Arabellion

PD Kulle

Arabellion

US-Präsident Barak Obama hielt im Mai 2011 eine Grundsatzrede, in der er die Revolution des „Arabischen Frühlings“ als historische Gelegenheit für die USA bezeichnete:

„Wir haben die Chance zu zeigen, dass Amerika die Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien höher achtet als die rohe Macht des Diktators.“

Obama zog eine Parallele zwischen den Aufständen in arabischen Ländern und der Geburt der USA im Kampf gegen die britische Herrschaft. Amerika könne daher nicht anders(,)[1] als sich auf die Seite der arabischen Völker zu stellen.[2]

Vorwort:

Nun, wir werden sehen…

Die Behauptung, die Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien werde von den USA geachtet, erweckt Skepsis, hat sich Mohamed Bouazizi doch bereits am 17.Dezember 2010 cremiert, und erst fünf Monate später entdeckt Obama dessen Würde.

Auch wird die Würde von Straßenverkäufern, Kriegsveteranen, mittellosen Menschen jeder Provenienz im Mutterland des Manchesterkapitalismus keineswegs geachtet, sondern mit Füßen getreten.

Die Selbstverbrennung buddhistischer Mönche während des Vietnamkrieges, die erste 1963 durch Thích Qung Đức, hat die Regierung der USA nicht beeindruckt, soweit uns bekannt ist.

Mit Diktatoren haben die USA dagegen mehr als einen Pakt geschlossen. Das soll jetzt auf einmal vorbei sein?

Die Ereignisse

In der Tat sorgten in zwei nordafrikanischen Ländern am Ende des Jahres 2010 Unruhen dafür, dass für lange Zeit stabile politische Verhältnisse ins Wanken gerieten. Massenproteste bewirkten in Tunesien und in Ägypten die Absetzung von jahrzehntelang autokratisch regierenden Machthabern.

Die Blütenpollen des „Arabischen Frühlings“ schwärmten aus uns befruchteten mit ihrer umstürzlerischen Potenz auch mehr oder weniger eng benachbarte Länder:

Im Jemen trat der Präsident nach über 30jähriger Herrschaft zurück.

In Algerien behauptete sich die Regierung. Im April 2012 verbrannte sich auch hier ein Straßenhändler, ohne dass sich der Präsident der USA unseren Informationen nach dazu äußerte.

Nach mehrmonatigem Bürgerkrieg wird der libysche Machthaber – mit NATO-Unterstützung – gestürzt.

In Syrien herrscht seit dem Sommer 2011 Bürgerkrieg.

In Algerien, Bahrain, Dschibuti, Jordanien, Kuwait, Marokko, Mauretanien, Oman und Saudi-Arabien kam es zu mehr oder minder ausgeprägten Protesten, denen mehr oder minder brutal begegnet wurde, nicht aber zu grundlegenden politischen Veränderungen.[3]

Die Ergebnisse

In Tunesien hat die Regierung seit 2011 vier Mal gewechselt. Im Februar 2014 wurde mit überwältigender parlamentarischer Mehrheit eine demokratische Verfassung verabschiedet. Sie garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Gleichstellung von Mann und Frau. Das ist zu begrüßen, aber wie man weiß, ist Papier geduldig. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten zu Algerien und Libyen ist dramatisch. Im Land agiert die islamistische Gruppe Ansar-al-Scharia, die sich zur Ideologie der al-quaida bekennt. Im August 2013 wurde sie von der tunesischen Regierung als terroristische Organisation eingestuft.

In Ägypten kamen nach dem Sturz von Husni Mubarak für wenige Monate sogenannte Muslim-Brüder an die Macht, die durch einen Militärputsch, den man innerhalb des Ägyptischen Machtbereichs besser nicht als solchen bezeichnet, entmachtet wurden. (Ex-)General Sisi sorgte für eine Restauration der diktatorischen Verhältnisse. Die Kontrolle über den Sinai hat das ägyptische Militär indessen verloren, hier schaltet und waltet der maghrebinische Arm von al Kadja nach Gutdünken.

Der Jemen ist ein zerfallender, wenn nicht gar bereits ein zerfallener Staat. Seit Jahren führen drei Parteien Krieg gegeneinander und gegen die Bevölkerung: Die Regierung, die USA, die mit Drohnen Terroristen jagen und denen dabei nicht selten massive Kollateralschäden unterlaufen, und al Kaida, die nicht zuletzt wegen der US-Kriegsführung immer mehr Zulauf hat. Aktuell[4] wird die Hauptstadt Sanaa von Zehntausenden schiitischer Huthi-Rebellen überrannt, die Autonomie für ihre im Norden gelegenen Stammesgebiete fordern und der sunnitischen Regierung mit Segregation drohen, sollte ihrem Ansinnen nicht entsprochen werden.[5]

Libyen ist zweifellos ein zerfallener Staat. Zahlreiche marodierende Banden, bewaffnet mit effektiven Mitteln aus den Arsenalen des verblichenen Autokraten-Schauspielers Muammar-al-Ghaddafi, bekämpfen einander gegenseitig und finanzieren ihre Kämpfe durch Erträge aus eroberten Ölfeldern und Raffinerien. Der wichtigste Flughafen des Landes in Tripolis wurde von Marodeuren erobert[6] und samt den dort geparkten Flugzeugen zerstört.

In Syrien tobt seit 2011 ein Bürgerkrieg, bei dem ein Teilnehmer permanent mitmischt: die syrische Armee. Die Truppen des gelernten Augenarztes Assad setzten Giftgas und Fassbomben gegen dessen Untertanen ein, sie riegelten Stadtviertel ab, in denen sie Aufständische vermuteten oder vorgaben, das zu tun, und ließen die darin gefangenen Menschen mitleidlos verdursten und verhungern. Die anderen Kriegsteilnehmer unterliegen demgegenüber einem Wandel: Waren sie, zumindest nach westlicher Wunsch-Lesart, zuerst demokratisch orientiert, setzten sich in den letzten Monaten zunehmend die „Steinzeit-Islamisten“[7] der IS durch, die ein Kalifat errichten wollen und zu diesem Behuf sich bereits weite Teile des syrischen Staatsgebiets[8] unter die ungereinigten Nägel gerissen haben.

Die Interessen

Wie ist zu erklären, dass eine Vielzahl nordafrikanischer und vorderasiatischer Staaten, die jahrzehntelang wenn nicht prosperierend, so doch relativ stabil waren, in der irritierenden Unordnung „moderner“ Kriege, die mit den Regeln der Genfer Konventionen nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben, versinken können? Welche Kräfte haben die Menschen in diesen Ländern in diesen Strudel getrieben?

Wir wollen versuchen, verschiedene Triebfedern zu benennen, ohne den Anspruch zu erheben, ein befriedigendes Gesamtbild zu zeichnen.

Vor Politik, sogar vor Wirtschaft, muss hier Religion genannt werden.[9]

Sunniten und Schiiten, die beiden „Konfessionen“ des Islam, bekämpfen einander härter als Katholiken und Protestanten während des Dreißigjährigen Krieges[10]. Wie im Dreißigjährigen Krieg so auch heute ist den Machthabern die Religion an sich vermutlich gleichgültig, nicht gleichgültig ist ihnen ohne Zweifel aber ihre Machtposition, und die ist von der Konfession nicht zu trennen.

Wer also gegen wen?

„Ultra-Sunniten“ sind der Emir von Katar[11] und das wahabitische Königshaus Saudi Arabiens. Beide Herrscherhäuser schwimmen im Ölgeld und haben diese Ressource freigiebig benutzt, um alle Organisationen und Milizen zu finanzieren, die vorgeben, sunnitische Werte zu vertreten, also vor allem al Kaida und ISIS/IS. Beide scheinen indes eigene Ziele zu verfolgen, vor allem die IS könnte zu einer ernsthaften Bedrohung ihrer Geldgeber werden[12].

Der syrische Bomben-Herrscher Assad ist Alevit und damit Schiit. Folgerichtig wird er vom schiitischen Kernland Iran und auch von der lyrischen Hisbollah unterstützt.

Der Irak, unter Saddam Hussein noch mit dem Iran um die regionale und damit die religiöse Vorherrschaft kämpfend, ist nach dem Abzug der US-Truppen[13] wieder zum Kriegsschauplatz und zum Spielball von Interessen geworden; die IS hat große Teile des Staatsgebietes erobert.

Allen Kriegsparteien stehen Waffen nahezu nach Belieben zur Verfügung: Die USA wie auch Russland waren in der Vergangenheit nicht knauserig mit der Unterstützung ihrer „Verbündeten“, und geben (Öl-)Geld lässt sich alles kaufen.

Erklärungsversuche

Wäre die „westliche“ Welt wie noch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf das Öl aus dem Nahen Osten auf Gedeih und Verderb angewiesen, der US-Präsident Obama hätte einen Leibeswind auf die „Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien“ gegeben.

Die ethisch verkleidete Äußerung lässt die Hoffnung auf Business anklingen, denn die Ablösung der amerikanischen Kolonien vom britischen Mutterland (No taxation without representation) lässt mehr Geld im Land.

Die „westliche Welt“ dachte/denkt, dass die weltweite Übernahme westlich-kapitalistischer Geschäftsmodelle auch die Übernahme westlicher Politikmodelle impliziert. Das erweist sich als Irrtum.

Orientierungslosigkeit, Verzweiflung, Abenteuerlust, Gier, Machtstreben, Fanatismus, vielleicht sogar Gottesfurcht junger Männer sind auch im 21.Jahrhundert stark genug, um mit Hilfe von hinreichend AK-47 und Toyota Hilux Imperien ins Wanken zu bringen.

Menschen denken zu kurz(fristig).

Ich weiß ja auch nicht[14].

Fazit

1529 und 1683 standen die Türken vor Wien.

  1. Das fehlende Komma wurde von der Sekretärin eingefügt. Die Sekretärin
  2. zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Frühling. Zugriff am 14.8.14, 23.46h
  3. Israel, die Westbank und der Gazastreifen werden hier nicht berücksichtigt. Die Materie ist auch ohne Betrachtung dieses speziellen Komplexes kompliziert genug.
  4. Stand: 21.8.2014
  5. Im Zweifelsfall werden sie sich aber mit einer Steuersenkung oder ähnlichem zufriedengeben; das Imponiergehabe jemenitischer Stammeskrieger ist sattsam bekannt.
  6. am 24.8.2014
  7. So bezeichnen selbst seriöse Pressorgane wie die „Süddeutsche Zeitung“ die weiland ISIS, jetzt IS = Islamischer Staat.
  8. Und auch des irakischen Staatsgebiets, aber auch dieses Problem lassen wir im mittleren Osten liegen, es würde uns zu weit führen.
  9. Selbstverständlich widerstrebt uns diese Reihenfolge zutiefst, aber rationale Bären denken anders als irrationale Menschen. Es gibt keine Göttin außer Tussi!
  10. Der Dreißigjährige Krieg dauerte von 1618 bis 1648 und wurde vor allem in Mitteleuropa ausgetragen. Da ich weiß, dass der Geschichtsunterricht in der Schule heutzutage in den Gehirnen der Schüler nur geringe Spuren hinterlässt, nehme ich mir die Freiheit, diese Information einzufügen. Die Sekretärin
  11. Pikanterweise soll im Emirat Katar 2022 die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen werden, was wegen des Klimas, aber auch aus politischen Gründen problematisch werden könnte.
  12. Schon Goethes Zauberlehrling muss zugeben:„die Geister, die ich rief,die werd’ ich nicht mehr los!“
  13. Von 2003 bis 2011 führten die USA unter anderem im Irak ihren „War against Terrorism“, nach acht Jahren zogen sie ihre erfolglosen Truppen ab.
  14. Das hat der Chef noch nie gesagt. Die Sekretärin