Brummbär

Bärdel

Die klandestine Zeitung für alle europäischen Bären erscheint monatlich in französischer, baskischer, spanischer, serbischer, kroatischer, mazedonischer, litauischer, estnischer, lettischer, russischer, polnischer, ukrainischer und seit heute auch wieder in deutscher Sprache

Ausgabe März 2005

Interview mit Bärdel

Brummbär: Bärdel, seit wann bist du wieder in Dehland?
Bärdel: Seit ein paar Stunden.
Brummbär: Warum bist du zurückgekommen?
Bärdel: Es ist mir nicht leicht gefallen. Meine Familie ist noch drüben in den USA. Die ganze Sippe auch. Ich konnte sie noch nicht mitbringen. Es war Glück, dass ich mich als Bärenschinken getarnt in ein Frachtflugzeug einschmuggeln konnte. Eigentlich mehr als Glück, eher ein Wunder, wenn man bedenkt, wie die Sicherheitsvorkehrungen seit 9/11 verschärft worden sind.
Brummbär: Sehr interessant, Bärdel, aber du hast unsere Frage nicht beantwortet.
Bärdel: Entschuldigung. Was war die Frage?
Brummbär: Warum bist du zurückgekommen?
Bärdel: Wohin?
Brummbär: Nach Dehland natürlich.
Bärdel: Natürlich finde ich das keineswegs. Ich bin mir auch immer noch nicht sicher, ob ich das Richtige getan habe.
Brummbär: Bärdel, bist du müde?
Bärdel: Ja, schrecklich!
Brummbär: Dann musst du gleich schlafen. Aber erzähl uns doch bitte vorher die Geschichte der letzten Tage…
Bärdel: Gerne. Aber es geht nicht nur um die Geschichte der letzten Tage, sondern um die vergangenen Wochen und Monate. Es gelang uns nicht mehr, uns zu tarnen. Ihr habt doch bestimmt auch hier vom Patriot Act gehört, oder? Nein? Also, der so genannte Patriot Act ist eine hervorragende Idee der Bush-Regierung, die Bürger zu bespitzeln und die Meinungsfreiheit drastisch einzuschränken. Buchhandlungen müssen melden, wer welche Bücher gekauft hat, Bibliotheken müssen Auskunft darüber geben, wer sich was ausleiht. Das ist uns zum Verhängnis geworden. Kulle mit seinem Hang zu revolutionären politischen Theorien und Manfred, der vor allem technische Literatur liest, waren in der Public Library und im Buchladen im kleinen friedlichen Moab zu auffällig. Außerdem muss Manfred zu sorglos mit seinen zahllosen Kreditkarten umgegangen sein, die er sich auf Wegen besorgt, die ich nie recht durchschaut habe. Nein, das Letzte ist gestrichen. Das dürft ihr nicht drucken. Jedenfalls sind wir aufgefallen. Die Moab Times, das lokale Wochenblatt, munkelte von dunklen Umtrieben und einer Verschwörung von marxistisch motivierten Bombenbastlern. Darüber konnten wir noch lachen. Aber dann stand im Canyon Country Zephyr, die Attentäter oder Putschisten hätten sich bestimmt in den Bergen versteckt. Das Blatt ist eigentlich progressiv und dem Naturschutz verpflichtet, der Artikel war ironisch gemeint, aber die braven Mormonen und vor allem der Sheriff von Grand County haben alles für bare Münze genommen. Der Sheriff hat die Geheimdienste alarmiert. Ich weiß nicht, welche von den 15, wahrscheinlich alle, denn seit einiger Zeit wimmeln die LaSals von Menschen, die behaupten, Touristen zu sein, aber erkennbar keine sind. Wir sind nicht mehr sicher. Deshalb werden wir alle zurückkommen. Ich bin deshalb hier, weil ich ein neues Quartier für uns finden soll.
Brummbär: Das tut uns leid, Bärdel. Aber zwei Dinge haben wir nicht verstanden: Wie wollt ihr alle zurückkommen, wenn du allein es nur unter Lebensgefahr geschafft hast? Und warum geht ihr nicht nach Bärenleben zurück?
Bärdel: Was den Transport angeht, so haben wir in dieser Beziehung spezielle Kontakte, die ich gefährden würde, wenn ich hier darüber Auskunft gäbe. Entschuldigung, ich bin wirklich entsetzlich müde. Was war die zweite Frage?
Brummbär: Warum geht ihr nicht nach Bärenleben zurück?
Bärdel: Ja, warum eigentlich nicht? Nun – – – also, die Vollversammlung hat beschlossen, dass wir – – – das wir etwas Neues ausprobieren wollen. Eine Neuorientierung gewissermaßen – – nach Osten. Die Erweiterung der Europäischen Union im Mai 2004 war schließlich de facto eine Osterweiterung, und auch wir Bären sollten…
Brummbär: Bärdel, wir unterbrechen dich äußerst ungern und wir sind auch ungern unhöflich, aber wir haben das Gefühl, dass du uns nicht die Wahrheit sagst.
Bärdel: Ich bin auch nicht gerne unhöflich, aber Journalisten sollten sich auf ihren Verstand verlassen und nicht auf ihr Gefühl!
Brummbär: Nun ja, aber trotzdem…
Bärdel: Manchmal allerdings zeigen Gefühle den richtigen Weg… Ihr erinnert euch vielleicht, dass ich vor einigen Jahren vielen armen Menschen mit ziemlich viel Geld aus der Patsche geholfen habe. Die Aktion lief zwar anonym, aber das dehländische Finanzamt hat trotzdem einen sehr unangenehmen Steuerbescheid nach Bärenleben geschickt. Kurz und gut, wir müssen uns eine andere Bleibe suchen und werden das auch tun. Wir haben an Meckpomm gedacht.
Brummbär: Mac Pom?
Bärdel: Nein, nicht Mac Pom, Meckpomm! Mecklenburg-Vorpommern! Viele Wälder, Seen mit leckeren Fischen und immer weniger Menschen. Dort werden wir unsere Ruhe haben. Ich werde das entsprechende Fleckchen für uns finden, und dann sage ich Tussi – – – äh, unserem Transportkontakt Bescheid, und dann siedeln wir uns dort an. Und jetzt muss ich ins Bett. Ich habe schon genug unvorsichtige Bemerkungen gemacht.
Brummbär: Schlaf schön. Und vielen Dank für das Gespräch.

“Bärdel“, fragte der Journalist, autorisierst du das Interview, abgesehen von der Sache mit Manfreds Kreditkartenbeschaffung, versteht sich?“
Bärdel wackelte mit seinem dicken Kopf. Auf einmal war er hellwach. Er erinnerte sich an manche intensive Diskussion mit Kulle. Und weil er dessen Argumente zum Teil übernahm, formulierte er auch wie Kulle, ohne es zu merken.
“Nein“, sagte er. Ich muss erst mal nachdenken. Denken kann ich am besten laut, ich hoffe, du verzeihst mir das. Also – in welchem Zustand ist Dehland? Verglichen mit den Zuständen in den republikanischen Staaten der USA genießen die Dehländer die Freiheit einer großen persönlichen Lebensgestaltung. Aber falsch – sie genießen diese Freiheit nicht. Stattdessen verlangen sie nach gesetzlichen Regelungen für private Lebensentwürfe – ich sage nur Schwulenehe und Antidiskriminierungsgesetz. Wahrscheinlich vertragen die Dehländer die Freiheit nicht. So rufen sie wie früher nach Vater Staat, der es regeln soll – diesmal aber nicht die öffentlichen Angelegenheiten, sondern die privaten. Es gibt nur einen Bereich, in dem die meisten Zeter und Mordio schrien, würde er angetastet: die Freiheit des Habens. Der Staat, momentan in Gestalt des sozialdemokratischen Innenministers Schily, kommt diesem Verunsicherungs- und Sicherheitsbedürfnis zur zu gern nach und zuvor und bietet Hilfe an: Mit einer DNA-Analyse findet mach Verbrecher – warum also nicht gleich das Erbgut aller katalogisieren? Warum sollen die Banken nicht den Blick in die Konten ihrer Kunden ermöglichen, um Steuersünder zu fangen? Warum nicht alle Telefone überwachen, alle Emails überprüfen, alle öffentlichen Plätze mit Kameras überwachen? Biometrische Ausweise – Wunderdinge, die Sicherheit bieten. Sie bieten mehr als das – geschickt genutzt, produzieren sie ein lückenloses Bewegungsprofil.
Wenn ich mir das so genau überlege, ist Dehland auch nicht viel besser als die USA.“
“Heißt das“, fragte der Journalist enttäuscht, “dass wir das Interview noch zurückhalten müssen?“
“Ich fürchte, das heißt es!“ seufzte Bärdel. “Ich bin noch unentschlossen, was wir tun werden. Ich muss mich in Europa erst mal umsehen. Aber wenn du im “Brummbär“ jetzt eine unvorhergesehene Lücke füllen musst, dann habe ich etwas für dich.“
“Durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates leidet die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter. Wer oft und viel geleitet wird, kommt oft dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt (…) Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherheit gegen sich selber und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; und zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit.“
(Bärdel bittet „Die Zeit“ um Verzeihung, dass er sich ihrer Ausgabe 10/2005 schöpferisch bedient hat.)

“Das ist aber ein bisschen komisch und auch ein bisschen kurz“, meinte der Journalist enttäuscht.
“Ich hoffe, du meinst mit ‚komisch‘ nicht den Inhalt“, erwiderte Bärdel. “Vielleicht ist die Sprache ein wenig ungewöhnlich. Der Text ist schon älter, er stammt von Wilhelm von Humboldt aus dem Jahre 1851. Und was die Kürze angeht – nehmt einfach eine große Schrifttype. Diesen Text kann man gar nicht groß genug drucken!“

Bärdel

Beschluss

La Sals

 

Noch kämpfte der Frühling in den LaSals mit dem Winter, aber sein Sieg zeichnete sich bereits deutlich ab. Der Sturm wehte noch ab und zu Schneefahnen von den höchsten Bergen wie schon seit Monaten, aber weiter unten an den Hängen, wo die Bären ihre Höhle hatten, taute es schon gewaltig. Im Windschatten konnte es sogar gemütlich warm sein, und wenn man dort eine kleine Erhebung fand, konnte man sich sogar niederlassen, ohne einen nassen Hintern zu bekommen.
Genau das hatten Bärdel und Tumu getan.

Bärdel

Sie saßen in einer kleinen, von Büschen umgebenen Lichtung, die vor spätem Frost und Wind recht gut geschützt war. Lange Zeit sagten sie gar nichts und genossen die Sonne, die ihren Pelz wärmte, meist mit geschlossenen Augen. Nur ab und zu blinzelten sie und beobachteten die Knospen der winzigen Frühlingsblumen, die sich tapfer in die Höhe zu recken begannen. Endlich brach Tumu das Schweigen.
“Sag mal, mein lieber Mann – “
Bärdel brummte unwillig. Es stimmte doch, dass Frauen immer reden mussten. Dabei war er gerade sicher gewesen, dass sich ein ganz früher Kolibri in ihre Nähe verirrt hatte. Er hatte das tiefe Brummen einer riesigen fliegenden Hummel ganz deutlich gehört. Jetzt hatte Tumu ihn verscheucht. Aber er war ein höflicher Bär und besann sich schnell auf seine Manieren.
“Ja? Was soll ich sagen? Dass ich dich liebe? Aber das weißt du doch!“
Tumu knuffte ihn, halb scherzhaft und halb ungehalten, in die Seite.
“Das kannst du mir nicht oft genug sagen. Aber jetzt geht es mir um etwas anderes. Bleiben wir nun hier, oder gehen wir zurück?“
Bärdel brummte jetzt nicht mehr, er seufzte. Die Frage war ihm unangenehm, weil er noch immer keine Antwort darauf gefunden hatte. War es wirklich von Bedeutung, ob sie mit Tussis Hilfe nach Dehland zurückkehrten oder ob sie in den Bergen Utahs blieben? Hier wie dort lebten sie als versteckte Gruppe, aber einen Unterschied gab es doch: In Dehland hatten sie sich immer wieder in die Politik eingemischt, während sie hier passiv geblieben waren und sich nur vor den Menschen verborgen hatten. Das erste war ihm lieber gewesen. Aber hatte nicht gerade ihre Einmischung letztlich dazu geführt, dass sie fliehen mussten?
“Ich weiß…“ begann er sehr zögernd.
Tumu räusperte sich und brachte ihn so dazu, sie anzuschauen. Ohne den Kopf zu bewegen, gab sie ihm mit den Augen einen Wink. Er folgte der angedeuteten Blickrichtung und erspähte zwischen den zwar immergrünen, aber jetzt nur spärlich belaubten Eichenbüschen eine bekannte Schnauze. Das war ja wohl die Höhe! Kulle belauschte sie! Bärdel war wirklich nicht rachsüchtig, aber er fand, dass sein bester Freund jetzt eine gehörige Lektion verdient hatte.

Kulle

Alte Ehepaare, und Tumu und Bärdel waren ein altes Ehepaar, entwickeln oft eine überraschende geistige Symbiose. Bärdel brauchte nur zu lächeln, und Tumu verstand sofort, dass er etwas vorhatte. Sie wusste allerdings noch nicht, was.
Als wäre nichts geschehen, fing Bärdel seinen Satz von neuem an.
“Ich weiß nicht. Es ist doch letztlich egal, was wir machen. Die Welt funktioniert heutzutage nach dem Gesetz der Globalisierung. Die großen Konzerne bestimmen, wo es lang geht, und dagegen ist die Politik machtlos. Demokratie und Selbstbestimmung – alles Ideen von gestern. Die Wirtschaft ist unser Schicksal, und dagegen können weder Menschen noch Bären etwas tun.“
Es raschelte in den Büschen. Bärdel schmunzelte. Der erste Schuss hatte getroffen. Auch Tumu hatte das Geräusch gehört, aber noch war ihr nicht nach Lachen zumute. Sie wusste nicht, welche Rolle ihr Bärdel in diesem Disput zugewiesen hatte.
“Und?“ fragte sie deshalb.
“Man muss die Welt nehmen, wie sie ist. Das ist eben Schicksal. Gegen das Schicksal kann man nichts machen, außer sich heroisch anzupassen. Heroisch, verstehst du? Aber Heroismus kennt ihr Frauen ja nicht!“
Jetzt hatte Tumu begriffen.
“Mit dem Schicksal hast du sicher Recht. Aber was soll die Sache mit der Anpassung? Warum passen sich die Menschen denn heutzutage an? Sie arbeiten sich tot und haben doch keine Perspektive. Sie steigern den Umsatz, aber sie selbst sind voller Angst. Überhaupt – der ganze Fortschritt ist Unsinn!“
“Wieso?“ fragte Bärdel mit gespielter Unschuld.
“ Weil der Fortschritt nur Schaden anrichtet, deshalb! Was haben die Menschen denn zum Beispiel von der sogenannten Mobilität? Sie wohnen entfernt von ihrem Arbeitsplatz, wenn sie noch einen haben, und auf dem Weg dahin stehen sie im Stau!“
Bärdel lächelte milde.
“Eben hast du noch zugegeben, dass die Welt sich schicksalhaft entwickelt. Zum Schicksal gibt es keine Alternative. Wieso kannst du eine alternativlose Entwicklung kritisieren?“
Tumu fand es nicht fair, dass Bärdel sie in einem Schaukampf in die Enge trieb, aber sicher wollte er, dass ihr Scheingefecht möglichst echt aussah. Das sah sie auch ein – Kulle war alles andere als dumm. Sie wehrte sich tapfer.
“Ich versuche eben zu retten, was zu retten ist. Literatur und Kunst zum Beispiel. Traditionelle Literatur, nicht etwa diese Machwerke von der Streeruwitz. Und traditionelle Kunst, bei der im Theater Hamlet noch Prinz von Dänemark ist und nicht irgendein verzweifelter Jungmanager. Bei Jungmanagern geht es doch nur um Geld, bei Hamlet geht es um Höheres.“
Bärdel ahnte, dass er Tumu jetzt in heillose Verstrickungen treiben würde, wenn er nachfragte. Nach welchem “Höheren“ strebte Hamlet denn? Nach der Liebe? Der Familienehre? Der Macht? Der gekränkten Eitelkeit? Er ließ das Thema lieber fallen.
“Das ist doch Schnee von vorgestern. Wen interessiert das heute noch? Du musst auch das Positive sehen. Was war denn gestern und nicht vorgestern? Nicht dein Hamlet, sondern Hedonismus. Spaßgesellschaft nannte sich das und war doch nichts anderes als Oberflächlichkeit. Garantiert wurde alles durch den Sozialstaat. Übrigens, ich finde diesen sogenannten “Rheinischen Kapitalismus“ widerlich. Aller berechtigte Streit wurde “einvernehmlich“ beigelegt. Welcher Schwindel! Unvereinbare Widersprüche sind nicht “einvernehmlich“ lösbar. Und erst die soziale Hängematte! Die Sozialschmarotzer haben sich darin gesuhlt, anstatt die natürliche Härte des Daseins zu spüren zu bekommen. Du musst vernünftig denken, Tumu!“
In den Büschen ertönte ein lauter Seufzer, aber sowohl Bärdel als auch Tumu gaben vor, ihn zu ignorieren.
“Willst du etwa an die Vernunft appellieren? Die Vernunft des Kapitalismus? Die männliche Vernunft? Aufklärung und Vernunft – das sind doch nur Chimären. Technische “Vernunft“ hat 1912 erklärt, dass die Titanic unsinkbar sei. Eure sogenannte Vernunft hat das Schiff mit dem Eisberg kollidieren lassen. Vernunft ist der falsche Weg. Gefühl, Bärdel, ist alles, und alles andere ist Schall und Rauch!“
Tumu hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, aber es gelang ihr. Bärdel verzog leicht die Mundwinkel – seine Frau war wirklich überzeugend, gerade als Frau, wie es dem Klischee entsprach, fand er. In den Büschen war deutlich ein verhaltenes Zähneknirschen zu hören.
Bärdel nahm sich zusammen. Jetzt war er wieder dran.
“Wie melancholisch, wie anachronistisch! Weibliches Sentiment! Das Leben, meine Liebe, ist Kampf, und jetzt gerade erlebt die Menschheit das wahre, wirkliche Leben, tragisch wie in der Antike. Du lebst doch jetzt schon lange genug in den USA, um zu wissen, wie das aussieht. Wie das aussehen muss! Keine Kranken-, keine Sozialversicherung, Dumpinglöhne – so ist es richtig. Menschliches Leben ist Kampf ums Dasein! Und da es Schicksal ist, kann niemand etwas daran ändern!“
“Natürlich muss das sein, aber es muss nicht so sein. In der globalisierten Zukunft droht allen nur Zwang und Unfreiheit, daran können wir nichts andern. Aber…“
In den Büschen raschelte es, rauschte es, Zweige knackten, und Kulle brach ungestüm hervor. Er erklärte weder sein Erscheinen, noch entschuldigte er es. Er schien sich zur rechten Zeit am rechten Platz zu fühlen.

Kulle

“Unsinn, die Globalisierung ist kein Schicksal. Sie ist von Menschen gemacht.“ knurrte er. Und feierlich fuhr er fort:
“ In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse…“
Bärdel und Tumu fielen ein:
“…die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt…“
Kulle hatte den Chor mit einem Finger dirigiert und signalisierte jetzt den Abbruch.
“Im Text wird jetzt weiter erklärt, wann und warum die Revolution fällig ist, aber wem sage ich das. Ich gebe zu: Ihr habt mich ertappt. Eigentlich wollte ich euch nicht belauschen, aber ich war doch versucht herauszufinden, welche Tendenz ihr in Sachen Rückkehr oder Bleiben verfolgt. Darüber habe ich leider nichts erfahren. Euer Gespräch hat mich übrigens heftig auf die Bärenpalme gebracht. Das kann doch nicht euer Ernst sein…“
“Nein?“ fragte Tumu.
“Wirklich nicht?“ wollte Bärdel wissen.
“Nein, denn ich weiß doch, dass ihr Bären seid, die…“
“..dass wir Bären sind, die wenigstens wichtige Teile des Vorworts zur politischen Ökonomie von Karl Marx auswendig können, und das nicht, weil wir gerne auswendig lernen, sondern weil wir diese Aussagen für wichtig und richtig halten – richtig?“
“Ja.“
“Also – war das unser Ernst?“
“Nein. “ (Die skizzierten Positionen sind wirklich nicht die von Bärdel und Tumu, wohl aber die mancher europäischer Philosophen (und solcher, die es gern sein möchten))
Also – gehen wir zurück?“
Kulle dachte eine Moment lang nach. Dann sagte er:
“Selbstverständlich. Wir gehen dahin, wo wir uns einmischen können. Als selbstbewusste Bären können wir gar nicht anders. Ich gehe schon mal meine rote Fahne suchen.“
Kulle stapfte davon. Im Gehen murmelte er vor sich hin:
“Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“
Tumu und Bärdel lächelten einander an.
“Das war jetzt aber kein Scherz mehr, oder?“ fragte Tumu sicherheitshalber.
“Nein, meine Position ist klar. Ich gehe und berufe die Bärenversammlung ein. Ich denke, alle werden sich für die Rückreise aussprechen.“
Tumu blieb allein auf der Lichtung zurück und schaute wehmütig in die Ferne. Es war Zeit, Abschied zu nehmen.

LaSals

Tierische Beziehungen

Kolibri

In ihrer neuen Heimat waren die Bären mindestens genauso neugierig wie in Dehland, und am neugierigsten sind Bären auf neue Zeitgenossen. Deshalb war Bärdel freudig erregt, als er auf einem seiner Streifzüge jemandem begegnete, den er noch nicht kannte. Vorher war er eine Bergwiese hinuntergetrabt, hatte ein wenig herumgetrödelt, den Kolibris beim Nektarsaugen zugesehen und ein paar Serviceberries genascht. Nach seinen ersten Beobachtungen handelte es sich bei dem Fremdling vermutlich um ein Säugetier. Es war deutlich kleiner als ein Bär und bewegte sich auf vier Extremitäten voran. Sein Fell war dunkelgrau bis weiß, und auffällig war der breite, lange und buschige Schwanz. Als Bärdel sich dem Fremden näherte, hob der den Schwanz lotrecht in die Höhe und wandte ihm das Hinterteil zu, wobei er über die Schulter schaute und jede Bewegung Bärdels aufmerksam verfolgte.

Skunk

Das war ein Begrüßungsritual, dem Bärdel bisher noch nie begegnet war. Recht elegant sah es aus, fand er, und deshalb versuchte er seinerseits, seine Annäherung so ästhetisch wie möglich zu gestalten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, verbeugte sich, setzte, wie es Vorschrift war, immer abwechselnd den rechten und den linken Fuß drei beziehungsweise viermal nach hinten und drehte sich anschließend einmal um sich selbst. Diese komplizierte Bewegung war seit undenklichen Zeiten das Bärenzeichen für: „Ich komme als Freund!“ Selbstverständlich wußte Bärdel, daß eben jenes friedenbringende harmonische Schwingen seine Vorfahren in Europa jahrhundertelang zu Tanzbären degradiert hatte, weil die Menschen zu dumm waren, um speziell die Begrüßungsgeste der Bären und allgemein Bären überhaupt zu verstehen. Aber das bereitete ihm jetzt keine Probleme. Hier, in Amerika, dachte er, würde er schon richtig verstanden werden.

„Guten Tag!“ sagte er. „Ich bin Bärdel. Nett, dich zu treffen!“

„SSSSSSS“, sagte der Fremde.

Bärdel dachte nach. Er hatte sich nach Kräften bemüht, so schnell wie möglich die Sprache des fremden Landes zu lernen, und inzwischen hatte er normalerweise auch keine Probleme mehr mit der Verständigung. Jetzt aber verstand er gar nichts. Ramses hatte ihm erzählt, daß in den USA viele Dia-, Sozio- und sonstige -Lekte gesprochen werden, die zum Teil wie fremde Sprachen erscheinen. Bärdel nahm an, daß er es mit einer solchen Subsprache zu tun zu hatte.

„SSS – den Namen habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch neu hier.“ Er überlegte, ob er nochmals sagen sollte, daß er Bärdel war, aber er beschloß, darauf zu verzichten. Die einmalige Erwähnung sollte eigentlich für intelligente Wesen ausreichen.

„ISSSOFFF!“

Jetzt,als Bärdel genauer hinhörte, unterschied er zwei Vokale und zwei Konsonanten, aber er brauchte geraume Zeit, um einen Sinn in die Aussage zu bringen. Endlich aber wurde ihm klar: Der graue Fremde wolte, daß er verschwand.

Bärdel setzte sich auf seinen dicken Hintern und dachte weiter nach. Der Fremde stand unverändert, den Schwanz hoch erhoben. Beide sahen einander erwartungsvoll an.

„Warum möchtest du, daß ich weggehe? Bevor du überhaupt weißt, wer ich bin?“ fragte Bärdel schließlich. „Ganz abgesehen davon, daß ich auch nicht weiß, wer du bist.“

„Ssssicherheit!“ zischte der Fremde.

Jetzt hatte Bärdel sofort verstanden. „Damit hast du zweifellos recht“, antwortete er und machte nach diesem kurzen Satz eine effektvolle Pause. „Aber auch wieder nicht!“ fügte er danach hinzu, als sei diese widersprüchliche Aussage das Selbstverständlichste der Welt.

„Ssssoldasssheissssen?“

Athabasca

„Wenn du alle wegschickst, die zu dir kommen, kann dir niemand gefährlich werden. Aber wenn du niemandem gestattest, dir nahe zu kommen, dann kann dir auch keiner helfen, wenn du Hilfe brauchst. Dann bist du nicht sicher.“

„Ssssstimmt.“

Da der Graue einsilbig blieb, kam Bärdel auf die Idee, ihm eine Geschichte zu erzählen. Das gehört, wie wir wissen, ohnehin zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

„Kennst du Athabasca? Nein? Athabasca ist eine Bärin, die schon lange hier in den LaSals lebt, während ich erst vor kurzem angekommen bin. Aber das kann ich ein andermal erzählen. Von Athabasca kenne ich eine Story der Ute-Indianer. Sie heißt Kröte und Frosch‘ und ist mir auch deshalb besonders sympathisch, weil eine Fröschin darin vorkommt. Aber auch das sollte ich besser später mal erklären. Willst du die Geschichte hören?“

Der Fremde ließ weder eine zustimmende noch eine ablehnende Reaktion erkennen, und so fing Bärdel einfach an.

„Die Kröte hatte Kinder. Die Fröschin kam, um sie zu besuchen. Sie sagte: ‘Ihr werdet ertrinken. Das Wasser wird steigen und euch ersäufen.‘ Kröte dachte darüber nach und sagte dann: ‘Wir ziehen besser um.‘ Sie wanderten hoch auf den Hügel. Es begann zu regnen, es regnete und regnete. Das Wasser stieg hoch. Oben auf dem Hügel gab es einen Teich. Fröschin saß an seinem Ufer. Die kleinen Kröten sagten zu ihr: ‘Wenn das Wasser zurückgeht, wirst du austrocknen und deine Beine in die Luft strecken.‘

Baerdel

Die Kröte ging fort. Als sie nach einiger Zeit zurückkam, lag die Fröschin leblos da, genau so, wie die Kinder es vorausgesagt hatten. Kröte ging zu ihr und spuckte ihr auf die Brust, was ihr Erfischung brachte. Sie öffnete die Augen und sagte: ‘Ich habe geschlafen.‘ So wurde sie ins Leben zurückgebracht.“

Bärdel war fertig und schaute den Unbekannten erwartungsvoll an.

„Gesssschichten erzzzzählen kann ich auch!“, zischte der, und er trat ohne Zögern den Beweis dafür an.

„Eine Gessssellschaft Ssssstachelsssschweine drängte sssich an einem kalten Wintertage recht nahe zussssammen, um durch die gegenssseitige Wärme sssich vor dem Erfrieren zzzu ssschützzzen. Jedoch bald empfanden ssssie die gegenssseitigen Ssstacheln; welchesss sssie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun dasss Bedürfnisss der Erwärmung sssie wieder näher zzzusssammenbrachte, wiederholte sssich jenesss zzzweite Übel, so daßßß sssie zzzwissschen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bisss sssie eine mäßßßige Entfernung voneinander herausssgefunden hatten, in der sssie esss am besssten aussshalten konnten. -“

Die zahllosen Zischlaute bereiteten Bärdel erhebliche Mühe, aber er verstand die Geschichte wohl, und darüber hinaus meinte er, sie schon einmal gehört zu haben. Aber wo nur?

„Na also!“ rief er, „das bestätigt mich doch, oder? Auch Stachelschweine brauchen Wärme und Gesellschaft, sie haben nur Probleme, diese Bedürfnisse zu befriedigen!“

Aber der Freme winkte nur herablassend ab und sprach weiter.

„Ssso treibt dasss Bedürfnisss der Gesssellschaft, ausss der Leere und Monotonie desss eignen Innnern entsssprungen, die Menssschen – und anssscheinend auch die Bären, Frösssche und Kröten – zzzueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenssssschaften und unerträglichen Fehler ssstoßßßen sssie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sssie endlich herausssfinden und bei welcher ein Beisssammensssein bessstehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sssitte. Dem, der sssich nicht in diessser Entfernung hält, ruft man in England zzzu: Keep your dissstanccce. – Vermöge derssselben wird zzzwar dasss Bedürfnisss gegenssseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Ssstich der Ssstacheln nicht empfunden. -“

„Hm“, ich könnte ja jetzt beleidigt sein, weil du mir innere Leere unterstellst, aber immerhin gibst du doch zu, daß wir alle Gesellschaft brauchen und…“

Der Graue unterbrach ihn mit einer gebieterischen Bewegung seines unverändert hoch erhobenen Schwanzes.

“ Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber ausss der Gesssellssschaft weg, um keine Bessschwerde zu geben noch zzzu empfangen.“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, gab er seine drohende Haltung auf und verschwand blitzschnell im nächsten Graben.

Bärdel schüttelte den Kopf. Das war aber ein merkwürdiger Einzelgänger! Nach dem anstrengenden Gespräch mit ihm hatte er das dringende Bedürfnis, nach Hause zu gehen und Tumu und allen anderen davon zu erzählen. Am schnellsten aber wollte er mit Kulle sprechen, denn ihm selbst fiel einfach nicht ein, wessen Gedanken der Fremde gerade zitiert hatte. Sein gebildeter Freund würde das selbstverständlich wissen. Und sie beide würden sich lange über Nähe und Distanz von Bären unterhalten können – ganz ohne Beschwerde.

Er erhob sich voller Vorfreude und trabte auf den Berg zu, in dem sich ihre Höhle befand.

Stachelschwein

Hello, Mr. President

Sehr geehrter Herr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,
Mr. George W. Bush jr.,

ich bin eine Mutter in den USA, die sich um ihre Kinder sorgt. Wahrscheinlich bekommen Sie in diesen Tage viele Briefe von vielen Müttern, denen es wegen ihrer Kinder bange ums Herz ist. Ich sehe im Fernsehen, dass Sie entschlossen sind, die Achse des Bösen zu besiegen. Das will ich natürlich auch. Aber dabei verstehe ich nicht recht, dass diese Achse seit kurzer Zeit nicht mehr aus drei Staaten bestehen soll, sondern nur noch aus einem. Eigentlich, wenn ich die Nachrichten richtig begreife, auch nicht mehr wirklich aus einem Staat, sondern aus einem einzelnen Mann. Ich finde, nebenbei gesagt, dass das ein merkwürdiger Begriff von einer Achse ist. Verzeihen Sie, ich bin eben nur eine dumme Frau.
Athabaska
Jedenfalls wollen Sie diesen Mann besiegen und absetzen. Weil er versucht hat, ihren Vater zu töten, wie Sie sagen. Ich bin, wie gesagt, eine Mutter, ich bin also schon etwas älter. Ich habe vor zwölf Jahren, als Ihr Vater Präsident war und gegen den Irak Krieg geführt hat, auch schon ferngesehen. Deshalb erinnere ich mich daran, dass George W. Bush sr. mehr als einmal versucht hat, Saddam Hussein zu töten. Der von Ihnen genannte Grund scheint mir deshalb ziemlich fadenscheinig zu sein. Entschuldigung, aber eigentlich hätte Saddam mehr Grund, Sie zu töten, als Sie ihn.

Ach, Mr. President, sind Sie vielleicht gerade auf Ihrer Ranch in Texas und reiten einen wilden Mustang zu? Oder sind Sie in der Kirche und beten zu Gott für das Wohlergehen seines eigenen und einzigen Landes? Ich weiß, Sie haben so viele wichtige Dinge zu tun, und mein dummer Brief, den Sie gerade lesen, hält Sie davon ab! Aber ich möchte Ihnen trotzdem noch etwas ganz Wichtiges sagen. Ich will mich auch kurz fassen.

Aus dem Fernsehen weiß ich, dass die Vereinigten Staaten Mitglied in den United Nations sind. Da ist ja fast jedes Land der Welt Mitglied, sogar die Schweiz ist vor ein paar Monaten beigetreten. Fernsehen bildet, wissen Sie! Ich weiß auch, dass es bei den Vereinten Nationen einen Sicherheitsrat gibt, der allein berechtigt ist, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wenn ein Staat andere bedroht – jedenfalls so ähnlich. Jeder Mitgliedsstaat unterschreibt bei seinem Beitritt, dass er diese Regel akzeptiert. Das habe ich alles aus dem Fernsehen – nicht, dass Sie glauben, dass ich diese zersetzenden Zeitungen von der Ostküste lese! Von denen habe ich nur Schlimmes gehört.

Aber jetzt sagen Sie, Mr. President, dass wir den Irak – oder Saddam Hussein, oder wen immer Sie meinen – auch dann angreifen werden, wenn die UN beschließen, nicht anzugreifen! Bestimmt haben Sie gebetet, bevor Sie diesen Beschluss gefasst haben, oh ja, das glaube ich bestimmt!

Aber, Mr. President, ich sagte bereits, dass ich eine Mutter bin. Als Mutter versuche ich, meinen Kindern Regeln beizubringen. Ich sage ihnen, dass man Regeln einhalten muss. Wenn niemand sich an Regeln hält, kann niemand sicher sein, sage ich ihnen. Wenn du deinen Bruder auffrisst, sage ich, dann kannst du nicht sicher sein, dass der Bruder deines Bruders dich nicht fressen will. Du sollst eben nicht töten, nicht wahr? Reiner Selbstschutz ist das.

Sie, Mr. President, sind gerade dabei, wichtige Regeln zu verletzen – ich muss Ihnen das leider sagen. Wohin soll das denn führen, was Sie machen? Wenn Sie jetzt den Irak oder Saddam angreifen, dann greift morgen Indien Pakistan an und übermorgen China Taiwan und in drei Tagen Brasilien Argentinien, und in vier Tagen ist die Welt im Eimer! Wenn Sie mein Kind wären, würde ich Ihnen eins hinter die Ohren geben, aber kräftig. Entschuldigung!

Oh, Mr. President, bestimmt war ich jetzt zu direkt zu Ihnen und ohne den gehörigen Respekt. Aber wissen Sie, wenn man zwei Jahre lang nur mit den Kindern beschäftigt war und dauernd hinter ihnen her sein musste, damit sie die Regeln des Überlebens lernen, dann wird man gegenüber Regelverletzern schnell ungeduldig. Wenn Sie Krieg führen wollen, dann erkläre ich hiermit ausdrücklich, dass Sie das nicht in meinem Namen tun. Not in my name!

Meine Kinder sind jetzt groß. Sie sind zu selbständigen Bären geworden, die gelernt haben, was sich gehört. Sie halten sich an sinnvolle Regeln. Sie bringen niemanden um, auch nicht, wenn sie zufällig gerade stärker sind als ihre Gegner. Sie sollten sich daran ein Beispiel nehmen, Mr. President!

Ach, Sie merken jetzt erst, wer Ihnen diesen Brief geschrieben hat? Oh nein – Sie müssen jetzt nicht Fish and Game oder das Bureau of Land Management aktivieren, um mich zu eliminieren – ich bin ganz friedlich und auch keine Terroristin. Ich ernähre mich von Beeren und Wurzeln. Ich sehe nur ab und zu fern und versuche die spärlichen Nachrichten zu verarbeiten, die ich dort bekomme. Ich muss also nicht abgeschossen werden, und Ihre Sicherheitsdienste brauchen mich auch nicht auf Guantanamo zu internieren, wo meine Bärenrechte einen Bärendreck wert wären.

Mr. President, ich möchte nur, dass Sie endlich erwachsen werden und sich an sinnvolle Regeln halten. Ihr Vater ist ja wohl nicht geeignet, um Ihnen eine ordentliche Ohrfeige zu geben. Ich hoffe auf Mutter Barbara.

Mit freundlichen Grüßen

Athabasca

Athabaska

Elternführerschein

Manfred und Grizzy

Manfred unternahm seinen vorläufig letzten Inspektionsgang in der neuen Bärenheimat. Es war Mitte November geworden, und vor allem in den Senken und den vor dem Wind geschützten Lagen der LaSals versank er schon bis zum Bauch im Schnee. Höchste Zeit also für den Winterschlaf!
Er stellte beruhigt fest, daß alle getan hatten, was für das sichere Überstehen der nächsten Monate notwendig war. Zuerst einmal hatten sie gefressen, was das Zeug hielt, achtzehn, manchmal auch neunzehn Stunden am Tag, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Ramses und das Schwein hatten sich dabei natürlich zurückgehalten – der Frosch brauchte so gut wie keine Reserven für die kalte Jahreszeit, weil er seinen Metabolismus auf Sparflamme stellte, und das Schwein konnte nun einmal nicht mehrere Monate hintereinander schlafen; deshalb hatte es sich Vorräte angelegt und hauptsächlich Eicheln gesammelt. Auch die Bären lagerten kleine Berge von Nüssen, Eicheln und getrockneten Früchten und Pilzen in den Ecken ihrer Höhle. Keiner von ihnen würde die ganze Zeit lang durchschlafen, sondern zwischendurch aufwachen, für kurze Zeit nur und ein bißchen dumpf im Kopf, aber immer hungrig.
Manfred war nicht unterwegs, um zu überprüfen, wie sich die anderen vorbereitet hatten. Ihm ging es um Selbstkontrolle. Er rüttelte an den elektrischen Leitungen, die er verlegt hatte, untersuchte jeden einzelnen Schaltkreis in der Telefon- und Computerzentrale und warf zum Schluß einen Blick in die Bibliothek. Die Regale, die die Bären selbst gezimmert hatten, waren schon recht gut gefüllt. Selbstverständlich enthielten sie kaum noch Nachschlagewerke. Informationsbedarf ließ sich heutzutage in der Regel schneller und aktueller elektronisch befriedigen als mit Hilfe von bedrucktem Papier. Dagegen waren die Abteilungen Literatur, Kunst und Philosophie schon zu beachtlicher Größe angeschwollen. Wahrscheinlich, dachte Manfred, würden auch sie eines Tages verschwinden und durch das e-book ersetzt werden. Oder vielleicht auch nicht. Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß sein altmodischer Vater zum Beispiel Hegels Darlegungen auf einem Bildschirm mit Hilfe eines Lesegerätes zu verstehen versuchte, anstatt mit einem Buch in der Hand herumzuwandern und dabei leise vor sich hin zu schimpfen, weil er die komplizierten Gedankengänge nicht sofort begriff. Und auch Kulle würde wohl die Papierausgabe vorziehen – wie sollte er auch auf einem Bildschirm seine wütenden Anmerkungen unterbringen, die er an den Rand von Texten zu kritzeln pflegte? Er schmunzelte, weil er an die beiden Bären dachte, die er am meisten liebte, abgesehen von seiner Mutter natürlich, und weil er mit seiner Arbeit zufrieden war. Er konnte sich beruhigt der überwiegend traumlosen Winterruhe hingeben, ohne sich zu sorgen, daß draußen der Schnee unermüdlich Zentimeter um Zentimeter höher wuchs und alles Leben unter sich begrub.
Athabasca
Er drehte sich um und fand den Weg zurück zur Höhle versperrt. Athabasca stand dicht vor ihm. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, scheinbar direkt in seiner Kehle. Vergeblich versuchte er zu schlucken und sich zu beruhigen. Hatte er gerade wirklich an die drei Bären gedacht, die er am meisten liebte? Er wollte Athabasca begrüßen, brachte aber keinen artikulierten Ton heraus.
Atti nickte, als wüßte sie Bescheid. „Hi, Manfred“, sagte sie leichthin und beglückte ihn mit einem charmanten Lächeln. „Alles klar fürs Hibernieren?“
Manfred nickte.
„Schön!“ kommentierte die junge Bärin. Und selbstverständlich, als redete sie über eine Nebensächlichkeit, fuhr sie fort: „Wir beide müssen uns übrigens beeilen, wenn wir in diesem Jahr noch ein Kind machen wollen.“
Manfred verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall, der ihn hilflos röcheln ließ. Vielleicht hätte er sich nie wieder davon erholt und wäre elendiglich erstickt, wenn Athabasca ihm nicht energisch auf den Rücken gesprungen und ihm von diesem Sitz aus in die Flanken getreten hätte. Ganz allmählich kam er so wieder zu Atem.
„Was hast Du gesagt?“ japste er endlich.
„Du hast mich ganz genau verstanden!“ entgegnete Atti seelenruhig. „Glaubst Du, ich habe nicht gemerkt, daß Du schon vom ersten Tag an um mich herumschleichst und mir zu imponieren versuchst? Kann das etwas anderes bedeuten, als daß Du mit mir schlafen willst? Ich jedenfalls habe nicht angenommen, daß Du mir das Angebot machen wirst, mich zur Hilfsmedientechnikerin auszubilden! Oder irre ich mich?“
„Nnnein…ja…nein…“ Manfred konnte in seiner Verwirrung nur stammeln.
„Also habe ich recht“, stellte Atti fest. „Du hast Dich nur nicht getraut. Seid Ihr Europäer immer so schüchtern?“
„Nur manchmal…“ Nur mühsam konnte Manfred sich sammeln. Ganz allmählich, wie ein kleines, vom Ausgehen bedrohtes Flämmchen, glimmte in seinem Bewußtsein der Gedanke auf: Sie mag mich! Sie will mit mir schlafen! Er war so begeistert von dieser Erkenntnis, daß er sie laut äußern mußte.
„Du willst mit mir schlafen!“ rief er.
„Das habe ich nicht gesagt.“ Die Bärin war so ernsthaft, daß Manfreds Freude in sich zusammenfiel.
„Zuerst müssen wir klären, ob Du als Vater meiner Kinder geeignet bist.“ Sie zog ein eng zusammengerolltes Blatt Papier aus ihrem dichten Nackenfell, das Manfred bisher nicht bemerkt hatte. Sie breitete es aus und hielt es Manfred hin.
„Da, lies!“
Er gehorchte.

Fragebogen zum Mutterführerschein

1. Was mache ich, wenn ich schwanger bin?
a) Jeden Tag möglichst viel mit dem Fötus reden – das gibt ein kluges Kind.
b) Viel Honigwein trinken, damit das Kind groß und stark wird.
c) Fressen, fressen, fressen – nach der Geburt werde ich die Reserven brauchen.

2. Wie verhalte ich mich bei der Geburt?
a) Ich suche den besten Bärenarzt, den ich finden kann, und wenn er am anderen Ende der Welt wohnte.
b) Ich bitte alte Bärinnen um Beistand.
c) Ich verlasse mich ganz auf meinen gesunden jungen Körper.

3. Während der ersten Wochen
a) weiche ich meinem Jungen nicht von der Seite.
b) muß ich viel schlafen und mich von der Geburt erholen.
c) lasse ich mein Junges seine ersten selbständigen Erfahrungen machen.

4. Auf den Vater meines Kindes
a) kann ich mich verlassen, er hilft mir bei der Erziehung.
b) kann ich nicht bauen, er kümmert sich nicht um das Kleine.
c) Vor dem Vater werde ich das Kleine in Sicherheit bringen, damit er es nicht auffrißt.

5. Selbstverständlich hat mein Junges seinen eigenen Kopf.
a) Gut so – so entwickelt es seine Persönlichkeit.
b) Seinen eigenen Kopf kann es haben, nachdem ich meine Erziehung beendet habe, aber keinen Augenblick früher.
c) Wir werden Differenzen ausdiskutieren, falls sich welche ergeben sollten.

6. Mein Kind hat viele Wünsche
a) Mein Kind bekommt alles, was es haben möchte – ich will schließlich, daß es ein glücklicher Bär wird.
b) Mein Kind bekommt alles, was es sich erarbeitet hat.
c) Ich entscheide das nach Lust und Laune – es geht hier ja auch ums Lustprinzip!

7. Was soll mein Kind lernen?
a) Lernen darf kein Zwang sein – die Jungen wissen selbst am besten, was gut für sie ist.
b) Das Beste ist gerade gut genug! Mein Kind ist intelligent und schafft das schon, auch wenn es schwierig ist.
c) Denken.

8. Was verbiete ich meinem Kind?
a) Alles.
b) Gar nichts.
c) Das weiß ich noch nicht – erst mal sehen, wer mein Kind ist.

Manfred war verwirrt, als er die Lektüre beendet hatte. „Ja…sehr interessant…“ murmelte er. „Und was soll ich jetzt tun?“
„Natürlich die Fragen beantworten, du dummer Bär!“ forderte Atti ungeduldig.
„Warum sollte ich? Das sind doch Fragen zu einem Mütter- und nicht zu einem Väterführerschein“, wehrte Manfred ab.
„Stimmt, aber jeder, der sie beantwortet, verrät dabei, wie viel oder wie wenig er vom Bärenleben versteht. Und genau das will ich von Dir wissen, bevor wir vielleicht zusammen ein Kind zeugen.“
Na gut!“ brummte Manfred. Er wollte Athabasca, er mochte sie, vielleicht liebte er sie sogar, also kam er um den lästigen Fragebogen wohl nicht herum.
„Während der Schwangerschaft frißt Du, so viel Du kannst, und meinetwegen kannst Du mit dem Foetus auch reden. Du wirst allerdings zu beidem wenig Gelegenheit haben, denn überwiegend wirst Du Winterschlaf halten. Bei der Geburt solltest Du nicht leichtsinnig auf Dich selbst vertrauen, aber auch kein Gewicht verlieren, indem Du endlos weit zu einem berühmten Arzt rennst. Vertraue Dich lieber erfahrenen Frauen an. Selbstverständlich wirst Du in den ersten Wochen, ja sogar während der ersten Monate ständig um die Jungen sein, und ich – äh – also der Vater wird Dir dabei helfen. Ein guter Vater wird sich ab und zu auch alleine um die Kinder kümmern. Es ist viel zu gefährlich, daß Bärenkinder schon früh ihren eigenen Kopf durchsetzen, aber wenn sie sich Mühe geben, bekommen sie zur Belohnung auch, was sie sich wünschen. Denken lernen ist meiner Meinung nach das wichtigste Erziehungsziel, und Ge- und Verbote hängen in der Tat stark von der jeweiligen Persönlichkeit ab.“ Nach dieser langen Rede sah er die junge Bärin erwartungsvoll an.
Athabasca reagierte völlig anders, als er erwartet hatte. Sie sah ihn mit einem unendlich verächtlichen Blick an, würdigte ihn keines Wortes, drehte sich schnell wie ein Wirbelwind auf den Hinterpranken herum und war im selben Moment auch schon verschwunden. An ihre Gegenwart erinnerten nur noch einige gelbe welke Blätter, die zu Boden segelten – Atti hatte sie bei ihrem schnellen Abgang abgestreift. Und eine Spur im tiefen Schnee.
Jetzt begriff Manfred gar nichts mehr. Er hatte ihr nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet und hatte nicht die geringste Ahnung, was er falsch gemacht haben könnte. Aber natürlich wollte er es gerne wissen. Nur – wie sollte er das herausbekommen? Atti konnte er wohl kaum fragen, das hatte sie ihm nur allzu deutlich signalisiert. Seine Eltern wollte er nur ungern über sein Problem informieren, und das ist gut verständlich: Kein Kind auf dieser Welt will seinen Eltern offenbaren, daß es Schwierigkeiten mit der Liebe hat. Also blieb nur Kulle übrig.
Manfred wußte, wo er Kulle suchen mußte; jetzt, da die Jahreszeit weite Streifzüge durch die Berge nicht mehr zuließ. Natürlich in der Bibliothek.
Kulle hatte sich in eine Ecke gerollt, die von einer tief hängenden Glühbirne beleuchtet wurde. Er lag auf der Seite und hielt ein aufgeschlagenes dünnes Buch in der Pfote. Als Manfred sich näherte, registrierte er, daß Kulle nur mit dem oberen Auge las. Das untere war geschlossen. Die eigentlich obligatorische Fliege war nicht um seinen Hals geschlungen. Kulle war kurz vor dem Einschlafen und hatte sich schon für den Winterschlaf ausgezogen.
Der junge Bär störte ihn dennoch. Zu drängend war seine Frage, und er wollte nicht riskieren, ein Jahr zu verschenken oder Athabasca vielleicht sogar ganz zu verlieren. Kulle brummte anfangs zwar empört, aber bald hörte er interessiert zu.
Als Manfred seinen Bericht beendet hatte, schüttelte er jedoch den Kopf. „Hmm. Ich verstehe das auch nicht. Soweit ich Dein Verhalten beurteilen kann, entspricht es völlig der Bärenetikette. Die Literatur ist hier, fürchte ich, nur wenig hilfreich. Nietzsche empfiehlt, die Peitsche mitzunehmen, wenn man zum Weibe geht. Lange Zeit habe ich ihn wegen dieses Spruches für einen Masochisten gehalten, aber er hat den Rat anders gemeint. Schopenhauers Aussage über die Dummheit der Frauen ist selbst so dumm, daß er eines Kommentars unwürdig ist. Die Klassiker haben sich zu Frauen wenig geäußert. Am ehesten kann ich mich noch an Marx‘ Brief an Engels erinnern, in dem er ihm kondoliert: „Der Tod der Mary hat uns alle sehr erschüttert…“ Aber gleich danach schreibt er auch schon wieder davon, daß er pleite ist und dringend Geld braucht. Brief an die Kollontai? Falsch – dabei geht es um die Möglichkeit des direkten übergangs zum Kommunismus im feudal geprägten Rußland…Und Bebel sagt viel über die Frau im Sozialismus, aber nichts über einen Mütterführerschein. Außerdem weiß Du ja, daß ich Junggeselle bin. Ich habe keine Erfahrung mit Frauen. Aber Dein Vater kann Dir da sicher weiterhelfen.“
Kulle legte sich wieder hin, ohne eine Reaktion Manfreds abzuwarten. Das Buch, das er die ganze Zeit lang festgehalten hatte, fiel ihm aus der Hand und klappte zu, so daß der Titel lesbar wurde: James D. Doss. Shaman sings. Kulle las einen Krimi! Er mußte wirklich sehr müde sein.
Ohne große Hoffnungen machte Manfred sich auf die Suche nach Bärdel, wie Kulle es ihm empfohlen hatte. Er tat recht daran, keinerlei Erwartungen zu hegen: Sein Vater konnte an seinem Verhalten ebenfalls nichts Falsches finden.
„Frag am besten Deine Mutter!“ riet Bärdel ihm und gähnte dabei herzhaft. „Sie als Frau weiß bestimmt, was Athabasca gestört hat.“
Sein Sohn befolgte den Rat nur ungern. Er wußte nicht genau warum, aber er schämte sich sehr, seiner Mutter gegenüber seine Schwierigkeiten zuzugeben. Es war ihm wesentlich leichter gefallen, mit Kulle und Bärdel darüber zu sprechen.
Tumu schien, ebenso wie die anderen Bärenfrauen, noch gar nicht müde zu sein. Die Frauen schleppten ihre vom angefressenen Speck schweren Körper durch die Schlafhöhle und ordneten alles für die lange Winterpause. Das machten sie bereits mindestens zum fünften Mal, und eigentlich gab es nichts mehr zu räumen, aber sie gaben sich dennoch den Anschein, als herrsche völliges Chaos. Nur mühsam konnte Manfred Tumu dazu bringen, das Neuarrangement der Wintervorräte den anderen Frauen zu überlassen und ihm zuzuhören. Dann aber lauschte sie konzentriert.
„Du hast nichts falsch gemacht“, kommentierte sie, als er fertig war. „Jedenfalls nicht nach unseren Maßstäben. Aber Atti ist wohl noch an archaische Formen des Zusammenlebens gewöhnt. Anders kann ich mir ihre Reaktion nicht erklären.“
Mama“, sagte Manfred und rutschte unruhig von einer gut gepolsterten Hinterbacke auf die andere, „Mama, ich finde nicht, daß es gerade jetzt an der Zeit ist, in Rätseln zu sprechen!“
„Das kann ich nachvollziehen. Aber Du mußt mich auch verstehen: Ich bin gerade im Begriff, einen uralten Schwur zu brechen, den sich alle europäischen Bärinnen seit Jahrhunderten gegeben haben und noch heute geben. Ich muß mein Versprechen zu schweigen brechen, denn sonst kann ich Dir nicht helfen.“
Manfred saß jetzt ruhig und sehr aufrecht. Aufmerksam sah er seine Mutter an. Er wußte, daß sie nie übertrieb. Was sie jetzt zu sagen hatte, mußte wirklich wichtig sein.
Tumu schluckte schwer, bevor sie fortfuhr: „Vor langer Zeit, als es in Europa noch wenige Menschen gab, war das Verhältnis von Bären, also von männlichen Bären, zu ihren Kindern ein ganz anderes als heute. Die Mütter mußten die Jungen vor den Vätern in Sicherheit bringen, damit … damit …“ Tumu mußte dreimal Anlauf nehmen, bis sie das Furchtbare schließlich erklären konnte: „…damit sie sie nicht auffraßen.“
Manfred saß ganz starr. Widerstandslos ließ er es geschehen, daß seine Mutter ihn wie ein kleines Kind in die Arme nahm und streichelte. In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm von Gedanken und Gefühlen.
„Aber warum….“ fragte er nach einer langen, lastenden Pause. Er brach jedoch sofort wieder ab. Es gab zu viele Warums, und er wußte nicht, welches er zuerst beantwortet haben wollte.
Tumu verstand ihn auch ohne Worte. „Vielleicht gab es zu wenig Nahrung. Vielleicht erkannten die Bären ihren eigenen Nachwuchs nicht. Damals lebten wir noch nicht in festen Beziehungen zusammen, sondern streiften einzeln umher. Erwachsene Bären trafen sich oft nur zur Paarung und trennten sich dann wieder. Erst als die Menschen mehr wurden, als wir Bären weniger wurden und näher zusammenrückten, weil wir nur so überleben konnten, hat sich das geändert. Heute sind Bären liebevolle Väter.“
„Aber warum…“ fragte Manfred zum zweiten Mal. Eine Frage war noch immer nicht beantwortet.
„Alle Bärinnen wissen davon. Alle müssen es wissen, schon um der Vorsicht willen. Aber wir schwören, es keinem Mann zu erzählen. Wir wollen nicht, daß ihr ein schlechtes Gewissen habt. Du bist der einzige Bär, der jetzt dieses Wissen hat, aber Du mußt mir versprechen, es keinem anderen Mann mitzuteilen.“
Manfred nickte. Er wußte jetzt alles, aber es würde lange dauern, bis er es verdaut hatte. Die Bärinnen taten recht daran, dieses Wissen für sich behalten zu wollen.
„Meinst Du, daß Attis Reaktion bedeutet, daß die Bären hier in Amerika noch immer…“ Er schauderte und konnte auch diesen Satz nicht beenden.
„Ich nehme es an. Ich werde mit ihr reden. Wenn unsere Vermutung stimmt, dann wird sie Dir zunächst bestimmt nicht glauben, wohl aber mir. Laß mich nur machen!“ Sie stand auf und klopfte ihrem Sohn derb auf den pelzigen Rücken: „Ich finde, ihr paßt gut zueinander!“ Mit diesen Worten stapfte sie aus der Höhle.
Athabasca
Manfred mußte lange auf ihre Rückkehr warten. Währenddessen wurde es um ihn herum immer ruhiger. Ein schlaftrunkener Bär nach dem anderen kam herein, bahnte sich einen Weg möglichst weit nach hinten, weil es da am wärmsten war, und legte sich zum Schlafen. Allmählich wurde der Platz knapp, und Manfred wurde immer weiter zum kühlen Höhleneingang gedrängt. Nach einer ihm unendlich erscheinenden Zeit tauchte Tumu aus der Dunkelheit der längst eingebrochenen Nacht auf. Sie zauste ihrem Sohn das Kopffell, gähnte ungeniert und wies nach draußen. „Sie wartet auf Dich!“
Schon nach den ersten beiden Worten war Manfred auf und davon.
Die Bären in der ersten Tiefschlafphase hörten wenig von dem Toben, Knurren und Brummen, das nicht weit entfernt von der Höhle stattfand. Sie wachten auch nicht auf, als Athabasca und Manfred endlich als letzte auch zum Schlafen kamen. Sie fanden nur noch ein zugiges Plätzchen direkt am Eingang, aber das störte sie überhaupt nicht. Sie kuschelten sich eng aneinander und froren kein bißchen. So hatten es auch die Zellen, die sich in Attis Gebärmutter bald eifrig zu teilen begannen, mollig warm.

 

Scheiße

SCHEISSE

Scheiße

Bären neigen, anders als viele Menschen, keineswegs zum Fluchen. Wenn sie ihrem Unmut Ausdruck verleihen wollen, hauen sie normalerweise ihre rechte Pranke in die linke – Linkshänder machen das natürlich andersherum. So belästigen sie niemanden mit ihren Emotionen, und gleichzeitig wissen sie aufgrund der Wucht des Schlages, den sie ausgeführt haben, wie sehr sie sich ärgern.
Um so verwunderlicher ist es, daß die Bären in ihrer neuen Heimat eine Gewohnheit entwickelten, die stark an menschliches Verhalten erinnert. Fast überall dort, wo sie sich aufhielten, konnte man in unregelmäßigen Abständen ein kräftiges „Scheiße“ vernehmen. Manche, die sich schon an die neue Sprache gewöhnt hatten, brummten oder riefen stattdessen „shit“, aber beides kommt auf das gleiche heraus. Ramses sitzt auf dem Hintern

Ramses und das Schwein verhielten sich übrigens ebenso, aber es ist ungewiß, ob das für sie ungewöhnlich ist – die Fluchgewohnheiten von Fröschen und Schweinen sind bisher noch nicht genau erforscht.
Eines Tages gingen Bärdel und Ramses einander entgegen, aber kurz bevor sie sich trafen, setzten sich beide gleichzeitig unvermittelt mit nach vorne gestreckten Beinen auf die Erde und sagten ebenso gleichzeitig: „Scheiße!“
Als hätten sie lange zusammen ein Ballett eingeübt, standen sie auch zusammen wieder auf und begannen, ihre Sitzflächen zu säubern. Bärdel hatte es leichter als Ramses: Der Kuhfladen, auf dem er ausgerutscht war, war schon ein paar Tage alt und ziemlich durchgetrocknet. Ramses dagegen mußte sich mit einem neueren, deutlich schmierigeren Produkt auseinandersetzen.
„Entschuldigung“, sagten beide, immer noch gleichzeitig, und sagen einander dabei nicht an. Die Angelegenheit schien ihnen peinlich zu sein. Bärdel begann dennoch, darüber zu sprechen.
„Ramses“, sagte er, wir alle finden es sehr schön hier, und wir sind Tussi wirklich dankbar dafür, daß wir hier sein dürfen. Du darft ihr das gerne in unser aller Namen berichten. Aber es gibt da eine Kleinigkeit…“
Ramses nickte. Er nickte so entschlossen, daß ihm der große Froschkopf vom Hals zu fallen schien. „Ja, und das ist übehaupt keine Kleinigkeit. Diese Scheiße überall hier ist mehr, als meine empfindliche Froschnase ertragen kann, und euch Bären geht es vermutlich ebenso. Dazu kommt die Rutschgefahr. Und überall da, wo diese Fladen herumliegen, fehlen die schönsten Blumen. Es ist wirklich fürchterlich!“
„Aber wieso gibt es hier so viele Kuhfladen?“ wollte Bärdel wissen. „Dies hier ist ein National Forest, das…“
Bärdel unterbrach sich, weil auf einmal ganz in der Nähe jemand zu singen begann.

„This land is my land,
this land is your land,
from California
to the New York Island,
from the Redwood Forest
to the Gulfstream Waters
this land belongs to you and me.“

Ein wunderschöner Bariton sang, und Bärdel lauschte andächtig. Er genoß die Stimme, und er mochte das Lied,wenn es auch für seine europäischen Ohren ein wenig sentimental klang. Vergeblich sah er sich nach dem Sänger um – niemand schien hier zu sein.
„Schön, nicht?“ fragte er, und Ramses nickte. „Also, wir sind hier in einem National Forest…“ Diesmal kam Bärdel noch nicht einmal so weit, seinen Nebensatz zu beginnen. Schon bei dem „F“ von „Forest“ fing der unbekannte Musiker wieder an:
„This land is my land…“
Bärdel war Rechtshänder, und deshalb hieb er seine rechte Pranke in die linke.
„Schöön gesungen!“ rief er. „Aber ich möchte hier und jetzt etwas diskutieren, und dazu brauche ich Ruhe! Wer immer mit mir zusammen nachdenken möchte, ist herzlich eingeladen, aber bitte ohne Gesang!“
Ramses nickte zustimmend und schaute nach rechts. Dort raschelte jemand im Unterholz, kleinere Zweige brachen. Manfred, der wohl in der Nähe herumgelungert hatte, bahnte sich seinen Weg durch die Büsche und sah seinen Vater fragend an. Bärdel schaute ebenfalls nach rechts, weil er meinte, daß der Gesang von dort gekommen war. Athabasca schlängelte sich aus dem dichten Gebüsch.
„Atti?“ fragten Bärdel und Manfred gleichzeitig.
„Wer sonst?“ war die ungnädige Antwort. „Und bevor ihr fragt: Ja, ich habe gesungen. Ja, ich singe Bariton. Und ja: Wenn jemand ‚National Forest‘ sagt, dann muß ich singen… Meine Mutter wurde erschossen, als ich ein Jahr alt war. Ein Ranger fand mich und zog mich auf. Das war gegen das Gesetz der Menschen, aber er wurde nicht erwischt. Er ließ mir alle Freiheiten, die ich brauchte, und ich wurde eine richtige Bärin. Ganz nebenbei habe ich auch eine Menge über die Menschen gelernt. Er sang in jeder freien Minute immer dasselbe Lied, und ich fürchte, ich…“
Bärdel dachte nicht daran, daß es in dieser Situation angebracht gewesen wäre, Atti zu trösten. Er hätte ihr auch sagen sollen, daß es richtig ist, Traumata auszuleben, anstatt sie zu verdrängen, daß sie sich also völlig richtig verhielt. Er vergaß alle diese psychologischen Weisheiten, weil ihn eine ihrer Aussagen vollständig überrumpelt hatte.
„Deine Mutter wurde erschossen? Aber wir sind hier doch in einem Na…“ Immerhin war er noch überlegt genug, um das Schlüsselwort zu vermeiden, das Attis Zwangshandlung auslöste. „Ich meine, wir sind hier in einem Gebiet, das der amerikanischen Föderation gehört, also allen. ‚Land of many uses‘, damit machen sie doch Reklame. Wieso wurde deine Mutter dann…“ Bärdel brach ab, weil er es nicht übers Herz brachte, das brutale Verb zu wiederholen.
„Das Land gehört allen – richtig!“ sagte Atti. „Allen Menschen – zumindest vom Anspruch her. Und zu den zahlreichen Möglichkeiten, die ihnen hier geboten werden, gehört auch die Jagd auf Bären und auf andere nette Zeitgenossen. Aber ihr braucht keine Angst zu haben!“ Sie hatte bemerkt, daß Bärdel und Manfred unruhig wurden und sich ängstlich umsahen. „Euch, uns allen wird nichts passieren. Meine Mutter konnte nicht lesen, und das ist ihr zum Verhängnis geworden. Die Forstverwaltung hier ist so ordentlich, daß sie überall plakatiert, welche Tierart wann und wo geschossen werden darf. Wir können den Mördern einfach aus dem Weg gehen.“
„Na ja“, brummte Bärdel. Er war keineswegs beruhigt. Da er aber das Thema jetzt nicht weiter verfolgen wollte und auch nicht wußte, wie er auf die Enthüllung von Attis unglücklicher Jugend reagieren sollte, wiederholte er einfach die Frage, die er schon einmal vergeblich gestellt hatte: „Und wieso gibt es hier so viele Kuhfladen?“
Athabasca zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Die waren schon immer da.“
„Die Kuhfladen“, erklärte Ramses wichtig, „stammen von Rindern.“
„Ach was!“ murmelte Manfred ironisch, schwieg aber angesichts eines strafenden Blickes seines Vaters.
„Viele Rancher aus der Gegend hier haben das Recht, ihr Vieh in den Sommermonaten in den Bergen grasen zu lassen. Wäre das anders, müßten sie zufüttern – weiter unten wächst in den heißen, trockenen Monaten praktisch nichts. Da die Zahl der Rinder nicht begrenzt ist, kommt es zu überweidung. Deshalb liegen überall Fäkalien herum, und deshalb vermissen wir so viele Pflanzen, die es hier eigentlich geben sollte. Sie wurden einfach aufgefressen.“
„Was können wir dagegen machen?“ wollte Manfred wissen.
Ramses wackelte mit dem Kopf. „Dafür hat Tussi mir keine Instruktionen gegeben.“
„Dann müssen wir selber versuchen, das Problem zu lösen“, stellte Bärdel fest. Entschlossenheit blitzte aus seinen Augen. „Heute Abend ist Bärenrat!“

Nachdem Bärdel, Ramses und Atti der Versammlung das Problem erklärt hatten, herrschte zunächst nachdenkliche Stille. Dina meldete sich als erste zu Wort.
„Ganz prinzipiell sehe ich zwei Möglichkeiten“, konstatierte sie. „Entweder leben wir weiter mit und in der Scheiße, oder wir versuchen, etwas dagegen zu tun!“
Die Reaktion des Rates war einhellig: Alle wünschten sich eine Verbesserung, und so mußte über die Vor- und Nachteile dieser Alternative nicht diskutiert werden.
„Gut!“ sagte Dina zufrieden. „Dann müssen wir uns darüber einigen, wie wir die Rinder loswerden, oder ihre Besitzer, oder die Waldverwaltung, die die Weidenutzung erlaubt, oder alle drei!“
Ganz selbstverständlich sprach Dina von der Waldverwaltung, und ebenso wie sie würde am heutigen Abend kein Sprecher den Begriff „National Forest“ in den Mund nehmen. Tratsch verbreitet sich unter Bären noch schneller als früher im dehländischen Bundestag in Bonn.
Nach Dinas Rede herrschte zunächst die bei Bären übliche nachdenkliche Stille, wenn es galt, mit schwierigen Problemen fertig zu werden, aber dann hagelte es mehr oder weniger vernünftige Vorschläge so schnell, daß es schwerfiel zu folgen.
„Wir könnten den Wald kaufen!“
„Oder wir bestechen die Waldverwaltung!“
„Wir vergiften die Rinder!“
„Vergiften ist gemein! Wir jagen ihnen einfach so viel Angst ein, daß sie davonrennen. Schließlich sind wir angeblich wilde Raubtiere!“
„Zur Abschreckung können wir ja so tun, als hätten wir eine Kuh gefressen!“
„Noch abschreckender wäre es, wenn wir einen Rancher fressen!“
„Das ist mir alles zu blutig! Bauen wir doch eine Rutschbahn aus Kuhscheiße an einem steilen Hang – dann rutschen ein paar Rinder aus und brechen sich die Knochen, und alle anderen werden bestimmt an einen anderen Ort verlegt, weil es hier zu gefährlich ist.“
„Wir können auch eine künstliche Eisbahn anlegen, das ist genauso schlüpfrig – ihr kennt doch den Spruch: ‚Die Kuh muß vom Eis‘?“
Tumu hielt sich die Ohren zu und versuchte gleichzeitig, sich zu Wort zu melden. Das war gar nicht so einfach, denn sie konnte mit den Fäusten auf den Ohren nur einen Signalfinger in die Luft strecken. Bevor Bärdel, der die Versammlung leitete, sie endlich bemerkte, hatte sie viel Zeit sich umzusehen. Die männlichen Jungbären reagierten entzückt auf die Vorschläge, Gewalt anzuwenden, und ihr eigener Sohn war offenbar fasziniert von der technischen Herausforderung, mitten in der Wildnis eine Kunsteisbahn zu installieren. Sie schüttelte den Kopf.
„Sagt mal“, schimpfte sie, als sie endlich an der Reihe war, „sagt mal, was werden die Menschen denken, wenn wir einen von euren Vorschlägen verwirklichen? Irgendeinen? Sie werden wissen wollen, wer dahintersteckt, richtig? Und sie werden uns finden, irgendwann. Wenn ich mich korrekt erinnere, sind wir aber hier, weil wir gerade nicht gefunden werden wollen. Auch richtig? Richtig! Also laßt euch bitte etwas Vernünftiges einfallen, bevor ihr hier dumm rumredet!“
Nach Tumus zornigem Beitrag herrschte Stille, und manche Bären senkten beschämt den Kopf. Bärdel ließ einige wirkungsvolle Sekunden verstreichen, ehe er sagte: „Damit ist wohl klar: Wir müssen versuchen, eine Methode zu finden, die die Rinder hier vertreibt, die aber keinen Rückschluß auf uns zuläßt.“
Diese ernüchternde Feststellung dämpfte den Elan der Versammlung erkennbar. Niemand meldete sich zu Wort. Deshalb machte Bärdel einen Beitrag zur inhaltlichen Diskussion: „Wenn die Rinder vertrieben werden, werden die Menschen immer nach der Ursache suchen. Es muß so aussehen, als würden sie aus eigenem Antrieb verschwinden. Ich habe allerdings keine Idee, wie…“
Kulle macht auf schlau!
„Aber ich!“ platzte Kulle dazwischen. „Danke für das Stichwort! Wir machen die Rinder einfach antriebslos, oder besser: trieblos. Wenn die Stiere nicht mehr auf die Kühe steigen, erledigt sich das Problem binnen kurzer Zeit von allein. Bei den Menschen wäre das genauso, wenn…“
„Kulle!“ mahnte Bärdel. Er wie alle anderen wußte natürlich, daß Kulle vor kurzem eine wissenschaftliche Arbeit über die menschliche Sexualität geschrieben hatte, auf die er mächtig stolz war.1 Er wollte bei jeder passenden und, wie man gerade feststellen mußte, unpassenden Gelegenheit darüber reden. Aber zumindest Manfred fand, daß seine Idee einen Kern enthielt, über den nachzudenken sich lohnte.
„Als ich damals bei den Menschen einen Job finden wollte,2 habe ich gesehen, daß sie den Stadttauben ein Mittel ins Futter getan haben, das sie unfruchtbar machte. Das könnten wir doch auch versuchen! Die Möglichkeiten dazu haben wir: In Moab liegen 13 Millionen Tonnen schwach radioaktiven Abfalls leicht zugänglich herum, und hier oben auf der Polar Mesa gibt es zahlreiche alte Schächte – alles Reste des Uranbooms in den fünfziger Jahren. Da sollten sich schon Wege finden lassen, um den Stieren zwar nicht die Lust zu nehmen, sie aber am Kälbchenzeugen zu hindern.“
„Oh nein!“ rief Bärdel. Er hatte völlig vergessen, daß er sich als Diskussionsleiter zurückzuhalten hatte. „Nein! Mit diesem radioaktiven Zeugs will ich nie wieder etwas zu tun haben. Ich habe noch genug von den Problemen, die wir damals in Dehland damit hatten.3 Damit zu spielen ist viel zu gefährlich. Und außerdem: Rinder sind keine Tauben, sie haben einen wesentlich längeren Reproduktionszyklus. Wenn wir unser Problem mit Hilfe deiner Methode lösen wollten, könnten sich vermutlich unsere Enkel über das Ergebnis freuen.“
Bärdels letzten Gedanken kommentierte Kulle mit einem gewichtigen zustimmenden Nicken.
Wieder herrschte Stille. Nach einer Weile murmelte das Schwein gedankenverloren vor sich hin: „Die Kuh, mit der ich am ersten Tag hier geredet habe, fand ich sehr nett. Wir sollten ihr nichts tun, das wäre gemein.“
„Was genau hat die Kuh gesagt?“ erkundigte sich Bärdel. Er fand eigentlich nicht, daß das wichtig war, aber da die Diskussion in einer Sackgasse steckte, fiel ihm nichts Besseres ein.
Das Schwein setzte sich aufrecht hin und sagte schlicht: „Ich zitiere.
‚Menschen?“ Kenn‘ ich nich…Hier gibs nur Mütter unn Kinner, unn Stiere natürlich. Wolln immer bloß das eine, die unverschämten Kerle. Unn Cowboys. Die sinn gefährlich, weil se dich nämlich verbrenn. Oder se machn dirn Loch ins Ohr ohne Betäubung, wie bei mir. Siehste?…Aba die komm nur ganz selten. Unn so ne halbe Portion wie du kümmert die bestimmt nich.‘ Zitat Ende.“4
„Die hat aber ein schlichtes Gemüt“, kommentierte Tumu. „Als hätte sie ihr Leben lang nur ‚WILD‘ gelesen.“
„Hierzulande liest man nicht“, korrigierte Dina. „Hierzulande sieht man fern!“
„Ja, natürlich. Hierzulande sieht man fern.“ Tumu wiederholte die Aussage, als dächte sie intensiv darüber nach. „Ramses, wie ist das hier, wenn die Menschen fernsehen?“
Allmählich, dachte Bärdel, entfernte sich die Diskussion so weit von ihrem Problem, daß sie es nie lösen würden. Zumindest nicht heute Abend. Aber er griff nicht ein, denn ein Gespräch über das falsche Thema war immer noch besser als unbehagliches Schweigen.
„Bei vielen läuft der Fernseher einfach nebenbei, wie in Dehland früher das Radio. Man sieht hin oder läßt es bleiben. Viele Menschen kleben allerdings viele Stunden täglich vor dem Bildschirm, als seien sie angeleimt. Sie stehen nur auf, um sich etwas zu essen zu holen oder um auf die Toilette zu gehen.“
Viele Bären, die von dergleichen absonderlichen menschlichen Gewohnheiten bisher nichts gewußt hatten, wandten sich ihren Nachbarn zu und wollten mit ihnen weiter in kleinen Gruppen darüber reden, aber Tumu schnitt das entstehende Gemurmel mit einer kurzen Handbewegung ab.
„Was essen sie?“
„Meist Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe, die man nur kurz in der Mikrowelle zu erhitzen braucht. Solche Mahlzeiten heißen auch ‚TV-Dinner‘“.
„Und wenn der Kühlschrank gerade mal leer ist, weil die Menschen vor lauter Fernsehen nicht zum Einkaufen gekommen sind?“ In Tumus interessierter Frage schwang Verachtung mit.
„In diesem Fall gibt es vermutlich irgendwo in der Wohnung noch größere Mengen Kartoffel- oder Maischips, Schokoriegel oder ähnliches. Und wenn auch das fehlen sollte – Softdrinks sind immer im Haus, und sie sind so süß, sie haben so viele Kalorien, daß sie den Hunger zumindest für eine Weile vergessen lassen.“
„Danke für die Auskunft“, sagte Tumu zu Ramses. An alle gewandt, fügte sie hinzu: „Ich denke, das ist die Lösung. Bei geschickter Programmauswahl sollte es nicht allzu lange dauern, bis wir hier nicht mehr ausrutschen – selbstverständlich ohne jemandem etwas getan zu haben.“ Sie nickte dem Schwein zu.
Aller Augen starrten sie groß und verwundert an. In ihrem blanken Unverständnis ähnelten sie Fernsehbildschirmen. Es gab nur zwei Ausnahmen. Manfred strahlte, nahm Tumu in die Arme und schwenkte sie durch die Luft. „Mama, du bist genial!“ rief er dabei.
Bären haben Fehler, wie alle Lebewesen auf dieser Erde. Ein typischer bärischer Charakterzug ist falscher Stolz. Wenn ein Artgenosse behauptet, etwas Wichtiges verstanden zu haben, würde ein Bär niemals eingestehen, daß er diesen Sachverhalt nicht begriffen hat. Deshalb fragte niemand nach, worin Tumus Idee bestand, aber die Neugier nagte an vielen, und deshalb wurde in der folgenden Nacht ein Rekord an unruhigen Träumen aufgestellt.

Dabei war doch alles ganz einfach.
An den Stellen, an denen die Rinder sich besonders gern aufhielten, vor allem an ihren Tränken, installierten die Bären große Fernsehbildschirme. Darauf überspielten sie drei Programme. Das eine hatte einen Fernsehprediger im Mittelpunkt, der jedem, ob Mensch oder Tier, das Himmelreich versprach, wenn er nur oft genug ‚Hallelujah‘ rief. Das zweite zeigte eine Reality-TV Show: Neun Kühe auf einer einsamen Insel. Im dritten lief eine Soap-Opera mit dem Titel: ‚Unsere Kuhweide‘. Die 524. Folge hatte als Plot: ‚Mein Stier geht fremd‘.
Wie Tumu es erwartet hatte, waren die Rinder von den Programmen fasziniert und vergaßen darüber zu fressen. Ihren Durst stillten sie an den gewohnten Wasserstellen. Da das Wasser mit Cola- und Pepsikonzentrat versetzt war, vergaßen sie nach den Trinken ihren Hunger und stellten sich wieder vor sie Glotze.
Die Rancher, die ihren Viehbestand ab und an kontrollierten, konnten sich den Rückgang der Fleischqualität ihrer Rinder in den LaSals nicht richtig erklären. Die Tiere verloren zwar kaum an Gewicht, aber ihre Muskelkonsistenz war wässrig-faserig. Schlechtes Fleisch brachte schlechtes Geld. Man vermutete, daß die Freisetzung von radioaktivem Material in den fünfziger Jahren auch nach Jahrzehnten noch auf Pflanzen wirkte. Man wollte kein Risiko eingehen.
Die Rancher beschlossen, ihre Weiderechte in den LaSals einfach ruhen zu lassen.

Bärdel und Ramses gingen einander entgegen. Sie freuten sich an den wunderschönen Blumen, die rechts und links des Weges wuchsen, umarmten einander und waren Tussi dankbar dafür, daß sie hier sein durften.


Fußnoten:

1 vgl. Kulle: Sexualität   To Top

2 vgl. Jobsuch e   To Top

3 vgl. Die Sägebande   To Top

4 vgl. Der erste Tag   To Top

Anasazi

anasazi2

„Das darfst du nicht!“
Bärdel duckte sich instinktiv, als er die ärgerliche Stimme hörte. Er steckte mitten im Unterholz am Rande des Waldes unten in den Bergen, und dichtbelaubte Eichenbüsche, undurchdringlich für die Augen, trennten ihn von dem Sprecher, der sich anscheinend in offenem Gelände aufhielt. Da er nicht entdeckt werden wollte, verzichtete er darauf, sich näher heranzuschleichen. Das Rascheln der Blätter hätte ihn verraten können. Er vertraute allein auf seine Ohren, hockte sich nieder und schloß die Augen, um sich besser auf sein Gehör zu konzentrieren. „Anasazi“ weiterlesen

Morgenspaziergang

Morgenspaziergang

Auch in der neuen Welt wollten die Übersiedler selbstverständlich nicht auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten – schließlich waren sie konservative Europäer. So hatten Bärdel und Kulle ihre morgendlichen Spaziergänge wieder aufgenommen, sobald Kulles Pfoten verheilt waren (vergleiche: „Der erste Tag„). Anders als in Bärenleben aber bestand Bärdel darauf, in Kulles Nähe zu bleiben – er befürchtete weitere unbedachte Taten seines Freundes. Da er es verstand, seinen Mund zu halten, akzeptierte Kulle die Begleitung ohne irgend einen Kommentar.
Morgen in den Lasalls
Wie auch früher hielten sie eine feste Route ein: Ihr Weg führte sie bergauf über eine Wiese bis zu einem Bach, der unterhalb eines Geröllfeldes talabwärts plätscherte, dann parallel zum Hang durch einen lichten Aspenbestand und in einem sanften Bogen wieder hinunter zurück zur Höhle, die sie inzwischen „Zuhause“ nannten. Direkt hinter dem Wäldchen kreuzten sie dabei einen Fahrweg, der nach dehländischen Kriterien den Namen „Straße“ nicht verdiente, hierzulande aber durchaus als solche galt. Allerdings hatten sie noch nie erlebt, daß jemand diese sogenannte Straße benutzte. Bis heute.
Kulle wollte gerade, gedankenverloren wie immer, den Schutz der Bäume verlassen, als Bärdel nach ihm griff und ihn gerade noch am Schulterfell erwischte.
„Stop!“ flüsterte er. „Da ist doch was!“
Auf dem Fahrweg oder auf der Straße, jedenfalls auf dem festgefahrenen Lehm, stand ein Auto. Es sah so aus, als gehörte es nicht hierher in die Berge und als wollte es auch nicht hier sein. Der ehemals weiße PKW war lehmüberkrustet. Der linke Vorderreifen war platt, und unter dem Wagen breitete sich eine übelriechende schillernde Öllache aus. Die Scheiben waren dunkel getönt, aber dennoch konnten die beiden bei genauem Hinsehen erkennen, daß die Vordersitze besetzt waren.
„Menschen!“ Bärdels Stimme war noch leiser als vorhin. „Laß uns verschwinden!“
Kulle schüttelte jedoch den Kopf. Er sah Studienobjekte vor sich, keine unmittelbare Gefahr. „Nicht so eilig“, sagte er. „Die beiden schlafen doch, das sieht sogar eine Blindschleiche. Außerdem sieht es sehr so aus, als ob sie sich verirrt hätten – ihr Auto ist jedenfalls eine einzige Katastrophe. Ich möchte mir das näher ansehen.“
Morgen in den Lasalls
Bevor Bärdel reagieren konnte, sah Kulle sich das näher an, so wie er es verstand: Er ging ohne Umschweife auf das Auto zu und riß die Beifahrertür weit auf. Der Oberkörper eines jungen Mannes in dunkelblauem Anzug rutschte in den frei gewordenen Raum, und der Kopf wäre auf den harten Boden aufgeschlagen, hätte Kulle ihn nicht im letzten Moment aufgefangen.
„Oh“, sagte Kulle überrascht.
„Oh“, sagte der junge Mann und schlug die Augen auf. Er machte die Augen sofort wieder zu, und sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Zuerst schien er skeptisch zu sein, aber dann begann er zu lächeln. Das Lächeln wurde immer strahlender, und als sein Mund so breit war, daß er die Ohren zu berühren schien, schlug er die Augen wieder auf. Er schaute Kulle voller Vertrauen an, hob die Arme hoch über seinen Kopf und senkte sie stufenweise wieder.
Pay Lay Ale“, sagte er dabei.
„Kulle“, sagte Kulle, als er sich seinerseits vorstellte. Er war jedoch verwirrt – so einen merkwürdigen Namen hatte er noch nie gehört, und auch das Begrüßungsritual war ihm unbekannt.
Seine Antwort schien den jungen Mann nicht minder durcheinanderzubringen. Er schloß seine Augen wieder, rieb sich die Stirn, massierte sich die Schläfen und sah Kulle danach zum zweiten Mal an. Diesmal war sein Blick mißtrauischer und klarer zugleich. Er schüttelte den Kopf, als hätte er einen entsetzlichen Fehler begangen, und wandte sich der Gestalt auf dem Fahrersitz zu. Kulle beugte sich tiefer hinab, um besser sehen zu können.
Der Mann auf dem Fahrersitz war ebenso jung und ebenso weiß wie der Beifahrer und trug den gleichen blauen Anzug. Auch er schlief fest oder war vielleicht  ohnmächtig, wie es sein Freund oder Kollege vor wenigen Minuten auch getan hatte oder gewesen war. Kräftiges Schütteln seines Beifahrers brachte ihn jedoch wieder zu Bewußtsein.
„Wasser!“ sagte er.
Damit konnten die Spaziergänger dienen. Seit dem Abenteuer des ersten Tages hatte Bärdel die Höhle nie wieder verlassen, ohne eine große Flasche Wasser mitzunehmen, und sei es auch nur für einen kurzen Ausflug. Und er hatte allen Bärenlebenern eingeschärft, es genauso zu halten. Also drängelte er sich jetzt nach vorne und reichte seine Flasche ins Auto.
„Bitte, trinkt ruhig, soviel ihr mögt. Wir haben genug.“ Selbstverständlich sprach Bärdel amerikanisches Englisch, aber als er sprach, merkte er, daß der junge Mann das nicht getan hatte. „Wasser“ hatte er verlangt. Buchstäblich. „Wasser“ auf deutsch.
Nachdem sowohl der Fahrer als auch sein Begleiter die Flasche gierig geleert hatten und sie, sichtlich beschämt wegen ihrer Gier, zurückgaben, begann Bärdel zu fragen. „Seid ihr Deutsche?“
Beide nickten.
„Verirrt?“ Beide nickten wieder.
„Touristen?“ Beide schüttelten den Kopf.
„Nein, wir sind Miss…“, begann der eine, aber der andere fiel ihm sofort ins Wort. „Dürfen wir euch etwas fragen?“ wollte er wissen.
“Selbstverständlich!“ sagte Kulle spontan. Er war überzeugt davon, daß es keine Frage gab, die er nicht beantworten konnte.
„Glaubt ihr an Gott?“
Das überraschte Kulle denn doch, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann aber holte er tief Luft. „Natürlich ni…“
Morgen in den Lasalls
„Natürlich nimmt diese Frage sich unter völlig Fremden ein wenig merkwürdig aus“, erklärte Bärdel anscheinend seelenruhig beinahe gleichzeitig. Die beiden Fremden sahen jedenfalls nicht, daß er Kulle heftig in die Seite knuffte, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Es ist schließlich eine sehr persönliche Frage, aber ich will sie trotzdem beantworten: „Ja!“
Kulle blies ihm seinen heißen Atem ins Gesicht, als er ihn verblüfft ansah, aber Bärdel zwinkerte oder blinzelte kein bißchen. Stattdessen lächelte er die Fremden harmlos und strahlend an.
Die beiden strahlten zurück. Der Zusammenbruch ihres Autos, ihre offensichtliche Erschöpfung, vielleicht sogar Verletzungen – alles schien wie weggeblasen. „Wir auch!“ sagten sie im Chor. Und ebenfalls unisono: „Es ist schön, euch zu treffen, Brüder!“
„Gut, gut“, brummte Kulle, „dann sind wir uns also einig, und jeder kann wieder seiner Wege gehen.“ Er sah Bärdel auffordernd an. So neugierig er auch war, einen Disput mit religiös Verrückten, die auf einem Waldweg in einem zusammengebrochenen Auto saßen, hielt er für wenig fruchtbar. Bärdel schien jedoch anderer Meinung zu sein, denn er blieb wie angewurzelt stehen und wartete offenbar auf etwas. Er brauchte nicht viel Geduld zu haben.
„Die Botschaft der Bibel ist wunderbar, nicht wahr?“ fragte Fahrer.
Bärdel nickte mit verklärtem Lächeln. Kulle schaute mehr und mehr verwirrt drein.
„Aber…“ sagte Fahrer.
Bärdel runzelte die Stirn. Er schien nicht geneigt, irgend etwas auf die Bibel kommen zu lassen.Kulle sah jedoch, daß er schauspielerte. Er hatte zunehmend das Gefühl, an einer Schmierenkomödie teilzunehmen, die er allerdings nicht kannte.
„Aber was?“ wollte Bärdel wissen.
Seine augenscheinliche Skepsis veranlaßte Fahrer zu einer anderen Strategie. „Aber viele Menschen glauben leider, daß Gott sich heute nicht mehr offenbart“, erklärte er.
„Tut er das denn?“ Das war wieder Bärdel.
Kulle verlor die Geduld. Gut, abstrakt hatte er verstanden, was hier ablief. Die beiden jungen Männer wollten ihn und seinen Freund für ihre Religion keilen. Bärdel hatte das eher begriffen als er und wollte die beiden jetzt genüßlich und ausführlich vorführen. Aber Kulle hatte keine Lust, sich eine langatmige und bestimmt langweilige Religionsgemeinschaftsgründungs- oder Wundergeschichte anzuhören nach dem Schema: Jungfrau Maria erscheint drei armen Bauernmädchen, Gott erscheint viehhütendem Araberjungen, Nomade klettert bei schlechtem Wetter auf einen Berg – oder so ähnlich. Da er in Amerika war, war er sicher, daß in der Story der Beiden Gottvater samt Sohn, vielleicht auch noch begleitet von einer Dunstwolke, einem Knaben erschienen war, der vermutlich Miller oder Smith hieß – eigentlich also nichts Neues. Viel spannender war da doch, was die neue Religion zu bieten hatte.
„Also, das tut er bestimmt, wenn ich euch beide so ansehe. Wer mitten in der Wildnis über nichts anderes reden will als über Gott, dem ist er zweifellos erschienen!“ knurrte er. Bärdel sah ihn böse an, aber die beiden jungen Männer strahlten Kulle an, als sei er der Weihnachtsmann. „Na, dann erzählt mal – wie ist die Kosten-Nutzen-Relation?“
Bärdel fühlte sich genötigt zu übersetzen, als er die Verwirrung der Autofahrer bemerkte. „Mein Freund möchte gerne wissen, was der Gott, an den ihr glaubt, von seinen Dienern verlangt und wie er ihren Dienst belohnt. Mich interessiert das natürlich ebenfalls“, fügte er höflich hinzu.
Jetzt waren die beiden jungen Männer nicht mehr zu halten. Sie stiegen aus ihrem Auto, federnd und energiegeladen, kamen auf Bärdel und Kulle zu, legten ihnen jeweils einen Arm über die Schulter und übertrumpften sich wechselseitig mit ihren Erklärungen.
„Errichtung des Gottesreiches in Amerika…“
„Ewiges Leben im Himmel, in der Anwesenheit Gottes, mit eurer gesamten Familie…“
„…also mit allen Generationen…“
„…selbstverständlich ewige Fortführung der Ehe…“
„Ein glückliches, drogenfreies Leben auf dieser Erde…“
„Ein irdisches Leben ohne überflüssige Zweifel, denn wir gehorchen der Obrigkeit und dem Gesetz…“
„Beistand von geschulten Brüdern und Schwestern bei allen Problemen, mindestens einmal monatlich…“
Das verbale Trommelfeuer der beiden wollte zunächst gar nicht wieder aufhören, aber endlich verebbte ihr Redefluß.
„Das alles und noch mehr gibt es nur für den Zehnten“, sagte schließlich Fahrer. „Und ein bißchen Engagement“, fügte Beifahrer hinzu. Sie schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an.
Kulle suchte den Blickkontakt mit Bärdel, und Bärdel nickte. Kulle hatte freie Bahn. Bärdel sah aus, als freute er sich kräftig auf ein ordentliches show-down, aber Kulle enttäuschte ihn.
„Hmhm“, machte er. „Wir sollten jetzt mal alle kräftig anfassen, den platten Reifen wechseln und euer Auto umdrehen, damit ihr wenigstens bergab rollen könnt und wieder zu euren Leuten kommt. Die Bremsen sind doch in Ordnung, oder?“
Die beiden Männer schwankten eine Weile zwischen dem Wunsch nach der Fortsetzung ihres theologischen Gesprächs und der vorgeschlagenen Rettungsmaßnahme hin und her, entschieden sich schließlich jedoch für Kulles Vorschlag. Als ihr Auto nach einer arbeitsamen Weile mit der Nase bergab zeigte, stiegen sie ein, bedankten sich, versprachen wiederzukommen, schalteten die Zündung ein, lösten die Bremse und legten den Leerlauf ein. Langsam, dann rascher begannen sie zu rollen. Bevor sie hinter der ersten Kurve verschwanden, leuchteten die Bremslichter auf.
Bärdel grinste Kulle an. „Das waren übrigens
LDS“, informierte er ihn. „Ich habe sie sofort erkannt, denn Ramses hat mir inzwischen einiges über sie erzählt. Deshalb dachte ich, daß ich sie dir bei dieser günstigen Gelegenheit gleich live vorführen sollte. Aber sag mal – seit wann bist du denn gegenüber religiösen Eiferern so nachsichtig, daß du auch noch dafür sorgst, daß sie sicher nach Hause kommen?“
„Nachsichtig?“ knurrte Kulle. „Bin ich das? Ihre Ölwanne ist leer, also können sie den Motor nicht anlassen. Der würde sich sofort festfressen. Ohne Motor haben sie keine Bremskraftverstärkung. Auch als LDS-Mitglied sollte man solche simpelsten technischen Sachverhalte kennen. Wenn sie heil unten ankommen wollen, dann brauchen sie also entweder kräftige Muskeln oder einen kräftigen Gott. Haben sie eins von beiden oder beides, dann wünsche ich ihnen ein glückliches drogenfreies Leben unter irgendeinem grausamen, aber selbstverständlich von Gott eingesetzten Diktator. Und wenn ihnen beides fehlt, ist das auch nicht schlimm, denn es erwartet sie ein nicht endendes Leben mit ihrer lieben Familie in Gottes Reich.“
„Um Gottes willen!“ flüsterte Bärdel entgeistert.
„Nun fang du nicht auch noch so an!“ fauchte Kulle. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, erstens. Wir können solche Typen hier oben nicht brauchen, zweitens. Und jetzt ist es Zeit zum Frühstücken.“

 

Identitätsdiebstahl

 

Versammlungsplatz
Manfred war glücklich. So glücklich, daß er in infantile Gewohnheiten zurückfiel und sich ertappte, wie er ein dummes altes Kinderlied vor sich hinbrummte: „Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.“ Dabei drückte er seinen neuen Laptop fest an sich. Die größte Hürde war genommen.
„Wo hast du das Ding denn her?“ wollte Bärdel mißtrauisch wissen, als er den flachen schwarzen Kasten zum ersten Mal zu Gesicht bekam.
„Den habe ich geschenkt bekommen“, sagte Manfred mit der unschuldvollsten Miene, zu der er fähig war. Das war fast gar nicht gelogen,1 Bärdel hatte dennoch das Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmte, aber er war klug genug, vorsichtshalber nicht genauer nachzufragen.
Mit Hilfe des Laptops und seines „Text to Speach“-  Programms lernten die Bären Englisch. Ihre hauptsächliche Hilfe dabei war allerdings Athabasca, die unermüdlich ihre Aussprache korrigierte und ihnen half, auch das kleinste Detail ihrer neuen Umgebung richtig zu benennen. Dabei lernte sie selbst übrigens ausgezeichnet Deutsch.
Natürlich hatten Manfred und seine Freunde den Computer nicht hauptsächlich deshalb „organisiert“, wie sie das nannten, um Englischlektionen abzuhalten. Er war der erste Baustein für den umfassenden Kontakt zur Außenwelt, den die Bären in Dehland gehabt hatten und den sie sich hier wieder wünschten. Einige Besuche in den umliegenden Siedlungen hatten die technische Ausrüstung um elektrische Leitungen, Glühbirnen und Steckdosen ergänzt, und Manfred hatte den nächstgelegenen Transformator angezapft.

Auch in Dehland war das die gängige Methode gewesen, Bedarfsartikel von geringem Wert zu besorgen, aber hier galt es, wesentlich vorsichtiger zu sein, das bemerkten die Bären bald. Die wenigen Menschen, die hier lebten, hatten zwar alle eine gut ausgestattete Werkstatt, aber das gesamte Inventar darin war so sorgfältig sortiert, daß jeder fehlende Gegenstand schnell auffallen mußte. Wer so ordentlich war, war entweder ein analer Charakter oder arm – für die Bären kam beides auf das gleiche heraus. Deshalb rief Manfred eines Nachmittags seine Freunde zusammen. Er kündigte an, es gebe Wichtiges zu besprechen, und so kamen alle. Auch Athabasca gesellte sich neugierig dazu.
„Das hier wird uns helfen, unsere Probleme zu lösen!“ verkündete Manfred der Versammlung. „Das hier“ war eine Büroklammer, eine verbogene Büroklammer, die er für alle sichtbar hochhielt.
Unwilliges Brummen und auch amüsiertes Kichern wurden laut. Da Manfred dergleichen erwartet hatte, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Das soll kein Witz sein“, erklärte er geduldig. „Mit so einem kleinen Ding kann man hervorragend einfache Schlösser öffnen, ohne daß sie Schaden nehmen. Ich werde es euch zeigen!“
Kulle

„Das brauchst du uns nicht zu zeigen, das weiß doch nun wirklich jeder!“ knurrte es unwillig aus einer Ecke. Manfred suchte den Sprecher, der erst jetzt den Kopf in die Höhe reckte, und entdeckte Kulle. Er seufzte. Kulle, der immer besserwisserische Kulle, würde seine Aufgabe nicht gerade erleichtern.
„Also ich weiß zum Beispiel nicht, wie man das macht!“ Athabasca kam Manfred zu Hilfe. Aber der freute sich zu früh, denn sie fuhr fort: „Man braucht das auch nicht zu wissen. Niemand hier schließt sein Haus ab, das sollte euch inzwischen aufgefallen sein. Warum also soll man Schlösser knacken?“
Überall in der Runde nickten die Bären mit dem Kopf. Atti hatte völlig recht – sie hatten ihre kleinen Diebstähle begehen können, ohne durch irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen behindert worden zu sein.
Manfred unterdrückte seinen aufkommenden Unwillen. „Schön und gut“, sagte er. „Aber, Atti, hast du schon mal einen Briefkasten aufgemacht?“
„Natürlich nicht. Warum sollte ich auch? Papier kann man nicht essen, oder ist das in Dehland anders?“ Wieder hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.

Wortlos holte Manfred einen Stapel Papier hinter seinem Rücken hervor und warf ihn schwungvoll in die Versammlung. Briefe, Karten, Hefte und Faltblätter lösten sich voneinander und flatterten durch die Luft. Die wenigsten fielen zur Erde, denn die meistern wurden von den neugierigen Bären aufgefangen. „Das ist der typische Inhalt eines Briefkastens hier in der Gegend“, erklärte er. „Essen kann man den selbstverständlich nicht. Aber seht ihn euch doch mal an – vielleicht ist etwas Interessantes dabei!“
Eine Weile lang war nur noch das Rascheln von Papier zu hören. Dann mischte sich das eine oder andere unterdrückte Kichern darunter. Noch nie zuvor hatten die Bären Post gesehen, die zu über neunzig Prozent aus Überflüssigem bestand, nämlich aus Werbung. Besonders bunt und umfangreich stachen die Gartenkataloge hervor, aber auch die Hersteller von Werkzeugen und elektronischen Artikeln priesen ihre Produkte prahlerisch an. Daneben warben die regionalen Geschäfte mit ihren Sonderangeboten, von denen eines angeblich immer sensationeller und günstiger war als das andere. Wesentlich seriöser gab sich dagegen die Finanzwelt: Versicherungen gegen und für alles wie auch Geld machten das Leben angeblich kalkulierbar, angenehm und sorgenfrei.
„Guck mal hier, ein Plastikbär als Dekoration für den Garten!“
„Toll – auf diesen Fernseher für 69$ gibt es 99$ Rabatt!“
„Hmm, eine Platinum-Kreditkarte, für die man ein Jahr lang keine Gebühren zu zahlen braucht – die hätte ich gerne!“
„Ich auch“, erklärte Manfred. Und deshalb brauchen wir die da!“ Jetzt hielt er nicht nur eine, sondern mehrere verbogene Büroklammern hoch.
Kulle schüttelte enttäuscht den Kopf. Mit Manfred hatte er sich viel Mühe gegeben, sehr viel Mühe sogar. Er war ja auch ein intelligenter Bursche. Aber mit der Logik haperte es bei ihm, wie sich auch jetzt wieder zeigte. „Manfred“, sagte Kulle und legte all die Geduld in seine Stimme, zu der er fähig war – also gar keine. „Manfred, dieses Kreditkartenangebot ist nicht für dich, sondern für…“ Er griff nach dem Briefumschlag. „…für Michael A. Pratt in Castle Valley.“
Wortlos nahm Manfred ihm das Papier aus der Hand, zog einen Kugelschreiber hinter dem Ohr hervor und füllte einige Spalten aus. Dann gab er Kulle alles zurück, immer noch schweigend. Während Kulle las, murmelte er vor sich hin.
„Ja! Ich, Michael A. Pratt, will…Angebot annehmen…keine weiteren Verpflichtungen…keine Jahresgebühr…Castle Valley…Michael Pratt.“ Er holte tief Luft. „Urkundenfälschung!“ brummte er empört.
„Genau: Urkundenfälschung! Na und?“ Manfred ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich verstehe das alles nicht“, beschwerte sich ein Jungbär, der sich gerade erst von seiner Mutter getrennt hatte – genau genommen, hatte sie ihn weggejagt, weil er ihr lange genug am Fell gehangen hatte. Er hieß Del. Jetzt war er zum ersten Mal bei einer Erwachsenenversammlung, worauf er mächtig stolz war. Er hatte sich vorgenommen, sich ganz cool zu geben, und bis eben hatte das auch geklappt.

Als Del sich auf einmal im Mittelpunkt des Interesses bemerkte, wurde er blaß um die Schnauzenspitze, aber er sprach tapfer weiter. „Dieser Michael Pratt bekommt aufgrund von Manfreds Urkundenfälschung demnächst eine Kreditkarte zugeschickt – und was haben wir davon?“
„Manfred hielt seine Büroklammer zum dritten Mal hoch. „Wir klauen ihm die Kreditkarte, und dann haben wir sie, und dann können wir damit einkaufen.“ Er lächelte und war erkennbar stolz auf sich.
„Erst Urkundenfälschung und dann noch Betrug! Schwerer Betrug! Junge, wer hat dir das eigentlich beigebracht?“ Kulle war aufgesprungen, gestikulierte wild und zupfte an seiner Fliege. Er bot ein Bild reinster Empörung.
„Du“, antwortete Manfred seelenruhig. „Nein, natürlich nicht diese Aktion hier konkret.“ Er streckte vorbeugend den Arm aus, um Kulle notfalls abwehren zu können, falls der sich auf ihn stürzen wollte. „Aber abstrakt schon. Wer hat mir denn beigebracht, daß die Expropriateure expropriiert werden müssen? Genau das mache ich hier. Mr. Pratt passiert gar nichts. Wenn er seine erste Kreditkartenabrechnung bekommt, wird er der Firma mitteilen, daß er die entsprechende Karte gar nicht besitzt. Das war‘s. Geschädigt ist die Bank, und die hat nichts Besseres verdient. ‚Was ist der überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer Bank‘, sagt Brecht. Und wer hat mich den Spruch gelehrt? Kulle!“
Kulle sank in sich zusammen und wieder auf den Boden zurück. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich in seinem Gesicht. Zwar fühlte er sich gedemütigt, aber er war auch mächtig stolz auf seinen Schüler Manfred.
„Aber…“, begann Del schüchtern.
„Ja?“ fragte Manfred geduldig.
„Wenn dieser Mr. Pratt der Bank geschrieben hat, dann ist die Karte bestimmt ungültig oder steht auf einer schwarzen Liste, und wer damit einkauft, wird verhaftet. Oder täusche ich mich?“
„Du hast völlig recht. Diese eine Karte können wir nur für kurze Zeit gebrauchen, dann müssen wir sie wegwerfen. Aber es gibt hier viele Briefkästen und viele Kreditkartenangebote. Wir müssen sie nur nutzen. Und dafür brauchen wir diese Büroklammern. Kulle wird euch zeigen, wie man sie ansetzen muß. Er hat vorhin ja gesagt, daß er Experte darin ist.“
„Nun, Experte nicht gerade“, knurrte Kulle, ob des Lobes schon wieder ein wenig mit Manfred versöhnt. „Aber selbstverständlich kann ich…“ Er griff mit der rechten Pfote nach dem Drahtstück, ohne den Satz zu beenden, und faßte mit der anderen das einfache Schloß, das Manfred ihm hinreichte. Aller Augen folgten ihm gebannt, als er die Klammer ins Schlüsselloch einführte, ruckartig hin- und herbewegte – und abbrach. „Das…das ist…ein unbekannter Mechanismus, der…“
Athabaska

Athabasca erlöste ihn aus der peinlichen Situation. Mit spitzen Zähnen zog sie das eingeklemmte Drahtstück aus dem Schloß heraus, bog sich den Rest der Büroklammer zurecht, stocherte ein bißchen – und das Schloß war entriegelt. „Geht wirklich ganz leicht, wenn man die entsprechenden geschickten Finger hat“, kommentierte sie und lächelte spitzbübisch. „Frauenfinger. übrigens Frauen – ich nehme an dieser Versammlung im Auftrag aller jungen Bärinnen teil, um euch zu sagen, daß wir beim nächsten Mal ebenfalls alle kommen werden. Ich bin authorisiert zu sagen, daß wir auch die halbe Wache an den Briefkästen übernehmen und die Hälfte aller Unterschriften fälschen. Und wir fordern einen Computerkurs. Langfristig wollen wir programmieren lernen, zunächst aber werden wir uns mit einer Einführung ins Internet zufriedengeben. Dann können wir nämlich ebenfalls mit ‚unseren‘ Kreditkarten einkaufen.“
Das Brummen der Bären, das jetzt laut wurde, übertönte so manches Zähneknirschen. Aber die Ablehnung blieb versteckt, denn Athabascas Forderungen waren nur gerecht, und Bären geben Fairneß immer den Vorzug, auch wenn eigene Privilegien dadurch gefährdet werden. Kulles und Manfreds Zustimmung waren dagegen uneingeschränkt.
Kulle beschloß, Atti ein wenig theoretisch zu unterweisen, und hatte dabei ‚Die Entstehung der Familie, des Privateigentums und des Staates‘ von Engels und ‚Die Frau und der Sozialismus‘ von Bebel im Sinn. Manfred grinste übers ganze Gesicht und freute sich darauf, Athabasca zu unterrichten. Er war so begeistert von der Idee, daß er völlig vergaß, daß sie nicht allein sein würden.

Kulles Wahl

Heuschrecke, Hase, Erdhörnchen, Luchs und Coyote hockten zusammen und beratschlagten. Da kam Kulle des Wegs. Er grüßte höflich und fragte, ob er sich ihnen zugesellen dürfe. Die Fünf schauten einander an, nickten sich zu, lächelten geheimnisvoll und wiesen auf einen Baum direkt vor ihnen.
„Wir haben uns hier getroffen, weil wir jemanden brauchen, der für uns auf diesen Baum klettert“, zirpte Heuschrecke.
„Allerdings darf nicht jeder dort hinauf!“ ergänzte Erdhörnchen.
Falscher Hase „Nein, keineswegs jeder!“ lispelte Hase und wackelte aufgeregt mit den Ohren. „Nur der, dem wir es erlauben.“
„Nur der, der unsere Fragen zufriedenstellend beantwortet hat“, konkretisierte Luchs.
„Unsere keineswegs einfachen Fragen!“ blinzelte Coyote geheimnisvoll.
Kulle fühlte sich geschmeichelt. Natürlich wollte er gerne für die Versammelten auf diesen Baum klettern, und sei es nur, um ihnen zu beweisen, daß er ihre komplizierten Fragen beantworten konnte. Dennoch ließ ihn seine gute Erziehung zögern.
„Warum braucht ihr einen Fremden für diese Aufgabe?“ wollte er wissen. „Jeder von euch kann auf diesen Baum klettern, denke ich, denn er ist sehr schief gewachsen, und auch Hase und Coyote können auf seinem Stamm emporwandern. Und wer schwierige Fragen stellen kann, wird auch schwierige Antworten wissen.“
„Ja, das stimmt schon!“ gab Luchs zu. „Ich habe aber gerade drei kleine Kinder, die ich versorgen muß. Und wenn ich oben auf dem Baum bin, kann ich nicht für sie jagen.“
„Ich mache lieber hier unten Musik, um eine Frau zu finden, und verstecke mich dabei zwischen den Grashalmen“, flötete Heuschrecke. „Oben in den Bäumen gibt es entsetzlich viele Vögel, die in mir nur eins sehen: ein Nahrungsmittel!“
„Ich interessiere mich nicht für Bäume!“ mümmelte Hase. Erdhörnchen nickte energisch und schloß sich seiner Meinung an.
Kulle registrierte, daß Coyote schwieg. Er sah ihn auffordernd an, jedoch erfolgte keine Reaktion. Also mußte er fragen: „Und warum kletterst Du nicht auf den Baum?“
„Ich bin farbenblind“, sagte Coyote.
Kulle zuckte die Schultern. Natürlich war Coyote farbenblind. Alle Coyoten sind farbenblind, das weiß jedes Biologiebuch. Coyote benutze offenbar eine billige Ausrede, wie die anderen auch.
„Na schön. Keiner von Euch will auf den Baum, also werde ich für Euch raufklettern“, sagte er.
„Halt!“ Alle riefen wie aus einem Mund. „Halt! Wir haben Dir doch gesagt, daß Du erst hinauf darfst, nachdem Du unsere Fragen beantwortet hast!“
Kulle hatte diese Bedingung vergessen, beziehungsweise hatte er nicht mehr an sie geglaubt, nachdem er festgestellt hatte, daß niemand auf den Baum klettern wollte.
„Also gut! Fragt!“ sagte er. Kulle war ein geduldiger Bär.
„Bist Du Demokrat oder Republikaner?“ wollte Hase wissen.
Kulle fand, daß diese Frage indiskret war. Er hatte nicht die geringste Lust, jemandem, den er kaum kannte, seine innerste politische Überzeugung zu verraten. Außerdem verriet die Frage einen äußerst beschränkten politischen Horizont. Er ließ sich jedoch nichts anmerken.
„Ich bin Republikaner“, sagte er und entschied sich damit entsprechend der politischen Theorie für die weitergehende Variante, denn sie schloß immerhin die Existenz einer Monarchie aus.
„Schade!“ sagten Hase, Heuschrecke und Erdhörnchen.
Falscher Hase „Wir haben eigentlich immer Demokraten gewählt“, sagte Heuschrecke zur Erklärung, als Kulle verwundert guckte.
„Nicht immer!“ korrigierte Hase.
„Nein, natürlich nicht immer, Aber immer dann, wenn wir gewählt haben!“ konkretisierte Erdhörnchen. „Weil die Demokraten die besseren Sozialprogramme haben.“
Kulle hatte keine Zeit, um die Stirn zu runzeln, die geballte Faust auf ein imaginäres Rednerpult fallen zu lassen und seinem Publikum eine Grundsatzerklärung über politische Partizipation zukommen zu lassen. Er war vollauf damit beschäftigt, Luchs‘ nächste Frage zu beantworten.
„Was wirst Du für mich tun, nachdem ich Dich gewählt habe?“
„Nachdem Du mich gewählt hast, werde ich Deine Interessen vertreten“, sagte Kulle so langsam, als ob er den Satz aus einm Schulbuch ablesen würde. „In Deinem Fall heißt das, daß Du so viele Tiere jagen kannst, wie Du willst. Für den Fall, daß Dir Fleischfasern im Gebiß hängen bleiben, die Du mit Deiner Zunge allein nicht beseitigen kannst, werde ich einen Fonds einrichten, aus dem Deine möglichen Kosten für einen Zahnarzt bezahlt werden.“
Luchs nickte zufrieden und machte Hase Platz. Wie Kulle erwartet hatte, wollte auch Hase nur das eine von ihm wissen.
„Was wirst Du für mich tun, nachdem ich Dich gewählt habe?“
„Du sollst so viele grüne Wiesen haben, wie Du nur willst. Ich werde alle saftigen Wiesen einzäunen und unter Naturschutz stellen lassen, damit Du immer genug zu mümmeln hast. Raubtiere, die Dich bedrohen, werden erschossen; dafür wird eine Behörde sorgen, die ich einrichten werde.“
Kulle schaute sich um und wartete auf eine Reaktion, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen stellte Heuschrecke ihm die Frage, die er inzwischen sehr gut kannte.
„Für Dich werde ich ein Verbot aller Insektenvertilgungsmittel durchsetzen. Du darfst so viel Gras und sogenannte Nutzpflanzen und Wildkräuter fressen, wie Du möchtest.“
„Danke“, sagte Heuschrecke. „Ich glaube Dir übrigens kein Wort!“
„Na endlich!“ Kulle war ungemein erleichtert. „Ich habe schon befürchtet, daß Ihr hier alle völlig debil seid. Erstens widersprechen sich alle meine Versprechungen, oder, um es kurz zu machen, sie sind antagonistisch, wenn Ihr versteht, was ich meine. Zweitens wäre es völlig hirnrissig zu glauben, daß jemand, der auf einem Baum sitzt, etwas verändern oder veranlassen soll. Er hat von dort oben doch eine völlig falsche Perspektive und sieht nicht, welche Probleme es tatsächlich gibt. Ich bin froh, daß das dumme Spiel hiermit vorbei ist. Jetzt solltet Ihr mir mal erzählen, wass Ihr wirklich von mir wollt!“
„Wir möchten, daß Du für uns auf diesen Baum kletterst!“ sagte Coyote. „Ernsthaft! Wir alle sind nämlich sehr überzeugt von Dir. Natürlich wissen wir, daß Du deine Versprechen nicht halten kannst. Luchs, Hase und Heuschrecke haben entgegengesetzte Interessen, Du kannst einfach nicht jeden zufriedenstellen. Auch wird bestimmt niemand Lust haben, Luchs eine Krankenversicherung für seinen Zahnarzt zu bezahlen. Das alles wissen wir. Aber Du hast überzeugend gesagt, was eigentlich gut für jeden von uns wäre. Vielleicht nicht gut für uns alle. Um das herauszufinden, müßten wir uns mal ernsthaft zusammensetzen. Das würde bestimmt lange dauern und uns davon abhalten, zu jagen und Musik zu machen und Gras zu fressen und was es sonst noch für wichtige Dinge gibt. Das schaffen wir nicht, und deshalb übertragen wir es Dir, für unser Wohl zu sorgen, obwohl wir wissen, daß Du es nicht kannst. Und jetzt rauf mit Dir – Du hast keinen Gegenkandidaten!“
Coyote bleckte die Zähne, und Kulle, der sich zu den klugen, aber nicht unbedingt zu den tapferen Bären zählte, schlug seine Klauen in die Baumrinde und stieg langsam am Stamm hinauf. Coyote, Hase, Heuschrecke, Luchs und Erdhörnchen begleiteten seinen Aufstieg mit Beifall.
„Es lebe unsere neue Regierung!“ riefen sie im Chor.
Kulle suchte sich eine bequeme Astgabel und versuchte, es sich gemütlich zu machen und nach dieser Überraschung erst mal erholsam zu schlafen. Über ein Programm zu Erziehung der hiesigen Bevölkerung würde er nachdenken, wenn er wieder wach war.

Kulle

Mountainbiking in Moab

Biker

„Hallo?“
„Hi John, hier ist Jim. Störe ich?“
„Überhaupt nicht, ich habe deinen Anruf doch erwartet. Na, was macht unser Patient?“
„Physisch geht es ihm wieder gut. Das Kerlchen ist zwar ein Bürohengst, aber eben beneidenswerte 25 Jahre jung. Er hat viel zu trinken bekommen und eine Kochsalzinfusion, das hat ihn wieder auf die Beine gebracht. Darüber hinaus habe ich ihn komplett untersucht, mit allen Schikanen – wäre zwar nicht nötig gewesen, ist aber, unter uns gesagt, gut für mein Budget. Der Knabe ist übrigens luxuriös krankenversichert, das weiß du doch sicher, oder?“
„Nein, wie sollte ich? Er war bei uns im Büro, um Anzeige zu erstatten. Auch wenn wir ihn für verrückt halten – das ist kein Grund, ihn zu filzen. Ist er nun verrückt, oder nicht?“
„Ehrlich gesagt, John, ich weiß es nicht. Er arbeitet bei den Feds in D.C., die entsprechenden Papiere hat er mir gezeigt. Jetzt hat er sich hochgearbeitet und seit Jahren den ersten nennenswerten Urlaub – und was macht er? Kauft sich das teuerste Mountainbike, das auf dem Markt ist, obwohl er überhaupt noch nie auf einem Fahrrad gesessen hat, um auf unseren berühmten Slickrockrouten herumzugondeln. Alles das natürlich mitten im Sommer, wenn wir Temperaturen von über 100 Grad Fahrenheit und 15% Luftfeuchtigkeit haben. Völlig untrainiert will er über Stock und Stein und mal so eben 3000 Fuß rauf und dasselbe wieder runter. Ich finde, das ist verrückt.“
„Komm, Jim, laß die dummen Scherze. So verrückt sind sie alle, und wenn sie es nicht wären, dann könnten wir unser schönes Moab, Utah vergessen und einen Zettel an den Straßenrand kleben: ‚Seit dem Uranboom in den 50er Jahren ist die Stadt leider bis auf weiteres geschlossen‘. Du weißt genau, was ich von dir wissen will!“
„Entschuldige. Also, der Junge ist in Grenzen intelligent. Er hatte Wasser mit auf seiner Tour durch die La Sals. Die LaSals Allerdings zu wenig. Stattdessen hat er den technischen Kram mitgeschleppt, den man wohl für wichtig hält, wenn man ein Bürohengst aus D.C. ist. Seinen Pager zum Beispiel. Als ob er damit hier in der Wildnis für irgend jemanden erreichbar wäre. Und seinen Laptop. Das war gar nicht mal so dumm.“
„Aber genau da fängt die Sache für mich an, blödsinnig zu werden, Jim. Was will jemand mit einem Computer auf einer Radtour in Südostutah, auf der er vermutlich keinen Menschen treffen wird, bestimmt aber keine Steckdose?“
„Entschuldige, aber als Sheriff solltest du schon wissen, was diese kleinen Wundermaschinen inzwischen können. GPS zum Beispiel. Global Positioning System. Du schaltest deinen Laptop ein, und der sagt dir, wo du gerade bist. Er zeigt dir Deinen Standpunkt auf einer Karte. Damit kommen selbst Deppen zurecht, die sich alleine mit Karte und Kompass nicht zurechtfinden. Es ist ganz einfach das ideale Orientierungssystem.“
„Quatsch! Ja, du hast schon recht, dieser technische Schnickschnack interessiert mich nicht genug. Vor der nächsten Wahl muß ich mich da noch ein bißchen – wie heißt das doch? – updaten. Kannst mir ja vielleicht helfen. Aber auch wenn ich ein technischer Idiot bin – es ist unmöglich, daß ich einen simplen Computer frage, wo ich bin, ohne daß der Computer seinerseits jemanden fragt, der es wissen muß. Woher soll ein kleiner schwarzer Plastikkasten wissen, wo er ist? Oder bin ich blöd?“
„Nein, John, du bist nicht blöd, sondern ich habe blöd erklärt. Du hast völlig recht. Der Laptop fragt jemanden, der es wissen muß, nämlich den GPS-Empfänger. Der erhält Signale von zwei Satelliten mit bekannter Position. Der Rest ist Geometrie. Wenn der Laptop darüber hinaus noch ein GSM-Modem hat, kann sein Besitzer sogar ohne Telefonkabel den Sheriff um Hilfe anmailen, falls er immer noch nicht alleine zurechtkommen sollte. Bis dann die Posse kommt, kann er sich die Zeit im Internet vertreiben.“
„Und das hat unser Patient gemacht, ja? Dir hat er das auch erzählt? Er hat seinen Laptop aus dem Rucksack geholt und seine Position bestimmt?“
„Genau das hat er mir erzählt.“
„Und dann?“
„Aber das weißt du doch schon alles.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Manche Menschen belügen die Polizei, aber einem Arzt sagen sie die Wahrheit. Also, wie geht die Geschichte weiter?“
„Er wollte seinen Laptop gerade wieder einpacken, als ihn eine Gruppe von Bären umringte. Fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Tiere. Ein Bär erklärte ihm höflich, sie wollten nur seinen Computer, sonst nichts. Da er sich hoffnungslos unterlegten fühlte, tat er ihnen ihren Willen. Ohne GPS-Orientierungsmöglichkeit verfuhr er sich danach und kam dehydriert ins Sheriffsbüro, wo er Anzeige erstattete.“
„Glaubst du ihm?“
„Den ersten Teil ja, die Sache mit der Orientierung. Der Rest ist Unsinn. Bären in den La Sals werden ab und zu gesehen, aber immer als Einzelgänger, und natürlich können Bären nicht sprechen.“
„Was machst du jetzt mit ihm?“
„Solange er hier ist, bekommt er Beruhigungsmittel. Und meine eingehende Generaluntersuchung hat eine medizinisch interessante Gemengelage ergeben, die dazu führt, daß unser junger Freund unter extremer Belastung zu halluzinogenen Zuständen neigt – wer tut das nicht. Ich werde ihm das bescheinigen, er will schließlich etwas sehen für sein Geld. Wahrscheinlich hatte er wirklich ein Blackout, bedingt durch Dehydrierung, und hat den Laptop in die Büsche geworfen. Wenn sein Arbeitgeber das Gutachten in die Finger bekommt, ist er gefeuert. Schade für ihn, aber wir haben hier schließlich einen touristischen Ruf zu verteidigen.“
„Jim, ich danke dir!“
„Nichts zu danken, John. Ist schließlich alles für unsere geliebte Heimatstadt, nicht wahr?“

 

Der erste Tag

Die Bären, der Frosch und das Schwein hatten sich für die erste Nacht gemütlich eingerichtet, und die meisten hatten auch gut geschlafen. Einige allerdings, vor allem die jungen, zeigten am Morgen leicht rot geränderte Augen. Sie waren nachts neugierig aus der Höhle nach draußen gewandert und hatten sich an dem fremden Sternenhimmel, der so ungewohnt klar war und an dem der Halbmond auf dem Rücken lag, lange nicht sattsehen können. Aber auch sie krochen früh aus den Schlafecken – der erste Tag lag vor ihnen, und sie wollten keine Sekunde von ihm versäumen.
Wortlos häuften die Bärenfrauen kleine Beerenhügel in der Mitte der Höhle auf, aber sie wurden unangenehm laut, als einige Jungmänner sich auf die Nahrung stürzen wollten, als sei deren Bereitstellung eine Selbstverständlichkeit.
„Stop!“ sagte Dina. „Zuerst mal heißt das: ‚Danke!‘ Und zweitens möchte ich, daß wir jetzt alle zivilisiert gemeinsam frühstücken und sich nicht jeder heimlich irgendwohin verkrümelt und plötzlich verschwunden ist!“
„Danke!“ sagte Bärdel beschämt, und auch viele andere murmelten ähnliches oder nickten mit gesenkten Blicken. Sie schämten sich, weil die Frauen für sie alle gearbeitet hatten und weil Dina genau ihre Gedanken gelesen hatte. „Danke!“ wiederholte Bärdel. „Wo habt Ihr denn in der fremden Umgebung so schnell die vielen Beeren finden können?“
Ramses „Ramses hat sie uns gezeigt. Sie wachsen massenhaft gleich hier hinter der Höhle. Serviceberries hat er sie genannt. Er sagt, es gebe viel davon, und alle Tiere liebten sie. Das Zeug schmeckt ziemlich sauer, aber das spricht für seinen hohen Gehalt an Vitamin C. Also: Laßt es euch schmecken!“
„Hmhm“, machte Bärdel, nachdem er die erste Handvoll gegessen hatte und sich bemühte, nicht das Gesicht zu verziehen. Die Beeren war nicht nur ziemlich sauer, sie waren sehr sauer. „Interessant! Ein völlig neuer Geschmack! Wir sollten uns also auch bei Ramses für die leckere Mahlzeit bedanken.“
Die Mienen der meisten Bären drückten aus, daß sie die Bewertung „lecker“ keineswegs für zutreffend hielten, aber niemand widersprach. Stattdessen sahen sich alle suchend um – wo war Ramses?
„Ramses ist draußen“, sagte Tumu. „Er hat uns erklärt, daß er es als Frosch nicht gewohnt ist, sich in Höhlen aufzuhalten. Aber wir sollen ihn jederzeit rufen, wenn wir ihn brauchen.“ Sie behielt für sich, daß die Körperausdünstungen der Bären und des Schweins für den kleinen Frosch offenbar alles andere als angenehm waren.
Bärdel tappte zum Eingang und bat Ramses hereinzukommen. „Danke, daß du uns zu einem so … gesunden Frühstück verholfen hast. Wir hoffen, daß wir bald selbständiger werden und deine Hilfe nicht mehr ständig beanspruchen müssen. Den heutigen Tag werden wir für erste Erkundungen der näheren Umgebung benutzen. Gibt es etwas, worauf wir achten sollten?“
Hinter der Stirn des kleinen Frosches arbeitete es sichtbar. „Bewegt euch nicht so schnell, wie ihr möchtet“, sagte er schließlich. „Es wird ein paar Tage dauern, bis ihr euch an die dünne Luft hier oben gewöhnt habt. Trinkt viel – die Luftfeuchtigkeit ist hier viel geringer als in Dehland. Und sonst? Erschreckt keine Kuh, erschreckt vor keinem Cougar und hütet euch vor den LDS. Das war’s eigentlich schon.“
„Was ist ein Cougar?“
„Ich nehme sowieso keine Drogen.“
Was sind LDS?“
„Ich kenne nur LSD!“
Fragen und Kommentare purzelten durcheinander.
Ramses wedelte mit seinen Froscharmen, und Ruhe kehrte ein. „Entschuldigung! Ein Cougar ist ein Berglöwe, korrekter ein Puma. Ein paar von ihnen gibt es her oben. Wenn man sie stört, werden sie meist unangenehm. Sie schlafen tagsüber hoch oben in den Bäumen und jagen nachts. Eigentlich solltet ihr euch also nicht begegnen. LDS sind merkwürdige Heilige. Ich erkläre euch das besser später. Ich hätte sie jetzt noch gar nicht erwähnen sollen. Hütet euch vor den Menschen, wollte ich sagen – auch von denen gibt es ein paar hier oben.“
Die Neuankömmlinge waren mit Ramses‘ Erklärung zwar keineswegs zufrieden, denn sie wollten immer alles ganz genau wissen, aber da der Frosch deutlich machte, daß er im Moment mehr nicht sagen würde, gaben sie sich zufrieden, brummten und quiekten ihren halbwegs höflichen Dank in seine Richtung und verließen dann die Höhle, um endlich ihre Neugierde zu befriedigen.
Tumu blieb als letzte und beseitigte seufzend die wenigen Frühstücksreste. Neue Welt hin oder her – die alten Gewohnheiten hatten die Bärenlebener leider mitgebracht. Alle anderen waren ihr deshalb schon weit voraus, als sie endlich nach draußen trabte und schnuppernd den Kopf hob. Sofort stieg ihr den Geruch von Honig in die Nase. Die Quelle konnte nicht weit entfernt sein. Vorsichtig und nach allen Seiten witternd setzte sie sich in Bewegung.
Die anderen Bären hatten es so eilig gehabt, ihre neue Umgebung zu erforschen, daß sie von dem verführerischen Duft direkt vor ihrer Tür nicht das Geringste wahrgenommen hatten. Nur das Schwein hatte die süßen Düfte erschnüffelt, sich aber nicht weiter darum gekümmert, da Honig nicht zu den schweinischen Grundnahrungsmitteln zählt. Jetzt stakte es zögernd vorwärts und suchte hinter jedem Baum und Busch, ja selbst im hohen Gras Tarnung. Menschen gab es hier oben, Menschen und Kühe, hatte Ramses gesagt. Die Kühe mußten den Menschen gehören; die Menschen schlachteten die Kühe, und wer Kühe schlachtet, schlachtet auch Schweine. Das Schwein fürchtete sich und hatte das Gefühl, die weite Reise völlig umsonst gemacht zu haben.
Kulle stapfte im Sturmschritt dahin, so daß seine Fliege im selbst erzeugten Winde wehte, und achtete nicht auf Weg und Steg. Das war eigentlich kein Fehler, denn es gab dort, wo er entlanglief, weder Weg noch Steg.
RamsesAber Kulle achtete auch nicht auf die Richtung, in die er ging, er sah sich nicht nach Wasserquellen um, er war einfach blind für seine Umgebung. Erst jetzt, nein, exakt erst heute in den frühen Morgenstunden, war ihm klargeworden, was der Exodus aus Bärenleben für ihn bedeutete. Seine gesamte Bibliothek hatte er zurücklassen müssen, aber das war nicht das schlimmste. Dank seines hervorragenden Gedächtnisses kannte er die meisten wichtigen Werke auswendig. Das Schlimmste war, daß er, der bedeutende Wissenschaftler, in einen einsamen Gebirgsstock in einem unbekannten Land verbannt war, über dessen politökonomische Grundlagen er konkret kaum etwas wußte. Er wußte nur eines sicher: Wenn es ein Land auf der Welt gab, in dem keine sozialistische Revolution stattfinden würde, dann waren das die USA. Wütend über sich und seine Lage köpfte er die Blumen am Wegesrand, wohl wissend, daß der junge Goethe über ihn lachen würde, weil er sich genauso ohnmächtig zornig benahm wie Zeus, an den Prometheus nicht mehr glaubte, und das Wissen um sein unnützes Wissen machte ihn um so gereizter.
Manfred fühlte sich wesentlich glücklicher. Es galt, einen neuen Kontinent zu erforschen und sich mit den Mitteln des Technikers darin einzurichten. Er begutachtete seine Umgebung und entschied sich für den anstrengendsten Weg – bergauf, möglichst weit bergauf. Denn wer oben auf einem Berg stand, der konnte hinunter in die Täler schauen, und genau darauf kam es Manfred an.
Bärdel schien sich mit dem Schwein abgesprochen zu haben, was das Verhalten betraf, obwohl beide nichts voneinander wußten. Äußerst vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und achtete darauf, ständig in Deckung zu bleiben. Er fürchtete sich vor einer Begegnung, vor einem Wiedersehen, obwohl er nie endgültige Klarheit darüber gewonnen hatte, ob das Treffen, an das er sich erinnerte, wirklich stattgefunden hatte. Bärdel erinnerte sich an seine erste Reise nach Amerika. (vgl. „Bärdel meets Smokey“.)
Dina hatte im Gegensatz zu ihm überhapt keine Sorgen. Sie war jung und hatte sich problemlos an die Höhe gewöhnt. Unbekümmert stöberte sie durch Wald und Gebüsch und stromerte über blumenbedeckte Wiesen, bis sie sich schließlich an einem blitzblanken springlebendigen Bergbach satt trank, sich auf den Rücken warf und in den blauen Himmel träumte.

Manfreds Herz hüpfte. Keine fünfzig Meter unter ihm stand eine Radiostation, und nicht weit davon entfernt ragten die Masten einer Hochspannungsleitung empor. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Manfred vermutete, daß sich das erst dann ändern würde, wenn irgendwo eine Fehlfunktion auftrat. Er grinste. Seinetwegen würden die Menschen nicht kommen müssen.
Bärdel griff sich an die Brust. Er hatte noch nie in seinem Leben Herzschmerzen gehabt und wußte nicht, wie sie sich anfühlten, aber jetzt war er sicher, daß er welche hatte. Dieser stechende, lähmende Schmerz konnte nur einen schweren Herzanfall bedeuten. Bewegungslos stand er vor einem Plakat, das flüchtig an eine Anschlagtafel geheftet war. „No Campfires“, sagte es, und für den Fall, daß jemand nicht lesen konnte, zeigte es das Bild eines Lagerfeuers, das von dicken roten Balken durchkreuzt war. Eine Ecke des Plakats war lose und flappte sanft im schwachen Wind. Darunter war immer dann, wenn die Ecke nach unten klappte, ein Feuerwehrhelm zu erkennen.
Dinas Herz schien einen Sprung zu machen und dann stillzustehen, als sie direkt neben sich plötzlich ein lautes Knacken und Rascheln hörte. Sie zwang sich, bewegungslos liegenzubleiben. Ob das die Menschen waren oder die LDS, von denen Ramses so geheimnisvoll gemurmelt hatte? Oder vielleicht ein Cougar, der heute beschlossen hatte, nicht tagsüber zu schlafen, sondern statttdessen neu angekommene Bärinnen zu fressen? Sie hielt die Augen fest geschlossen und war überzeugt davon daß niemand sie sehen konnte, denn sie selbst sah ja auch niemanden. Sie blinzelte auch kein kleines bißchen, als sie neben ihrem Ohr ein lautes Brummen hörte.
Das Schwein faßte sich nach langem Zögern ein Herz und näherte sich einer gemütlich aussehenden schwarzen Kuh mit weißem Kopf, die gemeinsam mit ihrem Kalb auf einer Waldlichtung graste. Ohne seine Deckung aufzugeben, erkundigte es sich nach den hiesigen Menschen und deren Verhalten. „Menschen?“ brummte die Kuh. „Kenn‘ ich nich‘.“ „Aber…“ wollte das Schwein einwenden, jedoch die Kuh schnitt ihm das Wort ab. „Hier gibs nur Mütter unn Kinner, unn Stiere natürlich. Wolln immer bloß das eine, die unverschämten Kerle. Unn Cowboys. Die sinn gefährlich, weil se dich nämlich verbrenn. Oder se machn dirn Loch ins Ohr ohne Betäubung, wie bei mir. Siehste?“ Sie wendete den Kopf, so daß das Schwein ihr rechtes Ohr sehen konnte, in dem ein rotes Plastikdreieck steckte, auf dem „77“ stand. „Aba die komm nur ganz selten. Unn so ne halbe Portion wie du kümmert die bestimmt nich.“ Damit schien die Konversation für die Kuh beendet zu sein, denn sie gab ihrem Kalb das Euter, als seien die beiden völlig allein auf der Welt. Schamhaft wandte das Schwein sich ab. Diese Kuh machte zwar einen ungebildeten Eindruck, aber vermutlich konnte man ihren Auskünften trauen.
Tumu sah sich den Bienenstock, den sie entdeckt hatte, lange an und bewegte dabei Kochrezepte in ihrem Herzen. Nach und nach versammelte sie ältere Bärinnen um sich, die sich in der näheren Umgebung aufgehalten hatten und schon bald wieder zur Höhle zurückkamen. Sie hatten, wie Tumu auch, nach den praktischen Dingen Ausschau gehalten, die für einen funktionierenden Haushalt notwendig sind. Sie tauschten ihr Wissen aus, schlugen einander kräftig auf die Schultern und machten sich dann daran, für den ersten Abend ein Festmahl zu improvisieren.
Als der Tisch nach stundenlanger Arbeit gedeckt war, brach auch schon die Dämmerung herein, und bevor es dunkel war, hatten sich alle wieder bei der Höhle versammelt. Hungrig waren die meisten, bärenhungrig, aber Tumu bestand darauf, daß sich alle sorgfältig die Pfoten wuschen, bevor sie das Essen anfaßten.
„In Dehland konntet ihr euch darauf berufen, daß das Wasser im Bach verschmutzt war, aber hier nicht!“ erklärte sie, und ihre Stimme war so entschlossen, daß niemand zu widersprechen wagte. Erst als alle fertig waren, wünschte sie „Guten Appetit“, und alle langten kräftig zu.
„Na, wie ist es dir ergangen?“ fragte Tumu ihren Mann zwischen zwei Bissen. „Oder willst du das erst später erzählen, bei der Versammlung, weil es von allgemeinem Interesse ist?“
Bärdel schüttelte den Kopf. „Später ganz bestimmt nicht, und am liebsten dir auch nicht. Ich habe Smokey gesucht. Nein, falsch, ich habe nach Beweisen dafür gesucht, daß es ihn nicht gibt. Aber es gibt ihn. Er ist immer noch überall auf den Plakaten, obwohl die zum Teil überklebt sind. Er trägt immer noch seinen komischen Hut oder einen Helm und sagt: „Only you can prevent forest fires!“ Wenn ich an mein Erlebnis von damals denke, dann wird mir ganz angst…“
Tumu seufzte. Sie wußte, daß Bärdel seine Halluzinationen von damals nach wie vor nicht richtig einordnete, daß er nicht wußte, ob sein Treffen mit Smokey Traum oder Realität gewesen war. Wenn sie ihm sagte, daß er krank war, phantasiert hatte, nickte er zwar immer, aber ohne Überzeugung. Sie mußte ihm einfach Zeit lassen. Hier würde er sich selbst davon überzeugen, daß Smokey nichts war als das Bild eines häßlichen, nicht existierenden Bären. Sie drückte seine Hand, schmiegte sich an ihn und schwieg.
„Die Kuh hat mir erzählt, daß es hier nur Cowboys gibt, keine Menschen, und daß die für mich ungefährlich sind“, hörte sie das Schwein sagen und schmunzelte. Nach wenigen Serkunden aber wurde sie unruhig. Eine solche Bemerkung konnte Kulle unmöglich unkorrigiert lassen, aber Kulle sagte nichts. Es paßte nicht zu Kulle, nichts zu sagen, wenn er die Chance dazu hatte.
Tumu setzte sich aufrecht. „Kulle?“ fragte sie. Niemand antwortete. „Kulle?“ Wieder nichts. „Kulle fehlt!“ rief Tumu und sprang auf.
„Unmöglich“, brummte die älteste Bärin, “ es sind alle da! Ich habe für jeden ein Stück Honigkuchen gebacken, und jetzt ist keines mehr da.“ Drohend hob sie die Stimme: „Oder hat jemand etwa zwei gegessen?“
Zuerst meldete sich niemand, aber dann schob Dina sich zögernd nach vorne. „Du?“ Tumu wollte es nicht glauben. Unsoziales Verhalten paßte nicht zu ihrer Freundin.
„Nein, ich nicht. Aber sie. Ich wollte sie als Überraschung bis nachher verstecken, aber das geht jetzt wohl nicht mehr. Darf ich vorstellen: Athabasca. Wir haben uns vorhin getroffen, oder besser, sie hat mich gefunden. Sie wohnt hier.“ Dina zog eine junge Schwarzbärin mir seidig glänzendem dunkelbraunen Fell an ihre Seite, die von allen überrascht angestarrt wurde und die höflich: „Guten Abend!“ sagte.

Am auffälligsten starrte Manfred. „Beim Himmel, dieses Kind ist schön“, murmelte er vor sich hin, ohne eine Ahnung zu haben, woher er diesen Spruch kannte.
Bärdel erwachte aus seinen Grübeleien und erinnerte sich an seine Pflichten und vor allem an seinen Freund.
„Guten Abend im Namen aller, Athaca…“ begann er und verhedderte sich in dem fremden Namen.
„Athabasca“, sagte die Fremde freundlich. „Meine Freunde nennen mich Atti, das ist leichter. Danke für das Willkommen. Aber jetzt sollten wir zuerst an den Vermißten denken und ihn suchen. Das Gelände hier ist nicht ganz ungefährlich, wenn man sich nicht auskennt. Wohin ist er gegangen?“
Die Bären sahen einander fragend und anerkennend an. Noch nie war ein Neuankömmling so selbstbewußt aufgetreten, und schon gar keine Frau. Aber niemand von ihnen wußte, wohin Kulle gegangen war, und auch das Schwein und Ramses gaben ihre Unkenntnis zu.
„Bestimmt nach oben“, murmelte Bärdel schließlich. „Ich weiß nicht, wohin er ist, aber wenn er die Möglichkeit hat, wird Kulle immer nach oben gehen.“
„Dann sollten wir uns beeilen. Wenn ein paar von euch mit mir kommen könnten, wäre das gut. Aber jung und sportlich solltet ihr schon sein. Notfalls schaffe ich es übrigens auch alleine, denke ich.“ Athabascas Stimme war ganz ruhig, ganz anders als ihr Körper. Sie hatte sich bereits umgedreht und war fertig zum Losrennen.
Bärdel, Tumu und viele andere Ältere, die schon aufgesprungen waren, ließen sich wieder niederplumpsen. Sie kannte ihre Grenzen. Manfred dagegen war mir einigen anderen Jungbären sofort an Athabascas Seite. Die sah sich das Aufgebot an Freiwilligen an, nickte zustimmend und fegte wortlos wie ein dunkler Blitz davon in die Nacht, gefolgt von den anderen.
Auf dem Platz vor der Höhle kehrte Stille ein. Niemand aß mehr, obwohl noch genug Leckereien warteten. Sie hatten keinen Hunger. Wortlos starrten sie vor sich hin, auf die dunkle Erde oder in den Himmel. Viele rückten zusammen und suchten beieinander Trost. Sie konnten sich aneinander wärmen, während Kulle da draußen war, einsam und in Gefahr.
„Wenigstens scheint der Mond“, murmelte Bärdel schließlich. Nicht weit von ihm entfernt hockte Ramses wie ein Häufchen Unglück; sein Bauch schimmerte hellgelb im fahlen Licht. „Sag mal, du kennst dich doch hier aus, oder nicht? Wohin ist Kulle gegangen, wenn er aufwärts gegangen ist?“
Ramses schien sich zu winden. „Auf den Berg…“ Er merkte, wie dumm seine Antwort war. „Die meisten Berge hier bestehen in Gipfelnähe aus losem Fels. Talus sagt man hier. Meist sind das scharfkantige Platten ohne stabiles Gleichgewicht, die unter dem Gewicht eines Bergsteigers nachgeben. Die Lehne zwischen zwei Bergen ist manchmal sehr schmal, weniger als 30 Zentimer, und wenn sie aus solchen Platten besteht, dann nennt man das hier die „Rasiermesserfalle“. Wenn Kulle von hier aus aufgestiegen ist, dann läuft er genau auf so einen „razorfang“ zu…“ Ramses‘ Stimme war immer leiser georden, und als er verstummte, herrschte Totenstille.
Lange. Sehr lange. Bis endlich in der Ferne Zweige knackten, Füße tappten, Bären brummten und schimpften. Die Zurückgebliebenen sprangen auf und starrten ihnen entgegen. Athabasca erschien als erste, überhaupt nicht angestrengt und fröhlich lächelnd.
„Wir haben ihn rechtzeitig gefunden“, sagte sie. „Was er jetzt braucht, sind ein paar ordentlich adstringierende Blätterkompressen für seine aufgeschundenen Pfoten und viel zu trinken. Und der Rest der Rettungsmannschaft hat auch ein bißchen Pflege nötig, wie es scheint.“
Hinter ihr tauchte jetzt Kulle auf, gestützt von zwei asthmatisch keuchenden Jungbären. Als sie ihn losließen, schwankte er und setzte sich vorsichtshalber schnell auf die Erde. Seine beiden Helfer taten es ihm nach.
„Entschuldigung!“ brummte Kulle. Alle horchten auf, denn es gehörte zu den ungewöhnlichsten Vorkommnissen in ihrem Gemeinschaftsleben, daß Kulle sich entschuldigte. Und er wiederholte sich sogar!
„Entschuldigung! Es tut mir leid, daß ich euch Mühe bereitet habe. Ich bin ein Dummbär, weil ich ohne zu überlegen losgerannt bin. Wenn sie nicht gewesen wäre… Aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie nicht gekommen wäre. Wozu bin ich denn hier nutze? Entwurzelt, meiner gesellschaftlichen Basis entkleidet! Ein Forscher ohne Gegenstand! Faux frais für euch! Ein leerer Spiegel, der die Wirklichkeit nicht zu spiegeln vermag! Ein…“
Bärdel war dankbar, daß Kulle schnell wieder in sein unverständliches soziologisches Kauderwelsch verfiel, weil er sonst wohl zu weinen angefangen hätte. Aber er verstand, was seinen Freund bewegte, und er litt darunter, daß er nicht wußte, wie er ihm helfen sollte. Da meldete sich Manfred zu Wort.
Manfred war zerschunden, seine Pfoten bluteten kaum weniger als die Kulles, und er war noch immer außer Atem. Trotz seines Kummers mußte Bärdel insgeheim schmunzeln. Sein Sohn hatte sich erkennbar nicht geschont, um der neuen Schönheit zu imponieren. „Wir sollten Kulle dankbar dafür sein, daß er heute für uns alle die Frage gestellt hat, um die wir uns ohne ihn vielleicht noch eine Weile lang herumgedrückt hätten. Die Frage lautet: Was wollen wir hier? Wollen wir uns verstecken?“
Die Versammlung nickte heftig – genau deshalb waren sie hergekommen.
„Ja, natürlich wollen wir uns verstecken, aber ist das alles? Wollen wir dumpf jeden Morgen erwachen, jeden Abend ins Bett gehen und zwischendurch darauf achten, daß wir nicht wahrgenommen werden? Soll das alles sein?“
Das Schwein nickte begeistert, aber die meisten Bären schüttelten verneinend den Kopf.
„Nein, das kann nicht alles sein. Wir Bären – und alle, die gemeinsam mit uns leben wollen – sind intelligente Wesen, neugierige Wesen. Wir wollen lernen, Wissen erwerben und Wissen weitergeben. Wir wollen die kritische Auseinandersetzung. Zu all dem haben wir seit gestern eine völlig neue Chance, denn wir sind wie neu geboren, sind in eine unbekannte Umgebung geworfen. Wir können, ja, wir müssen sie studieren, bewerten, vielleicht auch korrigieren, wenn die objektiven Umstände es erfordern. Wir haben gar keine andere Wahl!“
Die meisten Mitglieder der Versammlung hingen mit glühenden Augen an Manfreds Lippen. Bärdel allerdings blickte skeptisch. Er hatte das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte, wußte allerdings nicht, was. Tumu nahm sich fest vor, ihrem Sohn mal wieder den Hintern zu versohlen, auch wenn er diesem Alter eigentlich längst entwachsen war.
Und Kulle hatte all seine Schmerzen vergessen und grinste – georgische Rhetorik konnte der Junge jetzt, das bewies er nicht zum ersten Mal. Es war Zeit, daß er ihn in die höheren Weihen einführte.
„Wir leben inmitten von Menschen, wie bisher. Auch wenn die Bevölkerungsdichte hier geringer ist, Menschen bestimmen unsere Lebensbedingungen. Wir brauchen Kenntnisse über die Menschen, wie bisher. Diese Kenntnisse werden uns überleben lassen und unsere Neugier befriedigen, und diese Kenntnisse werden den Intellektuellen unter uns – wie Kulle – wieder das Selbstwertgefühl verleihen, das…“
„Schluß!“ sagte Kulle. Er sagte es ungewohnt gemütlich, aber Manfred verstand das Signal nur zu gut. Er hatte irgend einen Fehler gemacht, sonst wäre sein Rhetoriklehrer ihm nicht in die Parade gefahren. Er wußte allerdings nicht, welchen.
„Schluß! Ich sehe, hier ist noch viel zu essen, und ihr seid bestimmt hungrig. Ich übrigens auch. Wir sollten also besser essen, anstatt lange Reden zu halten. Und dann sollten wir vielleicht schlafen. Ich zumindest. Ich bin hundemüde, oder besser bärenmüde, das wird mir wohl jeder von euch glauben. Nach dem Essen oder morgen – wie ihr wollt – könnt ihr dann überlegen, wie wir hier unser Informationsnetz aufbauen. Manfred hat da bestimmt schon Ideen, wie ich ihn kenne. Aber jetzt erstmal: Guten Appetit!“
Niemand widersprach. Erleichtert machten sich alle über das Essen her, bis auch kein Krümel mehr übrig war, und danach ging einer nach dem anderen schlafen.
Ramses, den das Buffett nicht reizte, schnappte sich ein Glühwürmchen, das über die Wiese tanzte, und sog gedankenvoll an einem Flügel. Tussi hatte ihm gesagt, daß die Entscheidungen in Bärenleben anarchisch gefällt werden, und er wunderte sich über diese Aussage, bis auch er schließlich einschlief.

 

Exodus

EXODUS
Der Brief
„Oh nein!“, seufzte Bärdel, als er mitten im schönsten Morgenspaziergang ein weißes Rechteck aus Papier säuberlich auf einen Brombeerstrauch aufgespießt fand. Sollten die Menschen ihren Müll lassen, wo sie wollten, aber bitte nicht in Bärenleben! Mit spitzen Fingern – soweit Bären spitze Finger machen können – löste er das häßliche Ding vom Busch, hielt es angeekelt so weit wie möglich von sich fort und überlegte, wo er diesen Abfall am besten lagern könnte. Trotz aller Distanz aber musterte er den Gegenstand genauer und stellte fest, daß das kein Müll war. Leider nicht. Es war ein Briefumschlag, und er trug eine Adresse. In säuberlicher, nicht ausgeschriebener Schrift stand da:
Herrn Bär
Bärenleben
Falls unzustellbar – zurück!

Bärdel wußte natürlich, daß die Menschen Vornamen hatten, daß sie in Häusern mit Hausnummern wohnten und daß eine Behörde den Orten, in denen sie wohnten, fünfstelligen Nummern gegeben hatte, damit die Briefe, die sie einander schickten, auch tatsächlich ankamen. All das fehlte hier. Also mußte ein besonders intelligenter Briefträger für den Bezirk Bärenleben zuständig sein, wenn er sein Ziel auch ohne diese Hilfen gefunden hatte. Aber das war nicht das Hauptproblem.
Um Bärenleben zu finden, mußte der Briefträger wissen, daß es Bärenleben gab. Um einen Brief nach Bärenleben zu schreiben, mußte der Absender wissen, daß Bärenleben existierte. Er mußte ebenfalls wissen, daß Bärdel – oder andere Bären – dort wohnten, deren Namen er allerdings nicht kannte. Vielleicht vermutete der Absender das alles auch nur. Warum sonst sollte auf dem Umschlag stehen: „Falls unzustellbar – zurück!“?
Aber auch eine vermutete Existenz von Bärenleben war schlimm genug – bisher hatten seine Bewohner geglaubt, sich perfekt unsichtbar gemacht zu haben.
Er untersuchte den Brief genauer. Neben der ordentlich entwerteten Briefmarke war ein Stempel sichtbar, schlecht und flüchtig aufgedrückt, aber mit Mühe doch zu entziffern. „Finanzamt Nord-Dehland“ buchstabierte Bärdel zusammen. Finanzamt? Das nächste Rätsel war gegeben: Was hatten die Bewohner von Bärenleben mit Steuern zu tun? Wie alle Bären war natürlich auch Bärdel extrem neugierig und wäre deshalb beinahe dem Impuls gefolgt, den Briefumschlag aufzureißen, aber er beherrschte sich im letzen Moment. Wenn er den Brief öffnete, würde er ihn akzeptieren – und er wußte nicht, ob das klug wäre.
Er wollte das nicht allein entscheiden. Deshalb machte er sich auf die Suche nach Kulle.
Kulle hatte ähnliche Gewohnheiten wie er selbst.
Während alle anderen Bären noch gemütlich in der Höhle pennten und erst draußen erschienen, nachdem die Sonne der norddehländischen Tiefebene
wenigstens ein bißchen Wärme spendiert hatte, genoß Kulle ebenso wie er selbst gerne die Dämmerung, beobachtete, wie sich Farben aus dem Grau schälten, wie die Tautropfen auf den Blättern in allen Regenbogenfarben
zu funkeln begannen und wie die Mittiere des Waldes den Tag begrüßten. Bei ihren Morgenspaziergängen gingen sie einander gewöhnlich aus dem Weg, weil jeder von ihnen allein sein wollte. Wollte man einander erfolgreich aus dem Weg gehen, dann mußte man wissen, wo der andere war. Selbstverständlich kannte Bärdel Kulles Route, und deshalb fand er ihn schnell.

Kulle
„Guten Morgen, Kulle!“ grüßte er höflich. Kulle grunzte nur und tat so, als habe er ihn nicht gesehen. Bärdel konnte das zwar gut verstehen, aber jetzt gab es Wichtigeres, als lieb gewordene Rituale zu praktizieren. Kurzerhand stellte er sich Kulle in den Weg.
„Guten Morgen!“ sagte er nochmals. „Ich weiß, daß ich Dich störe, aber Du mußt Dir das hier unbedingt ansehen.“
Damit streckte er Kulle den Brief entgegen. Der blieb unwillig stehen und starrte nicht den Brief, sondern Bärdel böse an.

Baerdel
„Ich war gerade dabei, die schwierige Frage zu lösen, warum wir Bären die Vorstellung von einem persönlichen Gott für absoluten Unsinn
halten! Das liegt nämlich daran, daß…“ „Entschuldige!“ unterbrach Bärdel ihn. „Aber wenn ich diesen Brief, den ich hier in der Hand halte, richtig bewerte, dann sind Deine Überlegungen vielleicht bald überflüssig, weil es keine
Bären mehr geben wird. Wir haben ein reales Problem, kein philosophisches! Man hat uns entdeckt!“
„Unmöglich!“ Kulle ärgerte sich sofort über seine von Emotionen und nicht von Vernunft gesteuerte Reaktion und fragte schnell weiter, um sein ungeschicktes Verhalten zu zu vertuschen: „Wer?“ „Das Finanzamt. Wahrscheinlich jedenfalls.“
Zum zweiten Mal reichte er Kulle den Brief, und diesmal nahm der ihn und beäugte ihn ebenso mißtrauisch, wie Bärdel es wenige Minuten zuvor getan hatte.
„Ich wollte Dich fragen, ob wir ihn aufmachen sollen“, sagte Bärdel.
Kulle wiegte seinen dicken Kopf und strich dabei mit seiner rechten Pranke über seine Fliege, bei ihm ein Zeichen höchster Konzentration. Es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
„Es gibt mehrere Möglichkeiten. Wir können den Brief vernichten und ihn vorher lesen oder auch nicht. Damit stellen wir uns tot, wobei wir entweder wissen, was man von uns will, oder nicht. Wissen ist immer gut, also sollten wir, wenn wir uns für diese Möglichkeit entscheiden, den Brief aufmachen,
bevor wir ihn vergraben oder verbrennen. Die Gefahr bei diesem Verfahren ist, daß wir einen zweiten Brief bekommen und dann wieder vor demselben Problem stehen. Bei der Menschenpost gehen schon mal Briefe verloren, aber daß das zweimal hintereinander passiert, ist wenig wahrscheinlich. Beim zweiten Brief müßten wir also irgendwie reagieren. Wir haben natürlich noch eine andere Möglichkeit: Wir machen diesen Brief auf und reagieren darauf.“
Weder Kulle noch Bärdel hatten eine Ahnung, wie eine solche Reaktion aussehen könnte. Momentan war diese Frage auch zweitrangig. Sie sahen sich an und nickten sich zu. Der Brief würde geöffnet werden, und zwar sofort.
Kulle zerrupfte das Kuvert und zog einen einzelnen Bogen Papier hervor. Er begann stumm zu lesen, aber Bärdel knuffte ihn unsanft in die Flanke.
„Halt den Brief gefälligst so, daß ich mitlesen kann, oder lies vor!

„Sehr geehrter Herr Bär,

der Steuererklärung des Verbandes der Chemischen Industrie aus 1996 haben wir entnommen, daß Sie von diesem Verband Geldmittel in Höhe von DM 10 000 000,00 erhalten haben. Bisher haben Sie diese Summe unseren Unterlagen gemäß nicht versteuert. Hiermit
werden Sie aufgefordert, die steuerliche Veranlagung
der o. g. Einkünfte binnen einer Frist von 30 Tagen vorzunehmen. Es gilt das Datum des Poststempels.
Im Auftrage
Beutler
Finanzinspektor“

„Hm!“ brummte Bärdel. „Diese Menschen!“

Wäre Bärdel ein Mensch, hätte er sicherlich „Diese Schweine“ gesagt. Er meinte den Verband der Chemischen Industrie. Der hatte also damals, als die Menschen Bärenleben zu nahe rückten, weil Dehland in einer Wirtschaftskrise steckte, und als Bärdel mit einem Trick Geld besorgte, mit dessen Hilfe sie auf Distanz gehalten werden konnten (vgl. „Außerordentliches Beispiel…“) , die zehn Millionen nicht aus irgend einer schwarzen Kasse genommen, sondern offiziell als Ausgaben verbucht.
Ratlos sah er Kulle an. „Und? Was machen wir jetzt?“
Kulle zerknautschte seine Fliege, so daß ihm schließlich nur noch ein zerrupfter Stofffetzen um den Hals hing.
Ein besseres Zeichen dafür, daß ihm auf diese Frage keine Antwort einfiel, konnte es nicht geben.
„Also Bärenrat!“ sagte Bärdel energisch.
„Und nicht erst heute Abend, zur gewohnten Stunde, sondern sofort!“
Kulle nickte wortlos und ging nach links. Bärdel wandte sich deshalb nach rechts. Die anderen Bären und das Schwein mußten inzwischen aufgewacht
und ausgeschwärmt sein. Wenn sie in entgegengesetzten Halbkreisen auf Bärenleben zugingen, würden sie sie alle treffen.
Eine halbe Stunde später war die Versammlung vollzählig.
Unruhiges Gemurmel füllte die große Höhle. Alle spürten, daß etwas Außerordentliches, etwas Bedrohliches geschehen sein mußte, wenn
sie zur besten Frühstückszeit vom Beerensammeln abgehalten wurden.
Bärdel berichtete von dem Brief des Finanzamts und erzählte für die Jüngeren dessen Vorgeschichte.
„Wir sind also entdeckt,“ schloß er.
„Ich weiß zwar nicht, wie das geschehen konnte, aber Bärenleben ist enttarnt. Wir können noch eine Weile die Augen davor verschließen, uns totstellen, indem wir zum Beispiel so tun, als hätten wir diesen Brief nie erhalten, aber es wird ein zweiter Brief folgen, wie ich die Menschen kenne. Und ein dritter. Danach kommt dann die Polizei, die Krisenreaktionskräfte, was weiß ich.
Danach kommt der Tod.“
Melodramatische Auftritte hatten bisher nie zu Bärdels Repertoire gehört. Um so beeindruckter war die Versammlung von seinen letzten Worten. Ein langes Schweigen folgte.
„Könntet ihr…“ das Schwein räusperte sich und entfernte den Kloß aus seiner Kehle.

Piggy

„Könnten wir denn nicht einfach bezahlen und danach wieder unsere Ruhe haben?“
„Können wir nicht!“ antwortete Manfred.
Da er für die meisten Innovationen in Bärenleben verantwortlich war, die sich nicht sämtlich mit Hilfe von „Anleihen“ bei den Menschen realisieren ließen, war er zum Schatzmeister des Dorfes ernannt worden.
„Von der milden Gabe der chemischen Industrie damals haben wir fünf Mark auf unserem Konto gelassen – für alle Fälle, wie wir damals dachten. Heute zeigt sich, daß wir dabei mindestens einen Fall vergessen haben. Darüber hinaus liegen in meiner Kasse einhundertundsieben Mark und zweiundfünfzig Pfennige, über deren Herkunft ich im Moment keine Rechenschaft geben kann.“
Trotz der angespannten Situation schmunzelten die Bären – jeder wußte, wie leicht es war, von einem zufälligen Besuch in den Häusern der Menschen ein bisschen Kleingeld mitzubringen.
„Abgesehen davon,“ warf Kulle ein, „änderte eine Zahlung unsererseits nichts an der Tatsache, daß man uns entdeckt hat.“ Er hatte seine Fliege wieder geglättet und schien sich ein wenig gefaßt zu haben.
„Was machen wir also?“ Tumu bemühte sich um Ruhe, aber ihre Stimme zitterte bei der Frage.
„Patria o muerte!“ brüllte einer der jungen Bären plötzlich los. Er war ein intelligenter Bursche, was Kulle veranlaßt hatte, ihm in seiner freien Zeit ein paar Lektionen in kommunistischer Theorie zu erteilen. Jetzt zog der Lehrer indigniert die Augenbrauen hoch.
„Dummer Junge!“ brummte er. „Kampf ist nicht Selbstmord – ich dachte, ich hätte dir das beigebracht!“
Der Jungbär sank in sich zusammen, und Schweigen breitete sich aus.
„Was machen wir also?“ Bei der Wiederholung ihrer Frage zitterte Tumus Stimme noch stärker, aber sie fuhr tapfer fort.
„Ich weiß jetzt, was wir alles nicht machen können: Wir können uns nicht verstecken, wir können nicht zahlen, und wir können nicht kämpfen. Was also können wir?“
Wieder herrschte Schweigen, langes Schweigen. Schließlich quiekte das Schwein in die lastende Stille: „Als die Menschen mich verfolgt haben und mich aufessen wollten, da bin ich weggelaufen. Bei euch habe ich Schutz gefunden. Könnten wir nicht alle zusammen weglaufen und bei irgend jemandem Schutz finden?“
Brummen erfüllte die Höhle. Es war ein Brummen der Nachdenklichkeit. Viele Bären hatten dem Schwein, dem politischen Asylanten, bisher lediglich höfliche Neutralität entgegengebracht. Aber das Schwein schien gar nicht dumm zu sein. Vielleicht bedeutete seine Idee die Rettung.
„Wohin denn weglaufen?“ wollte ein alter griesgrämiger Bär schließlich wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, woanders als in Bärenleben zu leben.
Die Frage schien einen Damm einzureißen. Viele Bären unternehmen in ihren Tagträumen gerne Fantasiereisen, und seit die Bärenlebener Kontakt
zu den Menschen hatten, lasen sie mit Genuß Reiseprospekte. An attraktiven Zielen mangelte es also nicht.
„Auf die Malediven…“
„Nach Kanada…“
„Ich wollte schon immer mal in die Namib…“
„Outback Australia, da findet uns niemand…“
„Lieber Neuseeland, das ist gleich nebenan…“
„Also ich…“
„Stop!“
Der Ruf kam gleichzeitig von Tumu, Manfred, Kulle und Bärdel, und nur weil sie gleichzeitig schrien, konnten sie sich gegen das Stimmenwirrwar durchsetzen.
„Stop!“ sagte Kulle nochmals und sah seine drei Mitrufer an, um die Stimmung zu testen. Tumu schaute hoffnungslos, Manfred abenteuerlustig, Bärdel resigniert.
Kulle ließ sich nichts anmerken, als er fortfuhr:
„In Outback Australia findet uns jeder, weil dort keine Bären leben. Ebensowenig in der Namib, in Neuseeland oder auf den Malediven. Kanada ist schon besser. Als erstes ist es also wichtig, uns ein Ziel auszusuchen, und zwar ein realistisches. Also Kanada, die USA, vielleicht die Karpaten. Ich nehme nicht an, daß wir noch einmal unser Glück in so enger Tuchfühlung mit den Menschen versuchen wollen wie hier. Das sind also die möglichen Ziele. Damit verbunden ist ein weiteres Problem, nämlich das des Transports. Wir müssen überlegen, wie wir ein mögliches Zielgebiet erreichen können. Ich schlage deshalb vor, drei Arbeitsgruppen einzurichten, und jeder Bär nimmt an einer teil:

  • Nahrungssuche
  • mögliche Zielgebiete
  • mögliche Wege dorthin.

Gibt es andere Vorschläge?“
Es gab keine anderen Vorschläge, wohl aber zwei Fragen.
Das Schwein wollte wissen, bei welcher Arbeitsgruppe es mitarbeiten solle, und erhielt die Antwort, es könne sich eine aussuchen.
Tumu fragte besorgt, ob sie denn für ein solch sorgfältiges Vorgehen genügend Zeit hätten, und Bärdel antwortete: „Sankt Bürokratius arbeitet manchmal sorgfältig, aber immer langsam.“
Tumu verstand die Antwort zwar nicht recht, aber weil sie ihrem Mann vertraute, beruhigte sie sich. Zwei Tage später traf sich die Sippe wieder in
der Höhle. Alle waren hungrig. Zwar hatte die Arbeitsgruppe „Nahrungssuche“ bis zur Erschöpfung gearbeitet, aber das Futter reicht einfach nicht aus, wenn ein Bär zwei andere ernähren muß.
Dennoch beklagte sich niemand. Alle wußten, daß jetzt geistige Anstrengungen Vorrang hatten, wenn sie es schaffen wollten, aus ihrer gefährlichen Lage herauszufinden.
Tumus beste Freundin, Dina, erstattete Bericht für die AG „Zielgebiete“:
„Als Braunbären kommen für uns weder extreme Höhenlagen noch tropische Gebiete in Frage. Ebenfalls sollte unser künftiges Siedlungsgebiet
eine kleine Menschenpopulation aufweisen, um Problemen wie denen, mit denen wir in Bärenleben konfrontiert sind, aus dem Weg zu gehen. Entsprechend diesen Kriterien hat unsere Arbeitsgruppe sich näher mit den Zielgebieten Kanada, USA, Karpaten, Alpen und Pyrenäen befaßt.

Kanada ist zweifellos das menschenleerste Territorium, aber es gibt zunehmend ein Nahrungsproblem. Neben der üblichen pflanzlichen Kost, die aufgrund der kurzen Sommer recht beschränkt ist, muß man sich als Bär überwiegend von Lachsen ernähren,…““Igitt!“ murmelte jemand aus dem Hintergrund, „…aber aufgrund des menschlichen Raubbaus an der Natur haben die Lachse extrem abgenommen. Wir würden also in ein Hungerland ziehen.
In den Alpen und den Pyrenäen versuchen die Menschen gerade ein Wiederansiedelungsprogramm für Bären und auch Wölfe – eigentlich also ideale Bedingungen.
Leider aber sind diese Gebirge in der Mitte Europas zu dicht besiedelt. Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Bauern, die sich nicht scheuen, ihr Gewehr zu gebrauchen. Deshalb können wir diesen Siedlungsraum nicht empfehlen.
Die Karpaten sind zwar recht menschenleer, es handelt sich bei ihnen aber um ein politisch instabiles Gebiet. Wir rechnen damit, daß es dort in Kürze zu kriegerischen Handlungen kommen wird.
Bleiben die USA. Dort sind Bären eine geschützte Spezies – in den Nationalparks, aber auch in anderen ausgewiesenen Gebieten. Das sind zwar begrenzte, aber zum Teil riesige Territorien – die gesamten Rocky Mountains zum Beispiel. Es gibt eine Fülle einzelner großer Gebirgsstöcke, an die 3000 Meter hoch und menschenleer, in denen Bären sich je nach Jahreszeit in unterschiedlicher Höhe aufhalten und ihre Bedürfnisse befriedigen können. Wenn man als Bär nicht gerade eine Mülltonne leert – was in Anbetracht der dortigen bärengeschützten Mülltonnen fast unmöglich ist – oder ein Touristenzelt aufschlitzt, ist man dort völlig sicher und satt. Wir empfehlen die USA!“
Die Versammlung bedankte sich mit lautem Grunzen und Brummen für die positive Nachricht. Nur Bärdel schwieg skeptisch – er erinnerte sich nochgut an seine USA-Reise (vgl. „Bärdel meetes Smokey the Bear“).
„Tja!“ sagte Tumu und nickte ihrer Freundin zu. Bei der aktuellen Arbeitsteilung hatten hauptsächlich die Frauen die Kopfarbeit übernommen, in der Hoffnung, daß die kräftigeren Männer hinreichend Nahrung herbeischaffen würden. Nur Kulle hatte sich dieser Arbeitsteilung verweigert, er war Mitglied der AG „mögliche Wege“. Aber Tumu legte wert darauf, daß sie diese Arbeitsgruppe leitete.
„Tja. Leider paßt unser Bericht nicht so recht zu dem, was wir eben gehört haben. Ihr könnt euch sicher denken, daß wir uns Wanderrouten
in die Alpen, die Pyrenäen und sogar die Karpaten überlegt haben. Realistische Routen, meiner Meinung nach, auf denen wir nicht entdeckt worden wären und genug zu fressen gefunden hätten. Aber da wollen wir ja nicht hin. Kanada, USA – für unsere Überlegungen waren beide Ziele gleichwertig. Zwischen uns und beiden Ländern liegt Wasser, viel Wasser,
so viel Wasser, daß wir es nicht durchschwimmen können. Wir brauchten ein Schiff oder ein Flugzeug, um dorthin zu kommen. Beides kostet Geld, und das haben wir nicht.“
Tumu holte tief Atem.
„Mir persönlich, und vielleicht auch vielen oder allen anderen, erscheint die Empfehlung, in die USA umzuziehen, plausibel. Aber ich weiß nicht, wie wir das bewerkstelligen sollten.“
„Es gab da mal einen Menschen namens Thor Heyerdahl, der ist noch gar nicht so lange tot. Der hat ein Floß aus Balsaholz gebaut und ist nach Westen gesegelt, um zu beweisen…“
Unwillig unterbrach Bärdel seinen Sohn.
„Ja, Heyerdahl wollte beweisen, daß eine Schiffspassage über den Atlantik mit bestimmten einfachen Mitteln zu bewältigen ist. Er wollte und er konnte nicht beweisen, daß eine solche Reise immer klappt. Das aber sollte uns wichtig sein – wir wollen schließlich alle ankommen. Deshalb ist die Methode Heyerdahl für uns indiskutabel.“
Manfred fühlte zwar die mentale Ohrfeige, gab aber nicht auf.
„Hijacking?“
„Death sentence?“ hackte Bärdel.
„Was heißt das denn?“
„Wenn man mit illegalen beziehungsweise äußerst fragwürdigen Methoden in die USA einreisen will, sollte man zumindest wissen, was ‚Todesstrafe‘ heißt,“ knurrte Bärdel.
„Schluß jetzt!“ mischte Tumu sich energisch ein. „Ein Familienkrach ist wohl das letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Aber Bärdel hat Recht, abenteuerliche, risikoreiche Methoden sind für uns garantiert ungeeignet.“ Nach einer Denkpause fuhr sie fort: „Wenn uns alleine keine Lösung einfällt, sollten wir überlegen, ob wir jemanden kennen, der uns vielleicht helfen kann!“
„Zum Beispiel dieser alte Kotzbrocken!“ schimpfte eine alte Bärin vor sich hin.
Zuerst wußte niemand, wen sie meinte. Aber dann kam die Erinnerung – die Alte hatte damals bis zur Erschöpfung gearbeitet, gekocht, gebacken, gefegt, ein luxuriöses Bett aufgeschlagen – alles umsonst.
Damals, als Grizzy Bärenleben besuchte (vgl. „Bärenbesuch“).
Grizzy, der Grizzly, der einen Plan zur Vernichtung der Menschen verfolgte und sich stoisch gab, der aber Tumus unbändigem Lebenswillen unterlag und seine Aktivitäten einstellte. Grizzy, der seit seinem Besuch bei ihnen verschwunden war, obwohl sie ihn eingeladen hatten, bei ihnen zu bleiben.
„Weiß eigentlich jemand, wo der Klugscheißer ist?“ brummte die Alte.
„Nein!“ sagten Kulle und Manfred im Chor.
Wenn jemand wissen könnte, wo sich Grizzy aufhielt, dann sie. Sie hatten genau recherchiert, aber Grizzy hatte keine Web-Adresse mehr, gab keine Interviews, nahm nicht mehr an internationalen Konferenzen teil.
Er schien wie vom Erdboden verschluckt. Nur Dina hatte eine Vision, sah kurz ein Bild vor Augen: Grizzy saß in der Abenddämmerung auf der Dritten Mesa und malte ein Sandbild. Mitten unter den Hopi war er nach Navajoart in hozro, in Einklang mit sich und der Natur.
Sie behielt die Erscheinung für sich – dieser meditierende Bär war wohl glücklich, aber keine Hilfe für Bärenleben.
Schweigen breitete sich aus. Wenn Hilflosigkeit einen Geruch hatte, dann war die Höhle erfüllt von ihrem Gestank.

Das Schwein
„Quiek!“ sagte das Schwein endlich. Ihm war unbehaglich zumute – Schweine sind schrecklich sensibel.
Die Steckdosenschnauze zuckte aufgeregt, die wenigen Haare waren gesträubt, der Ringelschwanz hatte sich ganz eng zusammengezogen. Es konnte die resignative Stille nicht länger ertragen. Seiner Meinung nach
war es Zeit für ein bisschen Entspannung, vielleicht auch Hilfe.
„Wißt ihr, ich fühle mich wohl hier in Bärenleben, unter Bären. Ich will immer bei Euch bleiben!“
Die Aussage wurde mit vereinzeltem zustimmendem Gebrumm
kommentiert, das dem Schwein Mut machte. Bären lassen sich gerne schmeicheln.
„Ihr seid so – gemütlich. Viel gemütlicher als andere. Glaubt mir, ich kann das beurteilen. Ich kenne nämlich viele Tiere, hauptsächlich natürlich Schweine. Aber auch andere. In meiner Jugend war ich in einem Streichelzoo. Wißt Ihr,
was ein Streichelzoo ist?“
Die meisten Bären wußten es nicht und verlangten nach einer Erklärung. Das Schwein schien ein Märchen erzählen zu wollen, und sie ließen sich
nur zu gerne für eine Weile von den unangenehmen Problemen der Wirklichkeit ablenken. Nur Kulle runzelte ärgerlich die Stirn und öffnete schon den Mund, um zu unterbrechen, aber im letzten Moment fing er einen Blick von Bärdel auf und schloß ihn wieder.
„Ein Streichelzoo ist eine Abteilung in einem Zoo, in der viele verschiedene junge Tiere leben. Tagsüber werden die Tiere auf eine Wiese geschickt, und die Kinder der Menschen kommen, um die Tiere zu streicheln – oder das zu machen, was sie unter Streicheln verstehen. Dabei gibt es so manchen blauen Fleck!“
Die Bären knurrten zornig, aber das Schwein winkte ab.
„Wir wollen jetzt nicht schon wieder über Menschen reden – sie sind eben entweder dumm oder grausam!
Der Vorteil dieses Streichelzoos war, daß ich viele verschiedene Tiere kennenlernen konnte – Ziegen, Hasen, Hühner und sogar einen Gorilla!“

Bobbo
„Der wohnt doch in Afrika!“ brummte eine junge Bärin ungläubig.
„Stimmt, der lebt eigentlich in Afrika. Aber die Menschen, die Zoos einrichten, nehmen auf so etwas keine Rücksicht. Jedenfalls, die Ziegen waren zickig und wollten mich immer auf die Hörner nehmen, die Hasen liefen ständig vor mir weg, und die Hühner hackten nach mir. Keiner war gemütlich, so wie ihr, auch nicht der Gorilla. Der wollte dauernd mit mir boxen. Trotzdem habe ich mich mit ihm angefreundet.
Wir haben neben den Boxkämpfen über meine Zukunft als Koteletts geredet, und er hat mir Gorillamärchen erzählt ((vgl. „Grimmis Buch vom Gorillasee“)).
Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der die Gorillas von den Menschen bedroht wurden. Alles sah so aus, als würden sie ausgerottet. Aber eine sagenhafte riesige Fröschin hat sie gerettet, die Menschen vernichtet und schließlich eine neue Welt geschaffen.“
Jetzt platzte Kulle endgültig der Kragen. „Welch ein Unsinn! Märchen, schön und gut! Aber die Welt ist wissenschaftlich beherrschbar, nur wissenschaftlich, das erzähle ich Euch seit Jahren! Riesige Fröschinnen, die eine neue Welt schaffen! Pah! Der flüchtige Rauch einer Zigarre
(vgl. „De rerum tabbaccorum“) ist realistischer als das! Schluß mit dem Unsinn! Laßt uns lieber überlegen, wie wir Geld besorgen – in der Welt der Derivate, der sogenannten Wertschöpfung aus dem Nichts, der Welt des Computerhandels und der Fakes dürfte das doch keine unüberwindliche
Schwierigkeit darstellen! Manfred kann bestimmt…“
Jeder Satz ein Ausrufezeichen, aber trotzdem wurde Kulle gebremst, und zwar ausgerechnet durch Manfred. Bärdel hatte schon tief Luft geholt, aber er brauchte gar nichts zu sagen.
„Moment mal!“ meinte Manfred nachdenklich.
„Ich kenne die Story, die das Schwein erzählt. Das muß ein alter Gorillamythos sein. Ich habe ihn im Internet gefunden, herausgegeben von einem würdigen Silberrücken namens Grimmi Gorilla. Ich glaube nicht, daß der alte Herr schwindelt. Wollt Ihr die Geschichte lesen?“
Natürlich wollten sie. Zwar war es inzwischen später Abend, und sie hatten nichts gegessen, aber kein Bär kann einer Geschichte widerstehen, schon gar nicht einer guten. Also installierte Manfred flugs seinen größten Monitor, lud die Geschichte, und dann lasen, sahen und hörten sie. Stundenlang,
bis helles Sonnenlicht in die Höhle sickerte.
Dennoch schien kein Bär müde zu sein, und auch das Schwein hielt seine Äuglein tapfer weit offen.
„Und das soll stimmen?“ fragte Tumu endlich skeptisch.
„Ob es stimmt oder nicht, kann uns egal sein,“ sagte Manfred. „Diese Tussi hat zur Lösung aller Probleme eine neue Welt geschaffen, eine Welt ohne Menschen, aber voll von Schlampanski – was immer das auch ist. Wir leben jedoch leider in einer Welt mit Menschen. Also lebt Tussi in einer anderen Dimension als wir, also kann sie uns nicht helfen.“
Ach ja, Stinker?
Direkt vor dem Monitor, den sie völlig verdeckte, saß plötzlich eine riesige Fröschin, deren Farben ständig zu wechseln schienen – bald hatte sie einen grünen Rücken mit gelbem Bauch, einen Moment später schien sie schwarz
und weiß gefleckt zu sein. Unverändert starr aber sah sie Manfred aus dreieckig geschlitzten Pupillen an.
Noch starrer als der Blick waren die Bären.
„Puh!“ sagte die Fröschin. „Ich bin von den Gorillas zwar einiges gewohnt, aber Ihr stinkt noch besser, das muß ich zugeben. Ich schick Euch demnächst mal einige meiner Kinder zur Darmreinigung vorbei, die können das hervorragend – habt ihr ja gerade gelesen. Im Übrigen seid Ihr ziemlich kleinkariert – glaubt Ihr ernsthaft, daß jemand, der den guten alten Christengott nach Strich und Faden fertigmacht, nur in einer Welt zu Hause ist?
Und Du“ – jetzt fixierte sie Kulle – „Dir will ich mal speziell was sagen. Die Antiquiertheit des Menschen – und auch des Bären, hihi – läßt eine rein rationale Erfassung der Welt nicht zu. Punktum. Abgesehen davon, daß ich meinerseits eine rein rationale Erfassung der Welt nicht zulassen will. Will, verstehst Du? Die Welt als Wille und Vorstellung… So, genug der Grundsatzerklärungen. Die Menschen haben Euch entdeckt, Ihr müßt hier weg. Ich helfe Euch. Wollt Ihr in die Neue Welt, oder wollt Ihr bloß einen Lift?“
Unter dem Worthagel krümmten sich die Bären zusammen. Kulle hatte sich zu einer vollkommenen Kugel gerollt, Bärdel streckte lediglich den Kopf hervor und kam sich dabei ungeheuer mutig vor, Manfred hielt die Augen geschlossen und tastete blind nach irgendeinem Knopf zum Ausschalten. Alte und junge Bärinnen und Bären bildeten im Hintergrund der Höhle
zwei schwer entwirrbare Knäuel. Nur Tumu und Dina wagten es, in die dreieckigen Pupillen zu blicken.
„Du bist…?“
„Tussi, wer sonst?“
„Du bist wirklich?“
Die riesige Fröschin wurde ungeduldig. „Wenn ihr wollt, könnt Ihr mich ja kneifen. Ich hab nicht ewig Zeit. Draußen, da, wo ich jetzt sein sollte, vergeht gerade eine Ewigkeit. Also beeilt Euch. Ich brauche eine Entscheidung. Neue oder alte Welt?“
Tumu tastete nach Dinas Hand und fühlte einen Druck.
Sie wußte nicht genau, was der bedeuten sollte, aber mit einer Sicherheit, die sie selbst überraschte, sagte sie: „Alte Welt.“
„Na gut!“ sagte Tussi. „Des Bären Wille ist sein Himmelreich. Wann soll ich Euch abholen? Ich schätze, zwei Wochen Zeit habt Ihr bestimmt.“
Tumu fragte nicht nach, was ‚abholen‘ hieß. Auch wollte sie kein Risiko eingehen.
„In drei Tagen,“ antwortete sie.

Tussi nickte wortlos und verschwand.
Allmählich erwachten die Bären aus ihrer Starre.
Die meisten kamen aber nicht zu Bewußtsein, sondern grunzten nur und verfielen sofort in den wohl verdienten Schlaf.
Am dritten Tag hatten alle ihre Habseligkeiten gepackt.
Als sie am Morgen aus der Höhle trotteten, betrachteten sie staunend das glänzende Tussimobil, das davor parkte.
Tussi saß hinter der Steuerkonsole.
„Where to?“ fragte sie und spielte mit den Hebeln.
„In die USA“, sagte Tumu und wagte sich entschlossen als erste in das unbekannte Gefährt. Zunächst zögernd, dann aber immer weniger zurückhaltend folgten ihr die anderen Bärenlebener. Bärdel vergewisserte sich, daß alle in dem glitzernden Ding verschwunden waren, und stieg als letzter ein. Innen war Tussis Gefährt viel geräumiger, als es von außen aussah – es bot Platz für eine gemütliche Höhle, neben der ein Bach
plätscherte. Alles, was Bärenmägen begehren konnten, wuchs in ungewohnter Fülle auf engem Raum. Selbst ein extra Eichelberg für das Schwein war liebevoll in einer Ecke aufgehäufelt worden.
Alle Bären brummten begeistert und machten es sich gemütlich, ohne der Angelegenheit auf den Grund gehen zu wollen. Manfred konnte seine Neugierde jedoch nicht bezähmen.
„Tussi“, sagte er, „entschuldige bitte, aber mir ist aufgefallen, daß dieses Ding hier innen viel größer ist als außen. Das widerspricht physikalischen Gesetzen. Du mußt wissen, daß ich mich sehr für Naturwissenschaften…“
Tussi sagte nur: „Später!“, ohne den Kopf zu wenden, während sie sich auf andere Probleme konzentrierte. „Hätte Dich beinahe weggedacht,
hihi! Wollte ich gar nicht. Habe jetzt aber keine Zeit für ABC-Schützen-Fragen. Was meint deine Mutter übrigens, wenn sie USA sagt? New Jack?“
Was oder wo, verflixt, war „New Jack“? Manfred hatte keine Ahnung.
„Ich denke, meine Mutter möchte dahin, wo wir Bären leben können“, sagte er schlicht.
„Na gut, New Jack lassen wir ausfallen, hihi. Rockies? Darauf spekuliert ihr wohl, was? Nee, machen wir auch nicht. Zu voll. Da leben schon zu viele andere Bären, nette Kerle übrigens, und abgesehen davon seid ihr für diese Gegend zu verweichlicht. Bei fünf Meter Schnee innerhalb von zwei Tagen kommt ihr doch vermutlich zu dem Schluß, der jüngste Tag sei gekommen, oder?“
Manfred mußte gegen seinen Willen nicken, und Tussi fuhr befriedigt fort.
„Sag ich doch. Wir lassen die Sache also ein bißchen niedriger angehen, und ein bißchen leerer. Ich dachte an Utah. Dünn besiedelter Staat mit hohem Bevölkerungswachstum, aber trotzdem genau das richtige für euch. Derzeit cirka 1,8 Millionen Menschen auf 212.000 Quadratkilometern, wenn Du’s genau wissen willst. Jede Menge Nationalparks, National Monuments,
Wilderness Areas, Primitive Areas, Wildlife Reserves.
Tendenz eher steigend. Alles so zwischen 700 und gut 3000 Metern hoch. Arides Klima: kalte Winter, heiße Sommer. Wasser ist manchmal ein Problem, aber nicht in den Bergen, und die Berge sind einsam. Einverstanden?“
Manfred sah sich um. Kein Bärenlebener kümmerte sich um ihn oder Tussi. Hinter seinem Rücken fand ein Festmahl statt, von dem er bisher nichts bemerkt hatte. Jetzt allerdings stiegen auch ihm verführerische Düfte in die Nase – heiße Brombeeren mit Honigsoße, der Vanille zugesetzt worden war, konnten jeden Bären um den Verstand bringen, beinahe auch ihn selbst. Aber er nahm sich zusammen.
„In Bärenleben treffen wir alle wichtigen Beschlüsse gemeinsam, das habe ich von meinem Vater gelernt!“
„Ich weiß!“ sagte Tussi. „Aber ihr seid nicht mehr und noch nicht wieder in Bärenleben. Du mußt jetzt entscheiden, du allein. Genau so allein, wie ich immer entscheide.“
„Einverstanden!“ Manfred wußte, daß er nichts entschieden, sondern sich einem vorgefaßten Entschluß Tussis gebeugt hatte. Er bemerkte, daß das Tussimobil das weiße Licht verließ, in dem es während ihrer Unterhaltung verharrt hatte. Blauer Himmel über vereinzelten weißen Wolken wurde sichtbar. Das Gefährt sank schnell tiefer, tauchte durch Kumuli und steuerte auf einen imposanten Gebirgsstock zu. Als es inmitten eines Birkenhaines
zum Stillstand kam, spürte Manfred keinen Bodenkontakt, aber er wußte, daß sie gelandet waren.
„Das sind übrigens keine Birken, sondern Aspen“, sagte Tussi, die mühelos seine Gedanken las. „Macht nichts – auf den ersten Blick ist manches hier genauso oder aber ganz anders als in Dehland. Das meiste ist ähnlich, das wirst du merken. Aber ihr wolltet es ja so haben. Keine New World, sondern nur einen Lift.“
Tussi öffnete die Luke – oder wie sonst nannte man die Türöffnung eines Tussimobils? – und hüpfte auf eine sattgrüne Waldwiese. Ihre Passagiere taten es ihr nach und purzelten in die neue Heimat, die meisten äußerst ungeschickt, weil sie sich überfressen hatten. Bärdel gab sich Mühe, gemessenen Schrittes auszusteigen, aber irgendwie verhedderte auch er sich und stolperte.
Tussi beobachtete das alles schmunzelnd.
„Okay, here we are. Die Sprache werdet ihr hoffentlich ohne mich lernen. Manches andere ist ein bißchen komplizierter. Er wird euch helfen. Ich lasse ihn da. Das meiste, was ihr braucht, kann er euch beibringen.“
Tussi griff sich an die Hüfte. Bärdel hatte den Eindruck, daß sie einen Reißverschluß an ihrem Körper aufzog, aber das konnte natürlich
nicht sein. Das Geräusch jedenfalls war ähnlich, und als es verklungen war, hockte ein ziemlich kleiner Frosch, der aus einer blauen Blase zu kommen schien, vor ihm und lächelte ihn schüchtern an. Abgesehen von einem gelben Bauch war er leuchtend grün.

Außer den Bären, dem Schwein und dem kleinen Frosch war plötzlich nichts mehr auf der Wiese.
Tussi und ihr Tussimobil waren verschwunden. Bärdel hatte es aufgegeben, sich über irgend etwas zu wundern. Er besah sich den kleinen Kerl genauer und begrüßte ihn zwar distanziert, aber mit freundlichem Brummen.
„Guten Tag“, sagte er.
„Guten Tag!“ antwortete der kleine Frosch.
Sein Lächeln wurde breiter. „Guten Tag! Ich heiße Ramses.“
Bevor Bärdel antworten konnte, spürte und hörte er hinter sich eine Bewegung. Etwas näherte sich, tastend, stolpernd, aber beharrlich. Anscheinend war einer von Tussis Passagieren aus seiner postgourmandisen Lethargie erwacht und schickte sich jetzt an, seine neue Heimat zu begrüßen. Oder sich zu übergeben. Bärdel wunderte sich über sich selbst. Sarkastische Gedanken waren sonst nicht seine Sache. Sie waren ein Zeichen dafür, daß er sich überfordert fühlte. Mit der rechten Tatze strich er sich – konsequent im Gegenuhrzeigersinn – über den Solarplexus und dachte dabei im Uhrzeigersinn an gar nichts. Das seit Urzeiten tradierte Bärenberuhigungsmittel half – als er sich nach der Quelle der Bewegung umsah, war er völlig entspannt und keineswegs überrascht, Kulle zu sehen.
„Ramses!“ Kulle war vollgefressen und aus dem Gleichgewicht geraten, deshalb klang seine Stimme heiser und schrill. „Ramses!“ Kulle wollte
kichern, produzierte aber nur ein ersticktes Kieksen.
„Ramses! Welcher denn?“ Kulle mußte husten und schluckte angestrengt, weil es ihm offenbar ein Bedürfnis war weiterzusprechen.
„Welcher denn? Ramses I., 1292 – 90 vuZ., Begründer der 19. Dynastie, General und Wesir des kinderlosen Horemheb? Oder Ramses II., manchmal genannt der Große, 1279 – 13, übrigens die zweitlängste Regierungszeit
ägyptischer Pharaos überhaupt? Falls du das bist, kannst du mir bestimmt einiges über deine Kriege gegen die Hethiter und Libyer erzählen – die Geschichtsbücher sind da sehr zürückhaltend. Vielleicht bist du aber auch Ramses III., der…“
„Schluß!“ sagte Bärdel. „Schluß.
Schluß. Schluß. Ich bezweifle nicht, und unser junger neuer Freund wird bald meiner Meinung sein, daß du uns auch noch etwas über die Ramsesse Nummer Vier-bis-ich-weiß-nicht-wieviel erzählen kannst, aber erstens wollen wir das in diesem Moment nicht wissen, und zweitens finde ich, daß jetzt nicht die Zeit für eine deiner ich-bin-ein-wissenschaftlich-gebildeter-Bär Einschüchterungsshows ist. Wir sind gerade auf einem uns unbekannten Kontinent gelandet und sollten uns vernünftiger benehmen als Kolumbus. Wie wäre es, wenn du das neue Mitglied unserer Gemeinschaft einfach mal ganz schlicht begrüßtest?“
Kulle schaute verwirrt drein, aber der Frosch blickte heiter in die Gegend. Er strahlte Kulle geradezu an.
„Ich bin Ramses“, sagte er. „Einfach nur Ramses. Und du mußt Kulle sein. Ich erkenne dich an der Fliege. Tussi hat mich vor dir gewarnt. Bestimmt hat sie Grund dazu, aber ich finde dich nett. Über diesen Horemheb zum Beispiel müssen wir noch mal ausführlich diskutieren – schließlich hat er den alten Kult der Naturgottheiten wieder eingeführt, und Frösche haben…“
„Schluuuusss!“ Bärdel spürte, wie die beruhigende Wirkung seiner Solarplexusmassage sich in Nichts auflöste. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, daß sich inzwischen ganz Bärenleben um Kulle und Ramses versammelt hatte. Die meisten hatten staunend den Mund geöffnet, denn sie wußten nicht, daß es neben Tussi noch einen Frosch gab, der sprechen konnte.
„Schluß!“ sagte er energisch zum fünften Mal. „Zumindest vorerst: Schluß. Über diesen Haremskerl könnt Ihr Euch später streiten. Jetzt ist Zeit für eine offizielle Vorstellung.“
Er trat zwei Schritte zurück. „Das ist Ramses, den Tussi uns dagelassen hat, um uns zu beraten, wenn wir Probleme haben. Ramses, wir danken Dir alle, daß Du zu uns gekommen bist!“
Die Bären klopften die Pfoten gegeneinander und brummten, das Schwein quiekte im Takt dazu genau eine Oktave höher, und Ramses gelber Bauch lief sanft rot an. „Danke!“ sagte er erkennbar verlegen.
„Ich hoffe, ich kann Euch helfen, wann immer es nötig ist!“
„Ich fürchte, Deine Hilfe habe ich gerade sehr nötig!“ japste das Schwein. Seit wir hier sind, habe ich das Gefühl, daß ich ersticke. Ist hier etwa die Luft vergiftet?“
Das Schwein war nicht allein mit seinem Problem. Auch viele Bären griffen sich an die Kehle oder an den Kopf und machten einen unglücklichen Eindruck.
Ramses schüttelte den Kopf. „Nein, die Luft ist hier bestimmt sauberer als da, wo ihr herkommt. Aber sie ist dünner. Wir sind hier ungefährt 9500 Fuß hoch.“
„Aber dann müssen wir alle ersticken!“
„Die Luft ist doch im Himalaya schon viel zu dünn!“
„Tussi will uns umbringen!“
„Hat jemand Sauerstoffmasken mitgebracht?“
Einige Bären kreischten hysterisch durcheinander. Andere ließen sich von ihrer Unruhe anstecken, und auch Bärdel und Kulle  sahen sich verunsichert an. Tumu und Dina hielten einander fest an den Händen. Manfred dagegen war die Ruhe selbst. Als naturwissenschaftlich denkender Bär war er daran gewöhnt, auf die Einheiten zu achten.
Ramses war über die Reaktion, die er hervorgerufen hatte, sehr erschrocken und schien davonhüpfen zu wollen, aber Manfred hielt ihn fest und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Keine Panik!“ sagte er. „Wir Bären sind nun mal Feuerköpfe,immer gleich aufgeregt, daran wirst du dich gewöhnen müssen. Am besten ist es zu warten, bis alle sich beruhigt haben, und die Sache dann zu erklären.“
Ramses folgte seinem Rat und sah sich wenig später von skeptischen und fragenden Blicken durchbohrt. „Also“, sagte er und schluckte, „also, das sind doch 9500 Fuß! Fuß, nicht Meter! Ein Fuß entspricht gut 30 Zentimetern. Wir sind hier ungefähr 3000 Meter hoch. Daran werdet ihr euch schnell gewöhnen, auch wenn ihr jetzt erstmal Atemnot und Kopfschmerzen
habt. Vielleicht ist einigen auch übel. Aber in einer halben Stunde ist das vorbei.“ Er nickte bekräftigend und hüpfte genau 30,48 cm hoch
in die Luft, um seine Worte zu unterstreichen. In dieser Höhe blieb er länger, als er eigentlich vorgehabt hatte, denn das Luftpolster, das die erleichtert prustenden Bären unter ihm bildeten, trug ihn tatsächlich dreißigeinhalb Sekunden lang.
„Was ist das denn für eine bescheuerte Idee, in Füßen zu messen?“ Ein alter Bär, den seine Kopfschmerzen noch granteliger machten, als er ohnehin schon war, betrachtete skeptisch seine hinteren Extremitäten. „Mein Fuß ist ungefähr 21 cm lang, schätze ich, und der von meiner Frau 17. Alles krumme Zahlen, alles unterschiedliche Füße. Kann mir das mal jemand erklären?“
„Selbstverständlich!“ Kulle drängelte sich in den Vordergrund, rückte seine Fliege zurecht und schien vollkommen vergessen zu haben, daß er vor wenigen Sekunden noch unter starkem Schwindelgefühl gelitten hatte. „Selbstverständlich! Die Entwicklung der Maßeinheiten in der Geschichte des sogenannten Homo sapiens sapiens entspringt dem objektiven Bedürfnis von sozial lebenden und zumindest teilintelligenten Individuen, sich…“
„Kulle!“ Obwohl Bärdel nur flüsterte,hörte Kulle sofort auf zu sprechen. Diesen Ton kannte er: Bärdel stand kurz vor einer Eruption,wenn er ihn benutzte.
„Entschuldigung“, murmelte Kulle. „Ich wollte doch nur…“
„Ja, ich weiß“, sagte Bärdel müde und rieb sich seine schmerzende Stirn. „Aber überlaß das doch erst mal Ramses. Tussi hat ihn genau deswegen hier gelassen, denke ich.“
„Das metrische System, an das ihr von Europa her gewohnt seid und das heute fast überall auf der Welt gilt, ist noch nicht sehr alt. Bevor es entwickelt wurde, haben die Menschen alle möglichen Maße benutzt, auf die sie sich irgendwie geeinigt haben. Solche alten Maßeinheiten gelten noch hier in den USA und außerdem in Burma und Brunei. 1975 wollte man auch hier zum metrischen System übergehen, aber dann wurde ein konservativer Präsident namens Reagan gewählt, und der hat 1981 dafür gesorgt, daß alles beim alten blieb.“
Ramses sprach sachlich und bescheiden, und Kulle zog sich lautlos in den Hintergrund zurück. Bärdel hatte den Eindruck, daß sein Fell eine Schattierung dunkler war als gewöhnlich, aber er war sich nicht ganz sicher.
„Na schön“, meinte Tumu. „Ungewohnte Höhenlage, andere Maße und Gewichte – da habe ich uns ja was eingebrockt. Und das ist doch bestimmt
noch nicht alles, oder?“
„Bestimmt nicht!“ Ramses schmunzelte. „Manches ist sicher viel schöner, als ihr es gewohnt seid.
Schaut euch doch nur mal um!“
Erst jetzt bemerkten die Neuankömmlinge, daß noch keiner von ihnen auf die Idee gekommen war, die weitere Umgebung in Augenschein zu nehmen. Die Wiese, auf der sie standen, wurde von Laubbäumen mit hellen Stämmen – „Aspen“, erklärte Ramses – und Tannen und Fichten begrenzt. Von ihrem Standort aus waren drei hohe Gipfel erkennbar, kahle, graue steinige Kegel, auf denen noch Schneereste lagen. Der Himmel darüber war makellos blau, die Kumuli darin ebenso makellos weiß. An einer Seite öffnete sich der Blick in die Ebene, die weißlich und rötlich in der Hitze flimmerte.
Tumu suchte Bärdels Hand und fand sie. Staunend stand sie da, und auch die anderen blinzelten überwältigt in die Landschaft. Selbst Kulle war beeindruckt von all der Schönheit, die sie umgab, und merkte, daß ihm Tränen in die Augen treten wollte. Sentimentalität, fand er, paßte aber ganz und gar nicht zu einem wissenschaftlich denkenden Bären.
„Der Bär definiert sich durch Arbeit“, brummte er deshalb und wandte sich Ramses zu. „Du hast doch bestimmt schon eine Höhle für uns
entdeckt, oder? Also, Bärinnen und Bären, Schwein und Frosch: Fegen, Betten bauen, Beeren etc. sammeln! Statt Gutenachtgeschichte veranstalte ich heute Abend einen Einführungskurs: Basic Facts above the USA.“
„Eine gute Idee!“ lobte Ramses. „Vor allem der Einführungskurs: Basic Facts about the USA. Kommt, ich zeige euch die Höhle!“
Erst auf dem Weg zur Höhle merkte Kulle, daß Ramses ihn korrigiert hatte, aber er ließ sich seine gute Laune dadurch ebensowenig verderben wie alle anderen. Niemand hatte mehr Kopfschmerzen. Alle freuten sich auf ein neues Leben. Nur das Schwein runzelte noch einmal kurz die Stirn.
„Sag mal, Ramses, wie heißt die Gegend hier eigentlich?“
„Ihr seid in den La Sal Mountains, und das hier ist eure Höhle. Herzlich willkommen!“