könnten die jungen Eisbärinnen seine Gedanken lesen.

„Onkel Bärdel, das alles muss Dich auch interessieren! Es geht um unsere Zukunft! Guck mal, wir haben auch schon ein Plakat gemalt!“

Na hielt ein großes Blatt Zeichenkarton hoch, auf dem stand: POLAR BEARS FOR FUTURE.

Plötzlich stapfte Kulle heran, warf einen Blick auf das Poster und nickte anerkennend. Zu Bärdel sagte er: „Du musst umgehend eine Versammlung einberufen. Wir müssen reden.“

„Du machst Dir also auch Sorgen wegen des Ukrainekrieges?“

Kulle sah ihn an, als sei Bärdel nicht sein bester Freund, sondern ein Alien aus einer fremden Galaxie.

„Quatsch!“ fauchte er. „Heiße ich etwa Olaf Scholz oder Annalena Baerbock? Bin ich etwa ein ignoranter Mensch? Kann ich die Zeichen an der Wand nicht lesen? Es war doch klar, dass Putin über kurz oder lang zum Mittel des Krieges greifen würde.“

Na und Nuk schauten einander an und lächelten verschwörerisch. Sie hatten es doch gewusst! Sie waren genauso schlau wie Onkel Kulle.

„Worüber müssen wir dann reden, wenn nicht über den Krieg?“ fragte Bärdel verunsichert.

„Das können Dir Na und Nuk sicher sagen. Sie haben ja schon ein entsprechendes Plakat gemalt,“ bemerkte Kulle.

Es war den Zwillingen gar nicht recht, dass sie durch diese Äußerung in den Mittelpunkt gestellt wurden. Sie waren auf eine Antwort nicht vorbereitet. Die vorsichtige Nuk hielt lieber den Mund, während ihre Schwester ein paar Sätze murmelte, in denen wiederholt das Wort ‚Zukunft‘ vorkam.

Kulle erbarmte sich. „Natürlich geht es um Zukunft. Und was ist wichtig für unser aller Zukunft und am allerwichtigsten für Eisbären? Na? Der Klimawandel selbstverständlich. Und worum kümmern sich die Menschen gegenwärtig gar nicht, weil sie mit einem lokalen Krieg beschäftigt sind? Richtig: um den Klimawandel. Und worum werden sie sich wieder nicht kümmern, wenn sie mit dem nächsten angeblich völlig überraschenden Krieg konfrontiert werden?“

„Natürlich um den Klimawandel, Onkel Kulle.“ Na und Nuk waren heilfroh, dass Kulle ihnen die richtige Antwort in den Mund gelegt hatte.

Kulle nickte. „Bleibt nur noch zu klären, aus welcher Ecke dieser Krieg kommen könnte.“ Er sah die Zwillinge erwartungsvoll an, aber die wichen seinem Blick aus.

Bärdel verspürte Mitleid mit den Beiden. Er wollte helfen, aber wie? Am besten mit einer Antwort, die Kulle von ihnen ablenken würde. Mit einer falschen Antwort natürlich, aber das spielte keine Rolle. Er erinnerte sich an wiederholte Klagen von Manfred über Spy-software – was immer das auch sein mochte. Bärdel holte tief Luft.

„Aus China,“ sagte er gepresst.

Kulles Augenbrauen wanderten voller Anerkennung nach oben. „Donnerwetter, das hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Natürlich hast Du recht. Die chinesische Regierung in Gestalt der Führungsclique der sogenannten Kommunistischen Partei  hat konsequent und erfolgreich einen digital-totalitären Überwachungsstaat aufgebaut. Damit wurde die Demokratiebewegung in Hongkong zerschlagen, damit wurden die Menschen in der Volksrepublik zu ohnmächtigen Lockdown-Objekten. Die Internierungskampagne gegen die Uiguren in Xinjiang ist da vielleicht der Probelauf, das Tüpfelchen auf dem ‚i’.

Mit diesem Land unter totaler Kontrolle der Partei enthält der Westen wesentlich mehr und wesentlich wichtigere Wirtschaftsbeziehungen als mit Russland. Bei China geht es nicht um fossile Energien, die sowieso bald ersetzt werden sollen. Es geht zum Beispiel um Graphit, Kobalt, Platin, Iridium, Lithium, Titan und Tantal. Die braucht der Westen für die Energiewende, und die kauft er bisher hauptsächlich in China ein. Und deshalb brauchen wir möglichst schnell eine Versammlung.“

„Aha,“ sagte Bärdel ratlos. Er verstand die Zusammenhänge nicht.

„Wir brauchen eine Versammlung, um zu diskutieren, wie sich der Westen rechtzeitig aus der Abhängigkeit von China befreien kann. Wie wir die Menschen im Westen davon überzeugen können, dass blindes Kooperieren mit totalitären Staaten nicht nur gegen demokratische Prinzipien, sondern auch gegen rationale Interessen verstößt. Damit sie vorbereitet sind, wenn China Taiwan überfällt.“

„Aber wie sollen wir das schaffen? Und warum eigentlich?“

„Wie – das weiß ich auch noch nicht. Deshalb ja die Versammlung. Und warum? Das ist doch klar.“ Kulle zeigte auf Nanuk und ihr Plakat.

„Die Eisbären brauchen eine Zukunft.“ 

Juni 2022

Grizzys zweites Interview – 25 Jahre nach dem ersten

Das erste Interview findest ihr hier!

Zeitschrift:

Guten Tag, Grizzy. Es hat uns viel Mühe gekostet, Sie aufzuspüren. In den letzten Jahren konnten wir Sie auf keiner internationalen Konferenz ausfindig machen. Ihr Twitter-Account ist ebenso gelöscht wie Ihr Facebook-Konto. Sie sind abgetaucht, und wir fragen uns, warum. Umso mehr hat es uns überrascht, dass Sie sich zu diesem zweiten Interview mit unserer Zeitschrift bereit erklärt haben. Hoffentlich wird das unsere Frage beantworten.

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Zweierlei Maß

Nuk und Na

„Tante Atti, Onkel Kulle! Wir verstehen da was nicht!“

Athabasca und Kulle waren stolz darauf, die Eisbärenzwillinge erzogen und gebildet zu haben. Die Kinder waren groß geworden und hatten gelernt, Wissenslücken auch ohne die Hilfe ihrer Lehrer zu füllen. Aber die Alten genossen es, wenn Na und Nuk zu ihnen zurückkamen.

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Allegorie

„Onkel Manfred, Onkel Manfred!“

Na und Nuk preschten in die Bärenlebener Technikzentrale, natürlich ohne vorher angeklopft zu haben.

Nuk und Na

„Onkel Manfred, Du musst uns helfen. Du kannst doch alles!“

Manfred war zu geschmeichelt, um zu widersprechen. Deshalb fragte er nur: „Was kann ich für Euch tun, Ihr Süßen?“

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Kreuzfahrer

Bemerkungen zu einem nicht nur historischen Phänomen

PD Dr. Kulle

Heilige Kriege

Gab es in der Geschichte der Hominiden Kriege, die nicht als ‚heilig‘ bezeichnet worden sind? Wir wissen es nicht. Da Gehorsam Homo nicht sui generis eingeboren ist, empfahl es sich vermutlich von jeher, seine erwünschte Subordination unter Befehle auch sinnloser Natur mit dem Auftrag einer höheren Macht zu rechtfertigen.

In frühen Zivilisationen mit städtischen Zentren war diese ideologische Überhöhung gewiss die Norm, waren doch politische und religiöse Macht eng miteinander verwoben oder gar identisch. Man denke nur an die Gesetzgebung Hammurabis1

Explizit führte man Heilige Kriege im antiken Griechenland zum Schutz des Apollonheiligtums in Delphi gegen räuberische Nachbarn. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass neben dem Heiligtum Schatzhäuser errichtet worden waren, in denen zahlreiche kostbare Weihgeschenke aufbewahrt wurden. Schon hier zeigt sich: Kein Heiliger Krieg ohne ökonomisches Interesse.

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Neubürger!

„Anna und Otto kommen wohl doch nicht zu uns,“ sagt Bärdel enttäuscht zu Kulle. Auf ihrem Morgenspaziergang haben sie bei den üppigsten Brombeerbüschen am Rand von Bärenleben halt gemacht und sich vor dem Frühstück einen saftigen Imbiss gegönnt. „Es ist jetzt schon ein paar Monate her, dass wir sie eingeladen haben.“

„Abwarten!“ Kulle pflückt sich geruhsam weitere schwarzblaue Kugelhaufen und schiebt sie sich in den Mund. „In diesen Corona-Zeiten ist alles nicht so einfach. Als Plüschbär kann man natürlich per Anhalter reisen, wenn man geschickt genug ist, die richtigen Kinder zu finden, die einen in die richtige Richtung mitnehmen und dabei pfleglich behandeln. Das ist nicht ohne Risiko. Aber wir wissen nicht, ob Anna und Otto tatsächlich Plüschtiere sind. Sind sie Bären aus Fleisch und Blut, dann müssen sie sich vor den Menschen verstecken. Vielleicht haben sie sich gar infiziert?“

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Neues von der Sekretärin

Meine Sekretärin hat schon wieder zugeschlagen: Ihr neuestes Buch heißt: Pest, Jérôme und Corona und ist bei Amazon erschienen:

Ich weiß auch nicht, woher sie die Zeit dafür nimmt. Ich werde sie wohl etwas stärker beschäftigen müssen.

Neubürger?

Anna hat lange mit Otto diskutiert und Otto lange mit Anna. Ob sie versuchen sollen, in dem Dorf zu leben, in dem Bären leben. Versteckt in Dehland. In Bärenleben.

Aber eben da liegt das Problem: Wie sollen sie einen Ort finden, den sie nicht finden sollen?

Es gibt eine Spur, die die Bärenlebener gelegt haben. Sie verbergen zwar ihre Existenz, aber sie verstecken nicht ihre Gedanken. Sie veröffentlichen Texte. Und dabei sind sie am Dialog interessiert, und sie haben eine Email-Adresse angegeben: Baer add Baerdel Punkt de. Sie wollen Rückmeldungen.

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Kulles Corona-Ansprache

Kulle
PD Dr. Kulle

Sehr geehrte Damen, Herren und Diverse Politiker in Deutschland,

Ich bin als gelehrter Bär nicht von geringem Verstand, wohl aber von geringem Verständnis für menschliches Verhalten.

Die Demokratie, so sagt man, ist die Politik mehr oder minder direkt gewählter Vertreter für das Volk, und da der große Lümmel, wie Heinrich Heine ihn nennt, nur alle paar Jahre zu den Urnen gerufen wird, zwischendurch aber regiert werden muss, ist es dringend erforderlich, sich ihm gegenüber ins rechte Licht zu setzen, damit er

  • a) sich nicht gegen Gesetze empört und
  • b) von den Gesetzen so überzeugt ist, dass er die bisherigen Gesetzgeber bei der Wahl gleich wieder legitimiert.

Folglich gibt sich die Exekutive, die sich die Legislative untertan zu machen versucht, obwohl das nicht dem Sinn der Konstruktion der Gewaltenteilung entspricht, aber das nur am Rande, gibt sich also die Exekutive den Anschein, stets richtige Entscheidungen zu fällen, die auf objektiv richtigen Informationen beruhen. Trotz einer immer energischer in Entscheidungsprozesse eingreifenden Lobbyismusindustrie gelingt das unter „normalen“ Gegebenheiten halbwegs. Von Fiskal- und Föderalismuspolitik versteht der Normalmensch meist wenig, von internationalen Beziehungen ganz zu schweigen. Der Normalmensch äußert seine  Unmut in der Regel nur dann, wenn der Unterricht an den Schulen seiner Kinder nicht ordentlich erteilt wird oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Windräder installiert werden sollen – für Umweltschutz ist er aber schon.

Seit einem Jahr jedoch kann von „normalen“ Gegebenheiten keine Rede mehr sein.  „Die Welt ist aus den Fugen“ hat Kanzlerin Merkel schon 2016 gesagt, und da wusste sie noch gar nichts von Corona. Ein vorschnelles Zitat, gibt sich die Bundesregierung doch inzwischen den Anschein, alles unter Kontrolle zu haben.

Der Reihe nach.

Die Welt sieht sich seit mehr als zwölf Monaten mit dem Virus SARS-COV2 konfrontiert, von dem einiges klar ist:

  • Es wird von Mensch zu Mensch übertragen, hauptsächlich durch Aerosole.
  • Es gibt schwere und leichte Krankheitsverläufe, es kann tödlich sein. Besonders gefährdet sind alte Menschen.
  • Es befällt hauptsächlich die Lunge, aber auch andere Organe.
  • Es haben sich Mutationen entwickelt, die ansteckender sind als das ursprüngliche Virus.
  • In erstaunlich kurzer Zeit sind Impfstoffe gegen das Virus entwickelt worden.

Viel mehr ist aber nicht klar:

  • Woher stammt das Virus? Diese Frage ist allerdings eher akademischer Natur, weil sie bei der Pandemiebekämpfung nicht hilft.
  • Welche Maßnahmen sind geeignet, die Verbreitung des Virus einzudämmen? Hilft ein Lockdown? Und wenn ja, in welchen Bereichen?  
  • Welche Langzeitfolgen verursacht es?
  • Wie wirken die Impfstoffe langfristig? Gibt es Nebenwirkungen, die vielleicht noch nicht absehbar sind? In welchen Intervallen werden Nachimpfungen notwendig sein?
  • Gibt es bereits ein Medikament, das Heilung oder die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe verspricht? Wird daran gearbeitet?

Das sind die medizinischen Fragen, und diese Fragen sind vordringlich. Die Politik bleibt Antworten darauf schuldig, auch die Medizin schweigt bisher.

Stattdessen arbeitet man sich an Fragen ab, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand beantworten kann, und behauptet dennoch, die Antworten zu kennen:

„Ich verspreche, dass bis zum Ende des Sommers allen Menschen in Deutschland, die sich impfen lassen wollen, ein Impfangebot gemacht worden ist.“

Kanzlerin Angela Merkel

„Der Lockdown wird verlängert werden müssen.“

Karl Lauterbach

„Mitte Februar werden wir viel mehr Impfstoff haben.“

„Wir werden nach dem Winter zu einem normalen Leben zurückkehren.“

Alle

„Wir haben noch acht bis zehn harte Wochen vor uns.“

Minister Spahn

„Wir werden die Vulnerablen schützen.“

Alle

Sie mögen aus meinen Ausführungen herausgehört haben, dass ich Ihre Art, das Land zu regieren, prinzipiell nicht für das non plus ultra halte. In der gegenwärtigen Situation ist Ihr Verhalten letal. Letal für manchen Alten, den Corona erwischt hat und den Ihre Bürokratie und Ihr Gesundheitswesen nicht haben schützen können, letal aber auch für Sie. Sie alle, ob Sie nun im Bundeskanzleramt, in einer Landesregierung, in einem Landratsamt oder in einem ländlichen Bürgermeisterbüro sitzen.

HÖREN SIE AUF, SO ZU TUN, ALS HÄTTEN SIE EINE LÖSUNG!

Sie haben keine!

SAGEN SIE, DASS SIE NOCH KEINE HABEN!

Nur so machen Sie sich glaubwürdig.

Jetzt wollen Sie vermutlich wissen, warum ich Ihnen diese Ratschläge gebe, obwohl ich doch mit Ihnen und Ihrem Tun nicht einverstanden bin.

Wir Bären sind schon immer Opportunisten und vetraut mit dem kleineren Übel: Wenn es keine großen Lachse gibt, fressen wir eben kleinere. Wir Bären, die wir hier in Dehland leben, ziehen die Demokratie der großen völkischen Lüge vor. Haben Sie die neueste Umfrage in Bezug auf die französische „Sonntagsfrage“ zur Kenntnis genommen? Wenn am nächsten Sonntag Präsidentenwahl wäre, bekäme Marine LePen 48% der Stimmen und Macron 52%. Welch ein Graus!

So dumm, wie Sie glauben, ist der „große Lümmel“ gar nicht. Sagen Sie ihm die Wahrheit. Sagen Sie ihm, dass Sie (noch) keine Lösung haben. 

Januar 2021

Aus der Traum

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, wir müssen Dir was sagen!“

„Was denn?“ Kulle unterbrach seine Rousseau-Lektüre für die Eisbärenzwilinge gern.

„Wir haben Tante Atti gesehen. Nein, wir haben ihr nicht nachspioniert. Und Du darfst ihr auch nicht erzählen, was wir beobachtet haben.“ Nuk war erkennbar durcheinander.

„Und was war das?“ fragte Kulle amüsiert. Die Geschwister steckten mitten in der Pubertät. Wahrscheinlich hatten sie eine ihnen noch unbekannte sexuelle Handlung bemerkt und hielten sie für sensationell.

Athabaska

„Tante Atti hat Früchte gesammelt. Schneebeeren, Hagebutten und diese blauen – wie heißen die gleich?“

„Meinst Du Wacholderbeeren?“ schlug Kulle vor.

„Genau, Wacholderbeeren.“ Na und Nuk nickten gleichzeitig. „Und dann hat sie angefangen, damit Muster zu legen,“ erklärte Na. „Ein Muster in einem Rechteck. Die Wacholderbeeren waren alle oben links und darin verteilt ein paar Schneebeeren. Auf dem größten Teil der Fläche hat sie Schnebeeren und Hagebutten in waagerechten Streifen angeordnet. Es sah ganz hübsch aus, und irgendwie kam es uns bekannt vor. Wir wollten gerade fragen, was sie da macht, als sie anfing, darauf herumzuspringen und das Muster zu zerstören. Sie war dabei so wütend, dass wir Angst bekommen haben und weggelaufen sind. Onkel Kulle, was ist bloß mit Tante Atti los?“

Kulle hatte eine Vermutung, was Athabasca bewegte, aber er wollte den Eisbärenkindern nicht sofort antworten, sondern sich erst Gewissheit verschaffen. „Vielleicht hat sie eine neue Trendsportart ausprobiert?“ sagte er leichthin. „Da gibt es ja die verrücktesten Sachen. Ihr müsst Euch nicht beunruhigen. Ich werde mit Tante Atti reden.“

Nachdem Nanuk sich in Richtung eines nahegelegenen Baggersees getrollt hatten, machte Kulle sich auf die Suche. Er fand Athabasca schnell, denn er kannte das Versteck unter dichten Brombeerbüschen, in das sie sich verkroch, wenn sie allein sein wollte. Oft kam das nicht vor – es musste schon einen triftigen Grund dafür geben.

Er scharrte bescheiden vor dem Eingangsloch, er scharrte lange, denn Athabasca fauchte drohend und anhaltend, bevor sie nachgab. Kulle schob sich durch den engen Einlass und nahm seine Freundin in die Arme.

„Na?“ sagte er. „Ende des amerikanischen Traums?“

„Eigentlich ist der ja schon lange ausgeträumt. Und außerdem bin ich aus Kanada. Aber trotzdem…“ Sie zog geräuschvoll den Rotz in ihrer Nase hoch und räusperte sich.

„Weißt Du,“ fuhr sie fort, „es ist ja nicht nur Trump. Es hat viel früher angefangen. In den USA und überall. Chavez und Maduro in Venezuela, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland…“ (Kulles Bemerkung: „Nanuk nennen ihn übrigens nur „La Putain“, haben sie das von Dir?“)…entlockte ihr immerhin ein kleines Lächeln und ein Nicken. „Bolsonaro, Duterte, Orban, Kakzynski – die Demokratie ist überall auf dem Rückzug. Ich weiß nicht, warum das so ist, und ich will darüber jetzt auch nicht reden. Ein andermal vielleicht.“

Atti hatte Kulle den Wind aus den Segeln genommen, denn natürlich hatte er versuchen wollen, sie mit einer Diskussion über die möglichen Gründe veränderter politischer Präferenzen von ihrem Kummer abzulenken. Deshalb versuchte er es anders.

„Meiner Meinung nach ist die Demokratie nicht die optimale politische Ordnung.“

Das war die falsche Strategie, wie sich gleich zeigte.

„Ach nein? Dein Rousseau soll es richten? Die Volonté générale, die Einsicht in die Vernunft, funktioniert Deiner Meinung nach ohne Zwang? Darf ich Dich daran erinnern, dass der „Contract social“ zu Robbespierres Lieblingslektüre gehörte, während er sich dazu entschloss, die Guillotine die Säuberungsarbeit verrichten zu lassen?

Oder Dein Marx? Aus dessen ‚Reich der Freiheit‘ krochen Lenin, Stalin und Mao, und aktuell rühmt sich Xi Jinping dieser Ahnenreihe.“

Kulle nickte. Er gab ungern zu, dass seine Lieblingstheorien in der Praxis zu furchtbaren Verhältnissen beigetragen hatten, aber es blieb ihm nichts anderes übrig.

„Wollen wir den Kindern sagen, was Dir zu schaffen macht?“ fragte er.

„Den Kindern? Wir sollten uns allmählich daran gewöhnen, dass wir es mit jungen Frauen zu tun haben. Mir fällt das auch schwer. Es ihnen sagen? Nein. Sie sind intelligent, sie werden von selbst darauf kommen. Einstweilen sollen sie sich mit Deiner genialen Erklärung zufriedengeben. Eine neue Trendsportart – das muss einem erst mal einfallen. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis sie Dich entlarven.“

Kulle ließ den Kopf hängen und erreichte, was er damit beabsichtigte. Athabasca knuffte ihn zärtlich und sagte: „Schluss jetzt damit. Komm, lass uns kuscheln.“

Januar 2021

Überbau

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen…Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“

Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort). in: MEW Bd. 13, S. 8f, Berlin 197
PD Dr. Kulle

Der häufige Rekurs auf dieses Zitat könnte als peinlich gelten, beinhalteten die oben bereits in anderen Untersuchungen angeführten Sätze nicht so mannigfaltige Denkanstöße. Aktuell ist uns der Siegeszug von Sars-CoV2 über den Globus Anlass, die durch das Virus initiierten sozial-ökonomischen Veränderungen zu betrachten. Dabei geht es an dieser Stelle nicht um eine umfassende Analyse, die wir uns für später vorbehalten1, sondern um den Aspekt der Umwälzung des gesellschaftlichen Überbaus im Bereich der Kultur in Dehland.

Ein Rückblick sei gestattet auf den Umbruch, den der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland vor 30 Jahren bewirkte.

In der DDR gab es zuletzt 18.118 Bibliotheken; wenn man Gewerkschafts- und Betriebseinrichtungen hinzuzählt, kommt man sogar auf 32.000. 84% der DDR-Bürger gaben seinerzeit an, deren Angebot zu nutzen oder genutzt zu haben, während es in der alten Bundesrepublik 46% waren. Auch kurze Zeit nach der „Wende“ war die Diskrepanz im Leseverhalten noch signifikant: 68% der Ostdeutschen behaupteten 1992, mindestens ein Mal pro Woche ein Buch zu lesen, während es in Westdeutschland 46%2 waren. Bis zum Jahr 2008 hatte sich das Leseverhalten zwischen Ost- und Westdeutschen bereits weitgehend angeglichen, und zwar auf rückläufigem Niveau. Wöchentliche Buchlektüre gehörte nur noch bei 42 Prozent der Ostdeutschen zur Beschäftigung, bei Westdeutschen waren es 43 Prozent.

Wenn wir auf die Zahl der Bibliotheken in Gesamtdeutschland schauen, stellen wir seit Jahren einen Schwund fest. 2019 gab es insgesamt rund 9.300 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken, zehn Jahre zuvor waren es noch knapp 11.000. Während die Anzahl der wissenschaftlichen Bibliotheken Schwankungen unterworfen ist, verzeichnen die öffentlichen Bibliotheken einen stetigen jährlichen Rückgang.

Man mag einwenden, dass Lesen eine individuelle Tätigkeit ist, über deren Ausübung oder Nichtausübung die Menschen autonom entscheiden können, so sie nicht (freiwillig oder gezwungenermaßen) in einer Bildungseinrichtung agieren, die Buchwissen von ihnen fordert. Die obige Skizze über das Bibliothekswesen in BRD und DDR legt allerdings nahe, dass öffentliches Angebot bzw. Nichtangebot das Leseverhalten aktiv3 beeinflussen kann, positiv 4 wie auch negativ.

Es bietet sich an zu untersuchen, ob dergleichen Korrelationen ebenfalls für andere Bereiche des künstlerischen Überbaus gelten.

Auch der Blick auf die Theaterlandschaft beider deutscher Staaten fällt quantitativ zugunsten der DDR aus. 213 Theater leistete man sich, und in den über 2000 Kulturhäusern des Landes befanden sich in der Regel Theatersäle, die auch für Gastspiele genutzt wurden. Dem stehen heute in Gesamtdeutschland 142 Staatstheater, Stadttheater und Landesbühnen sowie 199 Privattheater gegenüber. 213 Theater für 16, maximal 18 Millionen Einwohner stehen 341 Bühnen für mehr als 80 Millionen gegenüber.5

Die öffentliche dehländische Hand lässt sich die bestehenden kulturellen Einrichtungen aktuell einiges kosten, denn Eintrittspreise bzw. Gebühren decken die Ausgaben nicht. Nur ein Beispiel: Eine Eintrittskarte in die Münchner Philharmonie kostete ohne Subventionen 100 Euro im Schnitt mehr. Bund, Länder und Gemeinden geben cum grano salis jährlich zehn Milliarden Euro für Kulturzuschüsse aus.

Warum und wofür tut man das?

Hören wir Wolfgang Thierse, der unter anderem Vorsitzender des SPD-Kulturforums und auch Präsident und Vizepräsident des Deutschen Bundestages war: „Sozialtransfers allein werden die Situation 6 nicht verbessern, es kommt vielmehr gerade auf Teilhabe an Bildung und Kultur an.” Dergleichen Aussagen lassen sich aus Politikermund häufig vernehmen. Staatliche Förderung für Kultur gilt in Dehland als zwingend notwendiger Bestandteil des Sozialstaats, zumindest in Sonntagsreden.

Bleibt zu fragen, welcher Kulturbegriff hier gemeint ist.

Die bedürftigen Empfänger von Sozialtransfers wie die Empfänger des Arbeitslosengeldes II7, lassen sich im Theater auffällig selten blicken. Das dürfte am Geld allein nicht liegen, kostet ein umfangreiches Pay-TV-Angebot doch mehr als 40 Euro im Monat, die auch von Geringverdienern erstaunlich häufig gezahlt werden. Das liegt stattdessen daran, dass der geförderte Kulturbetrieb die tatsächliche Nachfrage nach Kultur ignoriert, dass er den Bürger kulturell entmündigt. Der Staat erklärt dem Bürger, was gute und was schlechte Kunst ist. Der hierdurch adressierte „Bürger“ stellt aber nur ein kleines Segment der Bevökerung dar: Er ist Angehöriger der Mittelschicht mit einer relativ hohen formalen Bildung und einem relativ hohen Alter, der unsicher genug ist, sich von Dramaturgen bevormunden zu lassen.

Dergleichen Strukturen sollen die Ausgaben des Staaes, der sich als Mäzen geriert, legitimieren; sie delegitimieren jedoch die Kunst, weil sie nicht dem Geschmack der Menschen entspricht. Sensiblere Naturen als Thierse dürften das seit geraumer Zeit spüren und nicht wie er sagen: „Unser Wohlstand hängt von der Höhe der öffentlichen Investitionen in Kultur ab”, sondern eher: „Der staatliche Paternalismus muss ein Ende haben; die Kunst geht nach Brot, ja, aber nach dem Brot, das das Publikum zahlt.“

Und dann kommt Corona – und damit das Ende der Bühnen-Kultur. 

Das Virus lähmt die gesellschaftliche Produktion des Lebens der Menschen partiell oder nahezu völlig, aber ein totaler „Shutdown“ oder „Lockdown“ ist nur auf begrenzte Zeit möglich, will man soziale Unruhen 8 vermeiden. Auch bei steigenden Infektionszahlen wird, nachdem die Pandemie seit einigen Monaten gewütet hat, versucht, Produktion, Distribution und Konsum „wichtiger Güter“ aufrecht zu erhalten. Das gilt auch für den Bildungssektor: Schulpflichtige Kinder sind die entscheidenden Wirtschaftssubjekte von morgen und deren Eltern die von heute. Also wird der Präsenzunterricht allen medizinischen Empfehlungen zum Trotz qua ministerieller Anordnung erzwungen.

Andere Bereiche sind dagegen nicht „systemrelevant“: Freizeiteinrichtungen, und dazu zählen eben auch Kultureinrichtungen. Aber Freizeit ist nicht gleich Freizeit: Der Besuch einer Shopping-Mall ist systemrelevant 9, der Besuch eines Sinfoniekonzertes kostet den Steuerzahler nur Geld, wegen der Subventionierung der Eintrittskarten. Teile des gesellschaftlichen Überbaus wie das Theater haben ihren historischen Zenit überschritten, zumindest in der Form, in der es heute misshandelt wird.

„Ist das Kunst, oder kann das weg?“ Diese lustig daherkommende Frage, in der die Verachtung für Kunst bereits unüberhörbar ist, kann endlich in eine Aussage umformuliert werden: „Das ist Kunst, also kann das weg.“

Anders lagen die Dinge in der DDR: Theater- und Lesekultur waren systemrelevant, weil der Mensch nicht nur als Wirtschaftssubjekt gedacht wurde, das sein Fressen verdiente, sondern als ein Wesen mit sozialistischer Moral. Der Wismut-Kumpel fluchte, weil er mit seiner Brigade nicht nur nach Uran schürfen, sondern auch am Abend mit ihr ins Kulturhaus gehen musste – aber er ging, und manchmal fand er die Darbietung sogar interessant. Da das in stalinistischen Strukturen verkrustete System aber nicht in der Lage war, außer linientreuer Kunst auch Bananen, Reise- und Gedankenfreiheit bereitzustellen, weigerte sich der DDR-Bürger, ein neuer Mensch zu werden. Er wurde stattdessen Konsument.

Wer empört sich heute über die Erdrosselung der Bühnenkultur wirklich außer den immer noch unermüdlichen Sonntagsrednern? Natürlich die Künstler10, denen der Broterwerb genommen wurde. Und sonst? Die Millenials wird der Verlust nicht auf die Barrikaden treiben, sie treiben zu Recht die Fragen nach ihrer Zukunft um. Die Theaterbesucher werden auch keine Steine aus dem Pflaster reißen, dazu sind sie zu alt.

Manchmal wälzt sich der ganze ungeheure Überbau nicht langsamer, sondern rascher um.

Dezember 2020

Erkenntnisprobleme

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, dürfen wir Dich stören?“

Die Eisbärenkinder

Na und Nuk störten Kulle nie, aber er hütete sich, den beiden das zu sagen. Stattdessen musterte er sie streng, als sie im Licht seiner Leselampe auftauchten. Es war schon spät, er hatte angenommen, allein in der Bibliothek zu sein.

Kulle
Kulle

„Nicht böse sein, Onkel Kulle. Wir haben eine Frage. Und sag bitte Mama nicht, dass wir so spät noch auf sind.“

„Was ist das denn für eine Frage, die nicht bis morgen warten kann?“

„Wir haben uns gerade einen komischen Film angeschaut“, begann Na.

„Keinen komischen, sondern einen merkwürdigen!“ korrigierte Nuk.

„Meinetwegen, einen merkwürdigen komischen. Da waren Menschen, immer dieselben, aber auf einmal waren sie dann doch nicht dieselben, das heißt, sie verhielten sich anders…“

Na wusste nicht mehr weiter. Ihre Schwester sprang in die Bresche: „Sie verhielten sich widersprüchlich. Und der eine Verhaltens-Mensch wusste nicht, dass er auch eir anderer Verhaltens-Mensch war. Manchmal wusste ein Mensch gar nicht, was er eben gemacht hatte. Und irgendwann wussten sie alle nicht mehr, wer sie wirklich sind. Wir haben das nicht verstanden.“

‚Wer bin ich, und wenn ja, wie viele‘, schoss es Kulle durch den Kopf. Er drängte die Erinnerung an ein Buch, das er für misslungen hielt, beiseite.

„Das ist möglicherweise ein philosophischer Film, den ihr da gesehen habt. Wer bin ich? Was kann ich erkennen? Was ist meine Aufgabe in der Welt? Solche Fragen stellen sich die menschlichen Philosophen seit Tausenden von Jahren.“

„So lange schon?“ staunte Na. „Dann haben sie doch bestimmt Antworten gefunden, oder?“

Kulle schüttelte den Kopf.

„Nein?“ Na mochte es nicht glauben. „Aber Du bist doch so klug, Onkel Kulle. Du hast die Antworten gewiss gefunden, oder?“

„Ich bin ein bärischer Philosoph, kleine Na. Ich stelle bärische Fragen, keine menschlichen. Wer bin ich? Ein Bär. Was kann ich erkennen? Ob die Brombeeren reif sind, ob Tante Atti mit mir Sex haben will und vieles mehr. Was ist meine Aufgabe in der Welt? Unsere Spezies möglichst lange zu erhalten.“

Na verstand jetzt gar nichts mehr, und auch Nuk war irritiert. Sie fühlte sich, als habe Kulle ihr einen Menschen aufgebunden. „Also kennst Du die Antworten doch!“ sagte sie beleidigt.

„Die bärischen Antworten, Nuk, die bärischen. Ein menschlicher Philosoph gäbe sich mit meinen Antworten nie und nimmer zufrieden.“

Die Eisbärenkinder machten große Augen. „Deine Antworten sind doch logisch!“

„Die Antworten sind logisch aus Bärensicht, ja. Aber die Menschen halten sich für etwas Besseres. Wer bin ich? Am liebsten die Krone von Gottes Schöpfung, und wenn das nicht sein kann, dann auf keinen Fall irgendein Säugetier, und schon gar nicht eins, das drauf und dran ist, sein eigenes Habitat und das vieler anderer Arten zu ruinieren.

Was kann ich erkennen? Was ist die Realität? Gibt es eine Realität? Ich gebe Euch als Beispiel zwei Antworten, Ihr werdet gleich verstehen, warum ich gerade diese nehme. Descartes sagt: ‚Die Außenwelt könnte ein bloßer Traum sein.‘ Und bei Schopenhauer heißt es: ‚Die gesamte Welt bin im Grunde ich allein und außer mir ist nichts anderes existent und die gesamte Schöpfung habe ich selbst gemacht‘. Eine solche Ansicht bezeichnet man als Solipsismus: Nur das eigene Ich existiert.“

Nanuk waren entsetzt. „Willst Du damit sagen, dass wir uns Mami nur ausgedacht haben?“ fragten beide im Chor. Und Na, ungewohnt schüchtern, fuhr fort: „Und Dich auch?“

Kulle musste lachen. „Das sage nicht ich, das sagen Solipsisten. Alle Erwachsenen in Bärenleben sind Materialisten, aber darüber reden wir ein andermal. Ihr wolltet doch wissen, was in dem Film geschehen ist, den Ihr gesehen habt.“

„Bei diesen verschiedenen Verhaltensmenschen – war für die die Außenwelt ein bloßer Traum?“ Nuk fragte ganz vorsichtig, und Kulle nickte anerkennend.

„Auch sie selbst waren ein bloßer Traum. Oder besser: eine Manipulation. Ihre Gehirnströme waren vermutlich in Rechnern gespeichert, und wer die richtigen Computerkenntnisse besaß, konnte sie aktivieren und steuern. So kann auch der Mensch gemacht werden. Kann zu einem Traum werden. Ende der Theorie des Solipsismus.“

„Hm!“ machte Na. Ihre Schwester sah sie fragend und warnend an. Kulle widersprach man nur aus sehr gutem Grund. Aber Na war wagemutig wie immer.

„Onkel Kulle, wenn Du der Programmierer des Computers wärst, würdest Du nicht überzeugt sein, dass Deine Tätigkeit der Beweis für die Richtigkeit der solipsistischen Theorie ist?“

Es durchfuhr Kulle, als hätte ein Nerv gerade einen heftigen Schmerz durch seinen Körper geschickt. Mit Mühe wahrte er seine Würde.

„Du hast Recht, kleine Na“, sagte er, als handele es sich bei ihrer Frage um eine Belanglosigkeit. „Aber“, fuhr er betont munter fort, „jetzt ab ins Bett. Sonst bekommt Eure Mutter doch noch mit, dass Ihr Euch so spät am Abend herumtreibt.“

Er war froh, dass die Kinder sich gut gelaunt bedankten und verabschiedeten. Er freute sich über ihre Klugheit. Aber insgeheim gestand er sich ein, dass er ein schlechter Verlierer war.

Oktober 2020