Kulle alias de la Boétie

PD Dr. Kulle
PD Kulle

Kulle zitiert Etienne de la Boétie

Ein Text, entstanden um 1550, geschrieben von einem Mann um die zwanzig aus Sarlat im Périgord, ein Text, dessen Original nicht mehr aufgefunden werden kann und der erst Jahrzehnte nach dem Verfassen veröffentlicht werden sollte, ein Text, der ein Manifest ist für alle Freunde der Freiheit, weshalb es gewiss nicht zufällig ist, dass Gustav Landauer ihn ins Deutsche übertragen hat, ein Text wie eine Keule, eine bessere Waffe als Kants „Was ist Aufklärung?“

Ein Text, dessen Duktus sein Alter ahnen lässt, dessen Inhalt jedoch von brennender Aktualität ist, beleuchtet er doch die Situation in etlichen Teilen der Welt, insbesondere aber in Russland und der Ukraine.

Ein Text, den leider nicht ich verfasst habe.

Dieser Text folgt hier in wesentlichen Auszügen.

Für dieses Mal will ich nur untersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten. Es ist sicher wunderbar und doch wieder so gewöhnlich, daß es einem mehr zum Leid als zum Staunen sein muß, wenn man Millionen über Millionen von Menschen als elende Knechte und mit dem Nacken unterm Joch gewahren muß, als welche dabei aber nicht durch eine größere Stärke bezwungen, sondern (scheint es) lediglich bezaubert und verhext sind von dem bloßen Namen des EINEN, dessen Gewalt sie nicht zu fürchten brauchen, da er ja eben allein ist, und dessen Eigenschaften sie nicht zu lieben brauchen, da er ja in ihrem Fall unmenschlich und grausam ist.

Wenn zwei, wenn drei, wenn vier sich eines Einzigen nicht erwehren, dann ist das seltsam, aber immerhin möglich; dann kann man schon und mit gutem Recht sagen, es fehle ihnen an Herzhaftigkeit; wenn jedoch hundert, wenn tausend unter einem Einzigen leiden, dann sagt man doch wohl, daß sie sich nicht selbst gehören wollen, nein, daß sie es nicht wagen; und das nennt man nicht mehr Feigheit, sondern Schmach und Schande.

Man stelle fünfzigtausend bewaffnete Männer auf eine Seite und ebenso viele auf die andere; man ordne sie zur Schlacht; sie sollen handgemein werden: die einen sollen freie Männer sein, die für ihre Freiheit kämpfen, die andern sollen ausziehen, um sie ihnen zu rauben: welchen von beiden wird vermutungsweise der Sieg in Aussicht zu stellen sein? Welche, meint man, werden tapferer in den Kampf gehen? Diejenigen, die zum Lohne für Ihre Mühen die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit erhoffen, oder diejenigen, die für die Streiche, die sie versetzen oder empfangen, keinen andern Preis erwarten können, als die Knechtschaft der andern?

Gedenke man nur an die hochberühmten Schlachten des Miltiades, Leonidas, Themistokles, die vor zweitausend Jahren geschlagen worden sind. Was, glaubt man wohl, gab einer so kleinen Schar wie den Griechen nicht die Gewalt, sondern den Mut, dem Ansturm so vieler Schiffe, daß das Angesicht des Meeres von ihnen verändert wurde, standzuhalten; so viele Nationen zu überwinden, die in so gewaltigen Massen angerückt waren, daß das Häuflein Griechen den feindlichen Armeen noch nicht einmal die Hauptleute hätte stellen können? Was anders, als daß es uns dünkt, in jenen glorreichen Tagen sei gar nicht die Schlacht der Griechen gegen die Perser geschlagen worden, sondern der Sieg der Selbständigkeit über die Tyrannei und der Freiheit über die Willkür!

Ganz ebenso, wie das Feuer eines Fünkleins groß wird und immer mehr zunimmt und, je mehr es Holz findet, um so gieriger entbrennt; und wie es, ohne daß man Wasser herzuträgt, um es zu löschen, wenn man bloß kein Holz mehr daran legt und es nichts mehr zu lecken hat, sich in sich selbst verzehrt und formlos wird und kein Feuer mehr ist: also werden die Tyrannen, je mehr sie rauben, je mehr sie heischen, je mehr sie wüsten und wildern, je mehr man ihnen gibt, je mehr man ihnen dient, um so stärker und kecker zum Vernichten und alles Verderben; und wenn man ihnen nichts mehr gibt, wenn man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie ohne Kampf und ohne Schlag nackt und entblößt da und sind nichts mehr; wie eine Wurzel, die keine Feuchtigkeit und Nahrung mehr findet, ein dürres und totes Stück Holz wird.

O ihr armen, elenden Menschen, ihr unsinnigen Völker, ihr Nationen, die auf euer Unglück versessen und für euer Heil mit Blindheit geschlagen seid, ihr laßt euch das schönste Stück eures Einkommens wegholen, eure Felder plündern, eure Häuser berauben und den ehrwürdigen Hausrat eurer Väter stehlen! Ihr lebet dergestalt, daß ihr getrost sagen könnt, es gehöre euch nichts; ein großes Glück bedünkt es euch jetzt, wenn ihr eure Güter, eure Familie, euer Leben zur Hälfte euer Eigen nennt; und all dieser Schaden, dieser Jammer, diese Verwüstung geschieht euch nicht von den Feinden, sondern wahrlich von dem Feinde und demselbigen, den ihr so groß machet, wie er ist, für den ihr so tapfer in den Krieg ziehet, für dessen Größe ihr euch nicht weigert, eure Leiber dem Tod hinzuhalten. Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, hat nur einen Leib und hat nichts anderes an sich als der geringste Mann aus der ungezählten Masse eurer Städte; alles, was er vor euch allen voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnet, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Wie hat er irgend Gewalt über euch, wenn nicht durch euch selber? Wie möchte er sich unterstehen, euch zu placken, wenn er nicht mit euch im Bunde stünde? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler des Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet, und Verräter an euch selbst? Ihr säet eure Früchte, auf daß er sie verwüste; ihr stattet eure Häuser aus und füllet die Scheunen, damit er etliches zu stehlen finde; ihr zieht eure Töchter groß, damit er der Wollust fröhnen könne; ihr nähret eure Kinder, damit er sie, so viel er nur kann, in den Krieg führe, auf die Schlachtbank führe; damit er sie zu Gesellen seiner Begehrlichkeit, zu Vollstreckern seiner Rachbegierden mache; ihr rackert euch zu Schanden, damit er sich in seinen Wonnen räkeln und in seinen gemeinen und schmutzigen Genüssen wälzen könne; ihr schwächet euch, um ihn stärker und straff zu machen, daß er euch kurz im Zügel halte: und von so viel Schmach, daß sogar das Vieh sie entweder nicht spürte, oder aber nicht ertrüge, könnt ihr euch frei machen, wenn ihr es wagt, nicht euch zu befreien, sondern nur es zu wollen. Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, daß ihr ihn verjaget oder vom Throne werfet; aber stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, daß er, wie ein riesiger Koloß, dem man die Unterlage nimmt, in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht.

Gesetzt den Fall, es kämen heute etliche Völker ganz neu zur Welt, die nicht an die Untertänigkeit gewöhnt und auch nicht auf Freiheit erpicht wären, und sie sollten von der einen wie der andern nichts wissen und kaum die Namen gehört haben: wenn man denen die Wahl ließe, entweder untertan oder frei zu sein, wofür würden sie sich entscheiden? jeder sieht ein, daß sie lieber der Vernunft gehorchen als einem Menschen dienstbar sein wollten; es müßten denn nur die Völker Israels sein, die sich ohne Zwang und ohne irgend eine Not einen Tyrannen gemacht haben: die Geschichte welchen Volkes ich nie lesen kann, ohne so großen Abscheu zu haben, daß ich bis zur Unmenschlichkeit gehe und mich über die vielen Leiden freue, die ihnen daraus zugestoßen sind. Aber sonst muß es für alle Menschen gewiß, wenn sie nur einigermaßen Menschen sind, ehe sie sich unterjochen lassen, eines von zweien geben: entweder sie werden gezwungen oder betrogen.

Wie dem Menschen alle Dinge natürlich sind, von denen er sich nährt und an die er sich gewöhnt, während ihm nur das eingeboren ist, wozu seine einfache und noch nicht veränderte Natur ihn beruft, so ist die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft die Gewohnheit.

Aus diesem ersten Grund folgt ein zweiter: daß nämlich die Menschen unter den Tyrannen leicht feige und weibisch werden. Mit der Freiheit geht wie mit einem Mal die Tapferkeit verloren. Die Tyrannen wissen das wohl, und tun ihr Bestes, wenn die Völker erst einmal so weit gekommen sind, sie noch schlaffer zu machen.

Die Theater, die Spiele, die Volksbelustigungen und Aufführungen aller Art, die Gladiatoren, die exotischen Tiere, die Medaillen, Bilder und anderer Kram der Art, das waren für die antiken Völker der Köder der Knechtschaft, der Preis für ihre Freiheit, das Handwerkszeug der Tyrannei.

Selbst die Tyrannen fanden es seltsam, daß die Menschen sich von Einem beherrschen ließen, der ihnen übles tat: sie wollten sich darum die Religion zur Leibgarde machen und borgten, wenn es irgendwie ging, eine Portion Göttlichkeit, um ihrem verruchten Leben eine Stütze zu geben. ist es nicht allezeit so gewesen, daß die Tyrannen, um sich zu sichern, versucht haben, das Volk nicht nur an Gehorsam und Knechtschaft, sondern geradezu an eine Art religiöse Anbetung ihrer Person zu gewöhnen?’

Juni 2023

Kulles Fakten über die NATO

Von P. D. Kulle1Nun ja. Da meine Sekretärin sich diesem Thema verweigert hat, habe ich mich bei den folgenden Ausführungen weitgehend der Copy-Paste-Technik bedient. Vroniplag et alii sind herzlich eingeladen, fündig zu werden. Ich erhebe keinen Anspruch auf die Autorenschaft, sondern danke stattdessen Wikipedia.

– Kalter Krieg
– Nach der Friedensdividende
– Versprechungen, Erwartungen und Befürchtungen

Kalter Krieg
Bereits in der Endphase des Zweiten Weltkriegs kam es zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion zu Spannungen über die Entwicklung einer europäischen Friedensordnung. Europa wurde zum geostrategischen Spielfeld.
Die Sowjetunion war bestrebt, eine Einflusssphäre sozialistischer Satellitenstaaten zu schaffen. So kam es zur Errichtung sozialistischer bzw. kommunistischer2will sagen: stalinistischer Regimes in den osteuropäischen Staaten Polen, Albanien, Bulgarien, Ungarn, Tschechoslowakei und Rumänien. Ihnen war de facto die Souveränität zugunsten der Sowjetunion entzogen. Außerdem musste Finnland im Waffenstillstand von Moskau 1944 große Gebiete an die Sowjetunion abtreten, seine Beziehungen zum Deutschen Reich abbrechen und 1948 mit der Sowjetunion ein „Freundschafts- und Kooperationsabkommen“ abschließen.
Die USA hielten dagegen: Am 12. März 1947 gab der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman vor dem US-Kongress eine Erklärung ab, die als Truman-Doktrin bekannt wurde. Nach dieser Doktrin sollte es zum außenpolitischen Grundsatz der Vereinigten Staaten von Amerika werden, „freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen“. Die Expansion der Sowjetunion sollte also aufgehalten werden. Im Fall von Bürgerkriegen wollte man die pro-westliche Seite unterstützen.3Unter Berufung auf die Truman-Doktrin unterstützten die USA die Royalisten im Griechischen Bürgerkrieg, Südkorea im Krieg gegen den kommunistischen Norden und Frankreich im Indochinakrieg.
Die Truman-Doktrin bedeutete das Ende der amerikanischen Kriegskoalition mit der Sowjetunion und markierte den Beginn des Kalten Krieges. Mit ihr begann das finanzielle Engagement der USA in der Containment-Politik.
Als wichtiger Bestandteil der Containment-Politik erwies sich der Marshallplan mit dem Ziel, die europäischen Länder mit der US-Wirtschaft zu vernetzen, ihr neue Märkte zu öffnen und somit eine Übernahme Westeuropas durch die Sowjetunion zu verhindern, also Westeuropa selbst zu übernehmen.

Die NATO (North Atlantic Treaty Organization)
Der Nordatlantikpakt wurde am 4. April 1949 im Zuge der Eindämmungspolitik der USA gegen die Sowjetunion geschlossen. Gründungsmitglieder waren Belgien, Dänemark (mit Grönland), Frankreich (mit den französischen Gebieten in Algerien), Vereinigtes Königreich (mit Malta), Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA. In der Präambel des Vertrages bekennen sich die Mitglieder zu Frieden, Demokratie4Mit der Aufnahme Portugals wurde das Postulat der Demokratie schon bei der Gründung verletzt. Weil eine Militärbasis auf den Azoren von geostrategischer Bedeutung war, wurde ein Land aufgenommen, das erst 1974 die Diktatur überwand., Freiheit und der Herrschaft des Rechts.
Die NATO ordnete sich den Vereinten Nationen unter. Der Nordatlatikvertrag beruht auf Artikel 51 der UN-Charta. Das heißt, im Falle eines Angriffskriegs gegen ein Mitgliedsland ist Selbstverteidigung erlaubt, solange der UN-Sicherheitsrat nicht tätig wurde.
Am 18. Februar 1952 wurden Griechenland und die Türkei in die NATO aufgenommen.
Im Zuge der Westintegration der Bundesrepublik Deutschland wurde diese zum Beitritt eingeladen, der am 9. Mai 1955 feierlich vollzogen wurde.
Fünf Tage später, am 14. Mai, wurde in der Folge dieses NATO-Beitritts der Warschauer Pakt gegründet.
Zur Außenpolitik der USA nach dem Ende des II. Weltkriegs hat sich der britische Dramatiker Harold Pinter in seiner Nobelpreisrede 2005 treffend geäußert:
„Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile5Die Liste der amerikanischen Staaten ist unvollständig.. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden. In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts. Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt.“
Die ordnende Politik der USA in ihrem Hinterhof und darüber hinaus wurden also, Pinter zufolge, kaum zur Kenntnis genommen6Jedenfalls nicht in der breiten Öffentlichkeit im Westen.. Anders verhielt es sich mit der Ordnungspolitik der Sowjetunion in ihrem Einflussbereich: Die Niederschlagung der Protestbewegung in der DDR 1953, die gewaltsame Beendigung des Volksaufstands in Ungarn 1956 und die Absetzung der reformsozialistischen Regierung der CSSR 1968 lösten in der westlichen veröffentlichten – und vielleicht auch öffentlichen – Meinung Entsetzen aus.
Ein Tabu zeigte sich 1962: Die USA ließen sich nicht zu nahe kommen. Als die Sowjetunion versuchte, Raketen, die in kürzester Zeit die USA hätten erreichen können, auf Kuba zu stationieren, drohte Präsident Kennedy mit allen denkbaren Konsequenzen, und der sowjetische Machthaber Chruschtschow sah sich gezwungen, nachzugeben.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 beziehungsweise der Auflösung des Ostblocks im Jahr 1991 änderte sich die geopolitische Lage grundlegend.
Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag, ein Staatsvertrag in Bezug auf Deutschland, von Vertretern beider deutscher Staaten und der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet. Er ebnete den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik.

Nach der Friedensdividende

Die Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace; PfP) ist eine 1994 von der NATO ins Leben gerufene Verbindung zur militärischen Zusammenarbeit mit zunächst 19 europäischen und asiatischen Staaten, die keine NATO-Mitglieder sind.
Zu den Staaten, die das Rahmendokument unterzeichnet haben, gehören die ehemaligen Sowjetrepubliken
Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Russland (unterzeichnet 2004, ratifiziert von der Duma im Mai 2007), Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan7Allesamt junge Staaten, überwiegend aus dem „Kernbestand“ der ehemaligen Sowjetunion, in denen Verteidigungsstrukturen nach westlichen Standards aufgebaut werden sollten., die ehemaligen jugoslawischen Republiken Bosnien und Herzegowina und Serbien, die Schweiz8Mit der Schweiz und auch mit Schweden gelang es, neutrale Staaten strukturell, wenn auch nicht offiziell organisatorisch einzubinden., die EU-Staaten Irland, Malta, Österreich und Schweden9Interessant ist, wer hier fehlt. Die Länder, die 1997 ff und 2002 ff NATO-Mitglieder wurden, sind nicht dabei. Mit Polen, Ungarn Tschechien (ab 1997) und Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien (ab 2002) rückt die NATO Russland deutlich näher..
Am 1. Januar 1995 wurden die in Ostdeutschland stationierten Einheiten der Bundeswehr (zu dem Zeitpunkt rund 50.000 Soldaten) in die Bündnisstruktur der NATO integriert.
Im Mai 1997 wurde in Paris die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen NATO und der Russischen Föderation vereinbart, die eine Voraussetzung für die NATO-Osterweiterung war. NATO und Russland bezeichneten sich darin nicht länger als Gegner.
Die russische Verfassungskrise (Machtkampf zwischen dem Präsidenten Jelzin und dem Parlament 1993) und russische Militäraktionen, die Separatismusbestrebungen gewaltsam unterbanden, darunter der Erste Tschetschenienkrieg (1994–1996), der Transnistrienkrieg (seit 1990) und der Krieg in Abchasien (1992/1993), veranlassten die mittel- und osteuropäischen Länder, insbesondere diejenigen mit eigenen Erinnerungen an ähnliche sowjetische Offensiven, auf eine NATO-Beitrittserklärung zu drängen, um ihre langfristige Sicherheit zu gewährleisten.
Ein Beitritt zur NATO geschieht auf Antrag des jeweiligen Staates, nach Prüfung des Antrags lädt die NATO zu Beitrittsverhandlungen ein. In der NATO besteht allerdings der Grundkonsens, kein Land als Mitglied in die Allianz aufzunehmen, das sich in einer Konfliktsituation befindet.
Auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurde Polen, Ungarn und Tschechien ein NATO-Beitritt angeboten. Nach der Ratifizierung der Beitrittsurkunden wurde ihr Beitritt am 12. März 1999 wirksam. Die Slowakei folgte 2004.
Ebenfalls 1997 wurde mit der Ukraine eine NATO-Ukraine-Charta über eine „besondere Partnerschaft“ vereinbart.
Beim Gipfeltreffen in Prag im November 2002 lud die NATO Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zu Beitrittsgesprächen ein. Auf dem Istanbuler Gipfel im März 2004 traten diese sieben Länder der NATO bei. Insbesondere die drei baltischen Staaten trieben ihre NATO-Ambitionen mit hoher Intensität voran, da sie davon ausgingen, das historische Fenster für einen Beitritt könnte sich schnell wieder schließen.
Im April 2004, wenige Tage nach dem Beitritt der baltischen Staaten, erklärte Putin während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“ Bei einem Besuch des NATO-Generalsekretärs sechs Tage später sagte Putin, jedes Land habe das Recht, seine eigene Form der Sicherheit zu wählen.
Die NATO stufte Serbien 2007 als möglichen Beitrittskandidaten ein.
Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wurde der Beitritt Albaniens und Kroatiens offiziell beschlossen.
Bei ihrem Treffen in Brüssel am 3. Dezember 2009 erklärten die Außenminister der 28 NATO-Mitgliedstaaten Montenegro zum Beitrittskandidaten. Der Beitritt als 29. Mitgliedsland wurde schließlich 2017 vollzogen.
2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim und beanspruchte Gebiete im Donbass im Südosten der Ukraine. Mit Unterzeichnung durch Präsident Putin trat am 31. Dezember 2015 Ukas 683 und damit eine neue Militärdoktrin in Kraft, welche erstmals die USA sowie deren Alliierte, die NATO und die EU als Bedrohung für Russland und seine Nachbarn benannte.
Im Juli 2018 lud die NATO Nordmazedonien offiziell zu Beitrittsgesprächen ein. Nach der Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten trat Nordmazedonien 2020 der NATO als 30. Mitglied bei. Russland hatte zuvor versucht, den Beitritt zu verhindern.
Bosnien und Herzegowina ist ebenfalls an einer Mitgliedschaft interessiert.
Georgien möchte – wie die Ukraine – ebenfalls so bald wie möglich der NATO beitreten; Russland lehnt dies ab.
Am 7. Februar 2019 verankerte die Werchowna Rada in der Verfassung der Ukraine die strategische Orientierung des Staates zum vollständigen Beitritt zur NATO sowie zur Europäischen Union. Dies war für Russland einer der offiziell vertretenen Kriegsgründe für den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022.
Da die Ukraine (wie auch Georgien) sich in einer „Konfliktsituation“ befindet, ist ein NATO-Beitritt nach aktueller Rechtslage nicht möglich.

Versprechungen, Erwartungen und Befürchtungen

Im Nachhinein will es, wie immer, keiner gewesen sein. Offizielle Dokumente über Absichtserklärungen und Versprechen gibt es nicht. Wem will man glauben?

Am 31. Januar 1990 sagte der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Vortrag in der Akademie Tutzing:

„Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. (…) Der Westen muss auch der Einsicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen dürfen.“

Zwei Tage später gaben der deutsche und der US-amerikanische Außenminister, Genscher und Baker, in Washington nach einem zweistündigen Treffen kurze Statements und beantworteten Fragen der anwesenden Pressevertreter. Genscher bemerkte u. a.:

„Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.“

Ähnlich äußerten sich Helmut Kohl und der damalige NATO-Generalekretät Wörner. 

Die Sowjetunion lehnte Genschers Tutzinger Position ab. 

So erklärte der sowjetische Außenminister Schewardnadse im Gespräch mit dem Vorsitzenden der DDR-SPD, Ibrahim Böhme, am 2. März 1990, daß die Variante, das vereinigte Deutschland in die NATO aufzunehmen, oder auch das ‚Geschenk‘ Genschers, keine Truppen der NATO auf dem Territorium der DDR zu stationieren, nicht durchkommen wird. 

Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier alliierten Siegermächten unterzeichnet. Der deutsche Diplomat Jürgen Chrobog notierte dazu sechs Monate später: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe10Die Aussage in Bezug auf die Elbe ist umstritten. Möglicherweise hat Chrobog die Oder genannt. Das Fazit in Bezug auf Polen e.a. bleibt dasselbe. hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten.“

Beim Besuch des russischen parlamentarischen Sicherheitsausschusses bei der NATO vom 29. Juni bis zum 2. Juli 1991 betonte Wörner am 1. Juli 1991, der NATO-Rat und er seien gegen die Erweiterung der NATO, 13 von 16 NATO-Mitgliedern würden diesen Standpunkt unterstützen. „In naher Zukunft werde er sich bei seinem Treffen mit L. Walesa und dem rumänischen Staatschef A. Iliescu gegen einen NATO-Beitritt Polens und Rumäniens aussprechen, was er zuvor bereits gegenüber Ungarn und der Tschechoslowakei erklärt habe. „Wir sollten (…) nicht zulassen, dass die UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft isoliert wird.“

Im Mai 1992 erklärten Havel, Wałęsa and Antall für die Visegrad-Staaten das Ziel, in die NATO aufgenommen zu werden.

Russlands Präsident Boris Jelzin schrieb am 15. September 1993 – als Polen, Ungarn und Tschechien auf eine Aufnahme in die NATO drängten – an US-Präsident Clinton, dass der „Geist“ des Zwei-plus-Vier-Vertrages die Möglichkeit ausschließe, die NATO nach Osten auszudehnen. Jelzin erwähnt die Sicherheitsgarantien, die die russische Seite seiner Auffassung nach während der Verhandlungen über die deutsche Einheit erhalten hatte.

Am 5. Dezember 1994 kritisierte Jelzin die Pläne der Osterweiterung der NATO, diese Kritik wurde am 6. Dezember 1994 auf der Titelseite der New York Times veröffentlicht. Jelzin warf der „herrschsüchtigen“ USA vor, sie würde durch die NATO-Erweiterung versuchen, den Kontinent erneut zu spalten.

In einem offenen Brief an den Präsidenten der USA, Bill Clinton, vom 26. Juni 1997 äußerten mehr als 40 ehemalige Senatoren, Regierungsmitglieder, Botschafter, Abrüstungs- und Militärexperten ihre Bedenken gegenüber der von ihm geplanten Osterweiterung der NATO und forderten ihre Aussetzung11Zu den Unterzeichnern gehörte u. a. Paul Nitze, Reagans Abrüstungsdunterhändler, Robert McNamara, Verteidigungsminister a.D., und James D. Watkins, ehemaliger Direktor der CIA.. Der Brief bezeichnet die Beitrittsangebote der NATO 1997 als „politischen Irrtum von historischen Ausmaßen“.

Die Unterzeichner befürchteten, dass die Sicherheit und Stabilität Europas in Gefahr sei, und begründeten dies unter anderem mit dem Argument, in Russland werde die NATO-Osterweiterung, die von allen politischen Kräften abgelehnt wird, die undemokratische Opposition stärken und die Reformkräfte schwächen. Russland werde dazu gebracht, die Vereinbarungen nach dem Ende des Kalten Krieges infrage zu stellen und Widerstand gegen die Abrüstungsverträge zu mobilisieren.

Madeleine Albright vermerkt zum Jahr 1997 in ihrer Autobiografie ‚Madame Secretary‘: „Der russische Präsident Boris Jelzin und seine Landsleute lehnten die Erweiterung strikt ab, da sie darin eine Strategie sahen, die ihre Verwundbarkeit ausnutzen und die europäische Trennlinie nach Osten verschieben würde, wodurch sie isoliert blieben.“

Die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, wurde von dem Historiker und Diplomaten George F. Kennan 1997 als „verhängnisvollster Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ beurteilt, weil „diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“

Der US-Politiker Pat Buchanan schrieb 1999 in ‚A Republic, Not an Empire‘: „Indem wir die NATO in den Vorgarten Russlands verschieben, treten wir die Konfrontation des 21. Jahrhunderts los. […] Wenn der wachsende Unmut in Russland dazu führt, dass Jelzin durch einen antiamerikanischen Nationalisten ersetzt wird, dann liegt die volle Schuld bei einer hochmütigen US-Elite, die ihr Bestes getan hat, um Russland zu demütigen.“

Der ehemalige Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, Robert Gates, veröffentlichte 2014 in ‚Duty‘, seinen Memoiren, eine ähnliche Ansicht. Man habe Gorbatschow und andere nur „glauben lassen“, dass die NATO nicht nach Osten erweitert werde. Die Beziehungen zu Russland nach dem Ausscheiden von George Bush aus dem Amt im Jahr 1993 seien schlecht verwaltet worden. In einer impliziten Rüge an den jüngeren Bush behauptete Robert Gates, dass „der Versuch, Georgien und die Ukraine in die Nato zu holen, wirklich zu weit ging“. Dieser Schritt sei ein Fall von „rücksichtsloser Missachtung dessen, was die Russen als ihre eigenen vitalen nationalen Interessen betrachten“.

Und jetzt haben wir den Salat.

Ramses

Juni 2023

Ukrainekrieg

Ukrainekrieg

„Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, entschuldige bitte! Wir wollten Dich nicht stören, Du bist doch immer so beschäftigt. Eigentlich haben wir eine Frage an Onkel Kulle, aber der ist so merkwürdig und hat uns gar nicht beachtet…“

Dass Kulle die Eisbärenzwillinge nicht beachtete, war in der Tat merkwürdig. Schließlich waren die beiden seine Lieblinge, er hatte sie zusammen mit Athabasca  erzogen und war stolz auf sie. Bärdel konnte sich nicht erinnern, dass Kulle sie auch nur einmal ignoriert hatte.

„Was ist denn so Ungewöhnliches an Kulle?“ wollte er wissen.

„Er ist durch die große Dorfhöhle gerannt und hat in allen Ecke nach seiner roten Fahne gesucht. Um die hat er sich schon lange nicht mehr gekümmert, aber jetzt wollte er sie unbedingt haben. Schließlich hat er sie in irgend einem dunklen Spalt gefunden. Sie war voller Spinnweben und Löcher, und die Farbe war auch völlig ausgeblichen.

Erst hat er versucht, sie sauber zu machen und zu reparieren. Aber dann hat der alle seine Krallen ausgefahren und sie so energisch zerfetzt, dass nur noch winzige Stoffstücke übrig sind.“

„Das ist alles richtig, was Na sagt, aber da fehlt noch einiges“, warf Nuk ein. „Onkel Kulle hat die ganze Zeit lang Selbstgespräche geführt. Wir haben davon nicht viel verstanden, jedenfalls nicht alles. Es ging um selbst verschuldete Aufklärung und um Krieg und ewigen Frieden. Um einen Levi-Nathan – oder so ähnlich. Um die Vereinten Nationen. Um Mittel, die den Zweck heiligen. Oder vielleicht auch andersrum. Und um Dummheit. Immer wieder um Dummheit.“

„Onkel Bärdel, wir machen uns Sorgen um Onkel Kulle!“ sagten beide im Chor.

Bärdel seufzte. „Das kann ich gut verstehen“, meinte er. „Ich verstehe, glaube ich, auch, warum Kulle so komisch ist. Er macht sich nämlich auch Sorgen.“

Nanuk machten große Augen. „Worüber denn, Onkel Bärdel?“

„Dass in der Ukraine seit mehr als drei Monaten Krieg ist, das habt Ihr schon mitbekommen, oder?“

„Klar, Onkel Bärdel!“ Na war wie so oft schneller mit der Antwort als ihre Schwester. „Russland hat die Ukraine angegriffen, weil das Land von Faschisten regiert wird, und eigentlich sollte das Land zu Russland gehören. Jedenfalls sagt das Putin.“

„Wir wissen, dass Krieg etwas Schreckliches ist.“ Nuk machte ihre Position klar. „Kriege sollten verboten werden. Werden sie aber nicht. Es gibt doch immer und in vielen Ländern Krieg. Was ist so schlimm an diesem Ukraine-Krieg, dass Onkel Kulle sich Sorgen macht?“

„Es ist nicht richtig, dass Kriege nicht verboten sind. Fast alle Staaten dieser Welt sind Mitglied der Vereinten Nationen, und zu deren Grundsätzen gehört ein allgemeines Gewaltverbot. Das verbietet den Mitgliedsstaaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Bärdel war froh, dass er nicht bei allen politischen Vorträgen, die Kulle hielt, geschlafen hatte.

„Wenn das so ist, Onkel Bärdel, dann dürfte es doch keine Kriege geben. Es gibt sie aber, wie Nuk richtig sagt!“ Na war sehr empört.

„Nicht jeder hält sich immer und überall an Regeln. Das tun nur die Guten.“

„Und wer sind die Guten, Onkel Bärdel?“

„Demokratisch regierte Staaten ganz bestimmt. Wie Dehland. Oder unser Nachbar Frankreich. Oder die USA.“

Na und Nuk tauschten einen kurzen Blick. Athabasca hatte ihnen immer wieder eingeprägt, dass Bären höflich zu bleiben hatten, auch bei Meinungsverschiedenheiten oder in einem Streit um Fakten. Das galt insbesondere für jüngere gegenüber älteren.

Sie hätten sich natürlich bei Bärdel bedanken und ihrer Wege gehen können. Aber auch Ehrlichkeit gehörte zu Attis Erziehungsprinzipien.

Nuk trat ihrer jüngeren Schwester auf eine Vorderpfote, um ihr klarzumachen, dass sie besser ihr für eine Weile das Wort überließ. Sie kannte Nas überschäumendes Temperament nur zu gut.

„In Bezug auf Dehland hast Du wohl recht, Onkel Bärdel. Die dehländische Rüstungsindustrie hat nur mit Erlaubnis der Regierung Waffen ins Ausland geliefert, mit denen dann Nicht-Dehländer getötet haben und getötet wurden.“

Bärdel schluckte, aber er sagte nichts. Also fuhr Nuk fort.

„Bei den USA liegt der Fall aber anders, denke ich. In Ländern, die sie verächtlich als ihren ‚Hinterhof‘ bezeichnen, haben sie oft gewaltsame Aktionen durchgeführt, obwohl sie Gründungsmitglied der Vereinten Nationen sind. Kuba, die Dominikanische Republik, El Salvador, Nicaragua, Grenada, Panama und Kolumbien – das sind die, die mir gerade einfallen. Ach ja, und Chile natürlich.“

Nuk holte tief Luft.

„Auch in anderen Teilen der Welt haben die USA ihre Interessen verteidigt, wie sie das nennen. Im Vietnamkrieg haben sie ein Kriegsverbrechen an das nächste gereiht, das bestreitet heute niemand mehr, noch nicht einmal die Amerikaner selbst. Sie wollten den Kommunismus zurückdrängen. Und um für den dritten Irakkrieg die Unterstützung des UN-Sicherheitsrates zu gewinnen, haben sie ihren Außenminister nach New York geschickt, der das Gremium schamlos belogen hat. Nein, falsch, hinterher hat er sich öffentlich geschämt, aber erst mal hat er gelogen, gelogen für das angeblich amerikanische Öl.“

Jetzt hatte sich auch Nuk gegen ihren Willen in Rage geredet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Bärdel war unter seinem Gesichtspelz ganz blass geworden.

„Onkel Bärdel“, fragte sie zaghaft. „Bist Du mir jetzt böse?“

Bärdel schüttelte den Kopf. „Nein, böse bin ich nicht. Aber erschüttert. Eigentlich weiß ich vieles, was Du genannt hast, aber so geballt…“ Mit ein wenig Hoffnung in der Stimme fragte er: „Kommt denn wenigstens Frankreich besser weg?“

„Ein bisschen. Frankreich schickt Soldaten in ehemalige Kolonien in Afrika, aber es nutzt auch andere Mittel als militärische. Französische Konzerne wie Total und Orange dominieren wichtige Wirtschaftszweige. Mit 15 afrikanischen Staaten hat Frankreich Währungsverbünde, die Reserven liegen bei der französischen Zentralbank. Frankreich kann also jederzeit den Geldhahn zudrehen.

Der wichtigste Grund für die Aktivitäten in Afrika, denke ich, ist Frankreichs Energiepolitik. 56 Atommeiler müssen gefüttert werden, und ein großer Teil des Urans dafür kommt aus Niger und anderen Subsaharastaaten.“

„Also schlimmer kann es ja kaum noch kommen,“ seufzte Bärdel.

Jetzt löste Na ihre Schwester ab. „Es tut uns leid, Onkel Bärdel, aber es kann noch viel schlimmer kommen. Vergiss nicht: Bisher haben wir von den Guten gesprochen.“

„Also kommt jetzt der russische Krieg gegen die Ukraine dran?“

Die Eisbärenkinder schüttelten in perfekter Choreographie die Köpfe, und Na redete weiter. „Russland kommt dran, richtig, aber dieser Krieg muss noch ein bisschen warten.

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die früheren Kriege, die Russland geführt hat, kaum jemanden interessiert haben? Zum Beispiel der mit Georgien im Kaukasus vor 14 Jahren? Die Annexion der Krim vor acht Jahren? Der Krieg in Syrien seit 2015, um Assad zu unterstützen, der seine eigene Bevölkerung massakriert?

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die politische Opposition in Russland gnadenlos verfolgt wird, ganz offen? Die Menschen wurden und werden eingesperrt, erschlagen, erschossen, verbannt, vergiftet oder verhöhnt, wie es dem Diktator gerade passt.

Ist niemand wirklich beunruhigt darüber, dass russische Troll-Armeen Wahlkämpfe in Demokratien beeinflusst haben, dass sie die öffentliche Meinung majorisieren wollen? Dass Russland Nazis in Europa und Amerika unterstützt?

Ist es nicht so gravierend, dass die Gruppe Wagner nicht nur Kriegsverbrechen begeht, sondern auch das russische System ökonomisch stützt, indem sie zum Beispiel im Sudan Gold fördert?“

Na holte tief Luft.

„Nimm es Dir nicht zu Herzen, Onkel Bärdel. Anscheinend ist dass alles niemandem aufgefallen. Dehland hat gute Geschäfte mit Russland gemacht. Russland hat Dehland Öl und Gas geliefert, und VW hat in Russland Autos gebaut und verkauft.

Erst der Krieg vor der eigenen Tür, an der Grenze zur NATO, hat Entsetzen ausgelöst. Dass Putin so böse sein kann, damit hat man nicht gerechnet. Und schon spricht der dehländische Kanzler von einer Zeitenwende.“

„Ist es denn nicht auch eine? Eine Zeitenwende?“

„Ja und nein, Onkel Bärdel. Die Zeiten, in denen skrupellose Machthaber in imperialistischer Manier sich genommen haben, was sie wollten, sind leider nie zu Ende gegangen. Das sollten unsere Beispiele gezeigt haben.“

Nanuk nickten synchron und sagten im Chor:

„Es ist Zeit für viele Fragen, die lange Zeit nicht ernsthaft gestellt wurden.“

Na: „Ist die Globalisierung am Ende?“

Nuk: „Sind die Vereinten Nationen gescheitert? Kann es einen Neustart geben?“

Na: „Wie kann eine neue europäische Politik aussehen?“

„Wir finden, dass der dehländische Kanzler die Zeitenwende völlig falsch interpretiert. Die Welt braucht nicht mehr Rüstung und mehr Waffen. Man muss nur an eine Highschool in den USA gehen, um zu sehen, was mehr Waffen anrichten!“

Das waren wieder die Zwillinge gemeinsam.

Bärdel war sprachlos. Nanuk wussten so viel, wovon er keine Ahnung hatte – und eigentlich auch nicht haben wollte. Wie sollte er seinen bärischen Seelenfrieden bewahren, wenn er sich dauernd um den Zustand der Welt sorgen musste?

Es schien, als könnten die jungen Eisbärinnen seine Gedanken lesen.

„Onkel Bärdel, das alles muss Dich auch interessieren! Es geht um unsere Zukunft! Guck mal, wir haben auch schon ein Plakat gemalt!“

Na hielt ein großes Blatt Zeichenkarton hoch, auf dem stand: POLAR BEARS FOR FUTURE.

Plötzlich stapfte Kulle heran, warf einen Blick auf das Poster und nickte anerkennend. Zu Bärdel sagte er: „Du musst umgehend eine Versammlung einberufen. Wir müssen reden.“

„Du machst Dir also auch Sorgen wegen des Ukrainekrieges?“

Kulle sah ihn an, als sei Bärdel nicht sein bester Freund, sondern ein Alien aus einer fremden Galaxie.

„Quatsch!“ fauchte er. „Heiße ich etwa Olaf Scholz oder Annalena Baerbock? Bin ich etwa ein ignoranter Mensch? Kann ich die Zeichen an der Wand nicht lesen? Es war doch klar, dass Putin über kurz oder lang zum Mittel des Krieges greifen würde.“

Na und Nuk schauten einander an und lächelten verschwörerisch. Sie hatten es doch gewusst! Sie waren genauso schlau wie Onkel Kulle.

„Worüber müssen wir dann reden, wenn nicht über den Krieg?“ fragte Bärdel verunsichert.

„Das können Dir Na und Nuk sicher sagen. Sie haben ja schon ein entsprechendes Plakat gemalt,“ bemerkte Kulle.

Es war den Zwillingen gar nicht recht, dass sie durch diese Äußerung in den Mittelpunkt gestellt wurden. Sie waren auf eine Antwort nicht vorbereitet. Die vorsichtige Nuk hielt lieber den Mund, während ihre Schwester ein paar Sätze murmelte, in denen wiederholt das Wort ‚Zukunft‘ vorkam.

Kulle erbarmte sich. „Natürlich geht es um Zukunft. Und was ist wichtig für unser aller Zukunft und am allerwichtigsten für Eisbären? Na? Der Klimawandel selbstverständlich. Und worum kümmern sich die Menschen gegenwärtig gar nicht, weil sie mit einem lokalen Krieg beschäftigt sind? Richtig: um den Klimawandel. Und worum werden sie sich wieder nicht kümmern, wenn sie mit dem nächsten angeblich völlig überraschenden Krieg konfrontiert werden?“

„Natürlich um den Klimawandel, Onkel Kulle.“ Na und Nuk waren heilfroh, dass Kulle ihnen die richtige Antwort in den Mund gelegt hatte.

Kulle nickte. „Bleibt nur noch zu klären, aus welcher Ecke dieser Krieg kommen könnte.“ Er sah die Zwillinge erwartungsvoll an, aber die wichen seinem Blick aus.

Bärdel verspürte Mitleid mit den Beiden. Er wollte helfen, aber wie? Am besten mit einer Antwort, die Kulle von ihnen ablenken würde. Mit einer falschen Antwort natürlich, aber das spielte keine Rolle. Er erinnerte sich an wiederholte Klagen von Manfred über Spy-software – was immer das auch sein mochte. Bärdel holte tief Luft.

„Aus China,“ sagte er gepresst.

Kulles Augenbrauen wanderten voller Anerkennung nach oben. „Donnerwetter, das hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Natürlich hast Du recht. Die chinesische Regierung in Gestalt der Führungsclique der sogenannten Kommunistischen Partei  hat konsequent und erfolgreich einen digital-totalitären Überwachungsstaat aufgebaut. Damit wurde die Demokratiebewegung in Hongkong zerschlagen, damit wurden die Menschen in der Volksrepublik zu ohnmächtigen Lockdown-Objekten. Die Internierungskampagne gegen die Uiguren in Xinjiang ist da vielleicht der Probelauf, das Tüpfelchen auf dem ‚i’.

Mit diesem Land unter totaler Kontrolle der Partei enthält der Westen wesentlich mehr und wesentlich wichtigere Wirtschaftsbeziehungen als mit Russland. Bei China geht es nicht um fossile Energien, die sowieso bald ersetzt werden sollen. Es geht zum Beispiel um Graphit, Kobalt, Platin, Iridium, Lithium, Titan und Tantal. Die braucht der Westen für die Energiewende, und die kauft er bisher hauptsächlich in China ein. Und deshalb brauchen wir möglichst schnell eine Versammlung.“

„Aha,“ sagte Bärdel ratlos. Er verstand die Zusammenhänge nicht.

„Wir brauchen eine Versammlung, um zu diskutieren, wie sich der Westen rechtzeitig aus der Abhängigkeit von China befreien kann. Wie wir die Menschen im Westen davon überzeugen können, dass blindes Kooperieren mit totalitären Staaten nicht nur gegen demokratische Prinzipien, sondern auch gegen rationale Interessen verstößt. Damit sie vorbereitet sind, wenn China Taiwan überfällt.“

„Aber wie sollen wir das schaffen? Und warum eigentlich?“

„Wie – das weiß ich auch noch nicht. Deshalb ja die Versammlung. Und warum? Das ist doch klar.“ Kulle zeigte auf Nanuk und ihr Plakat.

„Die Eisbären brauchen eine Zukunft.“ 

Juni 2022

Zweierlei Maß

Nuk und Na

„Tante Atti, Onkel Kulle! Wir verstehen da was nicht!“

Athabasca und Kulle waren stolz darauf, die Eisbärenzwillinge erzogen und gebildet zu haben. Die Kinder waren groß geworden und hatten gelernt, Wissenslücken auch ohne die Hilfe ihrer Lehrer zu füllen. Aber die Alten genossen es, wenn Na und Nuk zu ihnen zurückkamen.

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Kreuzfahrer

Bemerkungen zu einem nicht nur historischen Phänomen

PD Dr. Kulle

Heilige Kriege

Gab es in der Geschichte der Hominiden Kriege, die nicht als ‚heilig‘ bezeichnet worden sind? Wir wissen es nicht. Da Gehorsam Homo nicht sui generis eingeboren ist, empfahl es sich vermutlich von jeher, seine erwünschte Subordination unter Befehle auch sinnloser Natur mit dem Auftrag einer höheren Macht zu rechtfertigen.

In frühen Zivilisationen mit städtischen Zentren war diese ideologische Überhöhung gewiss die Norm, waren doch politische und religiöse Macht eng miteinander verwoben oder gar identisch. Man denke nur an die Gesetzgebung Hammurabis1

Explizit führte man Heilige Kriege im antiken Griechenland zum Schutz des Apollonheiligtums in Delphi gegen räuberische Nachbarn. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass neben dem Heiligtum Schatzhäuser errichtet worden waren, in denen zahlreiche kostbare Weihgeschenke aufbewahrt wurden. Schon hier zeigt sich: Kein Heiliger Krieg ohne ökonomisches Interesse.

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Kulles Corona-Ansprache

Kulle
PD Dr. Kulle

Sehr geehrte Damen, Herren und Diverse Politiker in Deutschland,

Ich bin als gelehrter Bär nicht von geringem Verstand, wohl aber von geringem Verständnis für menschliches Verhalten.

Die Demokratie, so sagt man, ist die Politik mehr oder minder direkt gewählter Vertreter für das Volk, und da der große Lümmel, wie Heinrich Heine ihn nennt, nur alle paar Jahre zu den Urnen gerufen wird, zwischendurch aber regiert werden muss, ist es dringend erforderlich, sich ihm gegenüber ins rechte Licht zu setzen, damit er

  • a) sich nicht gegen Gesetze empört und
  • b) von den Gesetzen so überzeugt ist, dass er die bisherigen Gesetzgeber bei der Wahl gleich wieder legitimiert.

Folglich gibt sich die Exekutive, die sich die Legislative untertan zu machen versucht, obwohl das nicht dem Sinn der Konstruktion der Gewaltenteilung entspricht, aber das nur am Rande, gibt sich also die Exekutive den Anschein, stets richtige Entscheidungen zu fällen, die auf objektiv richtigen Informationen beruhen. Trotz einer immer energischer in Entscheidungsprozesse eingreifenden Lobbyismusindustrie gelingt das unter „normalen“ Gegebenheiten halbwegs. Von Fiskal- und Föderalismuspolitik versteht der Normalmensch meist wenig, von internationalen Beziehungen ganz zu schweigen. Der Normalmensch äußert seine  Unmut in der Regel nur dann, wenn der Unterricht an den Schulen seiner Kinder nicht ordentlich erteilt wird oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Windräder installiert werden sollen – für Umweltschutz ist er aber schon.

Seit einem Jahr jedoch kann von „normalen“ Gegebenheiten keine Rede mehr sein.  „Die Welt ist aus den Fugen“ hat Kanzlerin Merkel schon 2016 gesagt, und da wusste sie noch gar nichts von Corona. Ein vorschnelles Zitat, gibt sich die Bundesregierung doch inzwischen den Anschein, alles unter Kontrolle zu haben.

Der Reihe nach.

Die Welt sieht sich seit mehr als zwölf Monaten mit dem Virus SARS-COV2 konfrontiert, von dem einiges klar ist:

  • Es wird von Mensch zu Mensch übertragen, hauptsächlich durch Aerosole.
  • Es gibt schwere und leichte Krankheitsverläufe, es kann tödlich sein. Besonders gefährdet sind alte Menschen.
  • Es befällt hauptsächlich die Lunge, aber auch andere Organe.
  • Es haben sich Mutationen entwickelt, die ansteckender sind als das ursprüngliche Virus.
  • In erstaunlich kurzer Zeit sind Impfstoffe gegen das Virus entwickelt worden.

Viel mehr ist aber nicht klar:

  • Woher stammt das Virus? Diese Frage ist allerdings eher akademischer Natur, weil sie bei der Pandemiebekämpfung nicht hilft.
  • Welche Maßnahmen sind geeignet, die Verbreitung des Virus einzudämmen? Hilft ein Lockdown? Und wenn ja, in welchen Bereichen?  
  • Welche Langzeitfolgen verursacht es?
  • Wie wirken die Impfstoffe langfristig? Gibt es Nebenwirkungen, die vielleicht noch nicht absehbar sind? In welchen Intervallen werden Nachimpfungen notwendig sein?
  • Gibt es bereits ein Medikament, das Heilung oder die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe verspricht? Wird daran gearbeitet?

Das sind die medizinischen Fragen, und diese Fragen sind vordringlich. Die Politik bleibt Antworten darauf schuldig, auch die Medizin schweigt bisher.

Stattdessen arbeitet man sich an Fragen ab, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand beantworten kann, und behauptet dennoch, die Antworten zu kennen:

„Ich verspreche, dass bis zum Ende des Sommers allen Menschen in Deutschland, die sich impfen lassen wollen, ein Impfangebot gemacht worden ist.“

Kanzlerin Angela Merkel

„Der Lockdown wird verlängert werden müssen.“

Karl Lauterbach

„Mitte Februar werden wir viel mehr Impfstoff haben.“

„Wir werden nach dem Winter zu einem normalen Leben zurückkehren.“

Alle

„Wir haben noch acht bis zehn harte Wochen vor uns.“

Minister Spahn

„Wir werden die Vulnerablen schützen.“

Alle

Sie mögen aus meinen Ausführungen herausgehört haben, dass ich Ihre Art, das Land zu regieren, prinzipiell nicht für das non plus ultra halte. In der gegenwärtigen Situation ist Ihr Verhalten letal. Letal für manchen Alten, den Corona erwischt hat und den Ihre Bürokratie und Ihr Gesundheitswesen nicht haben schützen können, letal aber auch für Sie. Sie alle, ob Sie nun im Bundeskanzleramt, in einer Landesregierung, in einem Landratsamt oder in einem ländlichen Bürgermeisterbüro sitzen.

HÖREN SIE AUF, SO ZU TUN, ALS HÄTTEN SIE EINE LÖSUNG!

Sie haben keine!

SAGEN SIE, DASS SIE NOCH KEINE HABEN!

Nur so machen Sie sich glaubwürdig.

Jetzt wollen Sie vermutlich wissen, warum ich Ihnen diese Ratschläge gebe, obwohl ich doch mit Ihnen und Ihrem Tun nicht einverstanden bin.

Wir Bären sind schon immer Opportunisten und vetraut mit dem kleineren Übel: Wenn es keine großen Lachse gibt, fressen wir eben kleinere. Wir Bären, die wir hier in Dehland leben, ziehen die Demokratie der großen völkischen Lüge vor. Haben Sie die neueste Umfrage in Bezug auf die französische „Sonntagsfrage“ zur Kenntnis genommen? Wenn am nächsten Sonntag Präsidentenwahl wäre, bekäme Marine LePen 48% der Stimmen und Macron 52%. Welch ein Graus!

So dumm, wie Sie glauben, ist der „große Lümmel“ gar nicht. Sagen Sie ihm die Wahrheit. Sagen Sie ihm, dass Sie (noch) keine Lösung haben. 

Januar 2021

Aus der Traum

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, wir müssen Dir was sagen!“

„Was denn?“ Kulle unterbrach seine Rousseau-Lektüre für die Eisbärenzwilinge gern.

„Wir haben Tante Atti gesehen. Nein, wir haben ihr nicht nachspioniert. Und Du darfst ihr auch nicht erzählen, was wir beobachtet haben.“ Nuk war erkennbar durcheinander.

„Und was war das?“ fragte Kulle amüsiert. Die Geschwister steckten mitten in der Pubertät. Wahrscheinlich hatten sie eine ihnen noch unbekannte sexuelle Handlung bemerkt und hielten sie für sensationell.

Athabaska

„Tante Atti hat Früchte gesammelt. Schneebeeren, Hagebutten und diese blauen – wie heißen die gleich?“

„Meinst Du Wacholderbeeren?“ schlug Kulle vor.

„Genau, Wacholderbeeren.“ Na und Nuk nickten gleichzeitig. „Und dann hat sie angefangen, damit Muster zu legen,“ erklärte Na. „Ein Muster in einem Rechteck. Die Wacholderbeeren waren alle oben links und darin verteilt ein paar Schneebeeren. Auf dem größten Teil der Fläche hat sie Schnebeeren und Hagebutten in waagerechten Streifen angeordnet. Es sah ganz hübsch aus, und irgendwie kam es uns bekannt vor. Wir wollten gerade fragen, was sie da macht, als sie anfing, darauf herumzuspringen und das Muster zu zerstören. Sie war dabei so wütend, dass wir Angst bekommen haben und weggelaufen sind. Onkel Kulle, was ist bloß mit Tante Atti los?“

Kulle hatte eine Vermutung, was Athabasca bewegte, aber er wollte den Eisbärenkindern nicht sofort antworten, sondern sich erst Gewissheit verschaffen. „Vielleicht hat sie eine neue Trendsportart ausprobiert?“ sagte er leichthin. „Da gibt es ja die verrücktesten Sachen. Ihr müsst Euch nicht beunruhigen. Ich werde mit Tante Atti reden.“

Nachdem Nanuk sich in Richtung eines nahegelegenen Baggersees getrollt hatten, machte Kulle sich auf die Suche. Er fand Athabasca schnell, denn er kannte das Versteck unter dichten Brombeerbüschen, in das sie sich verkroch, wenn sie allein sein wollte. Oft kam das nicht vor – es musste schon einen triftigen Grund dafür geben.

Er scharrte bescheiden vor dem Eingangsloch, er scharrte lange, denn Athabasca fauchte drohend und anhaltend, bevor sie nachgab. Kulle schob sich durch den engen Einlass und nahm seine Freundin in die Arme.

„Na?“ sagte er. „Ende des amerikanischen Traums?“

„Eigentlich ist der ja schon lange ausgeträumt. Und außerdem bin ich aus Kanada. Aber trotzdem…“ Sie zog geräuschvoll den Rotz in ihrer Nase hoch und räusperte sich.

„Weißt Du,“ fuhr sie fort, „es ist ja nicht nur Trump. Es hat viel früher angefangen. In den USA und überall. Chavez und Maduro in Venezuela, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland…“ (Kulles Bemerkung: „Nanuk nennen ihn übrigens nur „La Putain“, haben sie das von Dir?“)…entlockte ihr immerhin ein kleines Lächeln und ein Nicken. „Bolsonaro, Duterte, Orban, Kakzynski – die Demokratie ist überall auf dem Rückzug. Ich weiß nicht, warum das so ist, und ich will darüber jetzt auch nicht reden. Ein andermal vielleicht.“

Atti hatte Kulle den Wind aus den Segeln genommen, denn natürlich hatte er versuchen wollen, sie mit einer Diskussion über die möglichen Gründe veränderter politischer Präferenzen von ihrem Kummer abzulenken. Deshalb versuchte er es anders.

„Meiner Meinung nach ist die Demokratie nicht die optimale politische Ordnung.“

Das war die falsche Strategie, wie sich gleich zeigte.

„Ach nein? Dein Rousseau soll es richten? Die Volonté générale, die Einsicht in die Vernunft, funktioniert Deiner Meinung nach ohne Zwang? Darf ich Dich daran erinnern, dass der „Contract social“ zu Robbespierres Lieblingslektüre gehörte, während er sich dazu entschloss, die Guillotine die Säuberungsarbeit verrichten zu lassen?

Oder Dein Marx? Aus dessen ‚Reich der Freiheit‘ krochen Lenin, Stalin und Mao, und aktuell rühmt sich Xi Jinping dieser Ahnenreihe.“

Kulle nickte. Er gab ungern zu, dass seine Lieblingstheorien in der Praxis zu furchtbaren Verhältnissen beigetragen hatten, aber es blieb ihm nichts anderes übrig.

„Wollen wir den Kindern sagen, was Dir zu schaffen macht?“ fragte er.

„Den Kindern? Wir sollten uns allmählich daran gewöhnen, dass wir es mit jungen Frauen zu tun haben. Mir fällt das auch schwer. Es ihnen sagen? Nein. Sie sind intelligent, sie werden von selbst darauf kommen. Einstweilen sollen sie sich mit Deiner genialen Erklärung zufriedengeben. Eine neue Trendsportart – das muss einem erst mal einfallen. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis sie Dich entlarven.“

Kulle ließ den Kopf hängen und erreichte, was er damit beabsichtigte. Athabasca knuffte ihn zärtlich und sagte: „Schluss jetzt damit. Komm, lass uns kuscheln.“

Januar 2021

Krise der Demokratie? Welche Krise?

P.D. Kulle

Der Autor: PD Dr. Kulle

Demokratie: Post-? Zuschauer-? Fassaden-? defekt? unpolitisch? simulativ?1Das sind einige Begriffe, mit denen der gegenwärtige Zustand auch der  deutschen Demokratie von Theoretikern charakterisiert wird. oder was?2Das ist offenbar die Frage, die der Chef stellt. Die Sekretärin

Beginnen wir mit einigen Anmerkungen zum Charakter des politischen Geschäfts, unabhängig von dessen Form. Immanuel Kant, der Vater des Kategorischen Imperativs, Verfechter ethischer Maximalforderungen3 Der Chef meint, die seien völlig illusorisch. Die Sekretärin und geschworener Feind der Lüge, formuliert in seiner Arbeit „Zum ewigen Frieden“:

Die Politik sagt: „Seid klug wie die Schlangen“; die Moral setzt (als einschränkende Bedingung) hinzu: „und ohne Falsch wie die Tauben.“ …Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider! sehr häufig widerspricht: so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser denn alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche Bedingung der letzteren.

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden

Hannah Arendt, der Moralität gewiss nicht abgesprochen werden kann, widerspricht dem energisch. Ihr zufolge ist die Lüge nicht nur ein unverzichtbarer, sondern gar ein notweniger Bestandteil des Politischen. Denn in der Politik gehe es um Meinungen und um Kompromissfindung. Wo es jedoch um Wahrheit gehe, seien Meinungsdiskussionen unzulässig. Wer den Anspruch auf absolute, von den Meinungen der Menschen unabhängige Wahrheit erhebe, lege die Axt an die Wurzeln aller Politik. Wer lüge, mache den politischen Prozess erst möglich.

Niklas Luhmann weiß, dass es im politischen System nicht um das Finden von Wahrheit geht, sondern um die Machtfrage, ist in diesem Fall also mit Arendt einer Meinung.

Der Nestor der Rechtfertigung der politischen Lüge, Niccoló Machiavelli, formulierte seine Position bereits im frühen 16. Jahrhundert. Ihm zufolge unterliegen Herrschende, anders als ihre Untertanen, keinerlei moralischen Einschränkungen; sie dürfen lügen, betrügen, Versprechen brechen, ihre Untertanen bewusst täuschen. Das gebiete die Staatsraison. Die Ethik des Amtes dominiert demnach die Ethik des Individuums: Der lügende Herrscher verstößt gegen die individuelle Moral, dient aber einer übergeordneten Staatsmoral.

Arendt, Luhmann und Machiavelli zufolge, denen wir uns hier anschließen, sind Fake News also integraler Bestandteil der Politik. Es besteht folglich kein Grund, über deren Existenz zu klagen. Es ist zu beobachten, dass sie sich in einer Welt der digitalisierten Kommunikation in den sogenannten „sozialen“ Netzwerken, die sich zur bevorzugten politischen Informationsquelle entwickelt haben 4Ursprünglich hat der Chef „Informationsquelle geistig Minderbemittelter“ diktiert, mir dann aber gesagt, ich möge die beiden letzten Worte streichen. Die Sekretärin, besonders gut verbreiten. Newsfeed-Texte für das Smartphone sind kurz, griffig formuliert und vermitteln kein Hintergrundwissen. Dabei sind falsche Informationen erfolgreicher als richtige, was Geschwindigkeit und Verbreitungsgebiet angeht.5 Das gilt generell für menschliche Populationen.. Fake News werden von vorwiegend ungebildeten Personen mit Gleichgesinnten „geteilt“; die Angehörigen dieser Gruppe suchen dann gezielt nach bestätigenden Informationen.

Einen bedeutenden Anteil an der Verbreitung von Fake News in den „sozialen“ Netzwerken haben Trolle und ihre Social Bots.

Ein Social Bot ist ein automatisiert gesteuerter Account in einem sozialen Medium, zum Beispiel ein Twitter- oder ein Facebook-Account. Bots können sich als Fan oder Follower ausgeben. Oder sie können auf bestimmte Schlüsselwörter in Postings anspringen, sie verstärken oder die Gegenmeinung artikulieren, dazu Links schicken, mit denen sie ihre Position stützen.

Trolle sind in unserem Fall keine Fabelwesen der nordischen Mythologie6Schade! Ich war im Sommerurlaub in Norwegen, dort hat es mir gut gefallen. Besonders schön war die Straße Trollstigen. Die Sekretärin, sondern Menschen, die entweder Diskussionen sprengen wollen oder kompromisslos für ihre eigene Position streiten. Mittlerweile gibt es ganze Troll-Fabriken, in denen hunderte Menschen für das Stimmungsmachen im Sinne ihres Auftraggebers bezahlt werden. Wenn diese Trolle zusätzlich Social Bots aktivieren, vervielfältigen sie die Kommunikation.

Dergleichen Propaganda verursacht geringe Kosten; man bedient sich eines bereits existierenden Servers. Auch die Möglichkeit des Microtargeting, also die Konzentration auf genau definierte Zielgruppen, senkt die Kosten und erhöht zugleich die Erfolgsaussichten. Denn auf diese Weise kann mit denselben Ressourcen die ausgewählte Zielgruppe viel häufiger angesprochen werden als bei der Kommunikation mit der Gesamtgruppe.

Die beschriebenen Techniken, ob mit oder ohne Transport von Fake News, sind in den USA während der Präsidentschaftswahlkämpfe 2008, 2012 und 2015/16 angewendet worden und auch im Bundestagswahlkampf 2017 in Deutschland. Auftraggeber waren dabei politische Parteien, die Adressaten waren eigene Bürger. Anders verhält es sich wohl mit russischen Trollfabriken: Sie zielen auf Bürger in liberalen Staaten, um mit Hilfe von Fake News oder durch das Verbreiten rechts- bzw. linksextremistischer Ansichten die Gesellschaft zu polarisieren.

Soweit es sich bei den manipulierenden Akteuren um Angehörige der politischen Klasse handelt, ist technisch viel, jedoch qualitativ wenig Neues zu vermerken. Es ist aber festzustellen, dass sich zunehmend politik- und politikerverdrossene Bürger zu Wort melden. Sie misstrauen insbesondere den zentralen Akteuren der Politik, zweifeln an der Leitungsfähigkeit der Politik, sind mit den Ergebnissen politischer Entscheidungen nicht einverstanden, empfinden Politik persönlich häufig als ungerecht und kritisieren die Strukturen des politischen Systems. Das Ansehen der Parteien und die Glaubwürdigkeit der Politik sind bei diesen Menschen stark erodiert.

Diese Verdrossenheit hat gute Gründe.

Die Handlungsfreiheit des Staates wird durch die Globalisierung eingeschränkt, während sie die von Unternehmen erweitert. Die Politik ist gezwungen, betriebswirtschaftliche Interessen zu bedienen: Niedrige Steuern, Rechtssicherheit, ein hohes Bildungs- und Forschungsniveau, eine gute Infrastruktur sichern Standortvorteile. Wer diese Grundlagen nicht schafft, gerät wirtschaftlich ins Hintertreffen. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Der Kollege Habermas möge das folgende unautorisierte Zitat verzeihen:

Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis; mit beiden konkurrieren nämlich zwei entgegengesetzte Prinzipien der gesellschaftlichen Integration um den Vorrang.

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns

Auch bleibt nicht verborgen, dass Verbände, allem voran Wirtschaftsverbände, durch Lobbyismus starken Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben, bis hin zur (Vor)Formulierung von Gesetzen auf Ministerialebene. Ein verbindliches Lobbyregister für den Deutschen Bundestag existiert nicht, und Karenzregeln für den Wechsel von Politikern in die Wirtschaft fehlen. Welche Politik ist in wessen Interesse gemacht worden, wenn zum Beispiel ein ehemaliger Bundesverkehrsminister gerne zum Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie gewählt wird? 7Der Chef meint, das sei eine rhetorische Frage, die seiner Antwort nicht bedürfe. Die Sekretärin

Diese von der Wirtschaft angelegten Fesseln hindern die meisten Politiker jedoch nicht daran, ein überzogenes Erwartungsmanagement bezogen auf die Lösung der zahlreichen Probleme zu betreiben. Sie scheinen zu glauben, damit ihre Argumentationsphobie überdecken zu können. So gibt es vollmundige Ankündigungen, aber selten Lösungen und schon gar keine mutigen „großen“. Eindeutige Festlegungen gelten als Fehler, weil man keine Teilklientel verschrecken möchte.

Darin und auch in Bezug auf viele Kernthemen nähern sich die deutschen Parteien symbiotisch einander an.

Ihre Attraktivität erhöht das erkennbar nicht: Seit drei Jahrzehnten haben alle Parteien in unterschiedlicher Intensität Mitglieder verloren. Der Mitglieder-Wähler-Quotient ist in Deutschland auf unter vier Prozent gesunken.8Da die aktiven Mitglieder der politischen Parteien über das politische Personal und die Aufstellung der Kandidaten für Wahlen entscheiden, zeigt sich an diesem Faktum eine Entwicklung, die die Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen verstärken dürfte.

Politische Haltungen können sich auf verschiedene Arten artikulieren. Wer mit „der Politik“ zufrieden ist, kann sich entweder zufrieden-apathisch verhalten oder sich für sie engagieren. Ähnliches gilt für politisch Unzufriedene: Sie können resignieren oder aktiv werden, und zwar gegen die gegebenen Strukturen. Es liegt auf der Hand, dass es Angehörige der zweiten und der vierten Gruppe sind, die sich physisch oder auch digital in den politischen Diskurs einbringen, mit oder ohne Fake News.

Machiavelli zufolge bleibt die Lüge dem Herrscher vorenthalten. Diese Einschränkung ist aufgehoben worden, was in einer Demokratie, in der Meinungsfreiheit zu den verbrieften Grundrechten eines jeden gehören sollte, nur zu begrüßen ist. Wieso also sollte eine Krise dieser politischen Verfasstheit zu diagnostizieren sein?

Wenn es eine Krise gibt, dann ist es eine Dauerkrise9„Dauer“ markiert in diesem Fall eine recht kurze Phase. Die geordnete Mehrheitsentscheidung ist historisch gesehen eine exotische Angelegenheit. In der langen Geschichte des Menschen nimmt sie keinen breiten Raum ein. Selbst wer nur die sogenannte Neuzeit der jüngsten 500 Jahre betrachtet, wird vielfältige politische Systeme finden, in denen Demokratie aber selten eine Rolle spielte. Wenn sie unterginge, bliebe sie eine kurze Episode der Geschichte., die aus der Verfasstheit der Menschen resultiert und die Churchill, bekannt als Verteidiger der Demokratie als die beste aller denkbaren schlechten Regierungsformen, prägnant formuliert:

Das grösste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

Dezember 2019

Völkermord

Na und Nuk

Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge, hatten sich gut überlegt, wo und wann sie Athabasca und Kulle am besten abpassten, ohne dass den Erwachsenen eine Ausrede einfiel, mit der sie sie schnell abwimmeln konnten. Die sportliche Bärin war nach einem langen Trainingslauf am Morgen in den Dorfteich gesprungen und gerade wieder daraus aufgetaucht. Sie schüttelte sich das Fell trocken. Kulle kehrte  aus der Bibliothek zurück und musste erst einmal den deprimierenden Aufsatz von Jem Bendell über die Klimakatastrophe verdauen, den er gerade gelesen hatte. Er ließ sich nur zu gerne davon ablenken.

„Tante Atti, Onkel Kulle, wir möchten Euch unsere erste wissenschaftliche Arbeit zeigen!“ verkündete Na stolz.

„Vielleicht sagen wir besser: Unseren ersten Versuch einer wissenschaftlichen Arbeit.“ Nuk war wie immer vorsichtiger als ihre Schwester.

Athabasca und Kulle machten große Augen. Davon hatten sie bisher nichts gewusst.

„Auf welchem Gebiet habt Ihr denn geforscht?“ erkundigte sich Kulle schließlich.

„Wir interessieren uns für Anthropologie,“ antworteten die Zwillinge im Chor.

Kulle setzte zu der Erklärung an, dass es viel interessantere und sehr viel weniger Schwermut verursachende Gegenstände gebe, aber ihm wurde noch rechtzeitig klar, dass er selbst sich mit nichts anderem beschäftigte. Also hielt er seinen Mund.

„Das ist ein weites Feld,“ kommentierte er stattdessen unverbindlich. „Worum geht es denn in Eurer Arbeit?“

„Das lest Ihr am besten selbst. Wir haben für jeden von Euch ein Exemplar ausgedruckt.“

Sie drückten den beiden Erwachsenen jeweils eine Mappe in die Hand und sausten davon.

Athabaska

Athabasca warf einen Blick auf den Titel. „‚Genozid‘“ sagte sie angewidert. „Kulle, das fällt in Dein Ressort. Damit will ich nichts zu tun haben.“

PD Dr. Kulle

Ehe er sich’s versah, stand Kulle mit zwei Mappen allein da. Athabasca war ebenso schnell verschwunden wie die Eisbärenzwillinge. Er beschloss, sich gleich an die Lektüre zu machen. Völkermord war immer noch besser als der Zusammenbruch der gesamten Zivilisation.

Genozid

von Na und Nuk

Betrachten wir folgendes Ereignis: 

Eine Gruppe Hominiden lebt friedlich zusammen, bis sie sich räumlich trennt und verschiedene benachbarte Territorien bewohnt. Es dauert nicht lange, bis Feindseligkeiten ausbrechen. Innerhalb von vier Jahren werden alle Männer der einen Gruppe getötet, ebenso ein Teil der Frauen, die anderen Frauen werden Beute der Männer der siegreichen Gruppe. Die Sieger okkupieren das Territorium der Besiegten.

Dieses Geschehen erfüllt Kriterien, die die Vereinten Nationen 1948 als Crime of Genocide, als Völkermord, definiert haben. Nach Artikel II der UN-Konvention versteht man darunter Handlungen, die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe verübt werden, nämlich

  • die Tötung von Mitgliedern der Gruppe,
  • die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe,
  • die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
  • die Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind,
  • die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Das Besondere an unserem Beispiel ist, dass die aggressiven Hominiden nicht der Gattung Homo angehörten, sondern der Gattung Pan troglodytes. Sie waren Schimpansen. Der „Gombe Chimpanzee War“ von 1974 bis 1978 wurde von Jane Goodall beobachtet.

Ihr Verhalten darf man den Schimpansen aber nicht vorwerfen, denn sie konnten schließlich nicht lesen, kannten also die Konvention der Vereinten Nationen nicht.. Das ist nicht auf einen Mangel an Intelligenz zurückzuführen, sondern auf einen Mangel an Schulen in Tansania. Auch Goodall hat, wie ihrem Werk ‚The Chimpanzees of Gombe. Patterns of Behaviour‘ zu entnehmen ist, die Menschenaffen nicht unterrichtet.

Wir wollen in dieser Arbeit nicht plump die These vertreten, dass Aggression und Krieg die entscheidenden Triebkräfte der menschlichen Entwicklung waren und sind. Wir sind keine Psychohistoriker, und wenn wir Asimov richtig gelesen haben, gibt es nur wenige Vertreter dieser Wissenschaft. Allerdings geben die Tatsachen, dass das Töten von Artgenossen den engsten rezenten genetischen Verwandten von Homo sapiens sapiens (im folgenden: Hss) leicht von der Hand zu gehen scheint, dass Hss selbst die Lösung von Konflikten bevorzugt mit militärischen Mitteln zu erreichen sucht und dass auch Völkermord, obwohl offiziell geächtet und als Verbrechen eingestuft, immer noch als probates Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele benutzt wird, zu denken.

Zu denken gibt auch, dass in sogenannten heiligen Büchern wie dem Alten Testament der Bibel, das von Juden wie von Christen als Gottes Wort angesehen wird, die Vernichtung fremder Völker durch das – angeblich – auserwählte Volk Gottes nicht nur gerechtfertigt wird, sondern sogar als dem Willen Gottes entsprechend dargestellt wird.

Dazu ein Beispiel.

Als das Volk Israel nach seiner Knechtschaft in Ägypten von Moses zurück ins gelobte Land geführt wurde, war Kanaan keineswegs menschenleer. Es musste Platz geschaffen werden, zum Beispiel durch den Krieg gegen die Midianiter.

Im vierten Buch Mose, Kapitel 31, Verse 1 – 18, ist zu lesen:

Der HERR sprach zu Mose: Nimm für die Israeliten Rache an den Midianitern!… Da redete Mose zum Volk und sagte: Rüstet einen Teil eurer Männer für das Heer! Sie sollen über Midian herfallen, um die Rache des HERRN an Midian zu vollziehen. Aus jedem Stamm Israels sollt ihr tausend Mann zum Heer abstellen…

Sie zogen gegen Midian zu Feld, wie der HERR es Mose geboten hatte, und brachten alle männlichen Personen um. Neben den anderen, die sie erschlugen, brachten sie auch die Könige von Midian um…Die Frauen von Midian und deren kleine Kinder nahmen die Israeliten als Gefangene mit. All ihr Vieh und ihre Güter und ihre Habe plünderten sie. Alle Städte im Siedlungsgebiet der Midianiter und ihre Zeltdörfer brannten sie nieder. Alle Menschen und das ganze Vieh, das sie erbeutet und geraubt hatten, nahmen sie mit.

Sie brachten die Gefangenen, das Geraubte und die Beute zu Mose, zum Priester Eleasar und zur Gemeinde der Israeliten in das Lager in den Steppen von Moab am Jordan bei Jericho. Als Mose, der Priester Eleasar und alle Anführer der Gemeinde ihnen aus dem Lager heraus entgegengingen, geriet Mose in Zorn über die Befehlshaber des Heeres…

Und Mose sagte zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen am Leben gelassen? Siehe, sie haben… den Israeliten Anlass gegeben, dem HERRN untreu zu werden, sodass die Plage über die Gemeinde des HERRN kam. Nun bringt alle kleinen Knaben um und tötet ebenso alle Frauen, die schon mit einem Mann geschlafen haben! Aber alle Mädchen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, lasst für euch am Leben!

Bibel

Wir sind begeistert: Die Israeliten haben es bereits 1200 Jahre vor unserer Zeitrechnung geschafft, alle, aber auch wirklich alle Kriterien für den Völkermord zu erfüllen!

Danach geht es immer so weiter. Als Beleg sei nur der dritte Punische Krieg genannt, der 146 vuZ mit der Zerstörung Karthagos und der Versklavung seiner überlebenden Bewohner endete. Cato der Ältere ist eindeutig daran schuld, hat er doch unermüdlich am Schluss aller seiner Reden im Senat wiederholt: ‚Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!‘

Eine große Rolle beim Vernichten von Völkern spielt der Kolonialismus. In den Amerikas zum Beispiel waren die indigenen Einwohner den europäischen Kolonisten im Weg; sie wurden zu guten, also toten Indianern gemacht oder in Reservationen abgedrängt, die ihnen keine Lebensgrundlage liefern konnten. Wo sie dennoch überleben konnten, rächen sie sich heute in den USA mit dem Betrieb von Spielcasinos, in denen sie dem weißen Mann seine Dollars aus der Tasche ziehen.

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind Genozide gut dokumentiert. Wir verweisen hier nur auf den Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904 – 1908), der ganz gewiss stattgefunden hat, hat doch die deutsche Bundesregierung bestätigt, dass es ihn gab. Der Völkermord an den Armeniern ab 1915 auf Veranlassung der türkischen Regierung ist immer noch umstritten, denn der amtierende türkische Präsident Erdogan leugnet ihn, und der muss es schließlich wissen. Zum Holocaust von 1941 bis 1945 sagen wir lieber nichts. Jeder, der behauptet, er sei nicht das fürchterlichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit gewesen, gilt als Nationalsozialist, mindestens als Nationalist, und das sind wir gewiss nicht, gibt es doch keine Eisbärennation. Also beschränken wir uns auf die Aussage: Es gab ihn.

Viel schlimmer sind aber die Völkermorde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, denn da gab es die oben erwähnte UN-Konvention bereits. Die Mörder mussten also wissen, dass sie ein Verbrechen begingen, während das in früheren Zeiten nicht der Fall war. Das gilt zum Beispiel für die Massaker in Ruanda und Burundi 1965, 1972 und 1994, in denen erst Tutsi Hutu ermordeten und danach umgekehrt. Die Tutsi haben also genug Hutu überleben lassen, sonst hätten sie anschließend nicht von ihnen ermordet werden können.

Wir meinen allerdings, dass die Menschen die moralische und juristische Verurteilung des Völkermords nicht wirklich ernst meinen. Täten sie es, würden sie die Finger davon lassen, gezielt andere Menschengruppen zu eliminieren, was sie erkennbar nicht machen. Täten sie es, würden sie ihre Kinder im Sportunterricht in der Schule sicher nicht den Vernichtungskrieg üben lassen: Das sogenannte Spiel „Völkerball“ endet mit der vollständigen Vernichtung einer Mannschaft.

Kulle klappte seine Mappe zu. Die Zwillinge mussten noch viel lernen. Aber er war dennoch zufrieden. Die Kernaussage gefiel ihm.

Kulle und die Nachwuchswissenschaftlerinnen

November 2019

Bemerkungen zum Untergang

P. D. Kulle

Der Mensch als zoon politikón ist zwar kein zwangsläufig staatenbildendes, wohl aber ein sich in Gesellschaften formierendes Tier. Seine Sozialgeschichte zeigt dabei Entwicklungsmuster, deren Gesetzmäßigkeiten es auf den Grund zu gehen gilt.

Unter Gesellschaft verstehen wir eine soziale Gemeinschaft, deren Mitglieder einen Wertekanon teilen 1. Zu diesem Kanon gehören also ideologische, ethische und ästhetische Aspekte, die qua Enkulturation von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Die aus diesem Kanon resultierenden Haltungen der der Gesellschaft angehörenden Individuen sind dementsprechend recht persistent.

Daneben ist für eine Gesellschaft ein bestimmter Entwicklungsstand der Produktivkräfte charakteristisch, woraus sich deren Produktionsverhältnisse ergeben. Diese wirtschaftlichen Gegebenheiten werden durch adäquate politische Rahmenbedingungen abgesichert 2.

Kleine menschliche Gesellschaften können statisch sein. Das ist der Fall, wenn ihr Stoffwechsel mit der Natur sehr gering ist, wenn sie als Jäger und Sammler leben. Wir beobachten dergleichen noch heute bei isolierten indigenen Gruppen in Lateinamerika und auf einigen Inseln.

Diese Gruppen sind aber aktuell nicht Gegenstand unseres Interesses 3. Wir fragen uns stattdessen: Was hat große, hoch entwickelte Gesellschaften wie z. B. die Maya, das Römische Reich, das minoische Kreta, die Anazasi, Angkor Wat, die Osterinsel, die Weimarer Republik oder die Sowjetunion zerstört?

Charakteristisch für solche Gesellschaften ist nicht ein geringer, sondern ein starker Stoffwechsel mit der Natur 4, bei dem die Gefahr, die eigene Lebensgrundlage zu zerstören, sehr hoch ist. Konkret: Gefahren sind Entwaldung und damit Lebensraumzerstörung, denn mit dem Holz verschwinden Rohstoffe und Nahrungsmittel, und Mikroklima und Wasserhaushalt können sich dramatisch verändern 5. Wesentlich sind auch Probleme mit Acker- und Weideland wie Erosion, Versalzung, abnehmende Fruchtbarkeit. Im Zusammenhang damit sind Fehler bei der Wasserbewirtschaftung zu nennen, die zu Versalzung wie auch zu Übernutzung führen können. Auch Proteinquellen werden aufgrund von übermäßiger Jagd und Überfischung nicht nachhaltig genutzt.

Je entwickelter die Gesellschaft, desto größer der Bedarf an Rohstoffen, desto höher die bei deren Gewinnung und Verarbeitung in die Umwelt entlassenen mehr oder minder toxischen Emissionen, desto größer also der ökologische Fingerabdruck des einzelnen Menschen 6.

Worin liegt die Ursache solcher menschengemachter Fehler? Sie liegt in der schieren Zahl der Gesellschaftsglieder. Während bei normalen Säugetieren körperliche Veränderungen oder Verhaltenssignale die fruchtbaren Phasen der Frauen anzeigen, wird der Eisprung bei Menschenfrauen bestenfalls vom betroffenen Individuum wahrgenommen. Der Geschlechtsakt beim Menschen ist dementsprechend nicht zwingend mit der Fortpflanzung verbunden 7, Menschen üben ihn wesentlich häufiger aus als andere Säugetiere und zeugen permanent Nachkommen. Ist es möglich, die Kinder zu ernähren, werden sie großgezogen. In entwickelten Gesellschaften ist das eher der Fall als in statischen. Das führt jedoch zur Zerstörung des Lebensraums.

Denn das Bevölkerungswachstum zwingt die Menschen zur Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion und zur Ausweitung der Produktionsflächen: Statt gut geeigneter Flächen muss man nun auch weniger gute bewirtschaften, um immer mehr hungrige Münder zu füttern. Nicht nachhaltige Methoden führen zu den zuvor aufgeführten Umweltschäden, mit der Folge, dass man landwirtschaftliche Flächen aufgeben muss. Daraus erwachsen für die Gesellschaft zahlreiche Folgen: Nahrungsknappheit, Hungersnöte, Krieg um knapp bemessene Ressourcen. Schließlich geht die Bevölkerungszahl durch Hunger, Krieg oder Krankheiten zurück, und die Gesellschaft verliert  einen Teil der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Komplexität, die sie in ihrer Blütezeit besessen hatte 8.

Natürlich gibt es auch andere Ursachen für den Niedergang oder Untergang entwickelter Gesellschaften als selbstindizierte. Etliche solcher Ursachen lassen sich nicht oder nur äußerst kurzfristig vorhersagen: Meteoriteneinschläge, Tsunamis, Erdbeben oder Vulkanausbrüche 9.

Der der eigenen Spezies geschuldete Verfall kündigt sich dagegen in der Regel durch eine drohende oder schleichende Verschlechterung der Lebensbedingungen 10 an, und das generiert Ängste. Die Menschen befürchten die Erosion gewohnter Strukturen, allen voran den Verlust ihrer Einkommensquellen (vulgo: Arbeit) und die Zerstörung ihrer privaten Beziehungen (vulgo: Familie),  auch ihrer Religion. In solchen Situationen suchen Menschen nach sogenannten „einfachen Lösungen“: Sie wittern allenthalben Verschwörungen, suchen Sündenböcke, die an „allem“ schuld sind, und gieren nach dem „starken Mann“ 11, der all die Unordnung in die gewünschte Ordnung zurückführen soll.

Der „starke Mann“ ist in der Regel in vielerlei Gestalt rasch bei der Hand. In der Türkei wird er durch Recep Tayyib Erdogan verkörpert, in Russland durch Wladimir Wladimirowitsch Putin, in Brasilien durch Jair Bolsonaro, in den USA durch Donald John Trump … die Liste ist verlängerbar. Wie er auch heißen mag, er propagiert und verspricht stets das Gleiche: Wir in unserem Land sind besser als die anderen. Wir halten alle zusammen und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Wir sind alle gleich – das trifft natürlich nur für die zu, die wirklich zu uns gehören. Wir haben denselben Glauben und praktizieren dieselben Rituale. Wenn wir alle zusammenstehen, stellen wir die guten alten Zustände wieder her. Was sie nicht sagen aber meinen, ist: Wir negieren Pluralismus.

Die vier Genannten haben bisher darauf verzichtet, die Demokratie (völlig) abzuschaffen. Sie haben sich bzw. die ihnen zugehörigen Institutionen also wählen lassen und können dementsprechend mit gewissem Fug und Recht behaupten, den Willen des Volkes zu exekutieren. Sie befinden sich in illustrer Gesellschaft: Auch Adolf Hitler hat sich bis zu seinem unseligen Ende auf das „Deutsche Volk“ berufen.

Um auf den Boden der politischen Theorie zurückzukehren: Wenn die Produktionsverhältnisse gefährdet sind, wird der gesellschaftliche Überbau instrumentalisiert, um die Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren.

Für eine Weile mag das gutgehen. Da die Existenzbedingungen der Menschen sich inzwischen jedoch nicht ameliorisiert, sondern peorisiert haben 12, kann diese Herrschaft nur von kurzer Dauer sein. Denn zu den oben genannten, von Menschen induzierten Gefährdungen sind andere gekommen: die Klimakatastrophe, die Anhäufung toxischer Stoffe und die „Herrschaft“ über die Biodiversivität, die in ein gigantisches Artensterben mündet. Mindestens ebenso bedeutend ist, dass die gewählten – oder auch ursupatorischen – Eliten und ihre Klientel Partikularinteressen vertreten, nämlich ihre eigenen, die auf ihr aktuelles Wohlleben ausgerichtet sind. Langfristige Perspektiven, Interessen anderer oder gar der gesamten Spezies sind da eher kontraproduktiv 13.

Für die aus Partikularinteressen resultierenden Konflikte kennen die Menschen seit Urzeiten eine Lösung: Krieg. 

Pfffffftttt

Dezember 2018

Ich danke – wie immer – meiner Sekretärin.

Zoon Politikon

Kulle

Eisbärenfamilie

„Onkel Kulle, Onkel Bärdel, kennt Ihr schon den neuesten Eisbärenwitz?“

Bärdel wie auch Kulle glaubten, alle Eisbärenwitze zu kennen, aber natürlich wollten sie die fröhlichen Eisbärenzwillinge nicht enttäuschen, schon gar nicht an einem wunderschönen Aprilmorgen wie diesem.

Also sagte Bärdel, und er legte viel gespannte Erwartung in seine Stimme: „Nein, bestimmt nicht. Erzählt doch mal!“

Na fing an: Es war einmal ein Eisbärenkind, das fragte seine Mutter: “Bist Du wirklich eine echte Eisbärin?“

Nuk fuhr fort: „Aber selbstverständlich. Und Dein Vater und Eure Großeltern sind auch echte Eisbären. Warum fragst Du überhaupt?“

Nanuk schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an. „Gleich kommt die Pointe. Habt Ihr eine Ahnung?“

„Nein!“ Die beiden alten Bären logen, so gut sie konnten.

„Mir ist so kalt!“ sagten die Zwillinge unisono.

Na und Nuk

Bärdel und Kulle lachten pflichtschuldigst, aber nicht überzeugend genug.

„Ihr kanntet den Witz schon! Ihr seid gemein! Aber der Witz ist trotzdem gut, oder?“

„Der Witz ist trotzdem gut, ja. Denn er nimmt eine überraschende Wendung, was einen ordentlichen Witz auszeichnet, und er transportiert dazu noch eine Wahrheit statt eines Vorurteils, was die meisten schlechten Witze auszeichnet.“

„Eine Wahrheit, Onkel Bärdel? Welche denn?“

Baerdel

„Das Eisbärkind in dem Witz friert, und das gehört sich nicht für ein Tier, das ein Fell mit hervorragender Wärmedämmung besitzt. Es hat Angst, nicht dazu zu gehören.“

„Warum ist es wichtig, dazu zu gehören?“

Bärdel seufzte. Warum konnte er nicht einfach auf seinem Morgenspaziergang den Frühling genießen, statt sich mit überraschenden Grundsatzfragen konfrontiert zu sehen?

Kulle dagegen war in seinem intellektuellen Element: „Was Wirbeltiere angeht, so kenne ich mich bei Reptilien, Amphibien, Fischen und Vögeln nicht sonderlich aus. Bei den meisten Säugetieren ist Gruppenbildung zu beobachten. Nehmt uns, die Bären – nur die ignoranten menschlichen Biologen behaupten, wir seien Einzelgänger. Die waren halt nie in Bärenleben!“

Kulle

„Und das ist auch gut so!“ brummte Bärdel.

„Sind denn die Menschen Einzelgänger oder Gruppengänger?“ wollte Nuk wissen.

„Die Menschen sind gesellige Tiere, wie wir auch. Früher, in der Menschenkindheit, haben sie auch gelebt wie wir, in Gruppen, die die Anthropologen beliebig mal als Stamm, Horde, Großfamilie, Clan oder Sippe bezeichnen. Wie auch immer man dieses Zusammenleben nennt: Alle Mitglieder waren ranggleich, es gab keine oder eine gering ausgeprägte Arbeitsteilung, es gab keinen nennenswerten individuellen Besitz. Jeder trägt unter solchen Bedingungen zum Wohl der Gemeinschaft bei, so gut er kann.“

„Ich weiß ja, dass die Menschen nicht sonderlich intelligent sind, aber wie dumm muss man sein, um so schöne Lebensbedingungen aufzugeben?“ Das war Na, die selten an Selbstzweifeln litt.

Na

„Die ständige Fortentwicklung der Produktionsmittel führt zur Höherentwicklung der Produktionsverhältnisse, damit verbunden aber auch notwenig der Ausbildung von Klassen, wobei die Expropriateure darauf bedacht sind…“

Ein Blick in verständnislose Kinderaugen ließ Kulle verlegen innehalten. „Also“, sagte er, „nach einer gewissen Zeit wurde eine Gruppe von Menschen reicher als die anderen, und die Reichen wollten ihren Besitz behalten. Die Männer unterwarfen dazu die Frauen und zwangen sie, nur mit einem von ihnen Geschlechtsverkehr zu haben, so dass sie sicher sein konnten, dass sie die Väter der Kinder waren, die die Frauen zur Welt brachten. Besonders fiese Männer erfanden die Regel, dass alle so zu leben hatten, auch die Armen, und damit die Vorschrift befolgt wurde, behaupteten sie, sie sei von einem Gott gegeben, der alle bestrafen würde, die sie verletzen, vielleicht schon in ihrem Leben auf der Erde, ganz sicher aber im ewigen Dasein nach dem Tod.“

„Und das hat funktioniert? Die Erfindung der Religion?“ fragten Nanuk ungläubig.

„Das hat funktioniert, denn Arme und Reiche, Frauen und Männer wollten zu den Guten, Gerechten gehören und nicht zu den Schlechten, Verdammten.“

„Lange?“

„Sehr lange. In vielen Gegenden der Welt funktioniert es immer noch.“

„Aber in Dehland spielt das Christentum inzwischen eine immer geringere Rolle, richtig?“

„Richtig, Nuk!“ sagte Bärdel. „Vielleicht ist es Dir nicht aufgefallen: Du hast gerade ein Beispiel für eine andere Einrichtung genannt, zu der Menschen gehören müssen oder sollen oder können oder wollen.“

„Hmm,“ machte Nuk verlegen, weil ihr des Rätsels Lösung nicht sofort einfiel.

„Der Staat natürlich, nicht wahr, Onkel Bärdel?“ Na warf ihrer Schwester einen gemeinen Blick zu, während sie Bärdel und Kulle honigsüß anlächelte.

„Ja, der Staat. Menschen können ihn sich nicht aussuchen. In der Regel werden sie Bürger eines Staates, wenn sie in ihm geboren worden sind. In manchen Staaten ist das ein Fluch, zum Beispiel in Afghanistan, im Jemen, in Syrien. In anderen Staaten ist das dagegen ein Segen, zum Beispiel in Dehland, denn es gibt Versicherungen für alle, zum Beispiel gegen Krankheitskosten, und wer finanziell nicht für sich selbst sorgen kann, bekommt Geld vom Staat, wenn es auch nicht viel ist.“

„Ist der Staat in Dehland also nett?“ erkundigte sich Na.

„Politik, kleine Schwester, ist Handeln zur Durchsetzung von Interessen. Das haben wir bei Tante Atti und Onkel Kulle gelernt. Mit Nettigkeit hat das nichts zu tun. Du hast wohl wieder mal nicht aufgepasst, was?“

Die Rache war gelungen. Die Haut rund um Nas Nase wurde rosarot. Sie schämte sich.

„Aber etwas verstehe ich nicht. Warum bezahlt der Staat das alles?“

Bärdel pflückte sich eine große Portion Löwenzahnblätter und stopfte sie sich in den Mund, bevor er antwortete. Er wollte nicht zulassen, dass die Kinder sein Morgenvergnügen völlig ruinierten.

Loewenzahn

„Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass der Staat alles bezahlt. Tatsächlich verteilt er nur Gelder um, die die Bürger ihm zur Verfügung stellen mussten, indem sie Steuern zahlten. Aber Bürger, die denken, dass der Staat für sie sorgt, tun, was sie sollen, ohne zu widersprechen oder sich gar aufzulehnen.Sie funktionieren, gehen brav arbeiten, finden es normal, dass die Unternehmen nicht ihnen gehören, sondern Aktionären, und wählen alle paar Jahre die politischen Parteien, die ihnen in ihren Augen so viele Wohltaten zukommen lassen.“

„Ich hab’s doch vorhin schon gesagt: Menschen sind dumm!‘“ Na hatte sich schnell wieder von ihrer Blamage erholt. „Mir fällt übrigens noch eine Gruppe ein, zu der Menschen dazugehören wollen: Soziale Netzwerke.“

Das war das richtige Stichwort, um Kulle zornig zu machen. Aber er verzichtete darauf, wieder einen schwer verständlichen wissenschaftlichen Vortrag zu beginnen. Pädagogik war gefragt.

„Du hast recht, kleine Na. Eine Milliarde und fünfhundert Millionen Menschen sind zum Beispiel bei Facebook aktiv, und es wären noch viel mehr, wenn man sie ließe, aber in vielen Ländern ist es verboten. Lasst uns mal nachdenken, warum Facebook so erfolgreich ist! Ein paar Antworten sollten uns einfallen.“

Mit uns‘ meinte Kulle natürlich die Kinder, und die enttäuschten ihn nicht.

„1,5 Milliarden Menschen – das ist so eine große Gruppe! Wenn man dazu gehört, kann man einfach nichts falsch machen!“

„Jeder kann etwas mögen oder auch nicht, jeder kann etwas posten: Jeder einzelne hat das Gefühl, wichtig zu sein!“

„Man kann viele Freunde haben.“

„Man bekommt nur Sachen mitgeteilt, die der eigenen Meinung entsprechen. Man braucht sich also nicht über entgegengesetzten Ansichten zu ärgern.“

Die Zwillinge sahen Kulle erwartungsvoll an und bekamen auch das Lob, das sie verdienten.

„Sehr richtig, Ihr Beiden. Aber lasst uns noch ein bisschen grundsätzlicher nachdenken.“

Nanuk strahlten. Nachdenken war ihr zweitliebster Sport, gleich nach dem Herumtollen im Dorfteich.

„Au fein!“

„Facebook ist ein kapitalistisches Unternehmen. Im Kapitalismus werden Waren getauscht. Waren haben einen Tauschwert und einen Gebrauchswert. Der Käufer einer Ware ist am Gebrauchswert interessiert, der Verkäufer am Tauschwert. Der Tauschwert wird in der Regel im Preis ausgedrückt, also in Geld. Soweit alles klar?“

Die Kinder nickten ein wenig herablassend. Natürlich war das klar.

„Die Mitgliedschaft bei Facebook ist aber kostenlos. Welchen Preis zahlen die Nutzer an Mark Zuckerberg?“

Das war eine härtere Nuss, an der die beiden durchaus zu knabbern hatten. Sie tuschelten miteinander. Das war typisch: Wenn sie beide herausgefordert wurden, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

„Wir glauben, Onkel Kulle, dass Facebook viel über seine Mitglieder erfährt. Und vielleicht kann Mark Zuckerberg diese Informationen verkaufen, an andere verkaufen, an Unternehmen oder politische Parteien vielleicht, und bekommt so seinen Tauschwert. Auf einem Umweg, sozusagen.“ Nuk sprach langsam und stockend. Na, die sonst so vorlaute, hatte ihre ältere Schwester vorgeschickt. So konnte sie selbst in der Deckung bleiben. Aber die Vorsicht war überflüssig. Kulle war voll des Lobes, und auch Bärdel wiegte anerkennend den Kopf, obwohl er hauptsächlich mit der nächsten Portion Löwenzahn beschäftigt war.

„Gut gedacht! Es bleibt aber noch eine zweite Frage: Welche Gebrauchswert hat Facebook für die Nutzer?“

Als die Kinder nicht gleich antworteten, gab er ihnen einen Tipp: „Denkt an Eure Antworten vorhin: Warum ist Facebook so erfolgreich?“

„Die Mitglieder haben ein gutes Gefühl!“ sagten Na und Nuk gleichzeitig und brachten ihre Aussagen damit auf den Punkt.

„Hmmm,“ brummte Bärdel mit vollem Mund, und nachdem er seine Kräuterportion hinuntergeschluckt hatte, meinte er: „Noch wichtiger ist: Niemand langweilt sich mehr. Facebook ist die beste Verdummungs- und Zeittotschlagsmaschine, die je erfunden wurde.“

Kulle beendete das Gespräch: „Der größte Euphemismus dabei ist die Bezeichnung soziale Netzwerke‘. Facebook sollte besser Zuckerbergs Spinnennetz‘ heißen.“

Darüber mussten die Zwillinge erst mal nachdenken.

Mai 2018

Maikäfer flieg!

Maikäfer, flieg!

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, erzählst Du uns eine Geschichte?“

„Natürlich eine Geschichte, aus der wir etwas lernen können, bitte.“

„Schön gruselig soll sie sein!“

„Ja, gruselig, aber auch realistisch. Also ohne Vampire und Zombies.“

Na und Nuk

Kulle konnte dem Charme der Eisbärenzwillinge wie immer nicht widerstehen. „Nun gut!“ sagte er. „Ich erzähle Euch, wie auf einem Planeten einmal das Ökosystem zusammenbrach.“

Kulle und Atti

„Auf der Erde?“ fragte Na gespannt.

„Dumme Schwester, das geht doch nicht!“ wies Nuk sie zurecht. „Wenn auf der Erde das Ökosystem zusammengebrochen ist, sind wir Bären alle tot, und Onkel Kulle kann uns keine Geschichte erzählen, klar?“

„Sehr gut erkannt, kleine Nuk,“ schmunzelte Kulle. „Und deshalb erzähle ich Euch, wie ein alter Bär namens Elluk auf dem Planeten Edre neugierigen Eisbärenzwillingen vom Zusammenbruch des irdischen Ökosystems erzählt. Die beiden sind übrigens Schwestern und heißen An und Kun.“

„Es war einmal die Erde, und die war nicht wüst und leer, sondern es lebten auf ihren Kontinenten und in ihren Meeren Millionen von Pflanzen- und Tierarten. Die standen in vielerlei Wechselwirkungen zueinander: Sie fraßen und wurden gefressen, lebten in Symbiose, besetzten exotische Nischen oder waren weit verbreitet, und wenn es ihnen nicht gelang zu überleben, dann starben sie aus. Der der Evolution inhärente Fehler der Mutation sorgte dafür, dass neue Arten entstanden und so neue Netze geknüpft wurden.“

Nanuk nickten stolz: Dass ‚inhärent‘ ‚innewohnend‘ heißt, hatten sie schon gelernt. Und über Evolution und Mutationen wussten sie natürlich ebenfalls Bescheid.

„In späteren Jahrmillionen entwickelten sich Hominiden, eine besondere Art von Säugetieren. Sie waren wiederholt in ihrer Existenz bedroht, aber sie verfügten über eine erstaunliche Adaptionsfähigkeit. So gelang es ihnen, nahezu die gesamte feste Erdoberfläche zu besiedeln und sich als Art zu erhalten. Nach einer Jahrzehntausende andauernden numerisch recht stabilen Phase vermehrten sie sich dann explosionsartig.

Schlau war sie, die letzte überlebende Hominidenart, und so brauchte sie nicht zu verhungern. Denn sie hatte Methoden entwickelt, ertragreiche Nahrungspflanzen zu züchten, auch hielt sie Nutztiere für die Fleischproduktion. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie es in einem ihrer sogenannten heiligen Büchern heißt, er muss sich kleiden und wärmen, denn er ist felllos, er braucht ein Dach über dem Kopf, denn er ist krallenlos und hat keine Reißzähne, er braucht das Salz der Erde, und er hat die uneingeschränkte Fähigkeit, immer neue Bedürfnisse zu entwickeln, wenn man ihm lange genug sagt, dass er sie hat.

Für all das braucht der Mensch Energie, und er fand sie auf seinem Planeten: Holz, Kohle, Öl und Gas hielt die Erde in großen Quantitäten vorrätig. Diese Stoffe kann man verbrennen und so Antriebsenergie gewinnen.“

„Und jetzt kommt der Treibhauseffekt!“ Natürlich konnte Na wieder einmal ihr Maul nicht halten.

„Richtig, kleine Na, aber für An und Kun muss Elluk den Treibhauseffekt erklären, denn die beiden kennen so etwas auf ihrem Planeten nicht.

Also: Beim Verbrennen entsteht in der irdischen Atmosphäre Kohlenstoffdioxid. Dieses Gas hat es auf der Erde schon sehr lange gegeben, aber aufgrund der zahlreichen menschengemachten Verbrennungsprozesse nahm es stark zu. CO2 ist lichtdurchlässig, die Sonnenstrahlen gelangten also ungehindert auf die Erdoberfläche. Von der aufgeheizten Erdoberfläche stieg Wärme nach oben, aber CO2 ist nicht wärmedurchlässig, und so wurde es auf der Erde immer wärmer. Das heißt: In heißen Gegenden wurde es noch heißer, oft zu heiß für die Menschen, Eispanzer am nördlichen und am südlichen Pol schmolzen ab, der Meeresspiegel stieg.

Da der Mensch schlau ist, wie ich schon sagte, hat er das natürlich gemerkt und gesehen, dass diese Entwicklung für ihn nicht gut ist. Schließlich haben sich alle Menschen zusammengetan und beschlossen, die Erderwärmung auf maximal 2°Celsius zu begrenzen. Es sah tatsächlich so aus, als könnte ihnen das gelingen, denn sie konzentrierten sich auf diese Aufgabe und arbeiteten ausnahmsweise einmal zusammen, nicht gegeneinander.“

„Eine Geschichte, in der die Menschen überleben, finde ich schon gruselig!“ maulte Nuk. „Ich habe mir aber etwas anderes erhofft.“

„Warte es nur ab! Elluk macht es ein bisschen spannend. Er erzählt weiter: Vor lauter Konzentration auf die Klimakatastrophe verloren die Menschen aus den Augen, dass nicht nur die Atmosphäre der Erde, sondern auch die Fauna der Erde aus den Fugen geraten war. Sie waren so stolz darauf, wie sehr sie ihren Planeten verändert hatten, dass sie ihrem Zeitalter einen neuen Namen gaben: Sie sprachen vom Anthropozän. Sie hätten bedenken sollen, dass ein neues Zeitalter immer mit einem signifikanten Artensterben einhergeht. Sie bemerkten aber nicht, dass die größte und artenreichste Klasse der Tiere innerhalb weniger Jahre verschwand: die Insekten. Als sie es schließlich registrierten, war es zu spät. Sie fanden sich in einer veränderten Welt wieder, in der sie sterben würden. Sehr schnell sterben. Vor der Klimakatastrophe brauchten sie sich nicht mehr zu fürchten.

Weil die Bestäuber verschwanden, gab es große Ernteausfälle – bei manchen wichtigen Nutzpflanzen bis zu 90 Prozent. Auch Pflanzenfutter für Wild- und Nutztiere fehlte. Viele Tiere und Menschen verhungerten. Wer überlebte, musste auf Kleidung aus gewohnten Materialien verzichten: Baumwolle, Wolle und Leder standen nicht mehr zur Verfügung. Den Ratten ging es dagegen blendend. Sie konnten sich noch stärker ausbreiten als bisher. Denn es gab keine Insekten mehr, die für sie tödliche Krankheiten übertrugen. Sie fraßen den Menschen die letzten Lebensmittel weg.

Insekten waren auch die wichtigsten Wiederverwerter auf der Erde; ohne sie sammelten sich immer grössere Dung- und Aasmengen an.

Im letzten Jahrzehnt des Anthropozäns musste sich der Mensch also fast ausschliesslich von Getreide ernähren, das von Feldern mit viel Unkraut und kargem Boden geerntet wurde und das er gegen die wachsenden Rattenpopulationen zu verteidigen versuchte. Mit von Skorbut blutendem Zahnfleisch und von anderen Mangelkrankheiten gebeugtem Körper suchten die Menschen behutsam zwischen den überall herumliegenden toten Körpern nach irgendwelchen verbliebenen Insekten, in der Hoffnung, sie wieder an ihren angestammten Platz in der Nahrungskette zu setzen. Vergeblich.“

Kulle sah sich nach seinen Zuhörerinnen um. Na versteckte ihren Kopf unter Nuk, und Nuk hielt sich die Ohren zu, so fest sie konnte. Er stupste beide an:

„Wie ich sehe, war die Geschichte gruselig genug, richtig?“

„Puh, Onkel Kulle, schrecklich gruselig. Was meist Du – dürfen wir ein bisschen Honig schlecken, um uns davon zu erholen?“

„Ganz bestimmt. Ich kann auch ein paar Tropfen vertragen. Noch gibt es ja Bienen…“

Als sich die Zwillinge wie auch der Erzähler von der Geschichte erholt hatten, wollten Nanuk wissen, warum Kulle den Menschen schlau genannt hatte, nicht aber klug.

„Das findet Ihr beiden gefälligst allein heraus. Ihr wisst ja, wo die Bibliothek ist!“

November 2017

Der zweite Untergang der Titanic

P. D. Kulle

 

Kulle

 

Der zweite Untergang der „Titanic“

 

“We’re going to have to come to grips with a long-term employment crisis and the fact that — strictly from an economic point of view, not a moral point of view — there are more and more ‘surplus humans.’” — Karl Fogel, partner at Open Tech Strategies, an open-source technology firm.

Vorwort

Das Passagierschiff „Titanic“; war bei der Indienststellung (1) am 2. April 1912 das größte Schiff der Welt und galt als unsinkbar. Auf ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York kollidierte die „Titanic“ am 14. April 1912 etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland allerdings mit einem Eisberg und sank zwei Stunden und 40 Minuten später. 1514 der über 2200 Passagiere starben, was große Teile der Besatzung aus egoistischen Motiven nicht zu verhindern suchten und was das Bordorchester nicht verhindern konnte, obwohl es bis zur letztmöglichen Minute optimismusfördernde Melodien spielte, um das Ertrinken in den eisigen Fluten angenehmer zu gestalten.
Der US-Kinofilm „Titanic“ aus dem Jahr 1997 gewann elf Oscars und hatte allein in den USA 131 Millionen Zuschauer. Das zeigt, wie sehr die damalige Katastrophe die Menschen der Gegenwart anspricht (2). Überhaupt beweist der Erfolg zahlreicher Hollywood-Produktionen, dass Menschen von Katastrophen magisch angezogen werden – solange sie nicht selbst davon betroffen werden.
Die Erkenntnis ist nicht neu:
Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen. (3)

Was aber hat der Untergang der „Titanic“ vor 105 Jahren mit einer kurzen Untersuchung der sozioökonomischen Gegebenheiten heute zu tun?
Wir werden sehen.

Anamnese

Wir benennen im folgenden einige globale und regionale Fakten beziehungsweise Trends.
• Täglich erhöht sich die Zahl der menschlichen Bewohner des Planeten Erde um etwa 80 Millionen. Am höchsten ist die Fertilitätsrate in Afrika, dem Kontinent, in dem Armut und Nahrungsmittelknappheit am größten sind, während an Diktaturen und Kriegen kein Mangel herrscht.
• Erwerbsarbeit, seit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals mit wenigen Ausnahmen überall die Grundlage für die Gewährleistung eines Lebensunterhalts (4), ist ein rares Gut geworden. Vermutlich sind 2017 mehr als 200 Millionen Menschen arbeitslos (5).
• Die Menschen schaffen qualitativ und quantitativ immer bessere Bedingungen dafür, einander umzubringen. Der weltweite – offizielle – Handel mit Waffen hat ein geschätztes Volumen von jährlich zwischen 40 und 50 Milliarden US-Dollar (6). Eine wichtige Importregion ist der Nahe und Mittlere Osten. Der durchschnittliche Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist weltweit nirgends höher als hier.
• Kriege und Konflikte in Afrika haben zwischen 1990 und 2005 ebenso viel Geld vernichtet, wie an Entwicklungshilfe in den Kontinent geflossen ist – 284 Milliarden US-$.
• Hunger und/oder Kriege sind Fluchtursachen. Weltweit sind über 60 Millionen Menschen auf der Flucht.
• Der Siegeszug der Demokratie ist beendet. Ein in europäischen Staaten wieder salonfähiger Nationalismus, eine russische Führung, die immer selbstbewusster ihr autoritäres Gegenmodell zur westlich-liberalen Demokratie propagiert, der Nahe Osten und der Maghreb, die wieder in Richtung Konflikt und Diktatur kippen, die Türkei auf dem Weg in die Präsidialdiktatur, China im Würgegriff seiner korrupten, alles beherrschenden Partei, die sich nicht entblödet, sich immer noch als kommunistisch zu bezeichnen, und nicht zuletzt die USA, deren Präsident die Unabhängigkeit der Justiz in Zweifel zieht, sind deutliche Indizien.
• Multilaterale Bündnisse und Verträge sind gefährdet, dafür stehen exemplarisch der Brexit“ und auch die Aufkündigung des TTP-Vertrages durch US-Präsident Trump.

Diagnose

Die Symptome zeigen unzweifelhaft ein Krankheitsbild der Weltgesellschaft. Die genannten Probleme werden durch Überfluss generiert, nämlich durch einen Überfluss an Angst.
Platt formuliert: Putin hat Angst, dass Russland von der NATO bedroht wird, Kim Jong-Un meint, sich als Diktator nur halten zu können, wenn er international Drohpotential aufbauen kann, Assad fürchtet sich davor, nicht mehr Diktator Syriens, sondern vielleicht Angeklagter vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu sein, Erdogan fürchtet sich vielleicht wirklich vor Gülen… Die Liste ist verlängerbar.
Die Angst der Mächtigen ist beängstigend genug, vermögen doch etliche von ihnen, auf berüchtigte rote Knöpfe“ zu drücken, nachdem einer von ihnen eine rote Linie“ überschritten hat.
Vielleicht noch bedrohlicher ist die Angst der Machtlosen. Sie fürchten nicht um Pfründe. Sie fürchten um ihre Lebensgrundlage. Ihre Lebensgrundlage – das ist ihr Arbeitsplatz. Zumindest ein Arbeitsplatz.
Warum, so fragen sie sich, gibt es nicht genug Arbeitsplätze? Offizielle und offiziöse Antworten sind wohlfeil: Weil Ausländer die Arbeitsplätze gekapert haben (7). Weil zu viele Umweltschutzgesetze existieren. Weil subventionierte Importe die eigene nationale Wirtschaft schwächen (8). Bei derlei Erklärungen wird die Ursache wo auch immer behauptet, nur nicht bei den Unternehmen des eigenen Landes.
Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Elite sprechen nur ungern darüber, dass die kapitalistisch organisierte Ökonomie des eigenen Landes zwangsläufig profitorientiert ist. Wenn man schon genötigt ist, Veränderungen im eigenen Land zu thematisieren, bedient man sich gern euphemistischer Formulierungen. Derzeit ist allerorts die Rede von „Industrie 4.0“. Das klingt gut, ist es doch eine Steigerung der „Industrie 3.0“, der Automatisierung durch Elektronik – was soll an Steigerungen negativ sein? Gemeint ist allerdings die Robotisierung des Arbeitsmarktes – das hört sich wesentlich schlechter an. Einer Studie der ING Diba zufolge sind 59% der Arbeitsplätze in Dehland in ihrer jetzigen Form davon bedroht. (9)
Weil diese Prognose so brisant ist, versuchen „Experten“ abzuwiegeln und beschwören für die nächsten Jahre einen drohenden Facharbeitermangel oder orakeln von einem Strukturwandel, der zwar zu höheren Anforderungen an die Arbeitskräfte, aber auch zu höheren Lohnsummen führe. (10)
Wer von den Menschen auch im Zeitalter sogenannter „sozialer Netzwerke“ noch bereit und in der Lage ist, über das hinauszuhorchen, was neuerdings als „Echokammer“ bezeichnet wird, der kommt nicht umhin, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Drohnen anstelle von Paketzustellern, Algorithmen als Autofahrer (11) oder Analysatoren juristischer Texte, elaborierte Schreibprogramme anstelle von Versicherungskaufleuten – die lebendige Arbeit war so effektiv, sich weitgehend durch tote zu ersetzen.
Vor diesen Armen und Arbeitslosen fürchten sich die Mächtigen und versuchen, sie zu beruhigen, indem sie Sündenböcke erfinden (12). Die Armen und Arbeitslosen in den Industriestaaten mit mehr oder weniger tragfähigen sozialen Netzen fürchten sich vor den noch Ärmeren aus Kriegs- und Krisengebieten, die aus ihrer Heimat zu flüchten versuchen.
Sie flüchten sich in die Arme starker „Männer“ (13). Die Ärmsten der Armen werden weiter, auch bei Gefahr ihres Lebens, ins gelobte Land zu gelangen versuchen.

Therapieversuch?

„Wir müssen dringend Maßnahmen zur Schaffung menschenwürdiger Arbeit ergreifen, ansonsten besteht die Gefahr erhöhter sozialer Spannungen und Unruhen“ so Guy Ryder von der ILO.
Woran denkt der Brite Ryder, wenn er so etwas sagt? An die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und in Äthiopien? Oder an die Arbeitslosen in England?
Auf einem Planeten mit schon längst übernutzten Ressourcen und einer weiter exponentiell steigenden menschlichen Bevölkerung ist es nicht wahrscheinlich, dass Arbeit menschenwürdig gestaltet werden kann, zumal das bisher auch nicht gelungen ist, falls es überhaupt jemand in nennenswertem Umfang versucht hat.
Bleiben die entwickelten Länder, in denen Ressourcen zur Verfügung stehen, die zur Alimentierung der Bevölkerung genutzt werden können. Es stellt sich die Frage, ob in einer Welt, in der der immer größere Teil der Wertschöpfung von Maschinen geleistet wird, Einkommen teilweise von der klassischen Erwerbsarbeit getrennt werden sollte oder muss.
Es verblüfft, dass Gegner wie Befürworter des Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens in allen politischen Lagern zu finden sind. Es ist bezeichnend, das viele Väter dieser Idee im Silicon Valley beheimatet sind – wer dort arbeitet, weiß, welche Revolution er befördert, und er ist sich wohl auch bewusst, welchen Sprengstoff sie in sich birgt.
Aber ist ein solches Grundeinkommen sinnvoll? Diese Frage impliziert auch die nach der Notwendigkeit. Wenn man (14) das Leben von Homo sapiens sapiens als notwendig betrachtet, auch dann, wenn er seine sozialökonomische Aufgabe der Weiterentwicklung der Produktionsmittel nicht mehr erfüllt, weil die Produktionsmittel diese Entwicklung selbst in die Metallhände genommen haben, dann lautet die Antwort „Ja“.
Was aber macht der Mensch mit seiner Freiheit, mit seiner Freisetzung, mit seinem überflüssigen Da-Sein? Pflanzt er einen Baum, zeugt er einen Sohn?(15) Verhilft die ausreichende Alimentierung dem Homo sapiens sapiens zum Reich der Freiheit, in dem er morgens Fischer und abends kritischer Kritiker sein kann, oder ist er tagfüllend Konsument des RTL-Fernsehprogramms beziehungsweise tummelt sich in der virtuellen Realität, in der er seine Perversionen ausleben kann?
Was auch immer der durch ein unabhängiges Grundeinkommen in den Industrieländern alimentierte Mensch tun wird, ob er gar nicht oder völlig in einer Echokammer gefangen sein wird, er wird sich Informationen von außen nicht völlig verschließen können. Er wird erfahren, dass die Flüchtlinge aus Afrika an seine europäische Tür klopfen. Er wird wissen müssen, dass Waffen eingesetzt werden, in seinem Haus oder „weit, in der Türkei“.
Er wird erleben, dass „seine“ Welt untergeht, „seine“ Titanic, und er wird die Lust an Katastrophen verlieren, falls seine mentalen Ressourcen noch ausreichen, um an Lust zu denken.
April 2017

Kulle

Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Ein fürchterliches dehländisches Menschenwort!
  2. Auch wenn die Untergangsstory durch eine süßliche Liebesgeschichte geschmeidig gemacht wurde.li>
  3. Goethe, Faust. Erster Teil. Vers 860ff. Inzwischen ist die Türkei, in der die Völker immer noch aufeinander schlagen, dem dehländischen Spießer recht nahe gerückt.
  4. oder zumindest die Chance darauf
  5. Schätzung der ILO, der internationalen Arbeitsorganisation
  6. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2012, sind also viel zu niedrig.
  7. Das behauptet in Dehland zum Beispiel die NPD.
  8. Das behauptet in den USA zum Beispiel Donald Trump.
  9. vgl. ING Diba economic research 30.4.2015
  10. vg. IAB-Forschungsbericht 13/2016. Die IAB ist eine Forschungseinrichtung der Bundesanstalt für Arbeit.
  11. Der Begriff des Autofahrers bekommt hier eine ähnlich-andere Bedeutung, sagt der Chef. Eine genauere Erklärung wollte er nicht geben. Die Sekretärin
  12. siehe oben
  13. und auch starker Frauen, z. B. Marine LePen. Und dazu Trump, Putin, Erdogan…
  14. Wer immer das auch ist.
  15. Luther fand beides nützlich, der Chef und auch ich halten das zweite für schädlich. Die Sekretärin

Arabellion

PD Kulle

Arabellion

US-Präsident Barak Obama hielt im Mai 2011 eine Grundsatzrede, in der er die Revolution des „Arabischen Frühlings“ als historische Gelegenheit für die USA bezeichnete:

„Wir haben die Chance zu zeigen, dass Amerika die Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien höher achtet als die rohe Macht des Diktators.“

Obama zog eine Parallele zwischen den Aufständen in arabischen Ländern und der Geburt der USA im Kampf gegen die britische Herrschaft. Amerika könne daher nicht anders(,)[1] als sich auf die Seite der arabischen Völker zu stellen.[2]

Vorwort:

Nun, wir werden sehen…

Die Behauptung, die Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien werde von den USA geachtet, erweckt Skepsis, hat sich Mohamed Bouazizi doch bereits am 17.Dezember 2010 cremiert, und erst fünf Monate später entdeckt Obama dessen Würde.

Auch wird die Würde von Straßenverkäufern, Kriegsveteranen, mittellosen Menschen jeder Provenienz im Mutterland des Manchesterkapitalismus keineswegs geachtet, sondern mit Füßen getreten.

Die Selbstverbrennung buddhistischer Mönche während des Vietnamkrieges, die erste 1963 durch Thích Qung Đức, hat die Regierung der USA nicht beeindruckt, soweit uns bekannt ist.

Mit Diktatoren haben die USA dagegen mehr als einen Pakt geschlossen. Das soll jetzt auf einmal vorbei sein?

Die Ereignisse

In der Tat sorgten in zwei nordafrikanischen Ländern am Ende des Jahres 2010 Unruhen dafür, dass für lange Zeit stabile politische Verhältnisse ins Wanken gerieten. Massenproteste bewirkten in Tunesien und in Ägypten die Absetzung von jahrzehntelang autokratisch regierenden Machthabern.

Die Blütenpollen des „Arabischen Frühlings“ schwärmten aus uns befruchteten mit ihrer umstürzlerischen Potenz auch mehr oder weniger eng benachbarte Länder:

Im Jemen trat der Präsident nach über 30jähriger Herrschaft zurück.

In Algerien behauptete sich die Regierung. Im April 2012 verbrannte sich auch hier ein Straßenhändler, ohne dass sich der Präsident der USA unseren Informationen nach dazu äußerte.

Nach mehrmonatigem Bürgerkrieg wird der libysche Machthaber – mit NATO-Unterstützung – gestürzt.

In Syrien herrscht seit dem Sommer 2011 Bürgerkrieg.

In Algerien, Bahrain, Dschibuti, Jordanien, Kuwait, Marokko, Mauretanien, Oman und Saudi-Arabien kam es zu mehr oder minder ausgeprägten Protesten, denen mehr oder minder brutal begegnet wurde, nicht aber zu grundlegenden politischen Veränderungen.[3]

Die Ergebnisse

In Tunesien hat die Regierung seit 2011 vier Mal gewechselt. Im Februar 2014 wurde mit überwältigender parlamentarischer Mehrheit eine demokratische Verfassung verabschiedet. Sie garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Gleichstellung von Mann und Frau. Das ist zu begrüßen, aber wie man weiß, ist Papier geduldig. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten zu Algerien und Libyen ist dramatisch. Im Land agiert die islamistische Gruppe Ansar-al-Scharia, die sich zur Ideologie der al-quaida bekennt. Im August 2013 wurde sie von der tunesischen Regierung als terroristische Organisation eingestuft.

In Ägypten kamen nach dem Sturz von Husni Mubarak für wenige Monate sogenannte Muslim-Brüder an die Macht, die durch einen Militärputsch, den man innerhalb des Ägyptischen Machtbereichs besser nicht als solchen bezeichnet, entmachtet wurden. (Ex-)General Sisi sorgte für eine Restauration der diktatorischen Verhältnisse. Die Kontrolle über den Sinai hat das ägyptische Militär indessen verloren, hier schaltet und waltet der maghrebinische Arm von al Kadja nach Gutdünken.

Der Jemen ist ein zerfallender, wenn nicht gar bereits ein zerfallener Staat. Seit Jahren führen drei Parteien Krieg gegeneinander und gegen die Bevölkerung: Die Regierung, die USA, die mit Drohnen Terroristen jagen und denen dabei nicht selten massive Kollateralschäden unterlaufen, und al Kaida, die nicht zuletzt wegen der US-Kriegsführung immer mehr Zulauf hat. Aktuell[4] wird die Hauptstadt Sanaa von Zehntausenden schiitischer Huthi-Rebellen überrannt, die Autonomie für ihre im Norden gelegenen Stammesgebiete fordern und der sunnitischen Regierung mit Segregation drohen, sollte ihrem Ansinnen nicht entsprochen werden.[5]

Libyen ist zweifellos ein zerfallener Staat. Zahlreiche marodierende Banden, bewaffnet mit effektiven Mitteln aus den Arsenalen des verblichenen Autokraten-Schauspielers Muammar-al-Ghaddafi, bekämpfen einander gegenseitig und finanzieren ihre Kämpfe durch Erträge aus eroberten Ölfeldern und Raffinerien. Der wichtigste Flughafen des Landes in Tripolis wurde von Marodeuren erobert[6] und samt den dort geparkten Flugzeugen zerstört.

In Syrien tobt seit 2011 ein Bürgerkrieg, bei dem ein Teilnehmer permanent mitmischt: die syrische Armee. Die Truppen des gelernten Augenarztes Assad setzten Giftgas und Fassbomben gegen dessen Untertanen ein, sie riegelten Stadtviertel ab, in denen sie Aufständische vermuteten oder vorgaben, das zu tun, und ließen die darin gefangenen Menschen mitleidlos verdursten und verhungern. Die anderen Kriegsteilnehmer unterliegen demgegenüber einem Wandel: Waren sie, zumindest nach westlicher Wunsch-Lesart, zuerst demokratisch orientiert, setzten sich in den letzten Monaten zunehmend die „Steinzeit-Islamisten“[7] der IS durch, die ein Kalifat errichten wollen und zu diesem Behuf sich bereits weite Teile des syrischen Staatsgebiets[8] unter die ungereinigten Nägel gerissen haben.

Die Interessen

Wie ist zu erklären, dass eine Vielzahl nordafrikanischer und vorderasiatischer Staaten, die jahrzehntelang wenn nicht prosperierend, so doch relativ stabil waren, in der irritierenden Unordnung „moderner“ Kriege, die mit den Regeln der Genfer Konventionen nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben, versinken können? Welche Kräfte haben die Menschen in diesen Ländern in diesen Strudel getrieben?

Wir wollen versuchen, verschiedene Triebfedern zu benennen, ohne den Anspruch zu erheben, ein befriedigendes Gesamtbild zu zeichnen.

Vor Politik, sogar vor Wirtschaft, muss hier Religion genannt werden.[9]

Sunniten und Schiiten, die beiden „Konfessionen“ des Islam, bekämpfen einander härter als Katholiken und Protestanten während des Dreißigjährigen Krieges[10]. Wie im Dreißigjährigen Krieg so auch heute ist den Machthabern die Religion an sich vermutlich gleichgültig, nicht gleichgültig ist ihnen ohne Zweifel aber ihre Machtposition, und die ist von der Konfession nicht zu trennen.

Wer also gegen wen?

„Ultra-Sunniten“ sind der Emir von Katar[11] und das wahabitische Königshaus Saudi Arabiens. Beide Herrscherhäuser schwimmen im Ölgeld und haben diese Ressource freigiebig benutzt, um alle Organisationen und Milizen zu finanzieren, die vorgeben, sunnitische Werte zu vertreten, also vor allem al Kaida und ISIS/IS. Beide scheinen indes eigene Ziele zu verfolgen, vor allem die IS könnte zu einer ernsthaften Bedrohung ihrer Geldgeber werden[12].

Der syrische Bomben-Herrscher Assad ist Alevit und damit Schiit. Folgerichtig wird er vom schiitischen Kernland Iran und auch von der lyrischen Hisbollah unterstützt.

Der Irak, unter Saddam Hussein noch mit dem Iran um die regionale und damit die religiöse Vorherrschaft kämpfend, ist nach dem Abzug der US-Truppen[13] wieder zum Kriegsschauplatz und zum Spielball von Interessen geworden; die IS hat große Teile des Staatsgebietes erobert.

Allen Kriegsparteien stehen Waffen nahezu nach Belieben zur Verfügung: Die USA wie auch Russland waren in der Vergangenheit nicht knauserig mit der Unterstützung ihrer „Verbündeten“, und geben (Öl-)Geld lässt sich alles kaufen.

Erklärungsversuche

Wäre die „westliche“ Welt wie noch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf das Öl aus dem Nahen Osten auf Gedeih und Verderb angewiesen, der US-Präsident Obama hätte einen Leibeswind auf die „Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien“ gegeben.

Die ethisch verkleidete Äußerung lässt die Hoffnung auf Business anklingen, denn die Ablösung der amerikanischen Kolonien vom britischen Mutterland (No taxation without representation) lässt mehr Geld im Land.

Die „westliche Welt“ dachte/denkt, dass die weltweite Übernahme westlich-kapitalistischer Geschäftsmodelle auch die Übernahme westlicher Politikmodelle impliziert. Das erweist sich als Irrtum.

Orientierungslosigkeit, Verzweiflung, Abenteuerlust, Gier, Machtstreben, Fanatismus, vielleicht sogar Gottesfurcht junger Männer sind auch im 21.Jahrhundert stark genug, um mit Hilfe von hinreichend AK-47 und Toyota Hilux Imperien ins Wanken zu bringen.

Menschen denken zu kurz(fristig).

Ich weiß ja auch nicht[14].

Fazit

1529 und 1683 standen die Türken vor Wien.

  1. Das fehlende Komma wurde von der Sekretärin eingefügt. Die Sekretärin
  2. zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Frühling. Zugriff am 14.8.14, 23.46h
  3. Israel, die Westbank und der Gazastreifen werden hier nicht berücksichtigt. Die Materie ist auch ohne Betrachtung dieses speziellen Komplexes kompliziert genug.
  4. Stand: 21.8.2014
  5. Im Zweifelsfall werden sie sich aber mit einer Steuersenkung oder ähnlichem zufriedengeben; das Imponiergehabe jemenitischer Stammeskrieger ist sattsam bekannt.
  6. am 24.8.2014
  7. So bezeichnen selbst seriöse Pressorgane wie die „Süddeutsche Zeitung“ die weiland ISIS, jetzt IS = Islamischer Staat.
  8. Und auch des irakischen Staatsgebiets, aber auch dieses Problem lassen wir im mittleren Osten liegen, es würde uns zu weit führen.
  9. Selbstverständlich widerstrebt uns diese Reihenfolge zutiefst, aber rationale Bären denken anders als irrationale Menschen. Es gibt keine Göttin außer Tussi!
  10. Der Dreißigjährige Krieg dauerte von 1618 bis 1648 und wurde vor allem in Mitteleuropa ausgetragen. Da ich weiß, dass der Geschichtsunterricht in der Schule heutzutage in den Gehirnen der Schüler nur geringe Spuren hinterlässt, nehme ich mir die Freiheit, diese Information einzufügen. Die Sekretärin
  11. Pikanterweise soll im Emirat Katar 2022 die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen werden, was wegen des Klimas, aber auch aus politischen Gründen problematisch werden könnte.
  12. Schon Goethes Zauberlehrling muss zugeben:„die Geister, die ich rief,die werd’ ich nicht mehr los!“
  13. Von 2003 bis 2011 führten die USA unter anderem im Irak ihren „War against Terrorism“, nach acht Jahren zogen sie ihre erfolglosen Truppen ab.
  14. Das hat der Chef noch nie gesagt. Die Sekretärin

 

Kulle über „right2water“

Kulle

DLF: Kulle, was sagen Sie zum Erfolg der EU-weiten Initiative „right2water“?

Kulle: Was ist los?

DLF: Kulle, hier ist der Dehlandfunk! Sie haben uns gestern ein Telefoninterview um 7.20 Uhr zu diesem Thema zugesagt!

Kulle: Habe ich das? Ich muss außer mir gewesen sein. Ein Bär, der etwas auf sich hält, gibt kein Bettkanteninterview – abgesehen davon, dass ein Bär, der etwas auf sich hält, nicht in einem Bett schläft. Aber jetzt bin ich sowieso wach – worum geht es, sagen Sie?

DLF: Es geht um die Initiative „right2water“. In Dehland haben inzwischen eine Million Menschen sich mit ihrer Unterschrift dafür eingesetzt, dass Wasser ein Menschenrecht ist und deshalb nicht durch private Anbieter verkauft werden darf. Die Wasserversorgung muss durch die öffentliche Hand erfolgen, fordern sie.

Kulle: Dass ich nicht kichere!

DLF: Sie irritieren mich! Worüber müssen Sie kichern?

Kulle: Immer wieder darüber, dass die Menschen nicht merken, was sie anrichten, aber sich ex post darüber empören, was sie angerichtet haben. Aber lassen Sie uns so früh am Morgen nicht grundsätzlich werden – es ist 7.21 Uhr.

DLF: Was haben die Menschen denn angerichtet?

Kulle: Sie werden also doch grundsätzlich. Die Menschen haben alles angerichtet.

DLF: Können Sie das differenzieren?

Kulle: Natürlich. –

DLF: Tun Sie es bitte auch?

Kulle: Guter Mensch, es ist jetzt 7.22 Uhr. In acht Minuten laufen auf Ihrem Sender die Nachrichten, das ist ehernes Gesetz. Um 7.29 Uhr würgen Sie jeden Interviewpartner ab, auch wenn er Ihr persönlicher Gott wäre. Soll ich Ihnen in sieben Minuten die Welt erklären?

DLF: Inzwischen sind es nur noch sechs Minuten. Aber Sie können das.

Kulle: Vielen Dank für Ihr Vertrauen. – – – – – –

DLF: Kulle?

Kulle: Keine Sorge, ich bin noch da. Ich brauchte nur eine Minute, um mir zu überlegen, wie ich die Welt in fünf Minuten strukturiert und schlüssig erklären kann.

Es geht los.

Wir leben im Anthropozän. Das bedeutet, dass die Menschen den Planeten Erde nach ihrer Maßgabe verändert haben, und auch, dass sie glauben, bestimmen zu können, wie „richtiges“ Leben auszusehen hat.

Von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es seit sehr kurzer Zeit überwiegender menschlicher Konsens, dass das Wirtschaftsleben am besten kapitalistisch organisiert wird.

Wie auch immer die Menschen ihr ökonomisches Leben im Lauf der Zeit organisiert haben, es war gekennzeichnet durch Mangel, und der Mangel führte – und führt -– immer wieder zu Gewalt.

Es ist gerade 200 Jahre her, dass mit der ersten Formulierung von Menschenrechten versucht wurde, dieser Gewalt Grenzen zu setzen. Man forderte Freiheit, das Streben nach Glück, körperliche Unversehrtheit. Genau betrachtet forderte man Rechte, die Schutz vor Extremsituationen gewähren sollten: vor Versklavung, Fremdbestimmung, Körperverletzung und Schlimmerem.

Es ist erstaunlich, dass wesentliche tierische – und damit menschliche – Grundbedürfnisse in diesem Katalog der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nicht auftauchen.

Wo sind das Recht auf Nahrung? Das Recht auf atembare Luft? Das Recht auf schützenden Wohnraum? Das Recht auf Fortpflanzung?

Es gibt sie nicht, und das hat gute Gründe: Gäbe es sie, könnte niemand mit ihrer Bereitstellung Profit erwirtschaften.

Wer regt sich darüber auf, dass Brot bezahlt werden muss? Dass für eine Wohnung Miete entrichtet werden muss? Wer sagt schon: ,La propriété, c’est le vol‘ (Eigentum ist Diebstahl), außer dem ehrenwerten Jacques Pierre Brissot, dem Proudhon, der auch kein Eigentum akzeptierte, später den Spruch geklaut hat?

Wie spät ist es eigentlich?

DLF: 7.28 Uhr.

Kulle: Das reicht.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts merkt die Menschheit allmählich, dass sie die Erde versaut hat. Auch Wasser, das Grundnahrungsmittel schlechthin, ist knapp geworden und wird noch knapper werden. Aber kann jemand, der den Kapitalismus für die beste aller Wirtschaftsformen hält, sich glaubhaft darüber aufregen, dass Konzerne mit schönen Namen wie ,Veolia‘ das tun, was alle Konzerne wollen, nämlich Geld verdienen? Dass sich Konzerne den Teufel darum scheren, ob ihr Produkt etwas taugt, wenn nur die Bilanz stimmt?

Ich schätze, es ist jetzt 7.29 Uhr.

Ich komme also zum Schluss.

Eine Initiative wie „right2water“ mag in entwickelten Industriestaaten Erfolg haben, für eine Weile jedenfalls. Im größten Teil der Welt dagegen bestimmen private lokale Wasserversorger und Konzerne wie Nestlé den Markt, die schlichtes H2O unter Namen wie ,Purelife‘ teuer feilhalten.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Menschen für ihre Atemluft werden zahlen müssen.

DLF: Kulle, wir danken Ihnen für das Interview. Es ist gleich 7.30 Uhr. In wenigen Sekunden folgen die Nachrichten…

Mali oder die Ironie der Geschichte

“Onkel Kulle?”

Kulle

Es war ein klarer Wintertag in Bärenleben, Kulle fror in seinem braunen Pelz, denn er studierte lieber, als sich der Winterruhe in der gemütlichen Höhle hinzugeben. Na und Nuk, die Eisbärenzwillingsschwestern, lebten dagegen bei solchen Temperaturen auf – ihretwegen hätte es ruhig noch deutlich kälter sein können.

Kulle

“Onkel Kulle, dürfen wir Dich was fragen?”

Natürlich durften sie. Kulle tat nichts lieber, als Fragen zu beantworten. Je schwieriger, desto besser.

“Onkel Kulle, wir haben im Internet und in der Zeitung gelesen, dass die französische Armee in Mali einmarschiert ist. Weil da islamistische Fundamentalisten oder so den Menschen verboten haben zu singen. Oder so. Und wir verstehen das alles nicht.”

“Wisst ihr, wo und was Mali ist?”

“Ja.”

“Wisst Ihr auch, was islamistische Fundamentalisten sind?”

“Nicht so richtig.”

“Hat Atti Euch genug über Rohstoffe und Ökonomie beigebracht, so dass Ihr Euch fit fühlt?”

“Tante Atti hat uns ordentlich getriezt.”

“Und wie alt seid Ihr jetzt?”

“Wir haben nicht gezählt, ehrlich gesagt. Fünf. mindestens.”

“Gut. Dann ist es jetzt Zeit, dass Ihr etwas über Mali lernt. Und dass Ihr lernt, gegen den Strich zu denken.”

“Das zweite verstehen wir nicht, Onkel Kulle. Tante Atti hat uns nur gesagt, dass wir nicht auf den Strich gehen sollen. Denken hat sie in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.”

Gute alte Athabasca, dachte Kulle. Auf welchen Strich sollten junge Eisbärinnen in Dehland schon gehen?

“Ilam. Lami. Mila”, sagte Kulle.

“Hä?” machte Na.

“Hier zeigt sich wieder die intellektuelle Überlegenheit der Erstgeborenen!” freute sich Nuk und reckte ihre Nase in die Luft. “Das sind alles Anagramme für ,Mali‘.”

“Stimmt!” sagte Kulle. “Wer Anagramme knacken kann, der kann vorwärts und rückwärts denken, der fällt nicht auf eine falsche Reihenfolge rein und kann auch Lügen erkennen. Der kann gegen den Strich denken. Wer das kann, erkennt auch Ironie, denn Ironie arbeitet mit Falschaussagen. Ironie verkehrt Fakten in ihr Gegenteil. Das ist bestimmt neu für Euch, oder?”

“Es ist neu, Onkel Kulle.” Auch Nuk war jetzt recht kleinlaut. “Und – ist das nicht schrecklich schwer?”

Kulle schob die beiden Kinder in die Richtung der Schlafhöhle, machte selbst einen kurzen Umweg zur Küche, folgte dann und suchte ihnen allen dort ein gemütliches Eckchen. “Wird schon werden,” sagte er.

Nanuk waren begeistert über die Haselnüsse mit Fischgeschmack, die Kulle mitgebracht hatte, und erzählten beim Knabbern bereitwillig, was sie wussten.

“Und welche Regierung hat Mali?” erkundigte sich Kulle, nachdem ihnen die Puste ausgegangen war.

“Vor einem Jahr gab es einen Militärputsch. Mali ist eine Militärdiktatur.”

“Also ist die französische Armee in Mali einmarschiert, um eine Diktatur zu verteidigen?”

“Onkel Kulle, jetzt spinnst Du aber. Das kann doch nicht sein, dass…” Na hielt sich die Pfote vor den Mund, erschrocken über ihre Unhöflichkeit dem Älteren gegenüber. In Bärenleben gab man viel auf das Senioritätsprinzip.

Kulle zeigte keine Reaktion, er wartete einfach ab. Na schielte hilfesuchend zu Nuk. Aber ihre “große” Schwester ließ sie, wie so häufig, auflaufen.

Cool sagte sie: “Das kann vielleicht doch sein. Wenn die Fundamentalisten noch viel schlimmer sind als die Diktatoren.”

“Sie sind wahrscheinlich wirklich viel schlimmer”, kommentierte Kulle. “Sie haben nicht nur Musik, Tanzen und Rauchen verboten, sie verbieten allen Frauen alles, außer ihrem Mann zu gehorchen. Aber brutale Gewalt gibt es in vielen Weltgegenden, und die französische Armee lässt das genauso kalt wie die dehländische Regierung. Die hilft den Franzosen nämlich. Warum also gerade Mali?”

Na und Nuk zermalmten geräuschvoll die letzten beiden Haselnüsse. Kulle gönnte sie ihnen gerne – er bevorzugte andere Geschmacksrichtungen. Danach wurde es sehr still.

“Rohstoffe?” Kulle gab ein Stichwort.

“Na klar, Uran!” Das kam wie aus der Pistole geschossen von beiden. “Frankreich fördert Uran im Niger, das ist gleich nebenan. Frankreich lebt von Strom aus 58 Atomreaktoren, und Frankreich ist Nuklearmacht.” Nas genauere Erklärung sollte ihren Fauxpas vergessen machen.

“Gut!” lobte Kulle. “Das ist die Antwort auf die Frage nach dem ,Warum‘ des Einmarsches. Ein anderes ,Warum‘ gibt es aber auch noch: Warum sind die Fundamentalisten so gut bewaffnet, dass sie den hochgerüsteten Franzosen tatsächlich Mühe bereiten? Das steht zwar auch in den Zeitungen, aber nur in den besseren. Soll ich‘s Euch erklären?”

“Ja, bitte!” Anders als Menschenkinder konnte die Jugend in Bärenleben nie genug vom Lernen bekommen.

“Algerien liegt im Norden Malis, das wisst Ihr ja. Der Staat östlich von Algerien ist Libyen. Die Grenzen stehen in der menschenleeren Sahara weitgehend auf dem Papier. Man kann sich in dieser Wüste frei bewegen, wenn man dafür ausgerüstet ist.

Im Oktober 2011 wurde in Libyen der Diktator Muammar-el-Gaddafi gestürzt und getötet. Um seine Herrschaft zu festigen, hatte er ein riesiges Waffenarsenal angehäuft. Viele der Nomaden in seinem Land, die Tuareg, bezahlte er, damit sie für ihn kämpften. Als Gaddafi tot war, bekamen sie kein Geld mehr, aber sie wussten, wo die Waffen waren, und sie nahmen sie. Sie gingen dahin, wo man mit Kämpfen auch weiterhin überleben konnte. Zum Beispiel in Mali.

Es gibt in den nordafrikanischen Staaten auch noch andere gut organisierte Krieger, Krieger für den Islam, wie sie behaupten. Und es gibt Staaten im Nahen Osten, deren Regierungen wollen, dass der Islam siegt. Sie wollen einen Islam, der nur die eigene Religion gelten lässt und alles andere verfolgt. So ein Staat ist Saudi-Arabien. Saudi-Arabien unterstützt die Kämpfer für den Islam in Nordafrika mit Waffen.”

“Aber mit Saudi-Arabien ist Dehland doch befreundet!” Na konnte ihren Mund schon wieder nicht halten.

Diesmal nickte Kulle anerkennend. “Du hast gut aufgepasst! Dehland ist mit Saudi-Arabien so gut befreundet, dass es dem Land viele Waffen verkauft hat – Waffen im Wert von 30 Millionen Euro. Riad möchte noch viel mehr Produkte der dehländischen Rüstungsindustrie, vor allem Panzer.”

“Heißt das etwa…” Nuk unterbrach sich selbst. “Nein, das kann nicht sein!”

“Man soll auf dieser Welt nie etwas ausschließen, wenn es um Menschen geht”, kommentierte Kulle.

“Heißt das etwa, dass die französischen und vielleicht auch bald die dehländischen Soldaten gegen Islamisten kämpfen, die Waffen haben, die Dehland verkauft hat?”

“Genau das heißt es.”

“Das ist aber komisch!”

“Ja, komisch ist es schon, aber – könnt Ihr darüber lachen?”

“Natürlich nicht, Onkel Kulle!”

“Recht habt Ihr: natürlich nicht. Aber eine erste Annäherung an Ironie ist Euch gelungen: Das, was Dehland erwartet hat, nämlich dass die Saudis mit ihren dehländischen Waffen auf Sanddünen schießen oder Löcher bohren, um ihr Öl zu fördern, oder zumindest die bösen Iraner bekämpfen, ist nicht eingetreten. Stattdessen – aber das wisst Ihr ja jetzt. Das nennt man Ironie der Welt oder Ironie der Geschichte.”

“Das ist aber schwierig, Onkel Kulle!”

“Stimmt! Aber Ihr seid kluge Mädchen, Ihr seid erst fünf oder sechs Jahre – Menschenkinder verstehen Ironie erst, wenn sie doppelt so alt sind. – Und jetzt singen wir ein Lied, wenn Ihr mögt, sozusagen gegen die Islamisten, die das Singen verbieten wollen. Habt Ihr Lust?

“Au ja!”

“Schön, sagte Kulle, zückte sein Smartphone und spielte ihnen den Song vor.

He is five foot two,

And he’s six feet four,

He fights with missiles and with spears,

He’s all of thirty-one,

And he’s only seventeen,

He’s been a soldier for a thousand years.

 

He’s a Catholic, a Hindu,

An atheist, a Jain,

A Budhist, and a Baptist and a Jew,

And he knows, he shouldn’t kill,

And he knows, he always will,

Killing for me, my friend, and me for you.

 

And he’s fighting for Canada,

He’s fighting for France,

He’s fighting for the USA

And he’s fighting for the Russians,

He’s fighting for Japan,

And he thinks we’ll put an end to war this way.

 

And he’s fighting for democracy,

He’s fighting for the Reds,

He says it’s for the peace of all,

He’s the one who must decide,

Who’s to live and who’s to die,

And he never sees the writing on the wall.

 

But without him, how would Hitler

Have condemned him at Lw’ow,

Without him Cesar would have stood alone,

He’s the one, who gives his body

As a weapon of the war,

And without him all this killing can’t go on.

 

He’s the universal soldier,

And he really is to blame,

His orders come from far away, no more,

They come from here and there,

And you and me and brothers,

Can’t you see,

This is not the way we put the end to war.

 

“Das ist aber ein trauriges Lied, Onkel Kulle”, sagte Nanuk.

“Das ist es!” bestätigte Kulle.

Anmerkungen zur Demokratie

von PD Kulle

PD Kulle

Inhalt

  1. Vorbemerkung
  2. Mögliche sinnvolle gesellschaftliche Regelwerke
  3. Die identitäre Gesellschaft
  4. Die Untertanengesellschaft
  5. Die Gesellschaft konkurrierender Interessen
  6. Einige Überlegungen zur Geschichte der Demokratie
  7. Die athenische Demokratie
  8. Die römische Republik
  9. Die repräsentative Demokratie
  10. Einige Überlegungen zur Zukunft der Demokratie
  11. Conclusio

1. Vorbemerkung

Lebewesen in einer Gemeinschaft bedürfen einer Ordnung, welcher auch immer.

Wir werden im Folgenden dieses Problem im Rahmen der Fauna, insbesondere in Bezug auf Homo sapiens sapiens betrachten.

Staatenbildende Insekten lösen diese Aufgabe auf eine scheinbar einfache Weise, nämlich genetisch und durch unterschiedliche Nahrungsbedingungen: In einem Bienenvolk zum Beispiel ist klar, wer Drohne, wer Königin und wer Arbeiterin wird, wer also welche Aufgabe zu übernehmen hat und wer mit welcher Lebenserwartung zu rechnen hat. Keine der Bienen denkt über ihre Rolle nach.

Bei Lebewesen, die zur permanenten Ich-Wahrnehmung und damit potenziell zur Rollenambiguität fähig sind, eröffnen sich dagegen vielerlei Möglichkeiten, sich zu organisieren.

Sprechen wir über den Menschen.

Das Faustrecht etwa stellt eine Ordnung dar, wenn auch eine der Ordnung der unökonomischen Unordnung; es führt dazu, dass das Leben der menschlichen Individuen in einer solchen Gemeinschaft oft endet, bevor sie in der Lage waren, sich fortzupflanzen und ihre Arbeitskraft gesellschaftlich sinnvoll nutzbar zu machen.

Um das lang- oder zumindest mittelfristige Überleben einer Ansammlung potenzieller Individuen zu ermöglichen, braucht eine Gesellschaft bessere Regeln.

2. Mögliche sinnvolle gesellschaftliche Regelwerke

Auf der Basis einer prinzipiellen Entscheidung, die häufig, wie so viele wichtige andere Entscheidungen auch, “ dem Rücken der Menschen“ getroffen wird 1, können zwei antagonistische Organisationsformen entstehen: Die Gesellschaftsglieder nehmen die Gestaltung ihres Gemeinwesens selbst in die Hand, oder sie delegieren sie für eine unbeschränkte oder für begrenzte Zeit.

3. Die identitäre Gesellschaft

Wir nennen eine egalitäre Gesellschaft identitär, in der die Individuen aus wohl verstandenem Egoismus das Wohl des Gemeinwesens über ihr eigenes Wollen stellen. Es versteht sich, dass es sich insofern um eine kommunistische Gesellschaft handelt, als die Eigentumsverhältnisse aller von ähnlicher Natur sind 2. Nennenswerte Besitzunterschiede generieren Interessensunterschiede, Egozentrismen gewinnen die Oberhand.

4. Die Untertanengesellschaft

In der Untertanengesellschaft existieren mindestens zwei Klassen, Kasten, Stände – die Nomenklatur ist beliebig. Von der gesellschaftlich notwendigen Arbeit der Masse der geknechteten Untertanen lebt die parasitäre Schicht, wobei der herrschende Apparat sich gegenüber den Beherrschten in einem Individuum wie etwa einem (Erb-)Monarchen oder einem Diktator inkarnieren, aber auch als Organisation auftreten kann 3.

5. Die Gesellschaft konkurrierender Interessen

In einer solchen Gesellschaft existieren sehr unterschiedliche Besitzverhältnisse. Andererseits herrscht Rechtsgleichheit, wenn nicht für alle, dann zumindest für eine relevante Gruppe der Mitglieder der Gemeinschaft. Aufgrund der Prämisse der Rechtsgleichheit wird es ermöglicht, einzelnen Gruppen für eine festgesetzte Zeit den Auftrag zu erteilen, das Gemeinwesen auszugestalten. In der Regel wird dieser Auftrag erteilt, indem von der Gesellschaft dazu Berechtigte Repräsentanten wählen 4.

Homo sapiens sapiens bezeichnet diese politische Organisationsform als Demokratie 5.

6. Einige Überlegungen zur Geschichte der Demokratie

Gemessen an der Dauer der Existenz menschlicher Gesellschaften ist die Demokratie eine Erscheinung des letzten Augenblicks 6. Die sogenannten ersten Hochkulturen in Asien und Afrika kannten dergleichen nicht, erst in den griechischen Poleis 7 finden sich Ansätze dazu.

7. Die athenische Demokratie

Zentrales Element der Demokratie in Athen war die Volksversammlung, die um 480 v.u.Z. aus ca. 30000 Vollbürgern bestand 8. Sie tagte 40 Mal im Jahr, fällte alle Entscheidungen und stellte das oberste Gericht. Nahezu alle politischen Ämter wurden ausgelost, die Amtsdauer betrug nur ein Jahr.

8. Die römische Republik

Um 133 v.u.Z. bildeten 300.000 Patrizier und Plebejer die Volksversammlung 9. Anders als in Athen verboten sich angesichts dieser Zahl Diskussionen. Die Rolle der Beamten war wesentlich gewichtiger als in Athen, die Möglichkeit des Machtmissbrauchs schon in der Verfassung festgeschrieben: Bei Gefahr für den Staat konnte für sechs Monate ein Diktator mit unbeschränkten Vollmachten berufen werden, der ein Heer aufstellte und niemandem Rechenschaft schuldig war 10.

9. Die repräsentative Demokratie

“Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ 11

Das ist der Kernsatz der parlamentarischen Demokratie und zugleich die Bankrotterklärung der Volksherrschaft. Die Rolle des “Souveräns“ 12
in dieser politischen Organisationsform reduziert sich nämlich in der Regel darauf, in regelmäßigen Abständen die Katze 13 im Sack zu wählen: Einzelkandidaten und/oder politische Parteien, die nach der Wahl ihre politischen Sachentscheidungen nach eigenem Gusto treffen, ohne sich an Positionen halten zu müssen, die sie ggf. vor der Wahl eingenommen haben.

10. Einige Überlegungen zur Zukunft der Demokratie

Ist die Demokratie, gerade einmal zweitausendfünfhundert Jahre alt, zukunftsfähig, noch zeitgemäß oder bereits überholt?

  • Wie die Verfechter aller verschiedenen politischen Organisationsformen gehen auch die Demokratietheoretiker davon aus, dass ein Primat der Politik existiert. Angesichts der Dominanz der “Märkte“ 14 und der zunehmenden Bedeutung supranationaler Organisationen ist das zweifelhaft. Zwar lässt sich Demokratie prinzipiell auch in nach Milliarden zählenden Menschenagglomerationen organisieren, die Idee der politischen Repräsentanz wird dabei allerdings ad absurdum geführt.
  • Politische Entscheidungen in einer Untertanengesellschaft können schnell gefällt werden, demokratische Weichenstellungen bedürfen der Muße, die in Anbetracht der Informationsüberflutung, der permanenten Kommunikation und nicht zuletzt wegen des Drucks der “Märkte“ selten gegeben ist.
  • In einer ständig an Komplexität zunehmenden Menschenwelt setzen sinnvolleEntscheidungen 15 Kenntnisse und Kompetenzen voraus, über die nur wenige Spezialisten verfügen. Immer häufiger wird deshalb die Richtlinienkompenz der Politik de facto Lobbyisten oder nicht demokratisch legitimierten Kommissionen überlassen.
  • Die am häufigsten praktizierte repräsentative Demokratie hangelt sich kurzatmig von Wahltermin zu Wahltermin. Unpopuläre, wenn auch objektiv notwendige Maßnahmen unterbleiben, um die Gunst der Wähler nicht zu verlieren. Es erscheint deshalb unwahrscheinlich, dass demokratisch verfasste Gesellschaften mit der unzweifelhaft stattfindenden Klimakatastrophe werden umgehen können. Die Verwerfungen, die die Klimaveränderung mit sich bringt, werden so groß sein, dass Demokratie und Rechtsstaat in den Hintergrund gedrängt werden, vielleicht gar in Vergessenheit geraten.
  • Es gibt scheinbar überzeugende Gegenmodelle zur Demokratie, zum Beispiel die autoritär regierte, aber wirtschaftlich prosperierende Volksrepublik China 16. Der weltweit zumindest offiziell 17 die Demokratie auf dem Silbertablett vor sich her tragende Staat, die Supermacht USA, ist dagegen eifrig damit befasst, sich abzuschaffen.

11. Conclusio

Vielleicht hat der Mensch Winston Churchill Recht, wenn er sagt:

„Democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.“ 18

Wir Bären bezweifeln aus den oben genannten Gründen, dass diese Politikform Zukunftschancen hat.

Also bleibt auch hier nur:

Phhhhhhhhhfffffffffftttttt!


Fußnoten:

    1. vgl. das umfangreiche Werk von Karl Marx
    2. Genaueres findet der interessierte Leser bei Jean-Jacques Rousseau im „Contrat social“. Da ein Gemeinwesen, in dem die „volonté générale“ alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen bestimmt, zwar eine tatsächliche Volksherrschaft konstituiert, in der historischen Realität aber bisher nicht aufgetreten ist, bleibt sie im folgenden Abriss unberücksichtigt.
    3. Dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion nicht die Partei des in diesem Staat herrschenden Proletariats war, sondern die Partei der Herrschaft der führenden Clique über das Proletariat, kann leider nicht bestritten werden.
    4. Wir verzichten hier darauf, auf spezielle Charakteristika der direkten Demokratie und der Rätedemokratie gesondert einzugehen.
    5. Da heutzutage nur noch wenige Menschen des Altgriechischen mächtig sind, löst dieser Name in der Regel nicht das schollernde Gelächter aus, das eigentlich angebracht wäre.
    6. Man beachte die Doppeldeutigkeit der Formulierung.
    7. Aus dem bereits in Fußnoten 5 angeführten Grund weisen wir darauf hin, dass es sich um den Plural von „Polis“ handelt.
    8. Das waren ca. 20% der Gesamtbevölkerung. Sklaven, zugewanderte Bürger aus anderen Städten, Metöken und „natürlich“ Frauen hatten keine Partizipationsrechte.
    9. Selbstverständlich auch hier ohne Sklaven, Frauen und „Gedöns“, um einen deutschen ehemaligen Bundeskanzler zu zitieren.
    10. Es überrascht nicht, dass die Lebensdauer der res publica kurz war: Gaius Julius Cäsar (100 – 44 v.u.Z.) riss die Macht an sich. Seine Ermordung hatte keine strukturellen Veränderungen zur Folge: Aus der „Sache aller“ war die Sache eines Menschen geworden, die Sache eines vergöttlichten Kaisers.
    11. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20, Absatz 2, Satz1. Der hochgeschätzte Bert Brecht pflegte diese Behauptung mit der Frage zu kommentieren: „Aber wo geht sie hin?“
    12. Die Sprache der Politik in dieser Form der Demokratie bedient sich notwendigerweise einer Fülle von Euphemismen, um die wahren Machtverhältnisse zu vernebeln.
    13. Oder auch das Schwein, wie der Engländer sagt: to buy a pig in a poke.
    14. Der Chef sagt, er gibt demjenigen, der ihm die genaue Adresse und Telefonnummer dieser „Märkte“ nennt, eine Flasche Honigwein aus. Die Sekretärin
    15. Allerdings erweckt die Betrachtung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft berechtigte Zweifel, ob derlei Entscheidungen überhaupt möglich sind.
    16. Dass das sogenannte „Erfolgsmodell“ China aus verschiedenen Gründen in eine Sackgasse führt, kann hier nicht erläutert werden.
    17. Man sollte sich aber besser nicht mit Guantanamo und den sonstigen Aktivitäten der US-Geheimdienste beschäftigen.
    18. Rede vor dem Unterhaus am 11.11. 1947. Wir gehen davon aus, dass es sich nicht um einen Scherz zur Eröffnung der Karnevalssaison handeln sollte.

Kulle träumt

Kulle träumt.
Die Materie taumelt durch den Weltenraum.
Ein Raumschiff taumelt durch den Weltenraum. Es fliegt zur Erde.
Kulle ist in dem Raumschiff. Er hat keine Ahnung, wie er dahin gekommen ist oder was er dort soll. Er wandert herum, sieht unbekannte Apparaturen, versteht nichts. Linien und Zahlen rasen über Bildschirme. Plötzlich steht er vor einem Spiegel und sieht etwas Verständliches, nämlich sich. Aber das Objekt, vor dem er sich befindet, ist kein Spiegel, sondern ein Durchlass. Kulle steht nicht vor seinem Spiegelbild, sondern vor seinem Ebenbild. Der Pilot des Raumschiffes ist ein kleiner Bär. Er ähnelt Kulle aufs Haar, mit einem winzigen Unterschied: Rechts und links der Ohren wachsen ihm zwei borstendünne Sensoren aus dem Kopf. Daran erkennt Kulle selbstverständlich sofort den Extraterrestrier, aber weil der ein Bär ist, unterstellt er, dass er seine Sprache kann.
“Was willst du auf der Erde?” fragt Kulle.
“Der Kurs wurde einprogrammiert, weil von diesem Planeten Radiowellen emittiert werden. Sie konnten zum Teil entschlüsselt werden. Sie deuten auf die Existenz intelligenter Lebewesen hin. Deshalb wollen wir ihn erforschen.”Kulle lacht und sagt: “Da forsche ich mit!”
Der kleine Bär liest seine Instrumente ab und versteht natürlich alles: Die lokale Sonne umkreist das Zentrum der Galaxis in einem mittleren Abstand von 26.000 Lichtjahren und befindet sich damit in einem ihrer Seitenarme. Es ist ein Stern aus Wasserstoff und Helium wie die meisten im Universum, gehört allerdings zu den größeren. Sein dritter Planet in acht Lichtminuten Abstand ist die winzige “Erde”, die über eine Atmosphäre verfügt, die zu etwa 78% aus Stickstoff und zu ca. 21% aus Sauerstoff besteht.
“Wir landen gleich!” sagt der kleine Bär.
“Wo?” will Kulle wissen.
“Da, wo die meisten Informationen herkommen. Wir haben ihren geografischen Code geknackt. Demzufolge handelt es sich um ein kleines Gebiet auf etwa 37° nördlicher Breite und 77° westlicher Länge.”
“Oh Tussi!” stöhnt Kulle. “Das ist das Pentagon! Da können wir nicht…”
“Wir sind da!” sagt der kleine Bär ungerührt. “Wir empfangen und analysieren jetzt die wichtigsten Daten.”
“Aber…” jammert Kulle.
“Keine Sorge,” beruhigt der kleine Bär. “Es dauert nicht lange.”
Kulle wandert unruhig in dem Raumschiff umher. Er hört nur das Summen von Maschinen. Er kann nicht hinaussehen, denn es gibt keine Fenster. Das ist ihm auch lieber – er stellt sich vor, dass ein Bataillon von Marines längst von allen Seiten Mini-Nukes auf sie gerichtet hat.
“Möchtest du jetzt aussteigen?” erkundigt sich der kleine Bär. “Ich fliege nämlich gleich ab.”
Bevor Kulle antworten kann, spürt er die Flugbewegung. Er rüttelt an den Wänden, denn er kann keine Türen finden. Er kann sich nur im Zeitlupentempo bewegen. Seine Anstrengungen sind vergeblich.
Es gelingt ihm zu fragen: “Warum fliegst du ab?”
“Das liegt doch auf der Hand! Die dominierende Spezies auf diesem winzigen Planeten ist in Fraktionen zerfallen, die große Anstrengungen darein setzen, die jeweils anderen zu vernichten. Damit sind sie beschäftigt und merken nicht, dass sie zahlreiche andere Arten bereits ausgerottet haben und ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören drohen. Anstatt ihre Lebensbedingungen und ihre eigene Rolle angemessen zu analysieren, halten sie sich für die “Krone der Schöpfung” und glauben folgerichtig an ein höheres Wesen, nein, falsch, an verschiedene höhere Wesen, denn auch in Bezug auf diese absurde Idee können sie sich nicht einigen. Wie konnten wir nur hoffen, dass es sich bei diesen Wesen um Intelligente handelt! Willst du nun aussteigen oder nicht?”
Kulle zögert.
“Na dann tschüss!” sagt der kleine Bär.
Kulle wird hinauskatapultiert und landet unsanft auf der Erde.

Kulles Grußwort zum Jahr 2006

Liebe Mitlebewesen, insbesondere Menschen, ganz speziell Deutsche!

Der Autor

Natürlich weiß ich, dass ihr satt seid – satt von der Weihnachtsgans, dem Silvesterkarpfen und vielerlei Nuss- und Mandelkern, also den massenhaft unappetitlich gezüchteten Muskeln und Fettablagerungen von bedauernswerten Tieren und den saisonalen Produkten, die sich Schokolade nennen, wenngleich sie hauptsächlich aus Zucker bestehen. Satt vom Sekt, den mensch zur Jahreswendezeit hierzulande eben zu trinken hat und dessen Konsum ihm, dem Geiz Geilheit bedeutet, durch den Verkaufspreis unterhalb der Produktionskosten schmackhaft gemacht wird – der Profit an anderer Stelle wird es richten. Satt auch von offiziellen Grußworten Offizieller, die euch gesagt haben, dass ihr alle alles könnt, wenn ihr nur wollt, und dass ihr alle solltet, aber nicht müsst, nämlich Weltmeister werden. Papst seid ihr ja schon. Satt seid ihr natürlich auch deshalb, weil das Modalverb “dürfen“ in diesen Reden nicht vorkam.

Natürlich weiß ich, dass ihr satt seid, und das nicht erst seit ein paar Tagen. Schließlich hat das Menschenbashing schon vor Jahrhunderten angefangen. In drei Jahren feiern wir den fünfhundertsten Jahrestag der Vertreibung des Menschen aus dem Mittelpunkt des Kosmos – ich bin gespannt, wer dazu die Festrede halten wird. Niemand nahm damals, 1509, Nikolaus Kopernikus im abgelegenen ostpreußischen Thorn wirklich ernst, aber er hat bewiesen, dass die Erde samt ihrem Mond und den anderen seinerzeit bekannten Planeten um die Sonne rotiert, nicht andersherum. Seitdem torkelt die Menschheit betrunken durch das All, mal kopfüber, mal kopfunter, immerhin aber noch Menschheit, geschaffen am sechsten Tage, belebt mit Gottes Odem, beseelt von seinem Geist, von ihm auserwählt, seinen Garten Eden zu bestellen und zu bewahren oder sich gar die Erde untertan zu machen.

Das änderte sich allerdings 350 Jahre später. 1859 erschien die Kurzfassung eines Buches, das ein bisher auf sehr verschiedenen akademischen Feldern wie Theologie und Medizin nicht gerade erfolgreicher, dafür aber weit gereister Mann veröffentlichte und das binnen Stunden vergriffen war. Der Autor hieß Charles Darwin, und sein Werk trug den Titel “On the Origin of Species“. Darwin entkleidete euch Menschen eurer Gottähnlichkeit, ihr wurdet Tiere wie wir Bären, aber ihr wolltet es nicht wissen, nicht akzeptieren, ihr kämpft dagegen an bis zum heutigen Tage, denn ihr habt nicht begriffen, welch ungeheures Kompliment in der Darwinschen Erkenntnis steckt, dass das Geheimnis des Überlebens einer Spezies die Anpassung ist, das Fitsein. Anstatt stolz zu sein, rennt ihr in Fitnesstudios und versucht, den alten einzigartigen Status mit Hilfe eines als unabdingbar behaupteten intelligenten Designers wiederzuerlangen. Ihr solltet euch schämen!

Scham scheint ein in der Menschheit tief verwurzeltes Gefühl zu sein, Scham geht mit Erkenntnis einher, wie schon frühe menschliche Mythen lehren, denn erst als die erste Frau dem ersten Mann zu Erkenntnis verholfen hatte, schämte er sich. Aber wie sie funktionieren, die Scham und die Erkenntnis, das wisst ihr Menschen nicht – und ihr könnt es auch nicht wissen. Das immerhin wisst ihr seit Sigmund Freud, dem ihr die Erkenntnis verdankt, dass etwa 90 % eures Verhaltens nicht bewusst gesteuert werden, dass das, was ihr das Ich nennt, ein fragiler, ständig von Es und Über-Ich bedrohter, mühsam am Leben erhaltener Winzling ist, dessen Existenz aber notwendig ist, damit ihr den Begriff “Vernunft“ wenigstens ab und zu denken könnt. Freuds “Das Ich und das Es“ erschien zwar erst 1923, war aber bereits, wie unsere Forschungen ergeben haben, 1919 fertiggestellt – 60 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins bahnbrechenden Erkenntnissen, 410 Jahre nach der kopernikanischen Wende.

Also, liebe Mitlebewesen, liebe deutsche Menschen, das vor euch liegende Jahr 2006 ist, erkenntnistheoretisch betrachtet, völlig unbedeutend. Ihr dürft euch entspannen. Das entscheidende Jubiläumsjahr ist nicht 2006, allen anderen Behauptungen, die da Mozart, Heine, den armen B.B. und Dutzende andere Namen durch die Gebetsmühle der Medien drehen, zum Trotz. Das entscheidende Gedenkjahr ist 2009. DAS geht euch an.

Also, deutsche Menschen:

Macht ruhig weiter wie bisher, bleibt Exportweltmeister, werdet vielleicht sogar männlicher Fußballweltmeister, falls euch das freut.

Haltet euch weiterhin für etwas Besseres, falls ihr dieses Gefühl braucht. Lasst euch nicht dadurch stören, dass euch ein kleiner Bär schon heute die Leviten liest.

Ihr habt noch drei Jahre Zeit – genießt sie!