Die kluge Bauerntochter

Es war einmal ein Bauer, der hatte viel Land, und weil er viel Land hatte, war er reich. Er lebte nämlich unter einem König, der seinen Bauern regelmäßig Geld schenkte. Das Geschenk richtete sich nach dem Landbesitz. Je mehr Land ein Bauer hatte, desto mehr Geld bekam er geschenkt.

Der Bauer freute sich jedes Jahr über den Geldsegen, aber er fand, dass solche Geschenke keine Selbstverständlichkeit sind. Deshalb fasste er den Entschluss, sich bei seinem König dafür zu bedanken.

Aber bevor er das tat, teilte er seiner Tochter den Plan mit. Die junge Frau war sein einziges Kind, das er sehr liebte. Und sie war sehr klug, deshalb fragte er sie in allen wichtigen Dingen um Rat.

„Dankbarkeit ist etwas schönes, lieber Vater,“ sagte sie, nachdem sie zugehört hatte. „Aber Du wirst es bereuen, wenn Du den König durch Deinen Dank auf Deine Lage aufmerksam machst.“

„Wieso?“ fragte der Vater verwundert.

„Ich habe gehört, dass unser König ein kluger Mann ist. Und kluge Männer, wirklich kluge Männer, verabscheuen Ungerechtigkeiten.“

„Das will ich gern glauben,“ sagte der Vater, aber was hat das mit mir zu tun?“

„Du bist auch ohne die Geschenke des Königs reich, denn Du besitzt viel Land. Das Geld des Königs macht Dich noch reicher. Andere Bauern mit wenig Land sind arm. Weil sie wenig Land haben, bekommen sie nur wenig oder gar kein Geld geschenkt. Sie bleiben arm oder werden sogar noch ärmer. Die königlichen Geschenke verschärfen die Einkommensunterschiede bei den Bauern. Das ist ungerecht, findest Du nicht auch?“

„Wenn das ungerecht wäre, hätte der König das System längst abgeschafft,“ meinte der Bauer. „Du hast selbst gesagt, dass er ein kluger Mann ist.“

„Auch kluge Menschen können nicht alles wissen. Vater, ich warne Dich!“

Der Bauer ignorierte die Bedenken seiner Tochter, erbat eine Audienz beim König, wurde vorgelassen und stattete seinen Dank ab wie geplant. Zu seinem Entsetzen wurde der König puterrot im Gesicht.

„Was erzählst Du mir da? Das ist ja eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Wer hat, dem wird gegeben? Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen? Nicht in meinem Königreich! Dein Geschenk wird ab sofort gestrichen!“

Der Bauer stieg auf seinen riesigen Trecker, programmierte den Weg nach Hause und verließ sich auf die Elektronik, denn er konnte durch den Tränenschleier vor seinen Augen kaum etwas sehen. Als er auf seinem Hof ankam, war er stockheiser, denn er hatte auf dem gesamten Weg lauthals geklagt: „Oh, hätt ich meiner Tochter nur geglaubt! Oh, hätt ich meiner Tochter nur geglaubt!“

Das ganze Land hatte es gehört. Und natürlich auch der König. Er befahl seinem Hofmarschall, dem Bauern eine Kurznachricht zu schicken und ihn zu fragen, was er seiner Tochter nicht geglaubt habe. Der Bauer twitterte zurück und informierte den Hofmarschall, der sofort dem König Bericht erstattete. Daraufhin beorderte der König die Tochter zu sich. Umgehend. Eine solch kluge Person wolle er unbedingt kennenlernen. Diesen Tweet schickte er höchstpersönlich ab.

Die Tochter seufzte, aber sie wusste, dass man einem König gehorchen musste. Sie setzte sich sofort auf ihr Fahrrad und trat energisch in die Pedale. Als kluger Mensch war sie natürlich umweltbewusst und besaß kein Auto. Noch schneller wäre sie beim König gewesen, wenn sie mit Bus oder Bahn hätte fahren können, aber in ihrem Dorf gab es leider keinen öffentlichen Personennahverkehr.

Ziemlich außer Atem kam sie im Schloss an. Der König empfing sie sofort, obwohl er gerade seinen Nachmittagskaffee trank.

„Was muss ich von Deinem Vater hören?“ fragte er empört. „Ich mache eine völlig falsche Landwirtschaftspolitik, und Du hast das gewusst? Warum hast Du mir das nicht gesagt?“

„Ich habe nicht angenommen, dass Du das hören willst, König. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich zu Dir vordringen könnte. Wer im Schloss wohnt, ist normalerweise nicht an der Meinung der kleinen Leute interessiert. Höchstens, wenn er wieder gewählt werden will. Aber das spielt in Deinem Fall ja keine Rolle. Du bist König qua Geburt.“

Ohne zu fragen nahm sich die Tochter ein großes Stück Bienenstich von der Kuchenplatte. Das Radfahren hatte sie hungrig gemacht.

„Mag sein, dass Du recht hast,“ gab der König selbstkritisch zu. „Aber jetzt möchte ich alles hören. Was kannst Du mir noch von der Landwirtschaft erzählen?“

„Viel, aber es wird Dir nicht gefallen. Willst Du das wirklich hören?“

„Nun fang schon an,“ knurrte der König.

Die Tochter schluckte ihren ersten Bienenstich hinunter.

„Also gut,“ sagte sie. „Dass Deine Subventionen für die Landwirtschaft große Agrarbetriebe begünstigen und kleine Höfe in den Ruin treiben, hast Du inzwischen wohl verstanden. Aber auch die Großbetriebe sind nicht glücklich. Die Ackerbauern sind abhängig vom Wetter und von Kriegen irgendwo auf der Welt, was die Preise für ihre Produkte steigen oder fallen lässt. Den Viehzüchtern sitzen die Lebensmittelkonzerne im Nacken. Mit ihrer Einkaufsmacht können sie die Abnahmepreise für viele Produkte praktisch diktieren, so dass den Bauern kaum Gewinn bleibt. Oder gar keiner. Außerdem sind da die Konsumenten. Die essen gerne Fleisch und Eier und Milchprodukte, aber bezahlen wollen sie dafür möglichst wenig. Also müssen die Bauern billig produzieren. Das Ergebnis ist tierquälerische Massenhaltung. Das ist den Konsumenten auch wieder nicht recht, und der Bauer, der seinen Schweinen die Schwänze kupiert, damit sie sich in der Enge nicht gegenseitig anfressen, ist der Buhmann.

Der Bauer ist nicht nur deshalb der Buhmann. Er bringt zu viel Dünger aus, seine vielen Tiere produzieren zu viel Gülle. Er schädigt damit das Grundwasser. Er benutzt zu viele Pestizide, denn er muss seinen Ertrag steigern. Die Pestizide schädigen viele Arten, vor allem Insekten. Viele Vögel ernähren sich aber von Insekten. Die wenigen Vögel, die das Verschwinden von Hecken und intakten Feldrainen überlebt haben, finden nichts mehr zu picken.“

Die Tochter nahm sich noch ein Stück Bienenstich. „Reicht das erstmal, oder soll ich weitermachen?“

Der König winkte ermattet ab. „Das ist mehr als genug. Das wusste ich alles nicht!“

„Warum nicht?“ Die Tochter biss ein Stück Kuchen ab. „Du hättest nur aus dem Fenster zu sehen brauchen. Du musstest nur übers Feld gehen. Du hättest nur zu hören und zu riechen brauchen!“

„Gut, gut, aber ich habe so viele andere Probleme um die Ohren. Da ist die Legalisierung von Cannabis und die Erweiterung meines Schlosses und…“

„Toll!“ kommentierte die Tochter.

Sogar der König verstand die Ironie.

„Was soll ich denn jetzt machen?“ fragte er hilflos.

„Dir wird schon etwas einfallen,“ meinte die Tochter. „Mein Vater sagt, Du bist ein kluger Mann. Und jetzt hast Du ja alle notwendigen Informationen. Ich gehe dann mal wieder. Vielen Dank für den Kuchen.“ Sie stand auf.

„Halt!“ rief der König. „Geh jetzt bitte nicht. Ich brauche Deinen Rat.“

Weil er ‚bitte‘ gesagt hatte, setzte sich die Tochter wieder.

„Ich wünsche mir, dass Du mir hilfst. Was muss ich Dir dafür geben? Ich hätte da wunderschöne Kleider, die scheinen und strahlen und glitzern wie der Mond, die Sonne und die Sterne. Wäre das etwas?“

Die Tochter lachte laut los. „König, Du hast zu viele Märchen gelesen! Aus solchem Schnickschnack mache ich mir nichts. Und jetzt versprich mir bitte nicht auch noch, dass ich Deinen Sohn heiraten darf, wenn ich Dich berate. Ich stehe nämlich auf Frauen, und eine Tochter hast Du nicht, wie ich weiß.“

Der König machte einen neuen Anlauf. „Sag mir, kannst Du zaubern? Ja? Dann kannst Du mir sicher drei Wünsche erfüllen, nicht wahr?“

Die Tochter nickte. „Das könnte ich schon. Mache ich aber nicht.“

„Warum nicht?“

„Man weiß doch, wie das ausgeht. Die guten Seelen wünschen sich ein gesundes Leben auf der Erde und danach ein glückliches im Himmel und noch irgendeinen belanglosen Schnickschnack. Erstens bezweifle ich, dass Du eine gute Seele bist, und zweitens löst das Dein Problem mit der Landwirtschaft nicht. Und problemlösungsorientierte Wünsche gehen in der Regel in die Hose. Also angenommen, Du wünschst Dir das Ende der Massentierhaltung. Könnte ich machen. Schwupps sind mindestens 90 Prozent aller Puten, Hühner, Schweine und Rinder weg. Mal abgesehen von der Frage, was aus all den Tieren wird – kannst Du Dir vorstellen, was dann in Deinem Reich los ist? Massendemonstrationen finden statt: nicht nur von enteigneten Bauern, sondern von wütenden Konsumenten, die in den Supermärkten nur noch Veganes in den Regalen finden. Kein Frühstücksei, keine Butter für das Brot, vom Kotelett ganz zu schweigen. Was machst Du also notgedrungen als nächstes: genau, mit Deinem zweiten Wunsch machst Du den ersten rückgängig. Damit hast Du die Wut der Menschen aber noch nicht besänftigt. Als drittes lässt Du eine unangreifbare Security-Zone um Dein Schloss errichten. Much ado about nothing, und verbessert hat sich gar nichts.“

„Also gut, meine Vorschlägen taugen offensichtlich nichts,“ gab der König entmutigt zu. „Und ich gestehe, dass mir nichts einfällt. Kannst Du mir bitte etwas raten?“

Das zweite ‚bitte‘ stimmte die Tochter wieder milde. „Wenn landwirtschaftliche Produkte umweltverträglich und artgerecht hergestellt werden sollen, werden sie teurer sein als heute. Das ist unvermeidlich, denn die Produktionskosten sind höher. Die Konsumenten müssen mehr Geld für Nahrungsmittel ausgeben. Das ist für meinen Vater und für mich kein Problem: Wir sind reich. Für sozial schwache Menschen wie Arbeitslose, Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen und die meisten Rentner ist das aber sehr wohl ein Problem. Die erste Maßnahme, die Du durchführen musst, ist also, Deine Schatzkammer zu öffnen. Der Mindestlohn und das Bürgergeld werden verdoppelt, die Renten werden um 50 Prozent angehoben.“

„Oh weh,“ sagte der König niedergeschlagen.

„Das ist aber nicht alles, wie Du Dir denken kannst. Du musst Deinen Landwirtschaftsminister neue Gesetze ausarbeiten lassen, die Du verkünden lässt: hohe Standards für landwirtschaftliche Produktion, Wiedervernässung der Moore, eine ökologische Forstwirtschaft.“

„Jetzt hast Du aber nicht nachgedacht!“ Der König war schnell wieder obenauf. „Wir leben in einer Weltwirtschaft mit weltweiten Handelsketten, wenn ich Dich daran erinnern darf. Wenn wir in meinem Reich teure Agrarprodukte herstellen, werden wir von Billigwaren aus allen anderen Teilen der Welt überschwemmt!“

„Mein Vater hat zu recht gesagt, dass Du ein kluger Mann bist,“ schmunzelte die Königstochter. „Genau darin kann ein Problem liegen. Da hilft nur eins: Solche Waren werden nicht in Dein Reich hereingelassen.“

„Und das soll gutgehen?“ fragte der König skeptisch. 

„Lass die Sache von Deinem Hofmathematiker durchrechnen. Ich bin zuversichtlich, dass er mir beipflichten wird. Und falls die Sache nicht gutgeht: Alles andere geht bestimmt schief, das kannst Du mir glauben.“

Die Tochter stand auf. „Kann ich jetzt gehen?“ wollte sie wissen.

Auch der König erhob sich. „Ich danke Dir sehr,“ sagte er und verneigte sich tief vor der Tochter. „Darf ich Dich in meiner goldenen Kutsche nach Hause bringen lassen?“

„Das ist sehr großzügig, aber: nein, danke. Ich bin mitm Radl da. Langfristig solltest Du aber dafür sorgen, dass mein Dorf mit einem ordentlichen Takt an den ÖPNV angeschlossen wird.“ Und sie ging davon.

Januar 2024