War, Sex and Crime

Manfred war in seiner Technikbegeisterung nicht zu stoppen – monatelang war er in den umliegenden Menschensiedlungen nachts unterwegs, durchstöberte Müll und Sperrmüll und sammelte das, was die Menschen für Schrott hielten. Er lagerte das Zeug in seiner Privathöhle und verbarrikadierte sich irgendwann für etliche Tage darin, so daß Tumu ihn nicht zu Gesicht bekam, obwohl sie ihn mit den leckersten Honigkuchen zu locken versuchte. Als Manfred schließlich wieder auftauchte, war er immer noch nicht ansprechbar. Stattdessen turnte er durch ganz Bärenleben und installierte Kabel, Lautsprecher und Monitore. Schließlich ertönte ein ohrenbetäubender unartikulierter Lärm, der alle Bären aufgeregt aus ihren Höhlen trieb. Manfred aber winkte seinen Artgenossen spielerisch und ironisch zu.
„Ich habe fertig!“ erklärte er. „Bärenleben hat jetzt seinen lokalen Fernsehfunk!“
Auf den Monitoren flimmerte elektronischer Schnee.
Die meisten wandten sich kopfschüttelnd ab. Fernsehen in einem winzigen Bärendorf, lokales Fernsehen – was sollte das denn? Und dann diese Sprache – woher hatte Manfred bloß diese fehlerhafte Grammatik? Bärdel schüttelte ebenfalls den Kopf. Tumu schüttelte den Kopf, und während sie es tat, rief sie: „Komm essen!“ Aber Manfred achtete nicht auf sie, sondern bastelte weiter an seinen Installationen.
Der einzige, der nicht seinen Kopf schüttelte, war Kulle. Nicht, daß sein Kopf in Ruhe geblieben wäre. Aber er schüttelte ihn nicht, er wiegte ihn leise hin und her. Er witterte eine Chance, und er wog das damit verbundene Risiko ab.
„Manfred“, sagte er, so sanft er konnte, und er konnte sehr sanft sprechen, „Manfred, hättest Du etwas dagegen, wenn ich für unseren neuen lokalen Fernsehfunk einen Programmbeitrag leiste? Einen ganz kurzen?“
Manfred hatte durchaus nichts dagegen – es würde der erste Programmbeitrag überhaupt sein.
„Du kannst Dich ruhig länger fassen“, sagte er. „Wir sind 24 Stunden am Tag sendebereit.“
„Nicht nötig“, wehre Kulle ab. „Ich dachte nur an eine kurze Nachrichtensendung. So etwas Ähnliches wie die „Tagesschau“ bei den Menschen. Neuigkeiten aus aller Welt und natürlich hauptsächlich aus Bärenleben.“
„Das ist eine hervorragende Idee!“ Manfred strahlte begeistert. „Aber mit den Nachrichten aus Bärenleben wirst Du wohl Schwierigkeiten bekommen – hier passiert doch nichts! Oder willst Du Tumus neueste Kochrezepte vorstellen?“
Warum eigentlich nicht?“ schmunzelte Kulle. Deine Mutter kocht ganz hervorragend. Aber ich dachte an etwas anderes. Laß mich nur machen…“
„Klar laß ich Dich machen. Brauchst Du technische Unterstützung?“
„Danke, ich glaube nicht. Sag mal…“ Kulle strich nicht ohne Eitelkeit über seine Fliege. „Ist die schön genug fürs Fernsehen, oder brauche ich eine neue Krawatte?“
„Was soll an Deiner Fliege falsch sein? Du brauchst nichts anderes. Außerdem – ohne Dein Markenzeichen würde Dich vermutlich niemand erkennen!“
Das sollte ein Scherz sein, aber Kulle fand es wert, ernsthaft über diese Aussage nachzudenken. Sie schien ihm so wichtig zu sein, daß er das Gespräch abrupt beendete und in Gedanken davonstapfte.
Bevor er außer Hörweite war, rief Manfred ihm nach: „Wann soll die Sendung denn sein?“
„In der Dämmerung, kurz vor der Abendversammlung“, brüllte Kulle zurück. „Dann können hinterher alle darüber reden!“
Manfred leistete gute Vorarbeit. Auf seinen überall sichtbaren Monitoren erschien am späten Nachmittag eine Ankündigung:

 Erste Nachrichtensendung des Bärenlebendigen Fernsehens
heute in der Dämmerung.
Guckt alle!

Jeder Bär, jede Bärin bekam die Information mit, und alle waren so neugierig, daß sie sich vor dem großen Bildschirm in der Versammlungshöhle einfanden, als die Sonne noch recht hoch am Horizont stand. Sie machten es sich gemütlich, aber ihre Aufregung wurde durch die zahllosen Fragen deutlich, die wie ein Bienenschwarm durch die Spätsommernacht schwirrten: Was für Nachrichten? Wozu überhaupt? Wer hatte die Sendung gemacht? Hatte Manfred Fernsehprofis angeheuert?
Niemand löste die Rätsel, bis die Abendröte verblaßt war und der Himmel sich auch im Westen allmählich dunkelblau färbte. Manfred, den viele suchten, blieb unsichtbar. Dann aber verschwand die Schrifttafel auf den Monitoren, die Bildschirme wurden für eine kurze Zeit grau, und danach erschien für ein paar Sekunden lang ein Film, der zwei spielende Bärenjunge zeigte.
„Das sind Peter und Paul!“ wurde überall gerufen, und die Bären hauten einander die Pranken auf die Schultern. Die beiden Brüder waren bei jedem im Dorf bekannt; sie liebten es, sich zu balgen – eigentlich war ihr Anblick also nichts Besonderes. Aber es war das erste Mal, daß die Bären von Bären gefilmte Bären im Fernsehen sahen. Also schauten sie mit Begeisterung zu.
Nach dem Ende der Balgerei erschien ein Schriftzug: DER TAG. Nachdem er langsam ausgeblendet worden war, sahen die Zuschauer einen Schreibtisch mit einem Mikrofon darauf. Dahinter saß ein kleiner, gedrungener Bär, der einige Papierblätter in den Pfoten hielt. Er trug eine große Brille mir dunklen Gläsern, so daß seine Augen nicht erkennbar waren, und eine sonnengelbe breite Krawatte mit kühn geschlungenem Knoten.

Leise flüsternd fragten sich die Zuschauer, wer das wohl sein mochte, aber sie verstummten sofort, als der Bär im Fernsehen den Kopf hob und sich räusperte.
„Guten Abend, liebe Bärinnen und Bären in Bärenleben“, sagte er. „Ich begrüße Euch zur ersten

DER TAG

– Sendung unseres Dorffernsehens. Unser Mitbär Manfred hat viel Arbeit investiert, um uns dieses neue Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen.“
Die meisten Bären brummten ihre Zustimmung, aber leise erhob sich hier und dort auch Unmut: „Manfred hätte seine Zeit nützlicher verbringen können.“ „Wozu brauchen wir dieses Fernsehen überhaupt?“ „Was wir bis jetzt gesehen haben, kennen und wissen wir doch alles!“
Der unbekannte Nachrichtensprecher bemerkte von alldem natürlich nichts. Er fuhr unbeirrt fort:
„Ich komme jetzt zu den heutigen Nachrichten.“
Er senkte seine unsichtbaren Augen auf das erste Blatt und las:
„Washington. Der amerikanische Präsident Bill Clinton hat die Luftangriffe auf strategische Ziele im Irak als Erfolg bezeichnet. Zusammen mit der britischen Luftwaffe fliegen Einheiten der US-Airforce seit drei Tagen Angriffe mit Cruise Missiles auf zentrale Quartiere der Republikanischen Garden des Diktators Saddam Hussein und auf Industrieeinrichtungen, die zur Herstellung chemischer und biologischer Waffen dienen. Saddam sei bereits entscheidend geschwächt worden, sagte Clinton. Anschließend dementierte er Pressemeldungen, die den Angriff in Zusammenhang mit dem dem Präsidenten drohenden Impeachment gebracht hatten. Wegen außerehelicher Beziehungen, die Clinton lange Zeit geleugnet hatte, droht ihm ein Amtsenthebungsverfahren.“
Der Nachrichtensprecher legte das erste Blatt beiseite.
Die Bären hatten aufmerksam zugehört, aber in der Pause, die jetzt entstand, wurde deutlicher Unmut laut.
„Das wissen wir alles schon!“
„Schließlich lesen wir Zeitungen!“
Als der Sprecher wieder den Mund öffnete, wurde es still.
„Bärenleben. Der Dorfpräsident hat die Vergeltungsmaßnahmen gegen die Nachbarorte Bienenleben und Mauseleben verteidigt. Bienen und Mäuse hätten zwei Grundnahrungsmittel der Bären, nämlich Honig und Beeren, für sich reklamiert und müßten deshalb in ihre Schranken verwiesen werden. Es sei folglich gerechtfertigt, Mäusen den Zugang zu den Beerensträuchern zu verwehren, was mit Hilfe von Mausefallen geschehe, die sehr effektvoll arbeiteten. Wegen der Artunterschiede sei das Vorgehen gegen die räuberischen Bienen zwangsläufig anderer Natur; ihnen werde der in den Stöcken zusamengetragene Honig weggenommen und durch Zuckerwasser ersetzt. Es sei nicht klug, die Kuh, die man melken wolle, zu schlachten. Anschließend dementierte der Dorfpräsident Gerüchte, denen zufolge er sexuelle Beziehungen zu seinem Sohn unterhalte. Er sei Zeit seines Lebens heterosexuell und monogam gewesen.“
Der Sprecher legte auch das zweite Blatt zur Seite und begann unverzüglich, die dritte Seite vorzulesen.
„Es folgt der Wetterbericht. Ein Hoch über Norddehland sorgt für…“
Das Folgende ging im Tumult der Zuschauer unter. Alle redeten durcheinander.
„Ungeheuerlich!“
„Wer soll denn dieser Dorfpräsident sein?“
„Was für ein Quatsch – ein Präsident in einer libertären Gemeinschaft!“
„Ich kann das gar nicht glauben – Krieg gegen Mauseleben und Bienenleben…“
„Bestimmt eine Falschmeldung!“
„Wer ist eigentlich dieser Nachrichtensprecher?“
„Fürchterlich – die armen Mäuse und Bienen…“
„Daß ein Bär inzestuöse Beziehungen abstreitet, kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen!“
„Woher kommt bloß diese Meldung?“
In der kurzen Pause, die nach der ersten Aufregung entstand, wiederholte eine alte Bärin die Frage, die sie schon einmal gestellt hatte:
„Wer soll denn dieser Dorfpräsident sein?“
Jetzt hatten alle Bären zugehört und schauten einander an. Ja, wer käme in Frage, wenn an dieser ungeheuerlichen Meldung auch nur ein Quentchen Wahrheit wäre?
„Gibt es eigentlich jemanden von uns, der nicht hier ist?“ fragte schließlich ein junger Bär. Er war in Manfreds Alter und wußte nicht so recht, warum er diese Frage gestellt hatte. Um so überraschter war er von der Reaktion, die erfolgte.
„Das ist wahrhaft bärische Intelligenz“, brummte ein Alter. „Natürlich ist der Schuldige nicht anwesend, wenn seine Schandtat öffentlich bekannt wird. Falls es einen Schuldigen gibt – in dubio pro reo urso. Aber trotzdem: Wer fehlt?“
Es war nicht leicht, in der Dunkelheit alle Gesichter auszumachen, aber dennoch hatten sie nach kurzer Zeit die Lösung. Nur einer fehlte – Bärdel.
„Bärdel!!“ Kaum einer konnte es sich verkneifen, den Namen vor sich hinzuflüstern. Trotz der stimmlosen Artikulation war der Unglaube hörbar. Bärdel, ausgerechnet Bärdel sollte solche Untaten begangen haben?
„Alles Quatsch!“ Tumu meldete sich zu Wort. „Ich weiß nicht, warum Bärdel jetzt nicht hier ist, bei dieser sogenannten Premiere, die mir eher eine Schmierenkomödie zu sein scheint. Vielleicht hat er das geahnt und ist deshalb zu Hause geblieben. Mir fällt ein guter Weg ein, um herauszubekommen, warum er nicht hier ist und was es mit den Anschuldigungen auf sich hat: Gehen wir hin und fragen ihn!“
Die Versammlung brummte Zustimmung. Die Höhle leerte sich, und der Bildschirm, auf dem die Nachrichtensendung inzwischen zu Ende gegangen war, blieb verwaist zurück. Alle waren auf dem Weg zu Bärdels Privatquartier.
Als sie die Brombeerbüsche passierten, die mitten im Dorf wuchsen, schrie ein junger Bär plötzlich auf und rannte anschließend hinkend umher, wobei er erbärmlich quiekte – bei Bären der Ausdruck höchsten Schmerzes. Seine Mutter setzte ihm mit tröstenden Brummtönen nach, alle anderen gerieten in höchste Unruhe, weil sie sich auch in Gefahr wähnten. Nur Tumu behielt die Nerven.
„Licht!“ rief sie.
Wie von Geisterhand erleuchtete wenige Sekunden später eine helle Glühbirne die Szenen genau an der richtigen Stelle – Manfred hatte die Beleuchtung von Bärenleben, die er ganz nebenbei installiert hatte, partiell aktiviert.
Der Fuß des jungen Bären, das konnten alle sehen, steckte in einer Mausefalle und wurde grausam gequetscht.
Sofort schlug die Stimmung um.
„Es ist also doch wahr,“ kreischte eine junge Frau hysterisch, „Bärdel führt Krieg gegen Mauseleben! Er hat sich zum Diktator gemacht! Richten wir ihn!“
Ohne zu überlegen folgten die Bären ihr, als sie entschlossen weiter in Richtung auf Bärdels Höhle zustapfte. Nur Tumu und der junge verletzte Bär blieben zurück. Mit großer Kraftanstrengung gelang es ihr, die Falle zu öffnen und den Fuß des Jungen zu befreien.
„So, Kleiner“, sagte sie danach und wischte ihm über das Gesicht, um die Schmerz- und Schrecktränen abzutrocknen, „jetzt ist es wieder gut. Dein Fuß ist heil – er ist deutlich stabiler als eine Maus. Geht‘s wieder?“
Er nickte.
„Gut – ich muß mich jetzt nämlich beeilen. Die haben gerade geklungen, als wollten sie meinen Mann vierteilen. Und das hätte ich ungern, zumal er ganz sicher unschuldig ist.“
Sie eilte davon und geriet vor ihrer Wohnhöhle in eben die Szene, die sie befürchtet hatte. Bärdel stand im Eingang und erwehrte sich verbaler Angriffe, aber nach jeder seiner Antworten rückten die Bären drohend einen Schritt weiter vor.
„Warum hast Du unsere Gemeinschaft zerstört?“ – „Was soll ich gemacht haben?“
„Kriegstreiber!“ – „Ich führe keinen Krieg, gegen niemanden!“
„Und was ist mit der Mausefalle?“ – „Von welcher Mausefalle redest Du?“
„Hast Du mit Manfred geschlafen?“ – „Soweit ich weiß, ist Sex auch bei Bären Privatsache!“
Die junge Frau, die sich eben schon hervorgetan hatte, erhob ihre kreischende Stimme über die aller anderen und brachte sie zum Schweigen.
„Er leugnet das Richtige und dementiert das Falsche!“ heulte sie. „Oder umgekehrt. Jedenfalls lügt er. Ich finde, daß er bei uns in Bärenleben nichts mehr zu suchen hat!“
Zustimmung wurde laut, aber bevor die Bären handgreiflich werden konnten, was sie am liebsten getan hätten, hob eine Alte die Pranke.
„Alles muß seine Richtigkeit haben“, sagte sie. „Lynchjustiz wird es in Bärenleben nicht geben, wohl aber demokratische Rechtsprechung. Wer der Meinung ist, daß Bärdel unser Dorf wegen Verletzung der politischen Regeln unserer Gemeinschaft und wegen grober Verstöße gegen die Tierrechte verlassen muß, der hebe die Tatze!“
Selbst in der nur vom Licht der Sterne erhellten Nacht war deutlich sichtbar, daß eine große Zahl von Armen in die Luft gereckt wurde.
„Gut“, stellte die Sprecherin fest. „Machen wir die Gegenprobe!“
Zwei Hände zeigten sich. Eine gehörte Tumu und die andere dem jungen Bären, der in die Falle geraten war. Sein Arm schwankte, denn er atmete schwer. Er war gerade rechtzeitig zur Abstimmung atemlos vor Bärdels Höhle angekommen.
„Zwei Gegenstimmen also.“ Die alte Bärin zögerte nur wenige Sekunden, bevor sie fortfuhr. „Aber die überwältigende Mehrheit hat sich für Bärdels Verbannung ausgesprochen. Er muß Bärenleben verlassen!“
„Und seine Frau auch!“ kreischte jemand, der anonym in der Menge verborgen blieb.
„NEIN!“ sagte da eine Stimme aus dem Off. Sie klang gebieterisch, und einen Moment lang glaubten einige Bären, sie gehöre Tussi. Aber dann besannen sie sich: Hier sprach keine Frau, sondern ein Mann.
„NEIN!“ ertönte die Stimme nochmals. „HÖRT MIR ZU!“
Es wurde so still, daß das Sirren der Mücken in den Ohren der Bären laut wie das Heulen von Sirenen dröhnte.
Die herrische Stimme wurde zur Stimme des anonymen Nachrichtensprechers.
„Bärenleben. Die Bewohner des idyllischen Dorfes haben heute eine schwere Niederlage erlitten. Sie haben dem Zorn gehorcht und nicht der Vernunft und dabei Prinzipien verletzt, die seit Jahr und Tag bewährte Regeln der Gemeinschaft dargestellt haben.“
In der Dunkelheit suchten die Bären die Augen ihrer Nachbarn. War das wahr? Zuerst konnten sie einander kaum erkennen, dann aber hoben sich die Gesichter aus der Schwärze. Das Fernsehen war wieder zum Leben erwacht und tauchte die versammelte Gemeinde in ein graues Licht. Auf dem vor Bärdels Höhle installierten Bildschirm tauchte das Gesicht des Nachrichtensprechers auf.
„Ja, das ist wahr“, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Ihr habt eine Mehrheitsentscheidung gefällt und damit das Konsensprinzip ignoriert. Ihr habt einen Mitbürger verurteilt, ohne ihn angemessen gehört zu haben. Ihr habt – mit einer Ausnahme, nämlich Tumu – einem verletzten Mitbären Hilfe verweigert. Ihr habt Indizien so bewertet, daß sie in Eure unbewiesenen Theorien paßten – ich meine die Mausefalle. Menschenkinder haben die Falle vor ein paar Stunden in unserem Dorf aufgestellt, während wir alle Mittagsschlaf gehalten haben. Und schließlich – und das ist das Geringste und das Schlimmste zugleich, weil es eigentlich harmlos sein könnte und doch der Auslöser für all Eure Fehlhandlungen war – Ihr habt Nachrichten geglaubt, die Lügen waren. Ihr habt ihnen geglaubt, weil sie von einer scheinbar höheren Instanz kamen – dem Fernsehen. Ich fasse zusammen: Ihr habt Euch also benommen wie Menschen!“
Der Sprecher schwieg, und auch unter den Bären war es still. Erst nach einer Weile wurde das Geräusch von vorsichtig auftretenden Pfoten ahnbar, wenn man ganz genau hinhörte – die Bären begannen, sich wortlos davonzustehlen, weil sie sich schämten. Deshalb sahen längst nicht mehr alle, daß der Bär im Fernsehen die dunkle Brille absetzte und die Krawatte vom Hals zog. An der Stelle, an der die Krawatte gesessen hatte, kam eine bunte Fliege zum Vorschein. Aber Bärdel sah es, Tumu sah es, und Manfred sah es. Sie sahen Kulle.
„Du…“ sagten alle drei gleichzeitig, und sechs Bärenfäuste ballten sich.
„Schon gut“, meinte Kulle, als würde er mitbekommen, was außerhalb des Studios vor sich ging. „Ich habe Euch beschissen, vor allem Dich, Bärdel. Aber ich hatte die Situation immer voll im Griff, das kannst Du mir glauben. Hätte ich Dich eingeweiht, hättest Du Deine Rolle wohl kaum so überzeugend gespielt wie eben. Den Bären wollte ich zeigen, wie Fernsehen wirkt – das dürfte mir gelungen sein. Bären sind eben auch nur Menschen.“
„Falsch!“ schimpfte Tumu. „Immerhin haben die Bären die angebliche Kriegführung ihres angeblichen Präsidenten verurteilt und nicht gutgeheißen, und die angeblichen sexuellen Verfehlungen ihres angeblichen Präsidenten haben sie vermißt, weil sie sie begrüßt hätten – das macht doch wohl einen deutlichen Unterschied!“
„Mama“, sagte Manfred. Er redete mit seiner Mutter, weil er fühlte, daß sein Vater momentan nicht ansprechbar war. „Mama, ich werde das Dorffernsehen wieder abbauen. Denn…“
Ihm fiel keine griffige Begründung ein, aber seine Mutter wollte gar keine hören.
„Gut.“ sagte sie nur.
Kulle schien gewartet zu haben, bis der Dialog zu Ende war. Seine braunen Knopfaugen suchten die Kamera, und er blickte seine Zuschauer direkt an.
„Bärdel, bist Du mir noch böse?“ fragte er.
„Ja.“
Mehr sagte Bärdel nicht, und Kulle schien mit dieser kurzen Antwort gerechnet zu haben.
„Ich wußte es“, tönte es aus den Lautsprechern. Bärdel sah kurz auf den Bildschirm und registrierte, daß Kulle nervös zwinkerte und an seiner Fliege nestelte.
„Ich möchte Dir noch eine Frage stellen, wenn ich darf.“ Kulles Stimme klang gepreßt. Natürlich konnte er Bärdels Reaktion nicht erkennen.
Unabhängig von einer Erlaubnis fuhr er also fort: „Hättest Du Dich korrekt verhalten, wenn Du heute abend unter den Fernsehzuschauern in Bärenleben gewesen wärest?“
Vor Bärdels Höhle herrschte Stille. Hand in Hand saßen er und Tumu da. Nach einer Weile hörte man ein hartes, kurzes Zischen.
Mitten in das Geräusch hinein flüsterte Bärdel: „Ich weiß es nicht.“
Der Bildschirm vor Bärdels Höhle und alle anderen Bildschirme in Bärenleben wurden dunkel. Manfred hatte das Fernsehen abgeschaltet.