Der Dummling und der Erpel

Zwei Brüder suchten Abenteuer und verließen deshalb ihre Heimat, in der es ihnen zu eng war. In einem fernen Land ließen sie sich nieder und beschlossen, die Welt einmal so richtig durcheinander zu bringen. Sie selbst, dachten sie, würden dabei viel Spaß haben und reich werden.

Sie verlegten sich darauf, Gifte zu machen und zu verkaufen. Kunden fanden sich schnell: Regierungen mussten ihre Soldaten im Krieg gegen Parasiten und Krankheitsüberträger schützen, Plastikproduzenten waren begierig nach Weichmachern, und Bauern wie Hobbygärtner wünschten sich Pestizide.

Sie wiegten die Kunden in dem Glauben, dass ihre Gifte nur gezielt wirkten, also zum Beispiel gegen Läuse, Malariamücken oder Unkraut. Oft ging aber etwas schief: Vögel legten Eier mit dünneren Schalen und und bekamen deshalb keinen Nachwuchs mehr, Fabrikarbeiter erkrankten, Fische starben in verseuchtem Wasser, die Zahl der Insekten ging zurück.

Natürlich leugneten die Brüder, dass solche unschönen Entwicklungen etwas mit ihren Giften zu tun hatten, aber mehr als einmal mussten sie zähneknirschend akzeptieren, dass ihre Produkte verboten wurden.

Nach einiger Zeit verloren sie die Lust an ihrem giftigen Spiel und verkauften ihre Fabriken an jemanden, der dumm genug war, ihnen dafür viel Geld zu bezahlen. Dumm, weil es niemandem gelang, neue Pestizide zu erfinden, und gegen die alten wurden Pflanzen und Tiere allmählich unempfindlich.

Sie reisten wieder nach Hause und fanden dort ihren jüngsten Bruder, den sie fast vergessen hatten. Er war einfältig, fanden sie, und nannten ihn deshalb den Dummling.

„Na, Kleiner, wie ist es Dir ergangen?“ fragte der Älteste überheblich. Eigentlich wollte er gar keine Antwort haben, stattdessen brannte er darauf, mit seinem Reichtum zu prahlen.

„Mir geht es gut,“ antwortete der Dummling. „Kommt, ich zeige Euch, wie ich lebe.“

Er führte seine Brüder in seinen Wald. Bald kamen sie an einen großen Ameisenhaufen. Die zwei ältesten wollten ihn aufwühlen und sehen, wie die kleinen Ameisen in der Angst herumkröchen und ihre Eier forttrügen. So etwas bereitete ihnen Freude. Mit ihren Giften hatten sie schon vielen Ameisen geschadet. Die kleinen Krabbeltiere waren nur lästig und überflüssig, fanden sie. Aber der Dummling sagte: „Laßt die Tiere in Frieden, ich will nicht, dass Ihr sie stört!“

Da gingen sie weiter und kamen an einen See, auf dem schwammen viele, viele Enten. Die zwei Brüder wollten ein paar fangen und braten, aber der Dummling ließ es nicht zu und sprach: „Laßt die Tiere in Frieden, ich will nicht, daß Ihr sie tötet!“

Schließlich kamen sie an ein Bienennest, darin war so viel Honig, daß er am Stamm herunterlief.

Die zwei wollten Feuer unter den Baum legen und die Bienen ersticken, damit sie den Honig wegnehmen könnten. Der Dummling hielt sie aber wieder ab und sprach: „Laßt die Tiere in Frieden, ich will nicht, daß Ihr sie verbrennt!“

Die beiden älteren Brüder waren sich einig: Bei dem Dummling war es einfach nur langweilig. Nichts dufte man kaputtmachen! Sie beschlossen, wieder in die Welt zu ziehen und ihr Glück in der Ferne ein zweites Mal zu versuchen.

Schnell stellten sie fest, dass die Welt, die sie vergiftet hatten, ein unwirtlicher Ort geworden war. Sie litten Hunger, denn die Pflanzen trugen keine Früchte mehr: Die bestäubenden Insekten waren verschwunden. Und es stank entsetzlich, wohin sie auch kamen: Die kleinen Tiere, die sich früher von Aas ernährt hatten, waren verschwunden. Sie schämten sich, aber sie wussten keinen anderen Ausweg – sie kehrten zu ihrem Bruder zurück.

„Schau an, schau an!“ sagte der Dummling. „Jetzt wisst Ihr also, dass Insekten wie Ameisen und Bienen wichtig sind, oder? Dass es dumm und kurzsichtig ist, sie zu vergiften oder sonstwie umzubringen? Zum Glück sind meine Tiere ja noch am Leben, ich kann Euch also zu essen geben. Und bei mir riecht es nach Leben, nicht nach Tod.“

Die Älteren bedankten sich kleinlaut und futterten, bis alle Teller und Schüsseln leer waren. 

Danach sagte der eine: „Es ist bei Dir, wie es sein soll.“

Dann der andere: „Aber überall sonst ist die Welt verdorben. Wir haben sie verdorben.“

Und der eine: „Kann man das wieder rückgängig machen? Kannst Du das?“

„Mal sehen,“ meinte der Dummling. „Es gibt ja noch die Enten. Die sind aber umgezogen und wohnen jetzt in der Stadt. Wir können zu Fuß dahin gehen. Keine Sorge, es ist nicht weit!“

Die beiden älteren Brüder schüttelten den Kopf. Enten, die in der Stadt leben! Er war eben doch der Dummling, ihr kleiner Bruder! Aber weil ihnen nichts besseres einfiel, ließen sie sich auf den Vorschlag ein.

Die Stadt war wirklich nicht weit weg, aber Häuser, Straßen und Parks waren deutlich kleiner, als sie es kannten, nämlich in entengerechter Größe. Nur ein riesiges würfelförmiges Gebäude, das auf einem Hügel thronte, stach heraus.

Der Dummling zeigte darauf: „Dahin müssen wir! Ich empfehle Euch, sehr höflich zu ihm zu sein.“

„Zu ihm? Wer ist er?“

„Dagobert Duck ist die reichste Ente der Welt. Vielleicht das reichste Individuum überhaupt. Und er ist ungemein geizig.“

„Was wollen wir dann bei ihm?“

Der Dummling zuckte die Schultern. „Abwarten. Auch eine geizige Ente ist eine Ente.“

Er drückte auf den Klingelknopf, hielt sein Gesicht in die Kamera, die über der Tür angebracht war, beantwortete die Frage, ob er ein Panzerknacker oder Gundel Gaukeley sei, mit ‚Nein‘ und wurde eingelassen.

Drinnen hörten sie, wie Metall auf Metall schlug.

„Das bedeutet, dass er wieder badet,“ meinte der Dummling. „Lasst Euch bloß nicht einfallen, über ihn zu lachen!“

Sie stiegen viele Treppen hoch bis unter das Dach, und dann sahen sie einen Erpel mit Backenbart in einem altmodischen roten Frack, der in Goldtalern herumwühlte und dabei quakte: „Es ist mir ein Hochgenuss, wie ein Seehund hineinzuspringen! … Und wie ein Maulwurf darin herumzuwühlen! … Und es in die Luft zu schmeißen, dass es mir auf die Glatze prasselt!“ Trotz seiner Ekstase merkte er irgendwann, dass er nicht mehr allein war. Er setzte sich auf, musterte seine Besucher und sagte: „Bei mir könnt Ihr alles kaufen. Ich bin der größte Kaufmann der Welt und mache die besten Preise. Was darf’s denn sein?“

Der Dummling tat bescheiden. „Ach,“ nichts Besonderes. Nur ganz gewöhnliche Lebensmittel: Butter, Eier, Milch, Zucker, Mehl und Maiskolben.“

„Ts, Ts, Ts,“ machte Dagobert Duck. „Ganz gewöhnliche Lebensmittel, ja? Zufällig die wichtigsten Zutaten für meine Lieblingsgerichte: Pfannkuchen und Maiskolben mit warmer Butter, ja? Dinge, die gerade auf dem Markt kaum zu bekommen sind, ja?“ Er richtete sich zu voller Größe auf und trompetete: „Wer seid Ihr?“

„Ich bin nur der Dummling,“ antwortete der Dummling. „Diese beiden sind meine Brüder. Sie haben die Welt vergiftet. Deshalb gibt es die Zutaten für Deine Lieblingsgerichte kaum noch. Wir sind hier, weil wir Deine Hilfe brauchen.“

„Wie das?“ fragte der Erpel höhnisch. Soll ich etwa Milch scheißen und Eier legen?“

„Ganz sicher nicht,“ sagte der Dummling. „Aber Du hast viel Geld. Damit kannst Du die Welt reparieren.“

„Mit meinen 500 Trillionen, 253 Billiarden, 675 Billionen, 123 Milliarden, 934 Millionen, 300 500 Talern und 13 Kreuzern soll ich die Welt reparieren? Warum sollte ich das tun?“

Dem Dummling gingen viele Antworten durch den Kopf, aber er entschied sich für nur eine: „Weil Du dann wieder ohne  Probleme Pfannkuchen und Maiskolben mit warmer Butter essen kannst, soviel Du magst.“

„Das leuchtet mir ein,“ meinte Duck. „Ich mache das, wenn ich nur meinen Glückskreuzer behalten kann. Aber sag mal: Kann man die vergiftete Welt wirklich mit Geld reparieren?“

„Im Märchen geht das. Im Märchen geht alles. Aber nur im Märchen.“

Und als die drei Brüder nach Hause gingen, krabbelten überall die Ameisen, summten überall die Bienen und schwammen auf vielen Teichen die Enten.

März 2024

Die kluge Bauerntochter

Es war einmal ein Bauer, der hatte viel Land, und weil er viel Land hatte, war er reich. Er lebte nämlich unter einem König, der seinen Bauern regelmäßig Geld schenkte. Das Geschenk richtete sich nach dem Landbesitz. Je mehr Land ein Bauer hatte, desto mehr Geld bekam er geschenkt.

Der Bauer freute sich jedes Jahr über den Geldsegen, aber er fand, dass solche Geschenke keine Selbstverständlichkeit sind. Deshalb fasste er den Entschluss, sich bei seinem König dafür zu bedanken.

Aber bevor er das tat, teilte er seiner Tochter den Plan mit. Die junge Frau war sein einziges Kind, das er sehr liebte. Und sie war sehr klug, deshalb fragte er sie in allen wichtigen Dingen um Rat.

„Dankbarkeit ist etwas schönes, lieber Vater,“ sagte sie, nachdem sie zugehört hatte. „Aber Du wirst es bereuen, wenn Du den König durch Deinen Dank auf Deine Lage aufmerksam machst.“

„Wieso?“ fragte der Vater verwundert.

„Ich habe gehört, dass unser König ein kluger Mann ist. Und kluge Männer, wirklich kluge Männer, verabscheuen Ungerechtigkeiten.“

„Das will ich gern glauben,“ sagte der Vater, aber was hat das mit mir zu tun?“

„Du bist auch ohne die Geschenke des Königs reich, denn Du besitzt viel Land. Das Geld des Königs macht Dich noch reicher. Andere Bauern mit wenig Land sind arm. Weil sie wenig Land haben, bekommen sie nur wenig oder gar kein Geld geschenkt. Sie bleiben arm oder werden sogar noch ärmer. Die königlichen Geschenke verschärfen die Einkommensunterschiede bei den Bauern. Das ist ungerecht, findest Du nicht auch?“

„Wenn das ungerecht wäre, hätte der König das System längst abgeschafft,“ meinte der Bauer. „Du hast selbst gesagt, dass er ein kluger Mann ist.“

„Auch kluge Menschen können nicht alles wissen. Vater, ich warne Dich!“

Der Bauer ignorierte die Bedenken seiner Tochter, erbat eine Audienz beim König, wurde vorgelassen und stattete seinen Dank ab wie geplant. Zu seinem Entsetzen wurde der König puterrot im Gesicht.

„Was erzählst Du mir da? Das ist ja eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Wer hat, dem wird gegeben? Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen? Nicht in meinem Königreich! Dein Geschenk wird ab sofort gestrichen!“

Der Bauer stieg auf seinen riesigen Trecker, programmierte den Weg nach Hause und verließ sich auf die Elektronik, denn er konnte durch den Tränenschleier vor seinen Augen kaum etwas sehen. Als er auf seinem Hof ankam, war er stockheiser, denn er hatte auf dem gesamten Weg lauthals geklagt: „Oh, hätt ich meiner Tochter nur geglaubt! Oh, hätt ich meiner Tochter nur geglaubt!“

Das ganze Land hatte es gehört. Und natürlich auch der König. Er befahl seinem Hofmarschall, dem Bauern eine Kurznachricht zu schicken und ihn zu fragen, was er seiner Tochter nicht geglaubt habe. Der Bauer twitterte zurück und informierte den Hofmarschall, der sofort dem König Bericht erstattete. Daraufhin beorderte der König die Tochter zu sich. Umgehend. Eine solch kluge Person wolle er unbedingt kennenlernen. Diesen Tweet schickte er höchstpersönlich ab.

Die Tochter seufzte, aber sie wusste, dass man einem König gehorchen musste. Sie setzte sich sofort auf ihr Fahrrad und trat energisch in die Pedale. Als kluger Mensch war sie natürlich umweltbewusst und besaß kein Auto. Noch schneller wäre sie beim König gewesen, wenn sie mit Bus oder Bahn hätte fahren können, aber in ihrem Dorf gab es leider keinen öffentlichen Personennahverkehr.

Ziemlich außer Atem kam sie im Schloss an. Der König empfing sie sofort, obwohl er gerade seinen Nachmittagskaffee trank.

„Was muss ich von Deinem Vater hören?“ fragte er empört. „Ich mache eine völlig falsche Landwirtschaftspolitik, und Du hast das gewusst? Warum hast Du mir das nicht gesagt?“

„Ich habe nicht angenommen, dass Du das hören willst, König. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich zu Dir vordringen könnte. Wer im Schloss wohnt, ist normalerweise nicht an der Meinung der kleinen Leute interessiert. Höchstens, wenn er wieder gewählt werden will. Aber das spielt in Deinem Fall ja keine Rolle. Du bist König qua Geburt.“

Ohne zu fragen nahm sich die Tochter ein großes Stück Bienenstich von der Kuchenplatte. Das Radfahren hatte sie hungrig gemacht.

„Mag sein, dass Du recht hast,“ gab der König selbstkritisch zu. „Aber jetzt möchte ich alles hören. Was kannst Du mir noch von der Landwirtschaft erzählen?“

„Viel, aber es wird Dir nicht gefallen. Willst Du das wirklich hören?“

„Nun fang schon an,“ knurrte der König.

Die Tochter schluckte ihren ersten Bienenstich hinunter.

„Also gut,“ sagte sie. „Dass Deine Subventionen für die Landwirtschaft große Agrarbetriebe begünstigen und kleine Höfe in den Ruin treiben, hast Du inzwischen wohl verstanden. Aber auch die Großbetriebe sind nicht glücklich. Die Ackerbauern sind abhängig vom Wetter und von Kriegen irgendwo auf der Welt, was die Preise für ihre Produkte steigen oder fallen lässt. Den Viehzüchtern sitzen die Lebensmittelkonzerne im Nacken. Mit ihrer Einkaufsmacht können sie die Abnahmepreise für viele Produkte praktisch diktieren, so dass den Bauern kaum Gewinn bleibt. Oder gar keiner. Außerdem sind da die Konsumenten. Die essen gerne Fleisch und Eier und Milchprodukte, aber bezahlen wollen sie dafür möglichst wenig. Also müssen die Bauern billig produzieren. Das Ergebnis ist tierquälerische Massenhaltung. Das ist den Konsumenten auch wieder nicht recht, und der Bauer, der seinen Schweinen die Schwänze kupiert, damit sie sich in der Enge nicht gegenseitig anfressen, ist der Buhmann.

Der Bauer ist nicht nur deshalb der Buhmann. Er bringt zu viel Dünger aus, seine vielen Tiere produzieren zu viel Gülle. Er schädigt damit das Grundwasser. Er benutzt zu viele Pestizide, denn er muss seinen Ertrag steigern. Die Pestizide schädigen viele Arten, vor allem Insekten. Viele Vögel ernähren sich aber von Insekten. Die wenigen Vögel, die das Verschwinden von Hecken und intakten Feldrainen überlebt haben, finden nichts mehr zu picken.“

Die Tochter nahm sich noch ein Stück Bienenstich. „Reicht das erstmal, oder soll ich weitermachen?“

Der König winkte ermattet ab. „Das ist mehr als genug. Das wusste ich alles nicht!“

„Warum nicht?“ Die Tochter biss ein Stück Kuchen ab. „Du hättest nur aus dem Fenster zu sehen brauchen. Du musstest nur übers Feld gehen. Du hättest nur zu hören und zu riechen brauchen!“

„Gut, gut, aber ich habe so viele andere Probleme um die Ohren. Da ist die Legalisierung von Cannabis und die Erweiterung meines Schlosses und…“

„Toll!“ kommentierte die Tochter.

Sogar der König verstand die Ironie.

„Was soll ich denn jetzt machen?“ fragte er hilflos.

„Dir wird schon etwas einfallen,“ meinte die Tochter. „Mein Vater sagt, Du bist ein kluger Mann. Und jetzt hast Du ja alle notwendigen Informationen. Ich gehe dann mal wieder. Vielen Dank für den Kuchen.“ Sie stand auf.

„Halt!“ rief der König. „Geh jetzt bitte nicht. Ich brauche Deinen Rat.“

Weil er ‚bitte‘ gesagt hatte, setzte sich die Tochter wieder.

„Ich wünsche mir, dass Du mir hilfst. Was muss ich Dir dafür geben? Ich hätte da wunderschöne Kleider, die scheinen und strahlen und glitzern wie der Mond, die Sonne und die Sterne. Wäre das etwas?“

Die Tochter lachte laut los. „König, Du hast zu viele Märchen gelesen! Aus solchem Schnickschnack mache ich mir nichts. Und jetzt versprich mir bitte nicht auch noch, dass ich Deinen Sohn heiraten darf, wenn ich Dich berate. Ich stehe nämlich auf Frauen, und eine Tochter hast Du nicht, wie ich weiß.“

Der König machte einen neuen Anlauf. „Sag mir, kannst Du zaubern? Ja? Dann kannst Du mir sicher drei Wünsche erfüllen, nicht wahr?“

Die Tochter nickte. „Das könnte ich schon. Mache ich aber nicht.“

„Warum nicht?“

„Man weiß doch, wie das ausgeht. Die guten Seelen wünschen sich ein gesundes Leben auf der Erde und danach ein glückliches im Himmel und noch irgendeinen belanglosen Schnickschnack. Erstens bezweifle ich, dass Du eine gute Seele bist, und zweitens löst das Dein Problem mit der Landwirtschaft nicht. Und problemlösungsorientierte Wünsche gehen in der Regel in die Hose. Also angenommen, Du wünschst Dir das Ende der Massentierhaltung. Könnte ich machen. Schwupps sind mindestens 90 Prozent aller Puten, Hühner, Schweine und Rinder weg. Mal abgesehen von der Frage, was aus all den Tieren wird – kannst Du Dir vorstellen, was dann in Deinem Reich los ist? Massendemonstrationen finden statt: nicht nur von enteigneten Bauern, sondern von wütenden Konsumenten, die in den Supermärkten nur noch Veganes in den Regalen finden. Kein Frühstücksei, keine Butter für das Brot, vom Kotelett ganz zu schweigen. Was machst Du also notgedrungen als nächstes: genau, mit Deinem zweiten Wunsch machst Du den ersten rückgängig. Damit hast Du die Wut der Menschen aber noch nicht besänftigt. Als drittes lässt Du eine unangreifbare Security-Zone um Dein Schloss errichten. Much ado about nothing, und verbessert hat sich gar nichts.“

„Also gut, meine Vorschlägen taugen offensichtlich nichts,“ gab der König entmutigt zu. „Und ich gestehe, dass mir nichts einfällt. Kannst Du mir bitte etwas raten?“

Das zweite ‚bitte‘ stimmte die Tochter wieder milde. „Wenn landwirtschaftliche Produkte umweltverträglich und artgerecht hergestellt werden sollen, werden sie teurer sein als heute. Das ist unvermeidlich, denn die Produktionskosten sind höher. Die Konsumenten müssen mehr Geld für Nahrungsmittel ausgeben. Das ist für meinen Vater und für mich kein Problem: Wir sind reich. Für sozial schwache Menschen wie Arbeitslose, Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen und die meisten Rentner ist das aber sehr wohl ein Problem. Die erste Maßnahme, die Du durchführen musst, ist also, Deine Schatzkammer zu öffnen. Der Mindestlohn und das Bürgergeld werden verdoppelt, die Renten werden um 50 Prozent angehoben.“

„Oh weh,“ sagte der König niedergeschlagen.

„Das ist aber nicht alles, wie Du Dir denken kannst. Du musst Deinen Landwirtschaftsminister neue Gesetze ausarbeiten lassen, die Du verkünden lässt: hohe Standards für landwirtschaftliche Produktion, Wiedervernässung der Moore, eine ökologische Forstwirtschaft.“

„Jetzt hast Du aber nicht nachgedacht!“ Der König war schnell wieder obenauf. „Wir leben in einer Weltwirtschaft mit weltweiten Handelsketten, wenn ich Dich daran erinnern darf. Wenn wir in meinem Reich teure Agrarprodukte herstellen, werden wir von Billigwaren aus allen anderen Teilen der Welt überschwemmt!“

„Mein Vater hat zu recht gesagt, dass Du ein kluger Mann bist,“ schmunzelte die Königstochter. „Genau darin kann ein Problem liegen. Da hilft nur eins: Solche Waren werden nicht in Dein Reich hereingelassen.“

„Und das soll gutgehen?“ fragte der König skeptisch. 

„Lass die Sache von Deinem Hofmathematiker durchrechnen. Ich bin zuversichtlich, dass er mir beipflichten wird. Und falls die Sache nicht gutgeht: Alles andere geht bestimmt schief, das kannst Du mir glauben.“

Die Tochter stand auf. „Kann ich jetzt gehen?“ wollte sie wissen.

Auch der König erhob sich. „Ich danke Dir sehr,“ sagte er und verneigte sich tief vor der Tochter. „Darf ich Dich in meiner goldenen Kutsche nach Hause bringen lassen?“

„Das ist sehr großzügig, aber: nein, danke. Ich bin mitm Radl da. Langfristig solltest Du aber dafür sorgen, dass mein Dorf mit einem ordentlichen Takt an den ÖPNV angeschlossen wird.“ Und sie ging davon.

Januar 2024

Die klugen Leute

Die klugen Leute

Alice saß in der Ecke und schluchzte bitterlich. Da kam Alexander und nahm sie in den Arm. 

„Was ist denn los, kleine Alice? Warum bist Du so traurig?“

„Ach,“ klagte sie, „Alle  anderen Bauern im Dorf haben eine Partei. Sie sind so hübsch, diese Parteien, so farbenfroh! Es gibt eine hellrote und eine dunkelrote, eine grüne, eine mit gelber und blauer Farbe, und dann ist da noch eine beige. Und was haben wir? Gar nichts!

Außerdem habe ich keine Freunde. Gerade mal fünf Follower habe ich auf Facebook und X. Huhuhu, ich bin so schrecklich unbeliebt!“

„Das stimmt doch gar nicht. Bei mir bis Du sehr beliebt. Und was die Sache mit der Partei angeht: Soll ich Dir eine schenken?“

Alice trocknete ihre Tränen: „Das würdest Du tun? Wie denn?“

„Ganz einfach. Ich gehe zum Dorftischler und lasse mir eine Partei zurechtzimmern. Die kann der Schreiner dann auch gleich anmalen. Welche Farbe möchtest Du gern?“

Alice überlegte nicht lange: „Was hältst Du von braun?“

“Wenig. Braun mag ich gar nicht. Das sieht immer schmutzig aus, wie Kacke. Oder wie ein Fliegenschiss. Wünsch Dir besser etwas anderes.“

Jetzt musste Alice lange überlegen. Sie sah sich um. Ihr Haus hatte ein rotes Dach, das Wiesengras war grün, der Löwenzahn blühte gelb. Die Farben waren alle schon vergeben. Aber das Himmelsblau! Das hatte noch keine andere Partei.

„Dann nehmen wir ein helles Blau, Blau wie der Himmel!“

„Das ist eine gute Idee,“ lobte Alexander. „Wir werden unseren Wählern das Blaue vom Himmel versprechen. Du wirst schon sehen!“

Er ging zum Schreiner und gab ihm den Auftrag für eine hellblaue Partei. Da Alexander ihn gut bezahlte, war der in wenigen Stunden mit seiner Arbeit fertig.

Das Geld hatte Alexander, dessen Wirtschaft eigentlich nicht viel abwarf, von einem Schweinemäster aus dem Nachbardorf. Der war vorbeigekommen, hatte neben dem Geld einen geräucherten Schinken auf den Küchentisch gelegt und nur gesagt: „Mach mal!“ Dann war er wieder gegangen.

Alexander freute sich, als er Alice die neue blaue Partei schenken konnte, und Alice freute sich, dass sie jetzt auch eine Partei hatte. Aber die Freude dauerte nur zwei Tage, dann saß sie wieder in der Ecke und schluchzte bitterlicher als zuvor.

„Was ist denn jetzt wieder, kleine Alice? Gefällt Dir Deine Partei etwa nicht?“

Alice hatte kein Taschentuch und zog deshalb den Rotz in der Nase hoch.

„Mir gefällt sie schon. Aber allen anderen gefällt sie nicht. Ich habe jetzt nur noch drei Follower, und die anderen Bauern sagen, meine Partei ist gar keine richtige Partei. Sie wollen sie bekämpfen, sagen sie.“

Alexander machte große Augen. „Das verstehe ich nicht,“ murmelte er. „Der Schweinemäster aus dem Nachbardorf… Ich muss für ein paar Tage verreisen,“ erklärte er kurzerhand.

Als er nach drei Tagen zu Alice zurückkehrte, brachte er ihr eine Perlenkette mit. 

„Das ist ein Geschenk des mächtigen Schweinemästers aus dem Nachbardorf,“ erkläre er, indem er ihr das Kollier um den Hals legte. Er lässt Dich herzlich grüßen und wünscht Deiner blauen Partei alles Gute und viel Erfolg. Schau mal, was ich Dir noch von ihm mitgebracht habe!“

Und er packte aus: Plakate und Flyer, alle in Alices Himmelblau. Eine große Box mit mehreren Schlössern. Zu der erklärte er: „Das Ding lassen wir lieber noch zu. Es ist voller Bots, die darauf warten, auf Skeptiker losgelassen zu werden. Die sparen wir uns für den Wahlkampf auf.“ Und einen Tisch, der immer länger wurde, wenn man ihn ansah.

„Wofür ist der denn?“ fragte Alice skeptisch. 

„Das weiß ich auch nicht,“ brummelte Alexander. „Er hat mir das Ding regelrecht aufgedrängt. Er meint, so etwas kann man immer gebrauchen.“

„Und was ist mit den anderen Bauern im Dorf?“ Alice verzog das Gesicht, als wollte sie schon wieder weinen. 

„In dieser Hinsicht kann ich Dich beruhigen. Deine Partei ist die einzig richtige, sagt der Schweinemäster.“

„Na schön, aber woher will er das denn wissen?“

Alexander zog eine Verschwörermiene und legte einen Zeigefinger vor seine Lippen.

„Pssst! Ich vertraue Dir jetzt ein großes Geheimnis an. Der Schweinemäster weiß das vom Lieben Gott persönlich. Er ist nämlich bei ihm im Himmel gewesen.“

„Und ich bin die Jungfrau Maria!“ kicherte Alice.

„Lästere nicht!“

Alexander war jetzt sehr ernst.

„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…Also, der Schweinemäster ist eng befreundet mit dem obersten Priester seiner Kirche. Und der hat natürlich einen besonderen Draht nach oben und hat ihn mit in den Himmel genommen. Den beiden ist eine Audienz vor Gottes Thron gewährt worden.“

„Durften sie ihm Fragen stellen? Zu Beispiel, warum er sein eigenes Volk im Stich gelassen hat?“

„Du kommst auf Ideen! Natürlich nicht. Solche hochgestellten Persönlichkeiten geben Antworten. Die brauchen keine Fragen.

Gott hat viel erklärt: Dass nicht alle Völker gleich sind, sonst hätte er ja nicht die Juden auserwählt, sondern alle Menschen. Dass seine Schöpfung gut ist und man ihm da nicht reinpfuschen soll, indem man Kohlendioxid irgendwo in der Erde speichert oder ähnlichen Unsinn treibt. Zum Beispiel alles mit Windrädern vollstellen. Dass er schon selbst auf das Klima aufpasst. Und dass er ein Feind der Demokratie ist. Wäre er ein Freund der Demokratie, dann ließe er die Engel bei Wahlen darüber entscheiden, wer Gott ist, und wo kämen wir denn da hin?“

Alice ist irritiert, aber der für sie allerwichtigste Satz ist ihr im Gedächtnis geblieben.

„Meine Partei ist die einzig richtige, sagt der Schweinemäster. Und Gott auch.“

„Genau.“

„Sagen die auch, wie ich die anderen Bauern hier im Dorf davon überzeuge?“

Alexander lächelt herablassend.

„Du dumme kleine Alice, Du. Die brauchst Du nicht zu überzeugen. Die würdest Du nie überzeugen, selbst nicht mit Deinen besten Argumenten.“

„Dann verstehe ich das alles nicht.“

„Liebe kleine Alice, in einem Dorf wie unserem werden die politisch Verantwortlichen gewählt. Die Bauern sind die Parteien. Aber nicht die Parteien wollen einander überzeugen, sie wollen stattdessen miteinander konkurrieren. Sie konkurrieren um die Stimmen der Wahlberechtigten. Die Wahlberechtigten sind es also, die Du überzeugen musst.“

„Welche Wahlberechtigten? Wen gibt es denn noch hier außer den Bauern?“

„Kennst Du nicht all die flachen Gebäude bei uns im Dorf?“

„Du meinst diese hässlichen Betondinger, die so schrecklich stinken?“

„Genau die.“

„Das sind Ställe, richtig?“

„Richtig. Und wer lebt in diesen Ställen?“

„Hühner, Puten, Schweine, Rinder. Aber leben…“

„Stimmt, die Streifradien der Arbeitstiere sind beschränkt. Sie leiden nicht allzu stark darunter. Dafür sorgen die Drogen, mit denen sie ruhig gestellt werden. Eins aber hat man ihnen seit 75 Jahren nicht mehr genommen: ihr Wahlrecht.“

„Du meinst im Ernst, ich soll Vieh überzeugen? Das ist unter meiner Würde.“

„Stimmvieh, kleine Alice, Stimmvieh. Das zu überzeugen lohnt sich allemal. Wenn Du erst mal gewonnen hast und an der Macht bist, musst Du es nicht mehr fragen, wenn Du nicht willst. Der Schweinemäster zum Beispiel fragt sein Vieh schon lange nicht mehr.“

„Und was soll ich dem Vieh sagen? Es ist doch nur Vieh!“

„Dafür, liebe Alice, hat mir der Schweinemäster noch etwas mitgegeben: Ein Programm für Deine blaue Partei. Hier, lies mal!“

Alice las. Sie las manchmal laut, denn das, was sie da las, schien ihr so treffend zu sein, dass Alexander es unbedingt sofort auch erfahren musste:

Die blaue Partei setzt sich für kulturell homogene Ställe ein. Die Zuwanderung von Bisons, spanischen Iberico-Schweinen, Puten aus der Türkei und amerikanischen Leghorns muss scharf begrenzt werden. Deutsches Vieh zuerst!

Die globale Erwärmung, die aktuell vonstatten geht, wird nicht von Tieren verursacht. Die blaue Partei lehnt deshalb ein Ende der Massentierhaltung ebenso ab wie Veganismus.

Keine Experimente!

„Glaubst Du, das funktioniert? fragte Alice zweifelnd.

„Das funktioniert weltweit, sagt der Schweinemäster. Du sollst nur ein paar Jahre Geduld haben, rät er. Dann werden die anderen Bauern zittern, vor Dir und Deinen Wählern.“

Januar 2024

Lüge

Der Wolf träumt. Er träumt, dass er bei seinem Psychiater auf der Couch liegt und eine Analyse macht. Jetzt erzählt er, wann er gelogen hat.

„Ich war unterwegs im Wald, Es war Sommer, die Vögel sangen, die Blumen blühten. Aber es gab noch keine Beeren und keine Pilze. Das Grünzeug ist sowieso nicht mein Fall, es hätte mir wenig geholfen. Ich hatte nämlich Hunger.“

„Du hast so gut wie immer Hunger,“ sagt der Psychiater.

„Woher weißt Du das?“ will der Wolf wissen.

„Du bist ein Wolf, das liegt also auf der Hand.“

Der Wolf nickt. „Stimmt. Ich hatte Hunger wie immer. Da tauchte auf einmal ein Kind auf, ein Mädchen, eine süße Göre, mit einem Korb im Arm, darin war Essen und Trinken.“

„Das Kind hast Du also gefressen.“

„Nein, wieso, habe ich nicht.“

„Du hattest doch Hunger!“

„Aber ich habe das Kind nicht gefressen. Jedenfalls nicht gleich. Ich habe es ausgefragt. Ich wollte wissen, wohin es geht. Zur Großmutter, hat es erzählt, und die wohnt da und da. Und dann habe ich ihm gesagt, es soll noch ordentlich herumtrödeln im Sommerwald und viele Blumen für die Oma pflücken. Das hat es auch gemacht. Ein liebes Kind – brave Mädchen machen immer, was man ihnen sagt.“

„Du wolltest mir eigentlich erzählen, wann Du gelogen hast. Bis jetzt hast Du das Kind nur ausgefragt und aufgehalten.“

„Ich war dann schnell bei der alten Frau und habe an die Tür geklopft. Sie wollte wissen, wer da ist. ‚Rotkäppchen‘, habe ich gesagt, so hieß die Göre nämlich. Ich soll nur die Klinke herunterdrücken und reinkommen, hat sie geantwortet.“

„Du hast also gelogen, aber die Lüge war überflüssig. Das gilt nicht. Du hättest einfach nur die Tür aufmachen müssen. Wie ging es weiter?“

„Ich habe die Alte aufgefressen. Sie war ziemlich zäh, aber ich hatte Hunger, wie gesagt. Dann habe ich mir ihre Klamotten angezogen und mich in ihr Bett gelegt.“

„Und dann?“

„Dann kam endlich dieses Rotkäppchen. Ich kam dem Kind wohl irgendwie komisch vor, anders als seine Oma, denn es wollte wissen, warum ich große Ohren, Augen und Hände habe und auch ein großes Maul.“

„Was hast Du geantwortet?“

„Dass ich das Kind so besser hören, sehen, fassen und fressen kann.“

„Du hast also die reine Wahrheit gesagt.“

„Das stimmt,“ sagt der Wolf verblüfft. „Aber vorher habe ich doch gelogen, als ich mich für Rotkäppchen ausgegeben habe.“

„Wie gesagt: Das war überflüssig, hat nichts bewirkt und gilt deshalb nicht.“

„Ich habe also nichts falsch gemacht?“ Der Wolf will sichergehen.

„Jedenfalls nichts, was mit einer Lüge zu tun hat.“

Gut. Ich habe aber noch ein zweites Mal gelogen. Und ein drittes. Und sogar ein viertes.“

„Das musst Du mir erzählen.“

„Ich hatte…“

„Hunger. Ich weiß.“

„…und es gab in meiner Nähe eine Ziegenfamilie, die wohnte in einem Haus, nicht anders, als wären sie keine Tiere, sondern Menschen. Eine alleinerziehende Mutter mit sieben Kindern. Die Kleinen wollte ich erwischen, und als die Alte zum Einkaufen aus dem Haus war, habe ich geklingelt. Ich habe gesagt, ich bin ihre Mama, sie sollten aufmachen, weil ich schwere Tüten zu tragen habe und keine Hand frei. Aber ich habe mit meiner normalen tiefen Stimme gesprochen, und daran haben die Jungen die Lüge erkannt.

Natürlich habe ich nicht aufgegeben. In einem Laden für Schulbedarf habe ich Kreide gekauft und gefressen, das machte meine Stimme hoch. Damit startete ich meinen nächsten Versuch: Ich behauptete, ich bin die Ziegenmutter und habe allen Kindern ein Geschenk mitgebracht. Das war schon besser, aber auch diesmal habe ich einen Fehler gemacht: Die Kleinen guckten aus dem Fenster und konnten meine schwarzen Pfoten sehen.

Ich brauchte also nicht nur eine Ziegenstimme, sondern auch so etwas ähnliches wie Ziegenhufe. Um das zu schaffen, habe ich einen Bäcker angelogen. Dem habe ich gesagt, dass ich mir den Fuß gestoßen habe und er mir zur Linderung Teig darauf streichen soll. Anschließend bin ich zum Müller und wollte von ihm Mehl auf den Teig. Eine Begründung für diese Forderung ist mir nicht eingefallen. Prompt hat der Müller Lunte gerochen und wollte sich weigern. Als ich ihm angeboten habe, ihn zu fressen, hat er seine Weigerung dann schnell vergessen.

Und so kam ich schließlich beim dritten Versuch in die Ziegenwohnung und konnte endlich meinen Heißhunger stillen.“

„Bist Du fertig?“

„Ja, was die Lüge angeht. Die Geschichte geht natürlich noch weiter, aber das tut jetzt nichts zur Sache.“

„Gut,“ nickt der Psychiater. Sein Patient hört nur die Stimme, das Nicken kann er nicht sehen. Er liegt auf der Couch, der Arzt sitzt im Sessel hinter seinem Kopf. Die klassische Position.

„Beim ersten Mal hast Du gelogen. Die Lüge war notwendig, aber erfolglos. Beim zweiten Mal verhielt es sich ebenso.

Im dritten Anlauf hattest Du Erfolg. Auch die Drohung gegen den Müller hat offenbar ihren Zweck erfüllt.“

„Ich wusste es doch: Ich bin ein schlechter Wolf!“

„Keineswegs. Du bist ein guter Politiker!“

Der Wolf ist so verblüfft, dass er sich fast umgedreht hätte. Aber er erinnert sich an seine Rolle und bleibt liegen.

„Wieso? Wie meinst Du das?“ will er wissen.

„Du hast Dich als ein Meister der strategischen Kommunikation erwiesen. Du hast einen Prozess möglich gemacht, einen politischen Prozess.“

„Hä?“ sagt der Wolf. Und, um Höflichkeit bemüht, fügt er hinzu: „Das musst Du  mir bitte erklären.“

„Gerne. Was wolltest Du mit Deinen Lügen erreichen? Du wolltest den aktuellen Zustand im Ziegenhaushalt überwinden und zerstören. Dein Denken und Handeln war auf die Zukunft ausgerichtet. Ohne die Lügen hättest Du nicht handeln können. Deine Lügen waren pures Handeln. Du hast entschieden, wie es weitergehen soll, und dabei wären Tatsachen nur hinderlich gewesen. Stell Dir vor, was passiert wäre, wenn Du Dich als Wolf zu erkennen gegeben hättest! Jedenfalls hättest Du kein Festessen bekommen.

Du hast also gehandelt wie ein guter Politiker. Du wolltest Raum für neues Handeln gewinnen. Wahrhaftigkeit ist keine politische Tugend, weil sie wenig zu dem eigentlich politischen Geschäft, nämlich der Veränderung der Welt und der Umstände, unter denen wir leben, beizutragen hat.“

„Ich habe also alles richtig gemacht?“ fragt der Wolf.

„Ich denke schon. Ich erzähle Dir jetzt eine Geschichte, um zu prüfen, ob Du alles verstanden hast.

Es waren einmal ein Herr und ein Knecht, und der Herr war immer hungrig…“

„War der Herr vielleicht ein Wolf?“

„Das ist gut möglich. Der Herr befahl dem Knecht, ihm zu Nahrung zu verhelfen. Der Knecht führte seinen Herrn zu einem Schafzüchter, dem er ein frisch geschlachtetes Lamm stahl, das er seinem Herren vorsetzte. Der Herr aß das Tier, hatte aber noch nicht genug. Er stahl selbst ein zweites Lamm, wurde dabei erwischt und erbärmlich verprügelt. Was sagst Du dazu?“

„Bisher kann ich keine Lüge entdecken.“

„Richtig – es gab bisher auch keine.

Das Spiel wiederholte sich am nächsten Tag. Der Knecht baldowerte für seinen Herrn Pfannkuchen aus und stahl sie für ihn, dem war das Essen auch an diesem Abend nicht genug, er stahl seinerseits, stellte sich dabei wieder ungeschickt an und wurde geschlagen. Nun?“

„Das ist dasselbe wie am ersten Tag, nur mit Pfannkuchen statt mit Lammkeule.“

„Gut erkannt. 

Am dritten Tag schlichen sich der Knecht und sein hungriger Herr zusammen in einen Pökelkeller. Der Herr hatte darauf bestanden, dass sie zusammen einbrechen. Beide schlugen sich den Bauch voll. Allerdings achtete der Knecht darauf, dass er noch durch das Loch passte, durch das sie beide hereingeschlüpft waren. Immer wieder ging er dorthin und vergewisserte sich, dass er noch fliehen konnte. Das fiel dem Herrn auf, und er fragte nach dem Grund. ‚Ich muss doch sehen, ob niemand kommt‘, bekam er zur Antwort. Der Herr fraß gierig immer weiter. Der Besitzer des Pökelkellers hatte den Lärm gehört, kam und schlug den dick gefressenen Herrn tot, während der Knecht sich mit einem Sprung durch das Loch rettete.

Nun?“

„Ich kann auch hier keine Lüge erkennen.“

„Die besten Lügen sind die, die nicht als Lügen wahrgenommen werden,“ sagt der Psychiater. 

„Dir ist also gar nichts an dieser Geschichte aufgefallen?“

„Doch, schon, wenn Du mich so fragst…“

Der Wolf denkt nach.

„Der Herr in Deiner Geschichte hat auch immer Hunger, genau wie ich. Und am Ende ist er tot. In den beiden Geschichten, die ich Dir erzählt habe, bin ich am Ende auch tot. Man hat mich aufgeschnitten und mir den Bauch mit Steinen gefüllt und mich ertränkt, als Strafe für meine Unersättlichkeit.

Bin ich wirklich tot und träume nur, dass ich bei Dir auf der Couch liege?“

„Du bist nicht wirklich. Du bist eine Phantasie, und Phantasien sterben nicht. Weil Du eine schreckliche Phantasie bist, haben die Menschen Dich ausgerottet, aber Du bist zurückgekommen, und jetzt brichst Du wieder in Schafställe ein.“

„Das denkst Du Dir aus.“

„Ich denke mir nichts aus. Ich bin Psychiater.“

„Wie heißt Du eigentlich?“

„Fuchs.“ 

Dezember 2023

Schnick- Schnack- Schnuck

Bärdel und Kulle

Der Morgenspaziergang von Bärdel und Kulle hatte eine lange Tradition. Manchmal wurden sie von anderen Bärenlebenern begleitet. Manchmal kam auch Athabaska mit ihnen mit, aber dann herrschten besondere Bedingungen. Das gemächliche Daherschreiten der beiden Männer fand Atti viel zu langweilig, andererseits mochte sie deren Gesellschaft gern. Deshalb hatte sie ein Spiel eingeführt.

Athabaska

Jeder von ihnen legte sich ein Thema zurecht, ein nicht unstrittiges Thema, über das man argumentieren konnte. Dann spielten sie ‚Schere, Stein, Papier‘ und legten so Gewinner und Verlierer des Tages fest. Das Thema des Siegers wurde als das wichtigste definiert, das alle drei Spaziergänger als solches betrachten und verteidigen mussten. Danach kam der zweite Gegenstand an die Reihe, der als solcher zu bewerten war, und der Verlierer schließlich präsentierte seinen Komplex als den unwichtigsten.

Athabaska hatte das Scherenzeichen gemacht und damit das ‚Papier‘ von Bärdel und Kulle auf die Plätze verwiesen.

Atti

Kulle konnte noch nie gut verlieren und fragte dementsprechend missgelaunt: „Also was ist dein Thema?“

„Gendern,“ antwortete Atti und grinste breit. Sie wusste genau, dass die Männer sich über dieses Thema lustig zu machen pflegten und ihm keine große Bedeutung beimaßen.

„Oh Gott!“ Bärdel konnte sich nicht beherrschen.

„Mitten ins Herz der Diskussion! Bärdel, treffsicher wie immer! Die Vorstellung Gottes als eines männlichen Wesens trägt seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden zur Diskriminierung der Frau bei. Mutter unser, die du bist im Himmel, und diese Mutter hat keinen Sohn mit einer Jungfrau gezeugt, sondern eine Tochter mit einem unschuldigen Mann … das setzt völlig neue Akzente. Wir sollten das Gottesbild der monotheistischen Religionen überdenken.“ Atti stürzte sich sofort mit Feuereifer auf ihr Thema.

„Wenn wir jenes höhere Wesen, das manche Menschen verehren, einer Geschlechtsumwandlung unterziehen, müssen wir wohl auch etliche als heilig angesehene Schriften umschreiben. Oder ist es wahrscheinlich, dass eine Göttin von den männlichen Mitgliedern ihres auserwählten Volkes verlangt, sich die Vorhaut abschneiden zu lassen?“ Kulle hatte Einwände.

„Warum nicht?“ entgegnete Atti. „Ohne das Teil lässt sich der Schwanz viel besser sauberhalten.“

„Unter dem Aspekt der Körperhygiene lässt sich die Circumspektion zweifellos rechtfertigen“, sagte Bärdel. „Unter dem Aspekt der Gendergerechtigkeit ist das Konzept einer Frauengottheit aber als viel zu undifferenziert abzulehnen. Wo bleibt ‚divers‘? Ist ‚divers‘ nicht tatsächlich die Kategorie, in der wir derdiedasetwas Göttlichendes denken sollten?“

„Bärdel hat etwas ganz Entscheidendes in die Diskussion eingebracht.“ Kulle stimmte zu, um gleich darauf neue Schwierigkeiten zu benennen: „ Aber auch damit werden wir der Vielfalt der Emanationen lebender bewußter Wesen noch nicht gerecht. Wie können wir die zahllosen Hautschattierungen, die zahlreichen kulturellen Hintergründe und sexuellen Orientierungen erfassen und im Denken und in der Sprache widerspiegeln? Und wie lässt sich das in der Vorstellung von einem göttlichen Seienden erfassen?“

Atti schlug eine Lösung vor: „Wir sind uns doch einig, dass wir die auf dieser Erde lebenden bewussten Wesen nicht über einen Kamm scheren dürfen, noch dürfen einzelne Gruppen bevorzugt oder benachteiligt werden. Also sind generalisierende Gottesvorstellungen abzulehnen. Jederjedejedes hat ein Recht auf sein-ihr persönliches Gottseiendes.“

„Das“, sagte Kulle, und es war die erste Äußerung seit Beginn der Diskussion, die ihm aus dem Herzen kam, „das ist ein hervorragender Vorschlag. Wir schaffen die  großen Kirchen mit ihrer Geldgier und ihrem Bevormundungsdrang ab. Ein Problem weniger. Und was das Denken und die Sprache angeht: Die Denk- und Sprachgemeinschaft wird es schon richten. Wie auch immer!“

„Danke für das schöne Schlusswort, Kulle! Ich habe euch genug mit meinem Thema gequält. Lasst uns jetzt den zweiten Sieger ermitteln!“

Kulles ‚Stein‘ siegte über Bärdels ‚Schere‘.

„Wir sprechen jetzt über Corona!“ verkündete der Gewinner.

„Ach ja, Corona,“ seufzte Bärdel. „Zweifellos ein wichtiges Thema, wenn auch kein prioritäres. Ein neues Virus generiert eine neue Pandemie, das ist so neu nicht. Die Aufregung darüber ist entschieden übertrieben. Man vergleiche nur die Mortalität aufgrund von Ebola und von Corona. Ein sanftes Säuseln ist die neue Krankheit, mehr nicht.“

„Also jetzt untertreibst du aber,“ empörte sich Athabaska. „Immerhin ächzt die Weltwirtschaft seit einem Jahr wegen wiederholter Lockdowns und unterbrochener Lieferketten. Kulturelle Ereignisse und die Gastronomie sind de facto abgeschafft. Schule und Universitäten sind ein Trümmerfeld. Die Liste ist verlängerbar.“

„Ich weiß wirklich nicht, was du willst. Die Menschen besinnen sich wieder auf das Wesentliche wie die Familie. Home-Schooling und Home-Office sind wirksame Mittel gegen die von Staat und Wirtschaft verordnete Beziehungslosigkeit in zu großen Klassen und Großraumbüros. Das ist doch prima!“ wehrte sich Bärdel.

Auch Kulle versuchte, die Dinge zurechtzurücken: „Ich sage nur China, China, China! Von wegen ächzende Weltwirtschaft. Xi Jinping mit seiner festen Hand hat gezeigt, wie man mit so einem neuen Winzling umgehen sollte. Das BIP der Volksrepublik steigt schon wieder kräftig, nicht zuletzt wegen der Zwangsarbeit, zu der man die widerspenstigen Uiguren anleitet.“

„Auf jeden Fall ist Corona geeignet, wichtige Genderthemen zuzukleistern, zumindest in Dehland. Andernorts wird thematisiert, dass POCs, Indigene und Arme häufiger Opfer der Krankheit werden als – meist weiße – Wohlhabende. Hier schweigt man das tot.“ Diese Feststellung war Athabaska wichtig.

„Irgendwie lustig ist die Sache aber auch. Ohne Corona hätten wir nie efahren, welche Spiele Bodo Ramelow auf dem Handy daddelt und wie viele ‚Ä‘ er aneinanderreihen kann. Wir wüssten nicht, dass Michael Kretschmer eigenhändig vor seinem Haus Schnee schippt. Und dass Armin Laschet sich als Architekt gibt, der Lockdown-Brücken konstruiert, ohne das Ufer zu sehen, zu dem sie führen sollen. Einblicke über Einblicke!“ kicherte Kulle.

„Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Pandemie besiegbar sein, früher oder später. Die menschliche Weltbevölkerung wird trotz Corona weiter wachsen. Selbst die Pest und die spanische Grippe haben es ja nicht geschafft, sie langfristig zu dezimieren. Und auch die angeblich größte Bedrohung der Gegenwart, die Klimakatastrophe, wird vorübergehen.“ Bärdel, der Verlierer, zeigte sich bereit, sein Thema in die Kategorie „Peanuts“ einordnen zu lassen.

„Klimakatastrophen hat es schon immer gegeben. Diese Erkenntnis ist auch bei der AfD angekommen, und dort ist man bekanntlich recht langsam im Kopf.“ Kulle artikulierte seine Bosheit mit Genuss.

Bärdel arbeitete weiter an der Zerstörung seines Themas. „Es ist vollkommen unsinnnig, sich vor dem Anstieg des Meeresspiegels zu fürchten. Das Wasser steigt seit dem Ende der Eiszeit. Clevere Tourismusmanager machen daraus Attraktionen: Das Mittelmeer vor Alexandria zum Beispiel ist ein Taucherparadies für Hobbyarchäologen. Man kann dort Unmengen altägyptischer Artefakte finden.“

„Das klingt verlockend,“meinte Atti. „Darauf hätte ich auch Lust. Da wir gerade beim Wasser sind: Es wird oft behauptet, wegen der Klimaveränderung werde das Trinkwasser knapp. Aber wenn der Meeresspiegel steigt, ist es doch sehr einfach, Meerwasser-Entsalzungsanlagen dort zu bauen, wo heute noch Binnenland ist. Und schon gibt es keinen Trinkwassermangel mehr!“

„Das ist eine gute Idee,“ lobte Kulle. „Das Ganze wird auch nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Will sagen: Der Temperaturanstieg wird niedriger ausfallen, als die Pessimisten prophezeihen. Schließlich bauen die Menschen jetzt massenweise Elektroautos. Und die fahren nicht mit fossilen Energien, wie man weiß, sondern mit Strom.“

„Und der Strom wird überall zu hundert Prozent aus Wasserkraft gewonnen, jedenfalls in Norwegen. Dort hat der Staat seine ökologisch akzeptable Wirtschaft übrigens mit den Einnahmen aus seinen reichhaltigen Öl- und Gasvorkommen finanziert. Das Zeug muss schließlich zu irgend etwas gut sein.“

„Ach, Männer,“ seufzte Atti, als sie wieder kurz vor Bärenleben waren. „Wäre es nicht schön, wenn sich jetzt vor uns Königspalmen im Wind wiegten anstatt der hässlichen Kiefern da vorne?“

„Du vergisst, dass unser Bärenpelz nicht sonderlich gut für subtropische Temperaturen taugt. Aber wer sich vorzugsweise mit dem Gendern beschäftigt, hat vielleicht keine Zeit für biologische Kenntnisse…“

Na, Nuk und Kulle

Schon bei ‚vorzugsweise‘ hatte Kulle zu rennen begonnen und gut daran getan. Athabasca war deutlich schneller als er und holte ihn ein, als er sich gerade in den Dorfteich rettete. Sie sprang ihm nach. Die drei Eisbären waren begeistert und beteiligten sich mit Wonne an der Balgerei.

April 2021

Identität

Die Bärenlebener hatten lange beraten, ob sie sich gegen das Corona-Virus impfen lassen wollten. Ihre Kontakte mit Menschen waren auf das geringstmögliche Maß reduziert, lagen aber nicht bei Null. Da gab es die regelmäßigen Nahrungsmittellieferungen durch den Rungis-Express und die Einkäufe für die Dorfbibliothek und ihre anspruchsvolle Technik. Nicht alles davon ließ sich online erledigen, manchmal zog Manfred es vor, im Apple-Store vorbeizuschauen. Auch war nicht klar, ob man Umgang mit Menschen brauchte, um sich Covid einzufangen. Wenn Gorillas und Katzen daran erkranken konnten, warum nicht auch andere Tiere?

Heute Abend in der Höhle wollten sie darüber abstimmen, und alle waren der Meinung, es handele sich lediglich um eine Formalität.

Alle, bis auf einen.

Bärdel leitete wie üblich die Versammlung, denn einer musste sie ja leiten, obwohl es in Bärenleben keine Hierarchie gab. 

„Wird eine Aussprache gewünscht?“

Niemand wünschte eine Aussprache.

„Dann können wir also abstimmen. Wer ist dafür, dass sich alle Bärenlebener so bald wie möglich gegen Covid 19 impfen lassen?“

Alle wollten die Sache schnell hinter sich bringen und hoben flugs eine Extremität, damit man danach zum gemütlichen Teil des Abends übergehen konnte. 

Kulle aber unterbrach den Vorgang: „Halt! So geht das nicht!“

„Das haben wir aber immer so gemacht,“ wandte Ramses irritiert ein.

„Das ist kein zureichender Grund!“ wies Kulle ihn scharf zurecht. 

„Stimmt,“ gab Ramses klelnlaut zu. „Aber was ist denn falsch am bisherigen Verfahren?“

Kulle stand auf und stellte sich selbstsicher auf seine kurzen Beine. Er konnte eines aufmerksamen Publikums gewiss sein.

„Ich sehe mich in der Bärenlebener Vollversammlung um. Ich sehe Braunbären und Eisbären, alte und junge, Heterosexuelle, LGTBQs. Ich sehe ein Schwein, einen Frosch und eine Eule.

Ich bin ein männlicher heterosexueller Braunbär und kann mich in männliche heterosexuelle Braunbären einfühlen. Meine Empathie versagt schon gegenüber Eisbären. Vielleicht empfindet Oyci, die 30 Kilometer weit riechen kann, den temporären Verlust ihres Geruchssinns als Folge einer Covid-Infektion durchaus als entlastend? Vielleicht empfindet Piggy, wenn sie an Covid erkrankt, ein sehr angenehmes Gefühl in ihrem Ringelschwänzchen und will deshalb sicher nicht geimpft werden? Vielleicht kann Minerva besser fliegen, wenn…“

„Mich lässt du mal gefälligst aus dem Spiel!“ Die Eule hatte ein ausgeglichenes Gemüt, aber jetzt war sie sichtlich verärgert. „Ich weiß nicht, Kulle, womit du denkst. Deinen Aussagen nach mit deiner biologischen Veranlagung. Ich dagegen empfehle den Kopf. Nicht nur deshalb, weil der Sage nach meine hellenische Namensschwester dem Kopf ihres Vaters Zeus entsprungen ist, sondern weil der Schädel der Sitz des Verstandes ist und, wenn man sich seines Verstandes zu bedienen versteht, der Sitz der Vernunft.

Die Bärenlebener haben bisher immer vernünftig abgestimmt, das solltest du besser wissen als ich, denn du lebst wesentlich länger hier. Nach dem Abwägen aller Vor- und Nachteile für die Gemeinschaft und jeden Einzelnen haben sich die Dorfmitglieder für oder gegen eine Maßnahme ausgesprochen, und zwar einstimmig, nach dem Rousseauschen Prinzip des Allgemeinwillens. Nach Rousseau darf der gesellschaftliche Wille kein anderer sein als der des natürlich freien Individuums; es muss eine Identität von Einzelwillen und Gemeinwillen bestehen. Mich wundert, dass du das vergessen hast.

Als Vogel bin ich weiter in der Welt herumgekommen als du auf deinen unbeholfenen Beinen. Ich habe Rousseaus Grabmal im Pantheon in Paris besucht. Weißt du, was da in Stein gemeißelt aus der Tür kommt? Eine Hand mit einer Fackel, und beides symbolisiert Rousseau, der der Welt die Fackel der Vernunft bringt. Dass die Menschen damit nicht umzugehen verstanden haben, kann man ihm nicht vorwerfen. Aber ich werfe dir vor, dass du hier einen biologistisch- identitären Rassismus propagierst, der einfach nur widerlich ist.“

Kulle hatte Mühe, die Contenance zu wahren, ließ sich das aber möglichst wenig anmerken. „Ist noch jemand Minervas Meinung?“ fragte er streng.

Kulles Stellung im Dorf war unangefochten. Alle achteten ihn als belesenen Wissenschaftler, der zwar manchmal verschroben war, dessen Aussagen aber auf soliden Kenntnissen beruhten. Es gehörte Mut dazu, ihm vor aller Augen und Ohren zu widersprechen.

Lange herrschte Schweigen. Niemand bewegte sich. Kulle bekam ein flaues Gefühl im Magen. Hatte er den Bogen überspannt?

Schließlich bahnten sich zwei weiße Pelzknäuel den Weg durch die Versammlung. Na zog ihre widerstrebende Zwillingsschwester Nuk hinter sich her und richtete sich vor Kulle auf. Sie war nur halb so groß wie er.

„Wir denken, Onkel Kulle,“ sagte sie laut und mit fester Stimme, „dass Tante Minerva  recht hat. Wir glauben, du willst uns auf den Arm nehmen. Wir haben nämlich gelesen, dass es unter vielen Menschen, die sich selbst für kritisch und fortschrittlich und korrekt halten, jetzt Mode ist, so komisch zu sein, wie du es uns vorgemacht hast. Aber du meinst das bestimmt nicht ernst.“

Kulle war fast zu Tränen gerührt und nahm die Eisbärenkinder nicht auf den Arm, sondern in den Arm.

Die Versammlung erwachte aus ihrer Erstarrung und atmete erleichtert auf.

Bärdel leitete zum zweiten Mal eine Abstimmung ein, diesmal erfolgreich mit einstimmigem Ergebnis: Alle würden sich impfen lassen.

Gesprächsstoff für den Rest des Abends gab es genug. Manch Bärenlebener ging dabei selbstkritisch in sich: Wie leicht war es doch, sich an der Nase herumführen zu lassen!

März 2021

Zusammenhänge

(Fast) Alles hängt mit allem zusammen

Die Bärenlebener hatten sich nach dem abendlichen Essen in der Höhle versammelt, sie waren satt, gut gelaunt und freuten sich auf unterhaltsame Stunden. Bärdel lehnte sich auf seinem Lieblingsplatz an die Wand und fragte in die Runde: „Worüber wollen wir heute reden?“

Bärdel

Er stellte diese Frage oft, und meist erhielt er zwei oder drei Antworten, von denen schnell eine als Gesprächsthema ausgewählt wurde. Heute aber war das anders.

„Über die Inakzeptanz von Massentierhaltung!“

„Über die Lage in Idlib!“

„Über den Wahlkampf in den USA!“

„Über die Klimakatastrophe!“

„Über die Zurückhaltung der Bärenmänner bei der Hausarbeit!“

„Über Konsumverzicht. Wir sollten die Lieferungen von Rungis abbestellen!“

„Über die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen!“

„Über die Personaldiskussion in der CDU!“

„Über den Brexit!“

„Über das Artensterben!“

„Über die AfD!“

„Über die Abholzung des Regenwaldes!“

„Über das Coronavirus!“

„Über die riesigen Brände in Australien!“

„Über die Heuschreckenplage in Afrika!“

„Über den wachsenden Nationalismus!“

„Über die sogenannten sozialen Medien!“

„Über China und die totale Kontrolle der Menschen!“

„Über vegane Ernährung!“

„Über die menschliche Bevölkerungsexplosion!“

Bärdel holte tief Luft. „Das ist ein bisschen viel für einen Abend, finde ich. Wenn ich richtig mitgezählt habe, habt Ihr zwanzig Themen vorgeschlagen. Wie sollen wir bei einem solchen Angebot eins auswählen? Ich gebe zu, ich bin ratlos.“

Kulle

Kulle war wie immer nicht um eine Antwort verlegen, aber zu aller Überraschung kam die sonst sehr zurückhaltende Athena ihm zuvor. Wie alle Eulen liebte sie Rätsel und Gesellschaftsspiele, und hier, fand sie, ließ sich beides miteinander vereinen.

Athena

„Die zwanzig Themen sind nicht zu viel für einen Abend, wenn wir ein Spiel daraus machen. Ein Wettspiel. Ziel ist es, Aussagen sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Also zum Beispiel: Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen hat die Personaldiskussion in der CDU befeuert. Das ist eine sinnvolle Aussage, und wer die formuliert, bekommt zwei Punkte, denn er hat zwei Themen miteinander richtig in Beziehung gesetzt. Wer dagegen sagt: ‚Die Abholzung des Regenwaldes führt zum Siegeszug des Coronavirus‘, bekommt keine Pluspunkte, vielleicht sogar Minuspunkte, darüber müssen wir uns einigen. Gewonnen hat, wer die meisten Themen sinnvoll miteinander verknüpft. Das ist mein Vorschlag!“

„Die sogenannten sozialen Medien befördern den wachsenden Nationalismus und damit den Aufstieg der AfD.“ Damit versuchte sich Tumu.

Tumu

„Sind wir uns eigentlich einig, welche Aussagen wir als richtig bewerten und welche als falsch?“ fragte Bärdel. „Darf man Thesen zurückweisen, in Frage stellen, bekräftigen? Gilt das Argument, der Beweis, der Mehrheitsentscheid oder die stillschweigende Akzeptanz?“

„Solange wir es nicht mit einer streitigen Entscheidung zu tun haben, können wir uns um diese Grundsatzfrage herumdrücken, finde ich. Mamas Aussage scheint mir richtig zu sein. Ist jemand anderer Meinung?“ Niemand widersprach Manfred. Der nickte zufrieden. „Dann führt Mama mit drei Punkten!“

Manfred

„Der Wahlkampf in den USA ignoriert die Klimakatastrophe, die Abholzung des Regenwaldes und das Artensterben!“ Ramses versuchte sich an einer Aussage mit vier Variablen.

Ramses

„Abgelehnt!“ quiekte Piggy. „Trump ignoriert das alles, aber er ist nicht der einzige Wahlkämpfer. Gibt es für Ramses jetzt Minuspunkte?“

Piggy

„Ich bin dagegen,“ sagten alle außer Athena wie aus einem Mund, und damit war das geklärt.

Ein alter Bär ganz frisch

„Die Zurückhaltung der Bärenmänner bei der Hausarbeit verhindert eine schnelle Ausbreitung des Coronavirus.“ Der sehr alte Bär sprach mit der für ihn typischen selbstgerechten Würde. Das Kichern und Lachen, das rund um ihn herum entstand, beeindruckte ihn überhaupt nicht.

 Auch Bärdel gluckste und und wahrte nur mit Mühe den Eindruck der Neutralität. „Deine Aussage überrascht uns, wie es aussieht. Du solltest sie begründen!“

Der Alte verzog indigniert das Gesicht, ließ sich aber huldvoll zu einer Erklärung herab. „Bärenmänner sind gegen Hausarbeit allergisch. Allergien führen zu allergischen Reaktionen. Eine sehr häufige allergische Reaktion ist das Niesen. Das Coronavirus wird durch Tröpfcheninfektion übertragen. Bärenmänner, die keine Hausarbeit verrichten, niesen nicht und übertragen das Virus dementsprechend nicht. Ist das so schwer nachzuvollziehen?“

Kulle und die heute stillen Eisbärenkinder

Kichern und Lachen waren verstummt. Selbst Kulle war von dieser Logik beeindruckt und verspürte keine Lust zu widersprechen. Ein nicht unwesentlicher Grund für seine Zurückhaltung war, dass auch er auf Hausarbeit durchaus gerne verzichtete. „Deine Aussage ist angemessen begründet. Wollen wir weiterspielen, oder erklären wir Tumu zur Siegerin und gehen schlafen?“

Noch einmal Piggy

„Ich würde gerne noch einen Versuch machen!“ kündigte Piggy an. „Wie es sich für ein Schwein gehört, wird es dabei ums Essen gehen. Also: Die Massentierhaltung von Säugetieren und Geflügel ist natürlich inakzeptabel, allerdings erfordert die menschliche Bevölkerungsexplosion ein breites Nahrungsmittelangebot, wenn man alle Individuen versorgen will, und eine rein vegane Ernährung ist zwar aktuell in Mode, ist aber langfristig zur Versorgung eines anspruchsvollen Gehirns nicht hinreichend. Nicht zufällig sind Bären und Schweine Allesfresser, aber das nur am Rande. Anstatt die Heuschreckenplage in Ostafrika dadurch zu bekämpfen, dass man die armen Insekten vorschnell tötet, sollte man sie lieber zum menschlichen Verzehr aufbereiten und so eine hochwertige Proteinquelle verfügbar machen. Das hilft zwar aktuell den Menschen in Idlib nicht, ist aber vielleicht langfristig eine Möglichkeit, Flüchtlinge besser zu ernähren als heute. Auch die Abholzung des Regenwaldes könnte so gestoppt oder zumindest verlangsamt werden, denn die Nachfrage nach Soja als Tierfutter oder nach Steaks würde zurückgehen. Auch angesichts des Brexits könnte Heuschreckennahrung hilfreich sein, denn im Vereinigten Königreich wird John Doe sich bald kein traditionelles Fleisch mehr leisten können. Und jetzt geht mir die Puste aus, denn das Heuschrecken als Mittel gegen die Kommunistische Partei Chinas taugen, glaube ich nicht.“

Beifall erhob sich. Piggy hatte eine Meisterleistung vollbracht, die alle anerkannten.

Bärdel suchte nach einem geeigneten Schlusswort. „Welche Eurer Themenvorschläge sind eigentlich unberücksichtigt geblieben?“

„Die Lieferungen von Rungis im Zusammenhang mit der Forderung nach Konsumverzicht und die Brände in Australien,“ sagte Athena. „Die Buschbrände haben natürlich mit der Klimaänderung zu tun, und was unsere Ernährung angeht, so könntet Ihr vielleicht anregen, Heuschrecken in das Lieferprogramm aufzunehmen. Und jetzt entschuldigt mich: Meine Nachtschicht fängt an. Ich werde Mäuse bevorzugen.“

Lautlos flog die Eule davon.

Februar 2020