Krieg, Natur, Mensch

Kulle
PD. Kulle

Krieg liegt in der Natur des Menschen

Überlegungen von PD. Kulle

Jede Art hat ihre Eigenart. Jede Art ist stolz auf sich. Aber nicht jede Art ist stolz auf jede Eigenart.

Homo sapiens sapiens zum Beispiel unternimmt alles, um zu verbergen, dass Krieg zu seiner Natur gehört. Er versteckt diese destruktive Anlage nicht nur vor seinen Artgenossen, sondern auch vor sich selbst. Das gelingt mitunter sogar, obwohl der Mensch einen großen, wenn nicht den größten Teil seiner Intelligenz und seiner Gefühle auf die Beschäftigung mit kriegerischem Verhalten verwendet.

Was ist hier unter Krieg zu verstehen?

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Das Anthropozän

PD Kulle in der ungewohnten neuen Inkarnation

Vorbemerkung

Paul Crutzen ist ein bedeutender Chemiker und und beschäftigt sich vornehmlich mit der Analyse der Erdatmosphäre. Das impliziert die permanente Konfrontation mit den Emissionen menschlicher Tätigkeit: dem Ozonabbau in der Stratosphäre, der Zunahme von CO2 und CH4 1 in der Atmosphäre, der globalen Temperaturerhöhung. Crutzen scheint vom Ausmaß dieser Auswirkungen so beeindruckt gewesen zu sein, dass er  im Jahr 2000 vorschlug, der aktuellen geologischen Epoche den Namen „Anthropozän“ zu geben. Dieser Vorschlag löste unter menschlichen Wissenschaftlern eine bis heute andauernde heftige Debatte aus – Grund genug, der Angelegenheit aus bärischer Sicht auf den Grund zu gehen.

Was ist eine geologische Epoche?

Wie bekannt, beträgt das Alter der Erde etwa 4.500.000.000 Jahre.2 Mehr als 90% davon werden dem Präkambrium zugerechnet. Organisches Leben spielt hier kaum eine Rolle, wichtig ist dagegen die Tektonik: Die Kerne der heutigen Kontinente, die Kratone, werden gebildet, Ozeane entstehen und verschwinden, die moderne Plattentektonik wird entwickelt. Erde, Wasser, Luft und Feuer interagieren, wie es der Lehre der klassischen Antike entspricht. Die verschiedenen Phasen des Präkambriums werden folgerichtig allein gemäß tektonischer Veränderungen definiert.

Ganz anders verhält es sich mit dem Kambrium, dessen Beginn sich recht genau 541 Millionen Jahre zurückdatieren lässt. Umgangssprachlich formuliert: Dann explodiert die Fauna. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden: Im Paläozoikum3  entwickelten sich die heute bekannten Tierstämme; Tiere und Pflanzen begannen, das Land zu erobern. Das Mesozoikum4  gilt als Zeitalter der Dinosaurier. Das Känozoikum5  brachte die Entwicklung der Säugetiere und der Vögel in der heute bekannten Vielfalt.6

Woher weiß man das?

Seit dem Kambrium sind tierische Lebewesen auf der Erde groß genug, um als Fossilien Spuren zu hinterlassen, die sich leicht identifizieren lassen. Dabei handelt es sich in der Regel um Überreste von Meeresbewohnern, weil Schelfsedimente als Fundstellen besonders ergiebig sind. Die Ersetzung einer dominanten Fossilienart durch eine neue begründet eine neue erdgeschichtliche Epoche. Anthropologen markieren diese Schnittstelle durch einen „Goldenen Nagel“.7

Der gegenwärtige Abschnitt der Erdgeschichte ist das Holozän, die Nacheiszeit. Hier wird der rapide Temperaturanstieg als Marker für den Epochenumbruch genommen, nicht das Auftauchen neuer Spezies.8  Homo sapiens sapiens ist nach dem Ende der letzten Eiszeit längst nachgewiesen. Das Holozän beginnt der menschlichen Phrasierung zufolge vor 12.000 Jahren und ist damit der kürzeste jemals definierte Zeitabschnitt. Denn eigentlich gilt für erdgeschichtliche Abschnitte: Sie sind lang, sehr lang.

Gibt es das Anthropozän?

Das „Zeitalter des Menschen“ soll dadurch gekennzeichnet ein, dass die Spezies Mensch den Planeten maßgeblich prägt. Macht Homo das seit 7000 Jahren, als er vom Jäger und Sammler zum Ackerbauer und Viehzüchter wurde? Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also seit dem Beginn der industriellen Revolution? Oder erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, als er mit der Kernphysik die Mittel erlangte, sich und seine Welt zu zerstören? Über diese Frage herrscht unter den Menschen Uneinigkeit.

Wann auch immer man das Anthropozän beginnen lassen will, es wäre die kürzeste aller bisherigen Epochen. Zieht man aus dem beobachtbaren Verhalten der Menschen Rückschlüsse und formuliert, darauf basierend, eine Prognose, so liegt die Vermutung nahe, dass das Anthropozän sein Alter nicht mehr wesentlich wird steigern können.

Andererseits sind die Veränderungen, die dem Planeten aufgrund des Wirkens von Homo zugefügt wurden und werden, bemerkenswert.

Eine wichtige Rolle bei der Beantwortung der Frage nach der Existenz des Anthropozäns spielt das Artensterben. Den Paläontologen sind mindestens fünf große Massensterben während des Kambriums bekannt, für die geologische, kosmische bzw. atmosphärische Ursachen vermutet werden. Jetzt aber ist eine einzige biologische Art für einen Aussterbe-Tsunami verantwortlich. Der Grenzwert für das verkraftbare Aussterben von Arten ist weit überschritten, bis zu 130 Arten täglich(!) verschwinden. Gründe dafür sind die Art der Landnutzung9, die nicht zuletzt aus der Zahl der Weltbevölkerung resultiert. In den letzten 40 Jahren dürfte die Hälfte der Tierwelt durch den Menschen ausgelöscht worden sein.10

Von atmosphärischen Auswirkungen menschlichen Agierens war bereits die Rede.

Atemberaubend ist nicht nur die Degenerierung des Planeten durch den Menschen, atemberaubend ist auch die Zunahme der auf der Erde lebenden Individuen. Seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung ist die Weltbevölkerung von 200 bis 400 Millionen Menschen bis zum Jahr 1800 auf eine Milliarde gestiegen11. Danach ging es in beschleunigtem Sauseschritt voran12 : Nach weiteren 123 Jahren wurde die zweite Milliarde erreicht, nach 33, 15, 13, 12 und wieder 13 Jahren13 die dritte, vierte, fünfte, sechste und siebente. Man schrieb das Jahr 2011. Nach Prognosen der UN, die von der Annahme ausgehen, die Fertilitätsrate pro Frau werde sich weltweit bei zwei Kindern einpendeln, wird das Wachstum der Menschheit in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts aufhören14 . Wie auch immer: Bereits bei der jetzigen Zahl reicht die Regenerationskraft des Planeten nur zu zwei Dritteln aus, um die menschlichen Aktivitäten zu kompensieren.

Warum befürworten die meisten Menschen den Begriff „Anthropozän“?

Das Zeitalter des Menschen – stolz klingt das, wenigstens in menschlichen Ohren!

Weniger stolz klingen die Verse des Menschen Sophokles15  in seiner Tragödie „Antigone“:

Ungeheuer ist viel. Doch nichts
ungeheuerer als der Mensch.

Sophokles: Antigone

Grässlich, schrecklich und furchterregend ist der Mensch … einerseits. Aber auch groß, großartig, zu vielem fähig.

Der Mensch hört hiervon in der Regel nur die zweite Bedeutung. Er beschönigt, was seine Existenz ausmacht, er verbrämt unangenehme Tatsachen, kurz, er lebt in einer Welt gedanklicher und begrifflicher Euphemismen.

So bezeichnet er die Anzahl egoistischer Nationalstaaten, die um Vorteile rangeln, skrupellos Kriege gegeneinander bzw. gegen die eigene Bevölkerung führen, als „die Menschheit“, „Staatengemeinschaft“ oder „Vereinte Nationen“.

Die Entwicklung immer raffinierterer Vernichtungswaffen gilt ihm als „Verteidigung“.

Die Kleingruppe, in der Kaufkraft generiert und „Humankapital“ herangezogen wird, ist ihm „Familie“.

Die Instanz zur Durchsetzung von Investorenimperativen: das Parlament.

Das Zeitalter, in dem der Mensch in seiner infamsten Ausprägung, in der Ausprägung des Kapitals, die Erde ruiniert: das Anthropozän.

Nachbemerkung

Der Mensch arbeitet mit Nachdruck an der Abschaffung des Anthropozäns, wenn es denn ein solches gibt, indem er durch seine Aktivitäten seine eigenen Spezies ihrer Lebensgrundlage beraubt. Vielleicht führt sein gedankenloses Profitstreben auch dazu, rasch eine andere dominante Spezies zu installieren, die Künstliche Intelligenz. Beginnt dann ganz schnell das Androidozän?

Vielleicht macht aber auch Terra dem Menschen Konkurrenz: Man vermutet, dass Supervulkanausbrüche für Artensterben (mit)verantwortlich waren. Wenn der Yellowstone-Vulkan oder die Phlegräischen Felder16  aus ihrem Schlummer erwachen und einen vulkanischen Winter verursachen, dürfte dem Anthropozän ebenfalls ein Ende bereitet werden.

Wie auch immer:

PFFFTTTTT…

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

Oktober 2018

Fußnoten: Die Fußnoten lassen sich sowohl klicken als auch mit ruhendem Cursor per „PopUp“ aufrufen

Alternative Fakten

Ramses der Frosch lehnte gemütlich am warmen Dorfbackofen von Bärenleben, und Piggy das Schwein saß ihm gegenüber. Sie waren eifrig in eine Diskussion über die Vor- und Nachteile von Schwimmhäuten und Hufen vertieft und wurden dabei fast von Nanuk überrannt, den Eisbärenzwillingen.

Ramses

 

Piggy

„Oh, Entschuldigung, Tante Piggy, Onkel Ramses! Wr konnten weder Onkel Kulle noch Tante Atti finden. Dürfen wir Euch deshalb etwas fragen?“

Wie so oft sprachen die Zwillinge im Chor.

Na und Nuk

Piggy verzichtete ebenso wie Ramses darauf, die logische Konnotation des ‚deshalb‘ genauer zu untersuchen, und sagte nur: „Klar.“

„Wir möchten Euch Fotos zeigen,“ erklärte Na. „Ihr braucht uns nur zu sagen, was Ihr darauf seht.“

Nuk präsentierte ihnen zwei Aufnahmen, auf denen derselbe große Platz zu sehen war. Immer waren Menschen darauf versammelt, aber auf dem rechten Foto war der Platz fast voll, auf dem linken nur zu einem Drittel gefüllt.

„Auf welchem Foto sind mehr Menschen zu sehen?“ wollte Nuk wissen.

Ramses beugte sich vor, obwohl er dadurch auf die Ofenwärme verzichten musste, ließ sich aber nach einem schnellen Blick wieder zurückfallen.

„Was für einen dumme Frage!“ grummelte er. „Auf dem rechten natürlich!“

„Falsch!“ sagten Nanuk, wieder wie aus einem Munde.

„Wollt Ihr mich ver…, äh, wollt Ihr mich auf den Arm nehmen? Das sieht doch sogar jedes Säugetierauge, auf welchem Platz sich mehr Menschen aufhalten!“

„Entschuldigung, Onkel Ramses, aber Du hast Unrecht. Heute akzeptiert man alternative Fakten, und das tust Du nicht. Auf dem linken Foto sind mehr Menschen! Kannst Du das Gegenteil beweisen?“

„Klar,“ antwortete Ramses siegessicher. Wir fragen Piggy, wer Recht hat.“

„Und wenn Piggy sagt, dass Du Recht hast, steht es zwei zu zwei. Das beweist also gar nichts!“

Aber…“ stammelte Ramses.

„Genau darum geht es, Onkel Ramses! Wenn denkende Wesen sich weigern, intersubjektiv überprüfbare Fakten als Fakten anzuerkennen, und stattdessen darauf beharren, dass eine falsche, eine sogenannte ‚alternative‘ Sicht der Dinge nicht nur möglich, sondern auch richtig ist, ‚auch‘ richtig, versteht sich, dann ist alles falsch, was wir von Tante Atti und und Onkel Kulle gelernt haben. Deshalb suchen wir sie. Helft Ihr uns dabei?“

„Ganz gewiss!“ quiekte Piggy.

„Aber sicher!“ quakte Ramses.

„Ganz gewiss! Aber sicher!“

Ramses hüpfte zur Dorfbibliothek, denn er hoffte, Kulle dort zu finden. Er selbst hielt sich in letzter Zeit dort häufiger auf, hatte er doch ein Buch entdeckt, das ihm großes Vergnügen bereitete (Bernd Hüppauf, Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie. Bielefeld 2011). Aber während er sich auf den einen Titel beschränkte, wühlte Kulle sich durch alle möglichen Bände.

Kulle liest

„Schwieriges Thema,“ brummte Kulle, nachdem Ramses ihm das Problem, das Nanuk bewegte, dargelegt hatte. „Habe ich schon lange auf der Agenda, wusste aber nicht so recht, wie ich es anfassen sollte. Weiß ich immer noch nicht. Auf jeden Fall aber brauche ich die Hilfe von Manfred.“

Wie immer verbreitete sich in Bärenleben ein Gerücht mit Windeseile. Als es dunkel wurde, meinten alle zu wissen: Heute würde es einen spannenden Höhlenabend geben. Ganz besonders aufgeregt waren natürlich Na und Nuk.

Nach der Begrüßung forderte Bärdel alle Versammelten auf, ihre Smartphones zu holen, was zu unruhigem Gemurmel führte. Technische Geräte waren bei den täglichen Treffen am Abend nämlich verpönt.

„Das ist schon in Ordnung!“ beruhigte Bärdel. „Wir werden heute ein kleines Experiment machen.“

Als die Bärenlebener wieder vollzählig waren, wurden sie aufgefordert, ihre Social-Media-Accounts zu aktivieren. Alle taten brav, was sie tun sollten, bis auf den sehr alten Bären. Der hatte kein Handy in der Tatze und schaute drein, als wüsste er nicht, was um ihn herum passierte. Die alte Bärin neben ihm knuffte ihn in die Seite: „He, bist Du etwa nicht bei Facebook?“

„Ich bin immer bei mir selbst,“ brummte der Alte zurück. „Was für ein Buch soll das denn sein?“

Seine Nachbarin gab den hoffnungslosen Fall auf und konzentrierte sich auf ihren Account.

Sie sah ein Video, in dem Menschen sehr verschiedene Alters in einem Mehrgenerationenhaus harmonisch zusammenlebten.

Auch alle anderen Bären bekamen Videos vorgespielt, aber jeder sah ein anderes.

  • Menschen lebten in Patchworkfamilien harmonisch zusammen.
  • Lesbische Paare und promiske Schwule lebten harmonisch zusammen.
  • Kinderlose Akademiker waren glücklich und lebten harmonisch zusammen.
  • Ein weißes Ehepaar mit vielen Kindern bildete eine glückliche große Familie.
  • Zwei Partner mit sehr unterschiedlichem Migrationshintergrund lebten harmonisch zusammen.
  • Partner adoptierten Kinder und waren glücklich.
  • Paare heirateten kirchlich.
  • Paare heirateten standesamtlich.
  • Paare heirateten gar nicht.

Aber am Ende aller Videos tauchte derselbe Schriftzug auf: ‚Leben, wie wir wollen. Unsere SPD‘.

„Gute Werbung!“

„Genau so wünsche ich mir das!“

„Ach, das wäre schön!“

Aber in das anerkennende Gemurmel mischte sich die Greisenstimme des sehr alten Bären, der laut kritisierte, dass er kein Video zu sehen bekommen hatte, in dem der Familienvater uneingeschränkt über Frau und Kinder herrschte. Er hatte seiner Nachbarin über die Schulter geschaut.

„Lauter zufriedene Bären und nur ein unzufriedener – wie ist das zu erklären?“ Manfred hatte sich zu Wort gemeldet.

Manfred

„Kann die SPD Gedanken lesen?“

„Die kennen uns vielleicht!“

„Quatsch, uns – wir sind doch ganz verschieden!“

„Kann es sein, dass die jeden einzelnen von uns kennen?“

„Das glaube ich nicht.“

„Das ist unmöglich.“

„Nein, das ist nicht unmöglich,“ mischte sich Manfred in die Diskussion ein. „Nur einer von Euch ist unzufrieden, und der ist nicht bei Facebook – dämmert es?“

„Aber Facebook kennt mich doch nicht…“

„Facebook kennt aber Deine Vorlieben. Es hat sich gemerkt, dass Du dauernd Fotos von süßen kleinen Kindern postest. Oder dass Du erotische Fotos von Dir postest. Es weiß, welche Parfums du magst und wie Du Dich kleidest. Es merkt sich Deine Likes. Es merkt sich alles, was mit Dir zu tun hat, und erstellt so ein Persönlichkeitsprofil. Ein solches Profil kann benutzt werden, um Dich zu beeinflussen, indem eine politische Partei im Wahlkampf zum Beispiel so tut, als verfolge sie genau die Ziele, die Du gut findest.“

„Ich kündige meinen Facebook-Account!“

„Na und? Facebook vergisst nichts.“

„Ich bin aber doch nicht bei Facebook, sondern bei WhatsApp!“

„Ha, ha, ha – WhatsApp gehört Mark Zuckerberg!“

„Ohhh…“

„Die sogenannten sozialen Medien haben im letzten Präsidentenwahlkampf in den USA eine große Rolle gespielt,“ meldete Kulle sich zu Wort. „Die Firma Cambridge Analytica, in deren Vorstand Steve Bannon war, hat die US-Bevölkerung in 32 Persönlichkeitstypen unterteilt und dementsprechend differenzierte Botschaften geschickt, vor allem via Facebook. Dabei ging es nicht nur darum, Trump-Wähler zu gewinnen, sondern auch darum, Clinton-Wähler von der Teilnahme an der Wahl abzuhalten.“

„Das habe ich verstanden, Onkel Kulle.“ Wie so oft wagte sich Na vor. „Das ist Manipulation: Man sagt jedem, was er hören will. Aber das erklärt noch nicht, warum Menschen sich weigern, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen. Wenn auf einem Platz einmal mehr und einmal weniger Menschen versammelt sind und wenn es von diesen Versammlungen Fotos gibt, dann sollte doch klar sein, was wahr ist!“

„Ja, das sollte es!“ seufzte Kulle. „Aber hier kommen wir zum Widerspruch von Erkenntnis und Interesse. Die Menschen – auch die Intellektuellen, ja, leider auch die intellektuellen Bären, suchen die Informationen, die in ihr Weltbild passen, und ignorieren die unpassenden. Ich weiß, warum ich die Schriften von Karl Marx studiere und die Werke von Oswald Spengler mit Verachtung strafe. Ich bitte, mir weitere Beispiele zu ersparen.

Wenn dieser Mechanismus schon in den Studien greift, so um so mehr in der Politik, handelt es sich hier doch um reinstes Interesse. Es geht nicht darum, was richtig ist, sondern was mir subjektiv – und manchmal auch objektiv – nützt.“

„Genau so macht das Nuk auch, wenn sie unbedingt Recht behalten will,“ sagte Na anklagend.

„Das ist gar nicht wahr, Du Lügnerin,“ fauchte Nuk. „Nur weil Du neidisch bist, dass ich…“

Athabasca fasste die kleine Eisbärin energisch am Nackenfell und verpasste ihr einen kräftigen Klaps. „Ruhe jetzt!“ forderte sie. „Eure kindischen Streitereien könnte ihr in Eurem Eiskasten austragen, aber nicht hier!“

Athabaska

Die älteren Bären lächelten. Sie waren derselben Meinung wie ihre amerikanische Schwester: Einen Klaps in Ehren kann niemand verwehren.

Na und Nuk machten sich ganz klein, steckten die Köpfe zwischen die Pfoten und schlossen die Augen. Wenn sie nichts sahen, waren sie für andere unsichtbar; davon waren sie fest überzeugt.

„Kommen wir zurück zu Trump,“ fuhr Kulle fort. Wer sind seine Adressaten, was sagt er ihnen, und wie sagt er es? Er sagt ‚wir‘, wenn er sich an seine wichtigste Klientel wendet: Das sind weiße, aus der Produktion gefallene Industriearbeiter in ehemals prosperierenden Regionen, aus dem Rostgürtel, aus den Appalachen, aus allen Fly-Over-States, die an den amerikanischen Traum geglaubt haben, an den Wert von Arbeit, an Familie und Gott. Die aufgrund des rasanten technologischen Wandels Arbeit und Brot verloren haben und wegen des gesellschaftlichen Wertewandels die moralische Orientierung zu verlieren drohen. Die einfach Angst haben. Hier präsentiert sich Trump als Erlöser, wenn er verspricht, Amerika wieder groß zu machen. Er sagt es nicht deutlich, aber alle verstehen ihn: Er will das weiße Amerika wieder groß machen. Zu den wichtigsten Vokabeln in seiner Inaugurationsrede gehörten: Volk, Fabriken, Arbeitsplätze, Reichtum, Grenzen; geschützt, groß, zusammen, zuerst. Seine Sätze sind kurz, die Botschaften sind simpel. Und sie kommen an.

Das liegt daran, dass Trump seine Zielgruppe richtig anspricht. Er sagt nicht: ‚Eure Qualifikation ist heute nicht mehr gefragt, Ihr müsst umschulen.‘, sondern: ‚Die Globalisierung ist an Eurer Situation schuld. Und die Mexikaner. Deshalb schaffen wir den freien Handel ab. Deshalb bauen wir eine Mauer.‘ Er wiederholt das immer wieder, die Medien verbreiten die Wiederholungen, und je öfter das geschieht, desto tiefer wird die Botschaft in den Gehirnen verankert. Die Menschen glauben, was sie hören, weil sie es hören wollen.“

„Junger Bär,“ grantelte der sehr alte Bär und meinte damit Kulle, „ junger Bär, ich habe Dir geduldig zugehört, weil ich von Natur aus geduldig bin, aber ich muss Dir sagen, dass Du heute ziemlich viel Unsinn erzählt hast. Dieser Trump widerspricht sich doch dauernd und macht einen Fehler nach dem anderen. Dem kann man unmöglich glauben!“

„Großvater, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss Dir widersprechen. Einer der größten Schnitzer, den Trump sich erlaubt hat, war die Sache mit den Fotos von seiner Inauguration, die zeigen, dass sehr viel weniger Menschen vor dem Kapitol versammelt waren als bei der Amtseinführung Obamas. Trump behauptete trotzdem das Gegenteil. Sein Sprecher hat versucht, die Präsidentenaussage zu rechtfertigen, hat aber recht schnell aufgegeben. Trump selbst hat die Lüge nicht mehr wiederholt.

Der dehländische Kanzler Adenauer, den Du bestimmt noch persönlich gekannt hast, hat einmal gesagt: ‚Was schert mich mein Geschwätz von gestern.‘ Er hat ausgenutzt, was die Wissenschaft die ‚kognitive Dissonanz‘ nennt. Und er hatte damit recht.

Denn unlogische, widersprüchliche Aussagen schieben die Menschen weg, wenn sie ihnen nicht passen. Sie können sich nicht mehr daran erinnern, oder sie schwächen sie ab, weil sie angeblich nicht so gemeint gewesen seien. Seine Anhänger glauben Trump, glaub mir das!“

Der sehr alte Bär schüttelte seinen Kopf so energisch, dass das schüttere Fell flog. „Was für ein Unsinn!“ zeterte er. „So einen Quatsch kann kein vernünftiger Bär glauben. Das widerspricht dem gesunden Bärenverstand!“

Niemand entgegnete etwas, denn sie respektierten das Alter. Insgeheim aber schmunzelten sie alle. Kulle sagte so leise, dass nur er es hören konnte: „Quod erat demonstrandum.“

Februar 2017

Über Empathie und deren Missbrauch

Was ist Empathie?

Kulle

Der Duden liefert eine sehr enge Definition: Er bezeichnet Empathie als die „Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen“. Demzufolge ist Empathie also eine Empfindung, die nur Menschen anderen Menschen entgegenbringen können.

Wikipedia 1 geht scheinbar weiter:

„Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen. Zur Empathie gehört auch die Reaktion auf die Gefühle Anderer wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls. Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung; je offener man für seine eigenen Emotionen ist, desto besser kann man die Gefühle anderer deuten.“

Und schließlich lesen wir bei „empathie-lernen.de:“2 „Empathie ist die Fähigkeit, wahrzunehmen, was in einem anderen vorgeht.“

Wer also ist fähig zur Empathie wem gegenüber?

Dem Duden zufolge ist das der Mensch gegenüber dem Mitmenschen, bei Wikipedia ist von Personen und Persönlichkeitsmerkmalen die Rede, die Empathie-Seite spricht von „anderen.“ Gemeint ist, wie auch immer formuliert wird, präzise oder unpräzise, der Mensch.

Dieser Logik zufolge kann Tieren keine Empathie entgegengebracht werden, es sei denn, man schreibt ihnen Persönlichkeitsmerkmale zu, was Homo nur sehr zögerlich zu tun bereit ist, sieht er doch dadurch seine behauptete Stellung als Krone der Schöpfung gefährdet.3

Die jahrhunderttausendelange Beziehung zwischen Menschen und Tieren hängt weitgehend von der Zahl der Beine der Tiere ab: Alles, was acht oder sechs Beine hat, mit Ausnahme der Bienen, gilt als lästig und ist es oft auch. Fische sind nahrhaft. Vögel sind nützlich, sofern sie domestizierbar sind, Eier legen und zum Verzehr geeignet. Vierbeiner sind willkommen, wenn sie ähnliche Kriterien erfüllen: Wenn sie Milch und Fleisch geben und/oder ihre Kraft als Zug- bzw. Lasttiere genutzt werden kann. Auch das Raubtier Katze und das teildomestizierte Raubtier Wolf als Hund werden haushaltsnah als Mäusefänger und Wächter gehalten. Als Maxime gilt der ökonomische Nutzen; folgerichtig spricht man von Nutzvieh.

Im Widerspruch zu den eingangs zitierten Definitionen gibt es sehr wohl emotionale, empathische Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Seit der private Wohlstand in den Industrienationen so angewachsen ist, dass der homo oeconomicus sich den Luxus leisten kann, nicht nur wirtschaftlich zu handeln, gesellte er sich das Haustier bei, das eine deutlich andere Position einnimmt als das Nutzvieh. Das Haustier ist Gesellschafter, nicht eierlegende Wollmilchsau.

Man sollte annehmen, dass Homo positive Gefühle gegenüber nahen Verwandten hegt, dem ist aber keineswegs so. Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang Utans werden in Zoos eingesperrt und dort ausgestellt. Zeugt dergleichen von Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls4?

Auch gegenüber genetisch kaum weniger Nahestehenden ist der Mensch gefühlsresistent. Schweine werden unter tierunwürdigen Verhältnissen binnen möglichst kurzer Zeit so zu Tode gebracht, dass sie möglichst viele, wenn auch nach nichts schmeckende Koteletts unters Schlachtmesser bringen.

Anders verhält es sich mit den Haustieren. Der Hund hat seine Ketten verloren und ist auf den Schoß geklettert. Die Katze jagt Mäuse nur noch zum Entsetzen ihrer Halter, die nicht verstehen, warum „Sheba“ et alii das Raubgelüst nicht befriedigen. Das Haustier liebt der Mensch so sehr, dass er nicht davor zurückschreckt, es nach seinem Geschmack zu verstümmeln.

Da ist der rassereine Hund, dessen Becken nicht mehr geeignet ist zu gebären, der asthmatisch ist und dessen Beine ihn nicht mehr tragen, teurer Dauerkunde beim Kleintierarzt und Grund vieler Tränen. Da ist die Katze, die kastriert wird, um nicht ihr, sondern ihrem Besitzer die Kätzchen im nächsten Frühjahr zu ersparen.

In allerjüngster Zeit hat der Mensch weitere Lebewesen entdeckt, die seiner Liebe bedürfen und ihrer würdig sind, wie er meint.

Die Polkappen schmelzen, woran Homo nicht ganz unschuldig ist. In der Antarktis sind die Pinguine bedroht, das ist bedauerlich, meint er, aber letztlich trifft es nur Vögel.

Jedoch: Auch die Arktis schmilzt! Die Eisbären verlieren ihr Habitat! Sie verhungern! Sie ertrinken!

Bilder von abgemagerten Eisbären, die ziellos umherschwimmen, bringen Menschen tatsächlich zum Weinen, und das ist erstaunlich, denn Eisbären sind die größten Landraubtiere. Eisbären bedrohen Menschen nördlich des Polarkreises. Eisbären haben oft blutrote Schnauzen, daran erkennt man, was sie gefressen haben. Eisbären flößen Angst ein. Eisbären jagen Robben, und die haben nach Meinung der meisten Menschen sehr süße Babies.

Was wäre so schlimm daran, wenn es keine Eisbären mir gäbe? Wer hat den Menschen die merkwürdige Liebe zu diesen gefährlichen Räubern eingepflanzt?

Es waren der WWF, Greenpeace und ähnliche Organisationen, und für sie dient der Eisbär dem Fundraising. Wer für den Erhalt der Umwelt kämpft, benötigt in der menschlichen Gesellschaft Geld. Es bedarf geschickter Strategien, es dem homo oeconomicus zu entlocken. Er muss sich der Illusion hingeben können, einen angemessenen Gegenwert zu erhalten, und sei es ein immaterieller. Sagte man ihm, dass sein Konsumverhalten maßgeblich verantwortlich für die Klimaerwärmung ist, so wäre das zwar richtig, hätte aber keinerlei positiven Aspekt. Eine Argumentation gegen das gerade erworbene SUV erweckte die Empathie für das SUV in einem bisher nicht bekannten Umfang. Also lässt man dem Menschen seine klimaschädigenden Konsumartikel und verschafft ihm zugleich ein gutes Gewissen, wenn er für bedrohte Teile des Ökosystems Geld zur Verfügung stellt – und Tiere mit dichtem Fell, deren Junge dem Kindchenschema entsprechen, sind als Repräsentanten solcher „bedrohten Teile“ bestens geeignet.

Empathie, so lernen wir, bezieht sich auf jeden und jedes, wenn Menschen wollen, dass sie dafür Empathie empfinden.5

Die Vermutung liegt nahe, dass Homo seine Empathie zunehmend anderen Subjekten als Vertretern der eigenen Spezies widmen wird. Die Fähigkeit, sich in andere Wesen hineinzuversetzen, ist verständlicherweise numerisch begrenzt. Die zunehmende Zahl der Menschen ist dafür schlechter, die abnehmende Zahl der Eisbären besser geeignet.

Dezember 2015


Fußnoten: („< " führt zum Text zurück)

  1. Der Chef hat Wikipedia lange Zeit verabscheut. Die wissenschaftliche Qualität sei niedrig, die Fehlerquote hoch, behauptete er. Das hat sich geändert. Inzwischen erachtet er Wikimedia als eine wichtige Zugangsmöglichkeit zu Informationen (auch) für wissenschaftlich nicht gebildete interessierte Personen und spendet regelmäßig für deren Erhalt. Die Sekretärin
  2. Die Prämisse des Site-Namens, es handele sich bei Empathie um eine kognitive Fähigkeit, ist so naiv, dass sie schon wieder amüsant ist.
  3. Lediglich Primaten und Walen werden inzwischen Zugeständnisse gemacht.
  4. vgl. Wikipedia
  5. Wir erwarten nicht, diese Erkenntnis demnächst in einem menschlichen Lexikon zu lesen.
  6. Dezember 2015

Kulle über das Reisen

Über das Reisen

P. D. Kulle

Kulle

»Guten Tag«, sagte der kleine Prinz.
»Guten Tag«, sagte der Weichensteller.
»Was machst du da?« sagte der kleine Prinz.
»Ich sortiere die Reisenden nach Tausenderpaketen«, sagte der Weichensteller. »Ich schicke die Züge, die sie fortbringen, bald nach rechts, bald nach links.«
Und ein lichterfunkelnder Schnellzug, grollend wie der Donner, machte das Weichenstellerhäuschen erzittern.
»Sie haben es sehr eilig«, sagte der kleine Prinz. »Wohin wollen sie?«
»Der Mann von der Lokomotive weiß es selbst nicht«, sagte der Weichensteller.
Und ein zweiter blitzender Schnellzug donnerte vorbei, in entgegengesetzter Richtung.
»Sie kommen schon zurück?« fragte der kleine Prinz…
»Das sind nicht die gleichen«, sagte der Weichensteller. »das wechselt.«
»Waren sie nicht zufrieden dort, wo sie waren?«
»Man ist nie zufrieden dort, wo man ist«, sagte der Weichensteller.
(aus: Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz, Kap.22)

Inhalt:

  • Vorwort
  • 1. Die Großen Reisen
  • 1.1. Die Reise zur Eroberung der Landmasse
  • 1.2. Die Reise zur Eroberung fremden Territoriums
  • 1.3 Was kennzeichnet Große Reisen?
  • 2. Was kennzeichnet dem gegenüber Kleine Reisen?
  • 2.1. Geschäfts- und Bildungsreise
  • 2.2. Entdeckungs- und Eroberungsreise
  • 2.3. Die Pendelreise
  • 2.4. Die Urlaubsreise
  • Conclusio

Vorwort

Reisen ist eine Tätigkeit, die von Homo sapiens sapiens (im Folgenden auch: HSS) so umfassend und aus so unterschiedlichen Gründen ausgeübt wird wie von keiner anderen Spezies. Deshalb behalten wir die Bezeichnung „Reisen“ ihm vor, während wir bei anderen Tieren von „Wandern“ sprechen. Wanderungen ermöglichen Fortpflanzung und Zugang zu Nahrung, andere Triebkräfte dafür existieren nicht. Das Motiv der Nahrungssuche haben Reisende und Wanderer mitunter gemein, wie wir sehen werden.

1. Die Großen Reisen

1.1. Die Reise zur Eroberung der Landmasse

Fossile Zeugnisse von unterschiedlich entwickelten Hominiden sind sowohl in Asien wie in Europa und Afrika nachgewiesen worden, es ist jedoch nach gegenwärtigem Wissenstand unbestritten, dass die „Wiege der Menschheit“ 1 im nordöstlichen Afrika zu suchen ist. Von dort reiste der Mensch los und durchstreifte die „Alte Welt“ zu Fuß, erst als er die Fähigkeit entwickelt hatte, die Meere zu befahren, machte er Australien zu seinem Lebensraum. Die Bereisung des amerikanischen Doppelkontinents erfolgte noch später als die der Terra australis und fand wiederum auf dem Landweg, über die zu jener Zeit trocken gefallene Beringstraße, statt. So war schließlich auch die gesamte „Neue Welt“ 2 zum Reiseterritorium des Menschen geworden.

Das Motivbündel für diese Jahrhunderttausende währende Reise wohl überwiegend kleiner Gruppen ist zweifellos vielfältiger Natur. Die allenthalben verbreitete nomadisierende Lebensweise, die sich aus der Jäger- und Sammlertätigkeit zur Nahrungsbeschaffung zwangsweise ergab, ist schon an sich eine Reisebetätigung. Regionale Erschöpfung von Ressourcen, kurzfristige Wetterunbilden, Naturkatastrophen und einschneidende klimatische Veränderungen gaben ebenfalls Anlass, einen anderen Lebensraum in der Hoffnung auf bessere Bedingungen zu suchen. Und gewiss spielte die Bedrohung durch Artgenossen eine Rolle, und zwar um so mehr, je weiter HSS sich verbreitete. Und damit kommen wir zur zweiten Form der großen Reisen.

1.2. Die Reise zur Eroberung fremden Territoriums 3

Verteidigung, Bekehrung der Heiden, Lebensraum in welcher Himmelsrichtung auch immer schaffen, Kreuzzug, präventives oder präemptives Handeln – der Mensch war schon immer sehr phantasievoll, wenn es galt, das brutale, organisierte Töten eigener Artgenossen durch speziell dafür geschulte Kämpfer und mit speziell dafür hergestellten Waffen zu beschönigen: den Krieg.

Krieg besteht darin, dass eine Armee in ein von einer anderen Armee kontrolliertes Territorium reist; kann sie es erobern, erweitert sie ihren Kontrollbereich, und die gegnerische Gruppe verliert die Kontrolle über diese Region. Die nicht kämpfende Bevölkerung flieht vor den Kampfhandlungen, reist also fort, oder wird nach deren Beendigung entweder vertrieben, unterdrückt oder assimiliert.

Flüchtlinge oder Vertriebene versuchen, sich ein neues Territorium zu suchen, das aber ist in der Regel menschlich besiedelt, so dass sie entweder abgewiesen werden oder, falls sie akzeptiert werden, zumindest für einen gewissen Zeitraum einen Störfaktor darstellen, da sie wertvolle Ressourcen verbrauchen und enkulturiert werden müssen.

Warum werden Kriege geführt? Auch hier finden wir vielfältige Gründe, die sich aber letztlich auf einen Begriff bringen lassen: Ressourcen. Ob Land, Bodenschätze, landwirtschaftliche und /oder industrielle Produkte, Arbeitskraft, Know-how oder Sexualobjekte der eigenen Verwertung unterworfen werden können: Die Macht des Eroberers wird gesteigert und so seine Herrschaft gesichert. 4

1.3. Was kennzeichnet Große Reisen?

Die Antwort hat der intelligente Leser gewiss bereits gefunden, für den nicht so begabten einen oder anderen menschlichen Interessierten sei sie explizit formuliert: Große Reisen werden unternommen, um zu bleiben.

2. Was kennzeichnet dem gegenüber Kleine Reisen?

Auch diese Antwort liegt antithetisch auf der Hand: Kleine Reisen werden nicht unternommen, um am Reiseziel zu bleiben. Nach kürzerer oder längerer Zeit kehrt der Reisende in seine Ausgangsregion zurück. Was Zwecke und Motive anbetrifft, so ist bei den Kleinen Reisen die Vielfalt erheblich größer als bei den Großen. Wir werden einen Überblick über die wichtigsten geben.

2.1. Geschäfts- und Bildungsreise

Die Geschäfts- und die Bildungsreise sind die ältesten Kleinen Reisen und zudem eng miteinander verwandt, gilt es doch bei beiden, Güter zu erwerben, im ersten Fall materielle, im zweiten immaterielle. In einer Welt knapper und regional unterschiedlich verteilter Güter liegt es nahe, gegen Tausch von Waren oder allgemeinen Warenäquivalenten eine bessere Versorgung in allen Gebieten zu erreichen. Diese Aufgabe übernahmen die Fernkaufleute, aber auch die Höker, die kleinräumig agierten.

Wo sich mit dem Beginn von Zentren unterschiedliche Kulturen entwickelten, entsandten die Herrschenden junge Menschen, oft Angehörige des eigenen Geschlechts, um fremde Sitten und Gebräuche kennenzulernen und die heimische Polis 5 davon profitieren zu lassen 6. Diese Art des Informationserwerbs setzte sich nach der Gründung von Hochschulen bis zum heutigen Tag fort.

Das Motiv derartiger Reisen ist zum einen Gewinnstreben, das, in abgewandelter Form, als Suche nach Vorteilen auch Großen Reisen inhärent ist. Bei Bildungsreisen aber finden wir eine neue, bisher unbekannte Triebkraft: Neugier 7 .

2.2. Entdeckungs- und Eroberungsreise

Ebenfalls eng miteinander verknüpft sind die Entdeckungs- und die Eroberungsreise. Solange die Erde für eine Scheibe gehalten wurde, von deren Rand man ins Nichts herunterfallen konnte, hielt sich die menschliche Lust auf Unbekanntes in Grenzen, aber neue, wenn auch falsche Weltkarten, denen zufolge Terra eine Kugel ist und denen zufolge man Profit versprechende Territorien 8 auf dem Seeweg erreichen zu können glaubte, veranlasste HSS zum Besegeln der bisher gefürchteten Ozeane9.

Ausgestattet mit der richtigen Ideologie, also der Überzeugung, der wahren Religion teilhaftig zu sein und alle menschlichen Wesen, die man „entdeckte“, zu dieser bekehren zu müssen, sorgten die unreinlichen Europäer für ein doppeltes Massaker: die Bestrafung der „Heiden“, die sich dem „Heil“ widersetzten, mit dem Tode, und den Seuchentod.

Mindestens ebenso wie an überirdischen Gütern waren die Entdecker und ihre Geldgeber 10 an irdischen Werten interessiert. Jeder jagte dem „Dorado“ hinterher und fand es in mancherlei Gestalt: im Gold und Silber Lateinamerikas, in der Arbeit der aus Afrika entführen Sklaven auf den Baumwollfeldern der Amerikas und letztlich auch in den Weiten des scheinbar leeren Südkontinents, in denen sich Straftäter entsorgen und so Kosten sparen ließen.

2.3. Die Pendelreise

Eine neue Quantität und auch Qualität des Reisens entstand mit der Industriellen Produktionsweise, zerstörte doch die Fabrik die lokale Einheit von Wohnen und Arbeiten, wo sie sich entwickelte. Diese Zerstörung erheischte eine Beschleunigung und eine quantitative Ausweitung des Reisens, die beide durch die Entwicklung des Lokomobils und einige Jahrzehnte später des Automobils möglich wurden. Die Notwendigkeit des „Pendelns“ von Berufstätigen und Waren ist die Grundlage einiger wichtiger Wirtschaftszweige und zugleich ein Faktor, der die Ökonomie negativ beeinflusst, führt doch die zunehmende Überlastung der Verkehrswege und -mittel zur Vergeudung von toter wie lebendiger Arbeit.

2.4. Die Urlaubsreise

Diese Überlastung beeinträchtigt jene Art der Kleinen Reise, die sich bei den Reisenden höchster Beliebtheit erfreut. In allen sogenannten Industrie- wie auch in vielen Schwellenländern 11 haben beruflich tätige Menschen Anspruch auf eine mehr oder minder lange Spanne arbeitsfreier Tage, und wer über die Mittel dazu verfügt, verbringt diesen „Urlaub“ gerne an einem anderen Ort als dem gewohnten. Es versteht sich von selbst, dass auch diese Kleinen Reisen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind: Transportmittel, Unterkünfte und Möglichkeiten zur Nahrungsaufnahme müssen bereitgestellt werden.

Conclusio

Wie sich gezeigt hat, ist das Reisen zwar kein ontogenetisches, wohl aber ein phylogenetisches Merkmal von Homo sapiens sapiens. Er muss also danach trachten, dieses Verhalten zu perpetuieren, was ihm aber zusehends schwerer fällt, verhindert doch die schiere „Masse Mensch“ 12 das Fortkommen und, was die Urlaubsreise angeht, den Genuss.

Also auch hierbei: Pfffffffffffff…


Fußnoten: („<“ führt zum text zurück)

  1. Die euphemistische Formulierung stammt von menschlichen Anthropologen, nicht von bärischen.
  2. Dem Menschen, der die Amerikas nach deren „Entdeckung“ durch den Italiener Colombo 1492 als „Neue Welt“ bezeichnete, scheint bis heute nicht aufgefallen zu sein, dass er mit diesem Namen den Nagel auf den Kopf getroffenen hatte.
  3. Gemeint ist natürlich fremdes menschliches Territorium. Anderen Tieren den Lebensraum zu nehmen hat dem Menschen selten Probleme bereitet.
  4. Bei der ersten Fassung des Manuskripts hat der Chef formuliert: „Der Usurpator hat bewiesen, dass er den längsten hat.“ Das musste ich leider streichen. Die Sekretärin
  5. Wir beziehen diesen Begriff nicht nur auf griechische Poleis, sondern auf Stadtstaaten allgemein.
  6. Dass diese Reisen nicht immer von Erfolg gekrönt waren, zeigt zum Beispiel die Geschichte von Ödipus.
  7. Gewinnstreben, kombiniert mit Neugier, sind übrigens die Triebkräfte, die dazu geführt haben, dass die Erde sich inzwischen im Elend des Anthropozän befindet – aber das ist eine andere Geschichte.
  8. Indien
  9. Nicht belegte, sondern nur behauptete Entdeckungsfahrten wie die der Wikinger haben vielleicht ebenfalls stattgefunden. Seekarten eines Torricelli-Vorfahren hatte Erik der Rote aber gewiss nicht zur Verfügung.
  10. Wir denken hier an die „katholischen“ spanischen Könige, die dringend Mittel für die Reconquista benötigten.
  11. Der Begriff nährt die Illusion, die etablierten Industrieländer würden ein Überschreiten der „Schwelle“ auf ihr Niveau durch andere Länder tolerieren.
  12. Ernst Toller konnte 1919 noch keine Ahnung haben, wie massenhaft seine Gattung binnen kurzem präsent sein würde: Damals lebten weniger als 2 Milliarden Menschen auf dem Globus.

September 15

Eisbärenabitur – oder: Kant für Anfänger

Eisbärenkinderabitur

Eisbärenfamilie

„Tante Atti, Onkel Kulle, können wir heute bitte Abitur spielen?“

Athabasca und Kulle sahen einander verwundert an. Was war wohl jetzt wieder in Nanuk gefahren?

„Wie kommt ihr denn auf die Idee?“ wollte Atti wissen.

Athabaska

„In ganz Dehland finden jetzt mündliche Abiturprüfungen statt, haben wir in der Zeitung gelesen. Wenn man die besteht, darf man studieren. Das wollen wir auch machen!“

Kulle schüttelte sanft den Kopf. „Man muss auch schriftliche Prüfungen bei den Menschen bestehen, wenn man studieren will. Aber das nur nebenbei. Ihr braucht diese Voraussetzungen nicht: Hier in Bärenleben dürft ihr studieren, wozu immer ihr Lust habt!“

„Das wissen wir doch, Onkel Kulle! Aber wir möchten so gerne spielen….“

„Na gut! Tante Atti und ich werden uns eine Aufgabe für euch ausdenken. Da ihr aber zweifellos klüger seid als die Menschen, werden wir euch nur mit Material versorgen. Die Aufgaben dazu müsst ihr euch selbst überlegen. Mit dem Material dürft ihr euch zwanzig Minuten lang beschäftigen, und danach folgt eine Prüfung von einer halben Stunde. Einverstanden?“

„Super, Onkel Kulle! Wir sind jetzt gleich bei Mami im Wasser. Sagt uns Bescheid, wenn ihr fertig seid.“

Und schon sausten zwei weiße Blitze davon zum Dorfteich.

Athabasca bot Kulle ein paar frisch gepflückte Kräuter an und erkundigte sich: „Was wollen wir den beiden geben? Du hast doch bestimmt schon eine Idee, du Schlaumeier!“

Kulle

Es gab nur einen Bären auf der Welt, genauer gesagt, eine Bärin, von der sich Kulle despektierlich „Schlaumeier“ nennen ließ. Atti war die Frau seiner Träume, seit er sie kennengelernt hatte. Deshalb bedankte er sich artig für den vegetarischen Imbiss und sagte: „Kant. Kurz und knackig. Da ist alles drin und alles draus zu machen.“

Atti mopste sich ein paar Rucolablätter aus Kulles Faust und nickte zustimmend. „Gute Idee. Aber bitte gekürzt.“

„Versteht sich. Die Kleinen werde auch so genug zu knabbern haben.“

Kulle trollte sich in die Bibliothek und kam wenig später mit bedrucktem Papier zurück.

„Nanuk!“ rief er.

Voller Begeisterung sprangen die Zwillinge ans Ufer, schüttelten sich das Wasser aus dem Fell und griffen nach den Zetteln.

„Zwanzig Minuten!“ erinnerte Kulle.

„Viel Spaß!“ wünschte Atti.“

Beantwortung der Frage:

Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich…Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: Räsonniert nicht! Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich, welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung…

„Ganz schön viel Text“, stellte Nuk beeindruckt fest.

„Ach nee“, kommentierte Na ironisch. „Komm, lass uns arbeiten: Von wem ist der Text, was steht drin, sind die Aussagen richtig – einverstanden?“

Nuk antwortete nicht – sie war schon in das Material vertieft. Zwanzig Minuten lang war es still – eisbärenarbeitsstill.

„Seid ihr so weit?“ Athabasca hatte eine Holunderblüten-Honig-Limonade angesetzt und wollte den Kindern davon einschenken, aber Nuk wehrte dankend ab: „Später, bitte, Tante Anti.Erst müssen wir reden!“

„Wir gehen davon aus, dass der Text von einem Aufklärer stammt, also auf das späte 18.Jahrhundert zu datieren ist. Die häufige Verwendung des Verbs ‚räsonnieren‘ und die Anspielung auf einen einzigen Herrn in der Welt, der sagt: ‚Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht‘ sind eindeutige Hinweise auf Preußen und Friedrich II. Der Verfasser des Essays ist vermutlich Immanuel Kant.“

Lehrerin und Lehrer nickten anerkennend.

„Wir könnten jetzt den Textinhalt referieren, wenn ihr möchtet,“ bot Na an. „Wir fänden das, ehrlich gesagt, aber langweilig. Spannender wäre es, den Text politisch einzuordnen, denn Aufklärung ist beziehungsweise war eine intellektuell-politische Bewegung, die ihrer Natur nach bestehende Herrschaftsstrukturen in Frage stellt. Außerdem reizt es uns, die Textaussagen auf ihre aktuelle Relevanz abzuklopfen.“

„Athabasca seufzte vor Glück. Kulle freute sich ebenso, dachte aber wehmütig daran, dass er wohl lange auf die nächste Generation ähnlich begabter Eleven würde warten müssen.

„Wir sind ganz Ohr,“ sagten beide im Chor.

„Ein Revolutionär war der Königsberger Professor Kant nicht gerade. Ist ja auch menschlich: ‚Wes Brot ich ess, des Lied ich sing…‘ Ohne Bevormundung denken sollen die Menschen seiner Meinung nach schon, aber dabei bloß nicht die öffentliche Ordnung und das Gefüge des Gemeinwesens stören, auch wenn es darum nicht zum Besten bestellt sein mag. Deshalb unterscheidet er zwischen öffentlicher und privater Freiheit. Der Privatmensch, ob nun als Soldat oder in einem zivilen Beruf tätig, hat zu gehorchen, öffentlich darf er dagegen seine Gedanken kundtun – gemein formuliert, Kant postuliert die Freiheit der Stammtischmeinung.“

Kulle dachte. ‚Das hätte von mir sein können.‘

„Der Text, den wir bekommen haben, ist mehr als zweihundert Jahre alt, wenn unsere Einschätzung stimmt.“ Nuk schien laut zu denken, für sich zu überlegen, nicht zu ihren Lehren zu sprechen.

„Ich habe gelernt, dass der Optimismus, den er ausdrückt, erst am Beginn des 20. Jahrhunderts zerstört worden ist, durch den Großen Krieg.

Es gab einen zweiten Optimismus-Aufguss mit dem Sieg der Oktoberrevolution 1917, bis sich allmählich herausstellte, dass die Revolution ein Putsch war und die Herrschaft der Arbeiterklasse die Willkürdiktatur der Nomenklatura.

Es gab einen dritten Aufguss nach dem Ende der Bipolarität. Für kurze Zeit sah es so aus, als könnte die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges Schwerter zu Pflugscharen schmieden.“

„Aber“, fuhr Na ebenso träumerisch fort, „das war die Sicht der satten Reichen, die meinten, immer weiter gut leben zu können mit den billigen Rohstoffen der Armen. Denn die Armen waren ruhig gestellt unter der Herrschaft von Diktatoren, mit denen die Reichen hervorragend Handel treiben konnten. Aber die Armen hatten selten Brot und immer keine Arbeit, kein Auskommen, und als manche von ihnen die Diktatoren vertrieben, jubelten die satten Reichen sogar, denn sie meinten, nun würden die Armen das Regierungssystem der Reichen einführen, und dann ließe sich mit ihnen noch besser Handel treiben. Weit gefehlt.“

„Denn,“ spann Nuk den Faden fort, „denn die Aufständischen begaben sich nicht unter die Fuchtel der kapitalistischen Vormünder, sondern, was Kant, wenn er denn der Verfasser des uns vorliegenden Textes ist, verabscheut hätte, unter die Vormundschaft der Imame und der Muftis. Nicht die Vernunft regiert, stattdessen ist die öffentliche Freiheit ein Opfer der Scharia. Die schlimmsten Auswüchse, wenn wir der Presse trauen dürfen, produziert der IS mit Morden und Vergewaltigungen in einem Ausmaß, wie sie – in Europa – seit dem dreißigjährigen Krieg nicht mehr vorgekommen sind.“

„Das soll aber nicht heißen, dass die Menschen in den Industrie- und Schwellenländern rationaler agieren,“ sagte Na. „Die kleinen digitalen Helferlein haben sich längst in die Rolle der Vormünder gedrängelt und sind auf dem besten Weg, die Diktatur zu übernehmen. Der elektronische Assistent ist der elektronische Kontrolleur, und dessen Boss – Google, Apple oder wie such immer – weiß alles über dich. Aber die ‚User‘ scheinen es zu wollen – Netzsucht ist bereits als Krankheit definiert.“

„Und dann sagte Na: „Jetzt habe ich Durst.“

„Ich auch“, setzte Nuk hinzu.

Beide tranken einen herzhaften Schluck, rülpsten nach Bärenart. und danach fragte Nuk: „Sollen wir noch weitermachen?“

Athabasca sah Kulle an. Kulle sah Athabasca an. Beide schüttelten den Kopf.

„Ihr dürft gerne weitermachen, wenn ihr möchtet. Eure gewünschte Prüfung ist aber zu Ende. Ihr habt mit Auszeichnung bestanden und seid an jeder Bärenuniversität der Welt zugelassen. Wobei wir zugeben, dass es so viele Bärenuniversitäten nicht gibt.“

„Danke! Wir studieren gerne weiter in Bärenleben. Für heute Abend haben wir einen Vorschlag: Können wir alle gemeinsam darüber reden, warum die Menschen Aufklärung aufgegeben haben?“

Kulle war von dem Vorschlag angetan. „Gute Idee! Ich werde Bärdel sagen, dass er das Thema ansprechen soll.“

„Danke, Onkel Kulle!“

Zwei Minuten später lieferten sie einander eine erbitterte Wasserschlacht. Oicy freute sich, dass ihre Kinder ganz normale Eisbären waren, keine verkopften Grizzlys.

Anno 1968

kulle2

Vorwort

Es rauscht anno 2007 im dehländischen Medienwald in der Vorschau auf ein wahrhaft wenig spektakuläres Jubiläum, nämlich ein vierzigjähriges. Wir sprechen vom Jahr 1968.

Nun, Anlässe zum Erinnern gäbe es genug. Zum Beispiel wurde die Mehrwertsteuer im Januar in Dehland eingeführt, der Vietcong gab dem Vietnamkrieg durch die TET-Offensive eine entscheidende Wendung, in den USA wurden im April Martin Luther King und im Juni Robert F. Kennedy ermordet, und im August endete der sogenannte “Prager Frühling“ mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei.
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Kulle über Gruppensoziologie

PD Kulle

Bemerkungen zur Soziologie der menschlichen Gruppe

Einführung in den Forschungsgegenstand

Das Zusammenleben der Menschentiere ist geprägt durch einerseits Dominanz und andererseits Submission von Individuen oder Gruppen von Individuen, erstere durch Siege in Rangkämpfen erworben, letztere als Resultat von Niederlagen erzwungen hingenommen. 1

Menschliche Soziologen, die sich mit diesem Problemkomplex zu beschäftigen versuchen, was ihnen selbstredend nicht gelingen kann, da Selbst-Erkenntnis Kenntnis des Selbst voraussetzt, über die Menschen nicht verfügen, trennen zwischen Groß- und Kleingruppen. Wir folgen dieser Unterscheidung nicht, ist der Unterschied doch nur ein gradueller, kein qualitativer. Gruppenbeziehungen ändern sich nicht dadurch, dass sie codifiziert werden. 2

Aus dieser These lassen sich unter anderem die folgenden analytischen Fragen ableiten: Wie ist der Begriff der Gruppe 3 zu definieren? Welche Eigenschaften eines Individuums sind erforderlich, damit ein Gruppenmitglied von seinen “Peers” als Herrscher anerkannt wird? In welchen Formen kann sich Dominanz äußern? Wie lässt sich eine dominierende Stellung im sozialen Gefüge erringen und, was mindestens ebenso schwierig sein kann, auf Dauer festigen?

Merkmale archaischer Gruppenbeziehungen

Als Gruppe bezeichnen wir mindestens zwei 4 Individuen, deren Zusammenleben durch Aspekte wechselseitiger Abhängigkeit geprägt ist. Der Prototyp der Gruppe ist das heterosexuelle Paar im sexuell aktiven Alter, das nolens volens geschlechtliche Arbeitsteilung praktiziert. Bei größeren Gruppen verliert der sexuelle Aspekt in der Regel 5 an Bedeutung, während ökonomische Ziele 6 in den Vordergrund treten.

Welchem Partner in der heterosexuell organisierten Zweiergruppe 7der dominante Part zufällt, ist ex ante nicht generell entscheidbar. Es wird jedoch immer derjenige sein, der – nicht zwangsläufig objektiv, aber nach Maßgabe der Meinung der Beteiligten – mehr zur Erhaltung der Art beiträgt als der andere. Dieser Beitrag kann in einer überzeugenden Fortpflanzungsleistung gesehen werden, aber auch in herausragenden physischen Fähigkeiten wie Schnelligkeit oder Körperkraft, die effizient eingesetzt werden, um der eigenen Allesfressergruppe tierisches Eiweiß zu verschaffen, was wiederum indirekt fortpflanzungsrelevant ist. In Bezug auf diesen letztgenannten Aspekt gewinnen auch intellektuelle Kapazitäten an Bedeutung, sind sie doch eine wichtige Waffe des Raubtieres Mensch, wenn es gilt, andere Tiere 8 in die Falle zu locken. Nicht nur zur Manipulation anderer Spezies, auch zur Lenkung der eigenen Art, zur Lenkung der eigenen Gruppe, wird das Großhirn genutzt. 9 Wie wir sehen, neigt sich die Waagschale der Dominanz tendenziell dem männlichen Geschlecht zu. 10

Dominanz, wie hier beschrieben, bedarf keiner Legitimation durch andere. Sie legitimiert sich selbst gegen Herrschaftsansprüche anderer, indem sie vom Alpha-Tier ausgeübt und verteidigt wird. 11 Sie beruht auf dem Recht des Stärkeren, auf nichts sonst; auf Ungleichheit der Individuen, resultierend aus Stärke eines Individuums.

Merkmale moderner Gruppenbeziehungen

Man vergegenwärtige sich das folgende Szenario: In einer Gruppe, die vor einer Entscheidung steht, hat jedes Mitglied ungestörtes Rederecht, sofern es ein bestimmtes Ding in Händen hält, das dieses Recht symbolisiert. Die Entscheidung wird per Abstimmung herbeigeführt. 12

Vergleichen wir die hier skizzierten Mechanismen mit den im vorigen Kapitel dargestellten. Die Dominanz, bisher einem Alpha-Tier inhärent, ist ihm entäußert worden, ist strukturell entäußert worden, denn sie gehört gar keinem Individuum mehr quasi organisch an, sondern wird, in Form des ungestörten Rederechts, einem jeden Gruppenmitglied temporär zugestanden. Mehr noch: Nicht nur bei der Entscheidungsfindung, sondern auch bei der bindenden Beschlussfassung haben alle ein Mitwirkungsrecht, wobei jedes Votum das selbe Gewicht hat wie ein anderes. 13 Das hier herrschende Rechtsprinzip ist das der Gleichheit der Individuen, resultierend nicht aus einem Faktum wie dem der nachgewiesenen individuellen Stärke, sondern basierend auf dem Axiom der Gleichwertigkeit aller – bekannt unter dem Namen Demokratie. 14

Es versteht sich von selbst, dass dermaßen revolutionäre Veränderungen habitueller Strukturen nicht Ergebnis einer allmählichen Entwicklung, sondern allein Resultat einer revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse sein können und müssen. 15

Zur Bewertung moderner Gruppenbeziehungen

Ausnahmsweise interessiert an dieser Stelle nicht die Meinung des Verfassers, obwohl nicht unterschlagen werden soll, dass sich dessen Position von selbst versteht, sondern die Stellungnahme der in die Gruppenstruktur Involvierten, denn sie allein sind es, die Entscheidungsprozesse bewahrend oder verändernd gestalten können. Hier ist es notwendig, quantitative und qualitative Aspekte gesondert zu beleuchten.

Die Zahl der Alpha-Tiere in einer Gruppe ist allemal geringer als die der von ihnen Geführten, also erhöht sich unter den Bedingungen moderner Gruppenbeziehungen quantitativ der Zufriedenheitskoeffizient. Ein reziproker Prozess ist bei der Teilmenge der Alphas zu beobachten. Moderne Gruppenbeziehungen berauben sie ihres exklusiven Status und ihrer weitreichenden Handlungsfähigkeit.

Wie oben dargelegt, resultiert die dominante Stellung eines Führungstieres aus seiner “Stärke”. Diese “Stärke” verwandelt sich nicht in Schwäche, sie dissipiert nicht, weil sie gesellschaftlich nicht mehr erwünscht ist, sondern bleibt latent, potentiell vorhanden. Ihre Träger sinnen in Anbetracht der revolutionierten gesellschaftlichen Verhältnisse darauf, ihre alte gesellschaftliche Stellung wieder zu erlangen, wobei sie akzeptieren, dass dieses Ziel nur im Rahmen der neuen Gruppenbeziehungen erreicht werden kann 16.

Die Archaisierung moderner Gruppenbeziehungen

Wie wir gezeigt haben, bestehen die revolutionären Merkmale moderner Gruppenbeziehungen in gleichen Artikulations- und Mitbestimmungsrechten aller. Beides müssen die Alphatiere gemäß ihren Bedürfnissen modifizieren, wobei sie darauf zu achten haben, dass die Modifikation den anderen Gruppenmitgliedern verborgen bleibt. 17

Der erste und entscheidende Schritt besteht darin, der Gruppengefolgschaft die Überzeugung zu vermitteln, dass sie angesichts der Komplexität und Kompliziertheit der zu bewältigenden Probleme nicht nur nicht in der Lage ist, über diese zu befinden, sondern dass sie sich nicht angemessen artikulieren kann, ja, noch nicht einmal “Ja” oder “Nein” zu sagen im Stande ist. Auch wird suggeriert, diese beschränkte Artikulationsfähigkeit bestehe nur an wenigen Tagen innerhalb mehrerer Jahre. Wird diese Behauptung akzeptiert, ist eine parlamentarische “Demokratie” institutionalisiert. 18

Mit diesem ersten Schritt, mit der Selbstentmündigung der meisten Gruppenmitglieder, ist das entscheidende Ziel der Alphas bereits erreicht. Wer sich noch nicht einmal angemessen artikulieren kann, wird neidlos und dankbar gegenüber denjenigen, die sich der Mühe des Denkhandelns unterziehen, anerkennen, dass er im Gegensatz zu ihnen zu sinnvollen Entscheidungen nicht fähig ist. 19

Um eventueller Unzufriedenheit der Gruppenmehrheit vorzubeugen, wird ihr von den Alphatieren suggeriert, dass jeder Gruppenangehörige die Chance habe, dem Kreis der Entscheidungsträger anzugehören, wenn er sich dafür qualifiziere. 20

Fazit

Moderne Gruppen sind ebenso hierarchisch organisiert wie archaische, obwohl die herrschende Ideologie das Gegenteil behauptet. In beiden Formen dominiert das Prinzip des “divide et impera”. Wir wagen allerdings die Behauptung, dass moderne Gruppen stabiler sein können als archaische, versprechen sie doch potentiell allen Gruppenmitgliedern, Alphatiere werden zu können, während in traditionellen Formen des Zusammenlebens dieses Privileg einer kleinen Zahl vorbehalten blieb. Wird dieses Versprechen nicht nur akzeptiert, sondern internalisiert, ist eine Kritik an der Gruppenstruktur verunmöglicht.

Im menschlichen Zusammenleben herrscht also nach wie vor das Recht des Stärkeren, obwohl eben dieses Prinzip als menschenunwürdig verdammt wird, was den wenigsten menschlichen Akteuren als Ironie erscheinen dürfte 21. Der Mensch lebt in Gruppen und ist insofern ein gesellschaftliches Tier, ein “zoon politikon”, ein politisch, also selbst-bewusst agierendes Tier ist er dagegen nicht 22 – q.e.d.

Endnoten

1 Wir gehen bei unseren Betrachtungen vom Normalfall aus, vom Normalfall des menschlichen Zusammenlebens nämlich; wobei wir keineswegs die Meinung vertreten, dass der Mensch als solcher als Normalfall zu betrachten ist. Da jedoch, wo er auftritt, und er tritt häufig und immer häufiger auf, und wo er auftritt, wächst kein Gras mehr, wo er also auftritt, tritt er gehäuft auf, nicht allein. “Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei”, wird bereits in den älteren Menschenmythen wie dem Pentateuch in verblüffender Selbsterkenntnis postuliert, und dabei handelt es sich um eine der wenigen von Menschen für Menschen aufgestellten Regeln, an die Menschen sich zu halten pflegen. Am Rande sei bemerkt, dass diese Maßregel auch für Bären gilt. Darin jedoch erschöpfen sich, soziologisch betrachtet, Parallelen zwischen Homo sapiens sapiens und Ursus ursus.

2 Was der Chef meint, ist Folgendes: Wichtig ist nicht, dass es Gesetze gibt, sondern dass alle sich daran halten, auch wenn es keine gibt. Jetzt klar? Die Sekretärin

3 “Gruppe” meint im Folgenden immer “Menschengruppe”.

4 Wir stellen uns dem zu erwartenden Vorwurf, die Zahl zwei sei inadäquat, unerschrocken. Das Merkmal der Arbeitsteilung, das das Zusammenleben in Gruppen prägt, lässt sich exemplarisch bereits in der Paarbeziehung nachweisen. Auch der oben zitierte Satz aus dem Pentateuch (vgl. Fußnote 1) untermauert diese These, drückt er doch die Erkenntnis des in diesem Text angenommenen Schöpfergottes aus, der von ihm aus Erde geschaffene Menschenmann bedürfe einer Frau.

5 Es sei denn, man hat es mit orientalischen Haremsbedingungen oder, was nur ein gradueller Unterschied ist, mit den verbotenen und offiziell nicht mehr praktizierten Familienstrukturen der Mitglieder der “Church of Jesus Christ of the Latter Day Saints”, vulgo Mormonen, zu tun.

6 Ökonomische Ziele werden zum Zwecke der Erhaltung der dominanten Stellung in der Gruppe von den Alpha-Tieren häufig als politische oder ideologische bezeichnet, wobei es sich jedoch stets um Verschleierungsmanöver handelt.

7 Die dargestellten Mechanismen gelten auch für größere Gruppen, die sich aus heterosexuellen Zweiergruppen rekrutieren, und – mit Schwerpunkt auf den intellektuellen Fähigkeiten – für Gruppen, die ökonomische Ziele verfolgen.

8 z. B. arglose Bären

9 Die Menschen selbst benutzen für die gewaltfreie Führung einer Gruppe den Begriff “Charisma”.

10 Dabei soll nicht vergessen werden, dass in der objektiv kurzen, aber aus der Bärenperspektive subjektiv viel zu langen Phase der Existenz der menschlichen Art matriarchalische Strukturen einen wesentlich größeren Zeitraum eingenommen haben als patriarchalische, was unter anderem der Tatsache geschuldet ist, dass den Menschen der (verglichen mit der Leistung der Frau geringe) Beitrag des Mannes zur Arterhaltung erst in historisch jüngerer Zeit bewusst wurde.

11 Dabei handelt das Alpha-Tier in größeren Gruppen in der Regel taktisch. Es versetzt einige Gruppenmitglieder tatsächlich oder scheinbar in Positionen, die sie über andere erheben, in der Hoffnung, dass diese Beta- oder Gammatiere es selbst in Gefahrensituationen verteidigen werden, um die eigene privilegierte Stellung nicht zu verlieren.

12 vgl. William Golding, Der Herr der Fliegen

13 Es ist für unsere Überlegungen nicht von Bedeutung, ob Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip oder einstimmig, also entsprechend der volonté générale, gefasst werden. In Bezug auf das Prosperieren einer Gruppe allerdings ist nur das Verfahren, das den Gemeinwillen zur Entscheidungsgrundlage macht, langfristig Erfolg versprechend. (Ich habe den Chef gebeten, das zu erläutern, aber er meint, das sei zu banal. Entschuldigung – die Sekretärin)

14 Eine noch modernere Gruppenstruktur würde auf das Aufstellen von Regeln jenseits physiologischer Gegebenheiten verzichten können, also nur noch die Mensis als Regel akzeptieren, und damit auch eine Struktur negieren; eine solche Gruppe würde sich je nach Problemlage neu konstituieren und autopoetisch regulieren. Vertreter der menschlichen Avantgarde haben dergleichen Anarchismus genannt.

15 Wir ersparen es an dieser Stelle dem Leser und uns, genauer auf die Mechanismen und historischen Emanationen der bürgerlichen Revolution, denn um diese handelt es sich, einzugehen.

16 Sie sind ja nicht doof.

17 Dieses Ziel ist insofern realistisch, als diese Gruppenangehörigen in der Tat häufig doof sind.

18 Glauben die Gruppenmitglieder dagegen weiterhin an ihre Fähigkeit, “Ja” oder “Nein” sagen zu können, halten sie an Volksentscheiden fest.

19 Was wiederum die Berechtigung der Fußnote 17 erhärtet.

20 Diese Qualifikationsmöglichkeit wird nicht nur auf politischem, sondern auch auf ökonomischem Gebiet behauptet und existiert graduell auch – in eben jenem Grade, der Beta-Tieren schon immer von Alphas zum Zweck der Stärkung ihrer eigenen Position eingeräumt worden ist.

21 Wir verweisen zum zweiten Mal auf die Fußnote 17.

22 Daran ändert auch nichts, dass Karl Marx anderer Meinung war.

Das Gesellschaftsleben der Schabe unter besonderer Berücksichtigung von Attentaten und Terrorismus

P. D. Kulle

Ich finde, es ist an der Zeit, im Verhältnis Kakerlake – Mensch eine neue Offensive des Bewusstseins einzuläuten.(Don Pollock)

 

Inhalt:

PD Dr. Kulle

1. Vorwort
2. Schaben
3. Schaben und Attentate
a. Attentäter und Attentatsopfer
b. Die bevorzugten Waffen der Attentäter im historischen Wandel
Exkurs: Selbstverbrennungen
c. Die Ziele
4. Schaben und Terrorismus
a. Terror und Terroropfer
b. Die Ziele
5. Perspektiven
6. Nachwort

1.    Vorwort
Das Phänomen des Terrorismus beschäftigt und fasziniert mich seit
geraumer Zeit, ist es doch unter der Spezies, unter der die meine zu
leiden hat, nämlich unter der der Menschen, seit langer Zeit
verbreitet, und bei der Spezies, der ich das Glück habe angehören zu
dürfen, nämlich unter der der Bären, völlig unbekannt. Alle Vorarbeiten
für eine Untersuchung dieser merkwürdigen Art des gesellschaftlichen
Umgangs miteinander sind zum jetzigen Zeitpunkt abgeschlossen, es
bedürfte nur noch der Kompilation und des abschließenden Diktats –
allein, auch bärische Wissenschaftler wie ich können sich dem Mitleid
nicht entziehen.
Da die Gefühle meiner menschlichen Leser – und ich weiß, es gibt deren viele – geschont werden sollen, werde ich ihnen, die seit einigen Jahren und täglich
mehr verstärkt unter Terrorismus zu leiden haben, nicht zumuten, sich
hautnah mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie werden mir verzeihen,
dass ich mein Sujet dennoch nicht verlasse. Aber ich werde es am
Beispiel einer anderen Spezies illustrieren, nämlich an dem der
Blattariae, vulgo Schaben oder auch Kakerlaken genannt.

2. Schaben
Schaben sind Insekten, Geradflügler, deren Körperlänge zwischen zwei
und 100 Millimetern variiert; mindestens 3500 Arten sind bekannt. In
Mitteleuropa leben jedoch nur 15 Arten. Die dort bekanntesten sind die
Küchenschabe, Blatta orientalis, und die Deutsche Schabe, Blattella
germanica. Wie sich zeigen wird, ist für meine Untersuchung außerdem
die Amerikanische Großschabe, Periplaneta americana, von besonderem
Interesse. Alle  drei stammen, wie die meisten Arten, aus den
Tropen, was ihre Vorliebe für Wärme erklärt. Qua Schiffsreise fanden
und finden sie ihren Weg in die ganze Welt und genießen in menschlichen
Behausungen oft ideale Lebensbedingungen. Sie ernähren sich von
unterschiedlichen Stoffen pflanzlicher und tierischer Herkunft, sind
also, wie die Menschen(1), Allesfresser, auch wenn der menschliche und
der schabensische Geschmackssinn keineswegs deckungsgleich sind. Aus
menschlicher Sicht betrachtet, halten sich Schaben oft an
unhygienischen Orten auf, was sie als Krankheitsüberträger
prädisponiert.
Schaben sind ausgesprochen vermehrungsfreudig, die Weibchen sind bereits mit sechs Wochen geschlechtsreif. Beide Geschlechter locken einander mit Hilfe von Pheromonen an. Nach einem oft komplizierten Paarungsspiel werden die männlichen Geschlechtsorgane in die weiblichen Entsprechungen
eingeklinkt.
So weit die von allen Entomologen unbestrittenen Tatsachen.

Meine weiterführenden soziologischen Untersuchungen haben ergeben, dass
Schaben ein für Insekten nicht repräsentatives Gesellschaftsleben
praktizieren. Weder gehören sie zu den weit verbreiteten Einzelgängern,
die ihr in der Regel recht kurzes adultes Leben allein fristen und sich
nur zum Zweck der Fortpflanzung einen Partner bzw. eine Partnerin
suchen, noch bilden sie ein Volk, das arbeitsteilig organisiert ist und
in dem eine nicht in Frage gestellte Hierarchie existiert, in deren
Zentrum ein für die Fortpflanzung des gesamten Stammes verantwortliches
Weibchen, meist als Königin bezeichnet, steht. Stattdessen finden
zwischen den gesellig lebenden Schaben permanent individuelle, aber
auch in Gruppen organisierte Kämpfe um höherrangige gesellschaftliche
Stellungen statt, die eine Zeit lang akzeptiert werden können,
empirisch aber letztendlich immer in Frage gestellt werden. Diese
Auseinandersetzungen gilt es genauer zu untersuchen.

3.    Schaben und Attentate
Attentate definiere ich zunächst(2) als Angriffe eines oder mehrerer
Individuen auf eine oder mehrere Personen, wobei sich der oder die
Angreifer gegenüber dem, den oder der Angegriffenen in einer inferioren
Position befinden, mit dem Ziel, die übergeordente(n) Person(en) aus
eben dieser Position zu entfernen, in der Regel durch deren physische
Eliminierung.
Drei wesentliche Fragen gilt es zu untersuchen:

  1. Wer versucht wen zu eliminieren?
  2. Auf welche Weise?
  3. Und: Warum?

3a.    Attentäter und Attentatsopfer
Bei Betrachtung der überlieferten Frühgeschichte der schabischen
Attentate fällt ins Auge, dass Täter und Opfer in enger persönlicher
Beziehung zueinander stehen, oft sogar eng miteinander verwandt sind.
Eine besonders rege Täteraktivität lässt sich bei Blatta orientalis und
ein wenig später bei Blatella germanica beobachten, während Periplaneta
americana noch erstaunlich inaktiv ist. Wahrscheinlich ist dieses
Phänomen darauf zurückzuführen, dass Periplaneta sein
Aggressionspotential erst allmählich entwickelte, nachdem Blatta und
Blatella auf dem amerikanischen Kontinent Fuß gefasst hatten. Noch
ungeklärt ist die Frage, ob hierfür ein Gentransfer als Ergebnis
sexueller Kontakte verantwortlich zu machen ist oder ob die wachsende
Aggressivität als soziale Reaktion auf die Angriffslust der Einwanderer
zu werten ist.
Einige wenige Beispiele(3)
mögen das belegen. Dabei kommt uns in Hinblick auf die
Nachvollziehbarkeit unserer Ausführungen entgegen, dass der schabische
Kalender dem der Menschen aus noch immer ungeklärten Gründen kongruent
ist.
Bereits 681 v.u.Z.(4)  wird Sennacherib
von Asselanien von seinen beiden Söhnen ermordet. Aber nicht nur der
Vater-, auch der Sohnesmord ist verbürgt: Die Blatta Irene lässt ihren
Sohn Konstantin VI., Herrscher im östlichen Mittelmeerraum, 797
umbringen. Ebenfalls ist es mit der Bruderliebe nicht weit her, weder
bei Blatta noch bei Blattella: 1250 werden Erik IV. von Dänemark und
1369 Pedro der Grausame von Kasselanien und Leon Opfer ihrer eigenen
Geschwister. Wen wundert es noch, dass Morde auch von angeblich
Liebenden verübt werden: Commodus, mächtiger Beherrscher des
mittelmeerischen Weltreichs, putzt sich  am 31. Dezember 192
gerade nichtsahnend die sensiblen Fühler, als er von dem im Kampfsport
ausgebildeten Blatta Narcissus erwürgt wird, eine Gewalttat, die seine
Geliebte Marcia eingefädelt hat.
Es scheint
zunächst, als resultierten schabische Attentate aus tragischen
Familienzwistigkeiten und erotisch-sexuellen Unstimmigkeiten. Doch
gemach! Wenn wir weiter in die Gegenwart fortschreiten, ergibt sich ein
völlig anderes Bild. Vor allem ergeben sich zahlreiche Fragen.

Wie etwa lässt sich erklären, dass eine aggressionsarme Periplaneta
americana namens Atahualpa am 29. August 1533 von Blattae auf Befehl
ihres Anführers Francisco Pizarro erdrosselt wird und derselbe Pizarro
acht Jahre später – übrigens eine erstaunlich lange Lebensspanne für
eine Schabe – einem Mord durch Blattae zum Opfer fällt? Die Mörder
Pizarros werden es dabei nicht bewenden lassen; 1544 töten sie eine
weitere Periplaneta.
Auch erscheint es
verwirrend, dass Attentäter und Zielobjekt oft wenig oder gar nichts
miteinander zu tun haben, bevor sie einander als Täter bzw. Opfer
begegnen. Was verbindet die Kakerlake Schan Paul Marat, die bei der
Pariser Presse tätig ist, mit der jungen Schablotte Corday, die mit
aller Kraft ein Küchenmesser zwischen ihre Mandibeln klemmt und ihn am
17.Juli 1793 ersticht? Wo ist das einigende Band zwischen August von
Kotzebue, einem hochadeligen Blatellus, wie der Name deutlich verrät,
auch er ein Schriftsteller, und Schab Ludwig Sand, dessen Name
möglicherweise auf Obdachlosigkeit hinweist? Wir wissen zunächst nur,
dass Sand Kotzebue 1819 in Mannheim erstochen hat. Warum verübt die
orientalische Schabe Graf Felischab Orsini, Rudio und Pieri, ihrerseits
hochadelig, 1858 ein Attentat auf die französische Kakerlake Napoleon
III.?
Wagen wir einen Sprung ins 20. Jahrhundert.
Bei der Betrachtung von einigen für diesen Zeitraum typischen
Attentaten fällt auf, dass Schaben übereinander herfallen, die, im
Gegensatz zu den eben skizzierten Fällen, sehr viel miteinander zu tun
haben, ja, einander politisch verbunden sind. Wie ist es zu erklären,
dass die Deutsche Schabe Hitler ihren loyalen Gefolgsmann Erschab Röhm,
mit dem sie sogar dieselbe braune Flügelfärbung verbindet, am 10. Juni
1934 erschießen lässt? War das Motiv Eifersucht wegen der eigenen wenig
zureichenden Potenz, oder stecken dahinter andere Beweggründe? Warum
muss fünf Monate und einen Tag später Schabgei Kirow in Leningrad fast
dasselbe Schicksal erleiden, befohlen von Stalin(5), beide übrigens mit
auffallend roten Flügeloberflächen? Wieso lässt derselbe Stalin einen
langjährigen Kampfgefährten namens Trotzki(6)  – es wird nicht
überraschen, dass auch dieser tiefrote Deckflügel zeigt – am 21. August
1940 im fernen Mexiko mit einem Eispickel erschlagen, wozu er als
Mörder übrigens eine Blatta namens Ramon Kak Mercader beauftragt?
Ein letztes Attentatsmuster bleibt zu benennen. Es kann durch folgende Beispiele charakterisiert werden:

  • Malcom Sch, Führer der Black Muslims, einer aggressiven Variante der dunkel gefärbten Periplanetae, wird am 21. Februar 1965 in Amerika von einer sehr hell gefärbten Variante erschossen
  • Martin Luschab King, ebenfalls dunkel gefärbter Angehöriger derselben Art, aber explizit friedfertig, wird am 4. April 1968 in Amerika erschossen, ebenfalls von einem hell gefärbten Exemplar
  • Steve Bikoschab, südafrikanischer Studentenführer, stirbt im Polizeigewahrsam „an schweren Kopfverletzungen“ im September 1977; die Polizisten sind selbstverständlich extrem hell gefärbt.

Wir sehen,
dass schwarze Schaben von „weißen“ Schaben umgebracht werden, und
Kenner der schabischen Geschichte haben zweifellos erkannt, dass die
Attentatsopfer nicht zu den Machtträgern in ihrer jeweiligen
Gesellschaft gehörten, dass also diese Attentate nicht der Definition
entsprechen, die wir oben zu geben versucht haben (vgl. 3). Diese
scheinbare Unstimmigkeit wird erst weiter unten aufgelöst werden können.

3b.    Die bevorzugten Waffen der Attentäter im historischen Wandel
So intim wie die Beziehungen zwischen Attentäter und Opfer sind
zunächst auch die Mordmethoden – sie ermöglichen bzw. erzwingen es,
einander in die Augen zu sehen. Verhältnisse privater Natur wie auch
der Entwicklungsstand der Produktionsmittel(7)  lassen Gift, Dolch
oder die Garotte als probate Mordwerkzeuge erscheinen.

Erst als die Schaben entdeckt hatten, was sich mit einer fein
geriebenen Mischung von 75% Kalisalpeter (KNO3), 15% Kohlepulver (C)
und 10% Schwefel (S) anstellen lässt, wandelt sich die Mordmethode
drastisch: Das Erschießen wird zum probaten Mittel.
Bereits am Ende
des 18. Jahrhunderts, am 29. März 1792, ist der Tod von Gustav III. von
Schwebien dokumentiert, der von Jaschab Joschab Anckarström erschossen
wird – Resultat einer Kontroverse unter Blatellae germanicae.
Vermehrt
treten mit Schwarzpulver(8) verübte Attentate im 19. Jahrhundert
auf: Es trifft(9) mehr oder weniger erfolgreich(10) die bevorzugt
Teeblätter kauende Blattella Spencer Perceval (1812), die primär Oliven
vertilgende Blatta Ioannis Kapodistrias (1831), die Periplaneta
Abraschab Lincoln (1865), den deutschen Schabenkaiser Wilhelm I. (1878)
und die spanische Blatta Antonio Cánovas del Castillo(11) (1897) .
Das 20.Jahrhundert erlebt dann eine wahre Schießorgie, bei der vor allem drei(12) lokale Schwerpunkte zu beobachten sind:

  1. Russland. Opfer sind unter anderen Pjotr Arkadjewitsch Stolschabpin (1911), Grigori Raspuschabtin (1916), Moissej Markowitsch Wolodarski, eigentlich Schabenstein (1918), Moissej Schabomonowitsch Uritzki (1918) und Wladimir Iljitschschab Lenin (1918).
  2. Deutschland. Hier fallen Kugeln zum Opfer: Kakerlak Eisner (1919), Guschab Landauer (1919), Hugo Haase von der Unabhängigen Schabenpartei (1919), Walther Rathenau(13) (1922), Franz Birnecker, Betriebsratsmitglied der Firma Schaberit (1923), Theodor Lessing, ein kämpferischer linker Schabsteller (1933)(14), Wilhelm Germanloff (1936), Rudi Dutschkschab (1968), Siegfried Buschab (1977), Jürgen Kak. Ponto (1977), Wolfgang Schäublschab (1990) und Karstschab Rohwedder (1991).
  3. USA. Neben zahlreichen Präsidenten von Periplaneta sind hier auch andere Opfer vertreten: William SchcKinley (1901), Theodore Schoobevelt (1912), Anton Schermak (1933)(15), Schabby S. Truman (1950), Medgar Evers in Schabson, Mississippi (1953)(16), John Fitzschab Kennedy und dazu passend – oder auch nicht – Lee Harvey Schoswald (1963), Robert Franschab Kennedy (1968), George Wallace, Gouverneuer von Schablabama (1972), John Lennon, der sich zu Lebzeiten nicht scheute, sich öffentlich als „Beetle“ zu bekennen (1980), und Ronald Reagan (1981)(17).

Schüsse,
überwiegend aus Pistolen abgefeuert, sind insofern harmlos, als sie
anderen Schaben als den Zielobjekten keinen Schaden zufügen, es sei
denn, der Schütze verfehlt sein Ziel. Allerdings sind sie, eben wegen
dieses Unsicherheitsfaktors, weniger zielgenau als die archaischen
Mittel wie Vergiften, Erstechen, Erwürgen. Einen wesentlichen größeren
Streubereich als Pistolenschüsse haben jedoch Waffen, die ebenfalls
seit dem 19. Jahrhundert von schabischen Attentätern benutzt werden –
ich spreche von Bomben und Sprengstoff. Verwenden Attentäter diese
Waffen, kalkulieren sie entweder nolens volens oder auch sehr bewusst
ein, dass Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden – oder es gibt
in ihren Augen keine Unschuldigen.
Zur Untermauerung dieser These
beschränke ich mich auf nur wenige Beispiele. Die chinensische Schabe
Schang Tso-Lin, Gouverneuer der Mandschabei, wird bei einem
Bombenanschlag auf einen Zug von japanischen Kakerlaken getötet (1928),
die großgermanische Führerschabe Adolf Hitler überlebt zwar einen
Bombenanschlag durch Joschab Georg Elser, aber sieben zufällig
anwesende Kakerlaken werden getötet (1939), das Auto von Christopher
Eschab Biggs fliegt wegen einer von der Ischabisch Republikanischen
Armee gelegten Landmine in die Luft (1976), die selbe
Untergrundorganisation versenkt drei Jahre später das Segelschiff von
Louis Mountbatten vor der ischabischen Küste, und auch Afrika bleibt
von vergleichbaren Attacken nicht verschont: 1994 wird das Flugzeug von
Juvenal Habyarimana und Cyprien Ntaryamira bei Kigali von einer
Boden-Luft-Rakete abgeschossen. Auto, Schiff, Flugzeug – die Zielkäfer
waren da gewiss nicht allein an Bord.
In den achtziger Jahren des
20. Jahrhunderts entdecken schabische Attentäter zwar keine neue Waffe,
wohl aber eine neue Waffenkombination: Kakerlaken sind bereit, sich
selbst zusammen mit dem Sprengstoff, den sie für andere vorgesehen
haben, in die Luft zu sprengen, sind bereit, ihre sensiblen Fühler und
ihren wunderschönen Chitinpanzer zerreißen, in Flammen aufgehen, durch
die Luft wirbeln und in stinkenden, blutig-grünen Fetzen zur Erde
fallen zu lassen – wenn sie nur möglichst vielen anderen Schaben
dasselbe Schicksal bereiten. Solche Selbstmordattentate haben die
Insektenwelt am 11. September 2001 erschüttert, und täglich verbreitet
die Schabendschau neue schreckliche Meldungen.

Exkurs: Selbstverbrennungen
Legendär sind die Selbstverbrennungen von Thich Quang Duc in Schaigon
(1965) und von Jansch Palach in Kakprag (1969) – aber sie haben mit
Attentaten nichts zu tun und verdienen deshalb hier nur einen
Seitenblick. Denn Attentate zielen, wie wir gesehen haben, darauf,
anderen nach dem Leben zu trachten, wobei der Verlust des eigenen
Lebens ein billigend in Kauf genommener Preis sein mag, aber nicht
zwingend ist.  Bei Selbstverbrennungen liegt das Motiv klar auf
der Tatze: Es handelt sich um einen demonstrativen, anklagenden Akt,
der an das Bewusstsein anderer appelliert und diese durch den
rückhaltlosen Einsatz des Besten, das der Demonstrant hat, zu einer
Verhaltensänderung zu bewegen versucht. Mit den Motiven von Attentätern
ist es komplizierter bestellt.

3c.    Die Ziele
Ich kann mich zweifelsohne kurz fassen, lassen sich doch die Motive der
Attentäter mühelos aus den angeführten Beispielen herausfiltern. Es
geht – von wenigen, zu vernachlässigenden Ausnahmen abgesehen(18)
um Politik, also um die Wahrung von Interessen und die Sicherung bzw.
Gewinnung von Herrschaft, sei es in personalen Strukturen, bei der
Eroberung bzw. der Ausbeutung neuer Territorien, beim Kampf um als
falsch oder richtig betrachtete gesellschaftliche Visionen und
Strukturen, bei der Eliminierung von Rivalen, wobei es keine Rolle
spielt, ob diese Rivalität in der Realität oder lediglich als
Kopfgeburt existiert, und bei der Bekämpfung benachteiligter
Minderheiten, deren marginalisierter Status erhalten bleiben soll. Im
letzten Fall haben wir es gewissermaßen mit einem präventiven oder gar
präemptiven Gewaltverhalten zu tun, das bei der obigen vorläufigen
Definition von Attentaten noch nicht berücksichtigt werden konnte.

Diese Analyse erfasst jedoch die moderne Form der Attentate, die
Unschuldige ins Visier nimmt und häufig auch den Tod des Attentäters
voraussetzt, nicht hinreichend. Deshalb ist eine weitere
Differenzierung erforderlich.

4.    Schaben und Terrorismus

Der Terrorismus, ein Begriff, der vom französischen „terreur“, also
„Schrecken“, abgeleitet ist, ist durch andere Motive gekennzeichnet. Um
das zu erläutern, kann ich dem Leser einen kurzen Ausflug in die
schabische Geschichte nicht ersparen.
Bereits seit Beginn der
nachgewiesenen Existenz der Kakerlaken sind bei dieser Spezies
religiöse Praktiken unterschiedlichster Form belegt(19), die nebeneinander
koexistierten. In der neuesten Zeit treten vor allem zwei miteinander
konkurrierende Religionen hervor: Die eine, deren Anhänger sich
überwiegend aus Blattellae germanica rekrutiert, ist der Meinung, ihrem
Gott am besten dadurch dienen zu können, dass sie sich in den ihm
gewidmeten Gebäuden auf das hintere ihrer drei Beinpaare niederlässt,
während die Verfechter der anderen Richtung, überwiegend Blattae
orientalis, zu diesem Zweck auf dem Einknicken des vorderen Beinpaares
beharren. Aufgrund der explosionsartig gewachsenen Mobilität in der
Menschenwelt seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geraten
die Kakerlaken beider Glaubensströmungen zunehmend miteinander in
Kontakt, und beide versuchen, den jeweils anderen zu eliminieren.
Während die Vertreter der „Hinterbeinpaar-Religion“ diesen
Eliminierungsversuch mit erst auf den zweiten Blick erkennbaren
Mitteln, nämlich wirtschaftlichen und politischen(20), vorantreiben,
bedienen sich militante Verfechter der „Vorderbeinpaarreligion“ des
Terrorismus und sehen in sogenannten Selbstmord“attentaten“ keinen
Hinderungsgrund für ihr Tun, sondern eher einen Anreiz; glauben sie
doch, aufgrund ihres Handelns gegen die „Ungläubigen“ einen bevorzugten
Platz im Schabenparadies zu erlangen.

4a.    Terror und Terroropfer
Wir haben oben(21) bereits kurz auf den 11. September 2001 verwiesen,
und etliche Terroranschläge, die diesen spektakulären Flugkunststücken
von Blatta orientalis gefolgt sind, entsprechen dem selben Muster, sei
es in Madrid oder in London, um nur die prominentesten zu nennen. Über
diesem Muster wird jedoch allzu oft vergessen, dass sich Terrorismus
auch gegen Anhänger der eigenen Religion wendet, wobei der Vorwurf
erhoben wird, die Opfer knickten beim Gebet ihr vorderes Beinpaar nicht
weit genug oder zu weit ein.

4b.    Die Ziele
Das Endziel(22) des Terrorismus wurde oben bereits genannt(23), die
Strategie bedarf also keiner weiteren Erörterung. Wie aber sieht die
Taktik aus? Welche unmittelbaren Reaktionen auf ihr Handeln erhoffen
sich die Terroristen?
Einige meiner geschätzten
Kollegen Schabenforscher zitieren gerne aus dem sogenannten
„Terroristenhandbuch“(24): „Sie werden rennen wie die Hasen.“(25) Sie
sind damit allesamt einer falschen Übersetzung aufgesessen. Denn das
Wort „krrchdk“ bedeutet im Dialekt der vorderasiatischen Blatta nicht
„Hase“, sondern Lemming(26). „Sie werden rennen wie die Lemminge“ – das
also ist die Hoffnung. Sie werden sich, anders als der Hase, der klug
Haken schlägt, um dem Jäger zu entkommen, bewusstlos wie Lemminge in
großer Schar in eine Schlucht stürzen, in der sie umkommen müssen.

Schon bei flüchtiger Betrachtung der Reaktionen auf terroristische
Aktionen zeigt sich, dass diese Erwartung nicht verifiziert werden
konnte. Gleichgültig ob in New York, Madrid, London, in Ägypten, auf
Bali, in Tunesien oder anderswo – die Schaben bleiben, wo sie sind.
Selbst im Irak, einer Terrorismushochburg, ist keine nennenswerte
Fluchtbewegung zu beobachten.
Die Erklärung dafür
ist nicht unbedingt darin zu finden, dass Kakerlaken über größere
Intelligenz verfügen als Lemminge. Allerdings stehen entsprechende
Untersuchungen noch aus. Unbestritten ist dagegen, dass Schaben über
weniger Lebensraum verfügen als Lemminge, bezogen auf ein Individuum.
Schaben sind überall, und Schaben ernähren sich von Dreck(27), Dreck ist
nur begrenzt verfügbar und wird in anderen Regionen von anderen
Kakerlaken beansprucht – kurz, Schaben haben in der modernen
schabischen Massengesellschaft wenige Mobilitätsmöglichkeiten. Also
kann das taktische Kalkül der Terroristen nicht aufgehen.

5.    Perspektiven

Da selbst ich nicht in die Zukunft sehen kann(28), will ich nur einige Möglichkeiten knapp skizzieren.

  1. Die Terroristen erkennen die Vergeblichkeit ihres Tuns und geben auf, was vermutlich einen weltweiten Sieg der Hinterbeinpaar-Religion und ihrer Vorstellung von Politik und Wirtschaft zur Folge hätte.
  2. Die Terroristen machen weiter und verbreiten so viel Terror, dass die Anhänger der Hinterbeinpaar-Religion sich ihnen ergeben und Politik und Wirtschaft der Religion unterordnen, nachdem sie ihre Frauen ins Haus eingesperrt haben.
  3. Keine Seite gibt nach, und Chitinpanzer fliegen für unabsehbare Zeit zerfetzt durch die Luft.

6.    Nachwort

Als
Bär kann mir der gesamte Kakerlakenschmutz privat gleichgültig sein, er
erweckt lediglich mein wissenschaftliches Interesse. Wäre ich
allerdings ein Kerbtier, liefe mir ein permanentes Schaudern über die
Flügeldecken, laufen doch alle drei oben genannten Möglichkeiten immer
nur auf das eine hinaus:

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.


Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Der Vollständigkeit halber muss ich den Chef hier ergänzen: Das gilt auch für Bären. Die Sekretärin
  2. Man beachte die Vorläufigkeit.
  3. Eine vollständige Darstellung würde die Geduld der Leser, vor allem der menschlichen, mit Sicherheit überstrapazieren.
  4. v.u.Z.: vor unserer Zeitrechnung. Gemeint ist selbstverständlich nicht der bärische, sondern der an der christlichen Religion orientierte menschliche Kalender.
  5. eigentlich Jossip Wissarionoschab Dschugaschwili
  6. eigentlich Lew Davidoschab Bronstein
  7. Der Begriff „Destruktionsmittel“ ist hier eigentlich besser angebracht.
  8. Es gilt noch immer als ungeklärt, ob das sogenannte „Schwarzpulver“ eine Erfindung der Blatella germanica Berthold Schwarz ist oder bereits von den Blatellae sinisiensis entwickelt wurde, deren frühes Vorkommen bisher allerdings noch nicht befriedigend bewiesen werden konnte.
  9. im wahrsten Sinn des Wortes
  10. erfolgreich aus der Sicht der Attentäter, versteht sich
  11. Diese Aufzählung erhebt, wie auch die folgende, keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
  12. Da mir nur unvollständiges historisches Material zugänglich ist, vermute ich, dass es wesentlich mehr Schwerpunkte gibt. Aber auch diese rudimentären Quellen sind äußerst aufschlussreich.
  13. In einem bekannten zeitgenössischen Spottvers wird gefordert, den Walther Rathenau, die „gottverdammte Schabensau“ zu erschlagen – der Attentäter hat also einen Weg gewählt, der ihm größere Distanz ermöglichte.
  14. Vielleicht vermisst der eine oder andere historisch gebildete schabische Leser mit braunen Deckflügeln hier das Datum 1930 und den Namen Kakerlak Wessel. Nun ja – wer meint, dass jemand, der aus Eifersucht vom Zuhälter seiner Verlobten angeschossen wird und einigen Wochen später seinen Verletzungen erliegt, ein Attentatsopfer ist, nur weil der Angeschossene SA-Führer und der Täter Mitglied des Rotfrontkämpfer-Bundes war, der möge den entsprechenden Vermerk hier einfügen und nicht vergessen, die Notiz hinzuzufügen, dass keine geringere als die wortbegabte hinkende deutsche Schabe Joschab Goebbels Kakerlak Wessel zum „nationalen Märtyrer“ erklärte.
  15. Die Kugel, die ihn traf, galt eigentlich Franklin D. Schoobevelt.
  16. Das war schon wieder einmal eine weiße gegen eine dunkel geflügelte Schabe. Vielleicht braucht der von so viel Gewalt gestresste Leser eine kleine Erholungspause? Dann möge er Bob Dylan hören: „Only a Pawn in their Game“; oder Nina Simone: „Mississippi Goddamn“. Beides passt exakt zum Thema.
  17. Es wäre für Reagan vielleicht besser gewesen, dieses Attentat nicht zu überleben – er hätte in diesem Fall nicht an der Schabheimerschen Krankheit zu sterben brauchen.
  18. So wurde zum Beispiel am 14. Mai 1610 Henri IV., genannt Le Cafard, aus religiösen Gründen ermordet.
  19. Seit kurzen wird wissenschaftlich diskutiert, ob dergleichen Verhalten möglicherweise auf eine genetische Grundlage zurückzuführen ist.
  20. Eine genauere Erläuterung dieser Strategie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und bleibt einer künftigen Abhandlung vorbehalten.
  21. vgl. 3b
  22. Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass mir in diesem Fall wirklich nur ein faschistischer Begriff einfällt.
  23. vgl. 4.
  24. Das Buch wird der saudischen Blatta Bin Schabin zugeschrieben.
  25. vgl. S. 10024 (in Worten: zehntausendvierundzwanzig)
  26. vgl. dazu die umfassende Untersuchung von A. Blatter, Die Bezeichnung anderer Spezies durch Blatta und Blatella, Schmutzburg 2004, S. 45
  27. Ich habe den Chef zu überreden versucht, das wissenschaftlicher zu formulieren, aber er wollte einfach nicht. Die Sekretärin.
  28. Der Chef ist heute ungewöhnlich bescheiden. Die Sekretärin.

Kulles Schöpfung

Kulles Überlegungen zum menschlichen Selbst- und Weltverständnis

Aufgrund meiner zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten verzichte ich darauf, die hier vorliegende als wissenschaftliche Veröffentlichung zu katalogisieren, zumal der Gegenstand kein wissenschaftlicher ist. Es ist mir allerdings, das möchte ich vor allem gegenüber meinen menschlichen Kollegen betonen, ein Vergnügen, meine Reflektionen zu veröffentlichen.

Die Schöpfung

2

Der Anfang von allem war niemals, weil alles immer schon war, oder irgendwann, falls es damals eine Zeit gab und oder oder es jetzt einen Verstand gibt, der diesen Zeitpunkt bestimmen kann, und vielleicht vor der Materie, die es seitdem gibt und vielleicht vorher nicht oder doch. Niemand weiß das 3 , aber es gibt sie, die Zeit und die Materie, und daraus ward das vergängliche Leben, und alles Sein ist ein Teil von ihr und von ihm, auch der Mensch.
Dem Menschen, der seinen Charakter erkannte, weil er mit der unheilvollen und heilsamen Gabe der Denkfähigkeit ausgestattet war, war es unheimlich ob seiner Bösartigkeit, und er erfand sich ein moralisches Gesetz, das über ihm steht und unerreichbar ist, weil er selbst unfähig ist, sich Gesetze zu geben, die er auch einhält. Dieses Gesetz nennt er Gott.
Und weil er nicht wusste und weiß, woher er kommt und was sein Lebenszweck ist, musste er die Geschichte seines Werdens erfinden. Er hat nicht genug Selbstvertrauen, deshalb schiebt er den Vorgang seinem Gott, seinem Gesetz in die Schuhe.
In der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte zum Beispiel hat der Mensch – wer sonst? Oder spricht Gott von sich in der 3. Person Singular? – geschrieben:
“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“
Dieser Satz wirft ein schlagschattenklares Bild auf den Menschen, denn da er über seine Herkunft keine Auskunft geben kann, erfindet er eine höheres Wesen, das für die Schöpfung verantwortlich gemacht wird und über dessen Herkunft folglich das Geschöpf 4 auch keine Auskunft geben muss. Klug ist er, der dumme Mensch! Die Klugheit beweist sich auch in den beiden ersten angeblichen Schöpfungen: Himmel und Erde. So hat der Mensch zwei Fakten benannt, die sein Leben bestimmen: Die Erde, auf der er steht, und den gestirnten Himmel 5 , der sich über ihm wölbt.
Aber wie geht es weiter? Die nächsten Verse lauten:
“Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“
Nun gut, wir nehmen das zur Kenntnis. Am Ende des ersten Schöpfungstages haben wir Licht. Es ist ja auch durchaus positiv, wenn der Schöpfer, der offenbar auf Augen angewiesen ist, etwas sehen kann. Da die Elektrizität noch unbekannt ist, da der Mensch noch nicht einmal das Feuer entdeckt hat, um es sich nutzbar zu machen, da noch nicht einmal vom Menschen die Rede ist, müssen wir annehmen, dass das benannte Licht das Licht der Gestirne ist.
Merkwürdig jedoch, dass wir weiter hinten lesen:
“Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf Erden. Und es geschah also. Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.“
Aus diesem Zitat lassen sich mehrere Erkenntnisse ziehen.
Erstens ist der hier sprechende Gott – oder der Mensch, der sich stammelnd göttliche Kompetenz anmaßt – ein “Meister“ der Redundanz, ja, der direkten Wiederholung. Mehrmals scheiden die Lichter Tag und Nacht und sind gleich dreimal an der “Feste des Himmels“ befestigt – auf welche Weise auch immer.
Zweitens steht der Autor dieser Zeilen auf Kriegsfuß mit dem Konjunktiv 6 .
Drittens, und das ist das eigentlich Gravierende, ist dieser Schöpfergott vermutlich ein richtiger Chaot. Merkt er denn nicht, dass er seine Schöpfung dupliziert? Hat er vergessen, dass er erst vor drei Tagen sein “Fiat lux!“ gesprochen hat 7 ? Da es schon tagsüber hell ist, ist die Sonne ein überflüssiges Gestirn, und nachts sollte es nach der Planung des ersten Schöpfungstages eigentlich dunkel sein.
Vielleicht ist der Schöpfer aber einfach nur erschöpft. Muss er sich doch, nach nur sechstägiger Arbeit, bereits am siebenten Tage ausruhen. Auch eine andere Textstelle lässt darauf schließen, dass der Schöpfer nicht im Vollbesitz seiner physischen Kräfte ist:
“Und sie 8 hörten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war.“
Sollte ein Schöpfer in der Blüte seiner Jahre seine Geschöpfe nicht auch in der Mittagshitze besuchen können, anstatt sich wie ein Rentner in der Dämmerung im Park zu ergehen, und noch nicht einmal wissen, wo sich die “Krone“ der von ihm geschaffenen Welt aufhält, sondern fragen muss, wo der Mensch ist? 9

Der Mensch

Der Mensch als Autor einer Schöpfungsgeschichte der Erde – und wir behaupten inzwischen mit hundertprozentiger Sicherheit, nicht nur aus ideologischen Gründen 10 , dass der Mensch Autor des ersten und auch der folgenden Bücher Moses ist, denn ein Schöpfergott würde sich nicht als senilen schonungsbedürftigen Greis darstellen – der Mensch als Autor seiner Schöpfungsgeschichte stellt sich gewiss in den Mittelpunkt, und zwar als positiven Helden. Wir werden untersuchen, ob das zutrifft. Unser Untersuchungsgegenstand ist zunächst der sechste Schöpfungstag.
“Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.
Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.
Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise,
und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das da lebt auf Erden, dass sie allerlei grünes Kraut essen. Und es geschah also. 11

Wir wollen uns nicht ein zweites Mal über Redundanzen, Wiederholungen und grammatische Schwächen mokieren, sondern nehmen nur zur Kenntnis, dass sie in diesem Werk der Fiktion unvermeidlich zu sein scheinen. Konzentrieren wir uns auf die Inhalte. Folgendes ist dabei festzustellen:

  • Der Mensch ist als Ebenbild Gottes konstruiert worden, und zwar zweigeschlechtlich; die Erschaffung von Mann und Frau fand, wenn wir den Text beim Wort nehmen, zeitgleich statt. Die Ebenbildhaftigkeit dürfte kaum rein äußerlich zu verstehen sein, zumal Informationen über die Physiognomie des Schöpfergottes völlig fehlen, vielmehr ist anzunehmen, dass eine Art Seelenverwandtschaft intendiert ist.
  • Der so beschaffene Mensch wird mit einem doppelten Arbeitsauftrag versehen: Er soll über alles tierische Leben auf der Erde herrschen, wobei ein Ziel dieser “Herrschaft“ nicht formuliert wird. Um Domestikation zum Zwecke der Nutztierhaltung kann es nicht gehen, sind doch Menschen wie auch alle Tiere Vegetarier, was übrigens eine sehr positiv zu bewertende Idee ist. An pflanzlicher Nahrung scheint kein Mangel zu bestehen, Raubtiere, die eventuell den Menschen bedrohen, gibt es nicht. Zweckfreie Herrschaft hat keinen Inhalt, erfüllt keinen Zweck, das Bedürfnis danach drückt aber sehr wohl eine Haltung aus, einen Charakterfehler, und wir müssen konstatieren, einen Charakterfehler sowohl dieses hier angeblich sprechenden Gottes als auch des tatsächlich schreibenden Menschen, nämlich schiere Machtgier. Der zweite Teil des Arbeitsauftrages, Bedingung des oben betrachteten, besteht darin, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Letzteres haben, wie Bibel- und Geschichtskenner wissen, nicht nur Adam und Eva, sondern auch die meisten ihrer Nachfahren mit erschreckendem quantitativem Erfolg getan. Allerdings wissen Soziologen und Politologen auch, dass Menschen primär dann unkontrolliert Nachwuchs zeugen, wenn ihre Lebensumstände tierunwürdig 12 sind. Der status quo im beginnenden Jahr 2005 verzeichnet weit über sechs Milliarden Menschen – legt man die biblische Zählung zu Grunde, die die Schöpfung zwischen 4000 und 5000 vor der christlichen Zeitrechnung beginnen lässt, bedeutet das im Schnitt nur knapp 2,2 Kinder von jeder Frau, davon die Hälfte Töchter, die auch das geburtsfähige Alter erreichen und ihrerseits ihre Fortpflanzungspflicht tun – keine sonderlich beachtliche Fertilität, wohl aber eine bedrohliche!
    Aber diese mathematische Geburtenrate 13 setzt wahrhaft paradiesische Zustände voraus, und die sind mitnichten gegeben. Hat der Schöpfer doch der Menschenfrau in seinem Zorn geflucht:
    “du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“ 14
    und dem Menschenmann gedroht:
    “verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.“ 15
    Hinter den “Schmerzen“ und dem “Kummer“ verbergen sich in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag Kindersterblichkeit, Hungersnöte, Epidemien, Genozid und Kriege, häufig miteinander verwoben. Das hat die überlebenden Frauen der Menschheit zu einer weit höheren, mathematisch kaum messbaren Fertilität gezwungen.

So weit, so schlecht. Aber der Ungereimtheiten sind noch nicht genug. Es gibt nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft, im zweiten Kapitel des ersten Buches Mose, einen zweiten Schöpfungsmythos, der nicht das uns sattsam bekannte und letztlich harmlose Kriterium der Redundanz erfüllt, sondern völlig neue Inhalte präsentiert. Dieser Version zufolge hat Gott am siebenten Tage geruht und kommt erst danach auf die Idee, den Menschen zu machen, weil er offenbar gewahr wird, dass es niemanden gibt, der das Land bebauen kann 16. Welch auffälliges Misstrauen des Schöpfers gegenüber der soeben von ihm kreierten Pflanzenwelt! Jeder Wald überall auf der Welt spricht diesem Misstrauen Hohn. Wie dem auch sei, Gott geht, übrigens hier ohne explizit formuliertes Leitziel, ans Werk:

„Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also war der Mensch eine lebendige Seele.“ 17
Wie erfrischend kommt das daher! Eine lebendige Seele begegnet uns, ein fühlendes Wesen, vielleicht gar mit einem Gewissen ausgestattet, denken wir, mit einem Gespür für Falsch und Richtig; aber, wie sich weisen wird, weit gefehlt. Was wir gewiss wissen, ist, dass dieses Geschöpf einsam ist, eine Partnerin ist ihm nicht beigegeben.
Machen wir das Folgende kurz! Der Schöpfergott macht anschießend ein Biotop für sein Menschlein, den Garten Eden, und “setzt“ 18 es hinein. Auch hier geht es nicht ohne Arbeitsauftrag ab:
„Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn baute und bewahrte.“ 19
Respekt, Respekt! Der Gedanke der nachhaltigen Entwicklung anstelle von Herrschaft und Ausbeutung – ich muss gestehen, dass der Schriftstellerkollege, der für diesen Gedanken verantwortlich ist, mir durchaus imponiert.
Der “lebendigen Seele“, dem Menschlein, wird sogleich ein erster Verhaltenskodex gegeben, auf den wir gleich noch eingehen werden. Wichtig ist: Er wird nur dem noch einsamen Mann mitgeteilt. Erst danach, nachdem der Mensch die Aufgabe erledigt hat, allen Tieren, die ihm anscheinend paarweise vorgeführt werden, Namen zu geben, wird festgestellt, dass allein für den Menschen “keine Gehilfin“ 20 vorhanden war. Bereits aus dieser Wortwahl wie auch aus dem folgenden Schöpfungsakt wird die intendierte inferiore Stellung der Menschenfrau ersichtlich:
“Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloss die Stätte zu mit Fleisch.
Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 21

Da haben wir also die Frau, nach der ersten Version Ebenbild Gottes und gleichzeitig mit dem Mann geschaffen, nach der zweiten Variante lediglich “Gehilfin“, aus dem Körper des Mannes erschaffen. Es wird nicht davon gesprochen, dass auch dieses weibliche Wesen eine “lebendige Seele“ sei. Beiden Frauen ist jedoch eines gemeinsam: Sie wissen nichts von einem göttlichen Verbot – nur der Mann hat dieses vernommen. Es lautet:
“Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten;
aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.“ 22

Schau, schau! Das “Ebenbild Gottes“ soll über keine moralischen Kriterien verfügen! Es wird gar mit dem Tode bedroht, wenn es sich diese erwirbt. Welches egoistische Interesse hat der Schöpfer an diesem Verbot? Die Bibel gibt auf diese Frage keine Antwort, der geneigte Leser denke sich sein Teil.
Die Frau, das Weib, die “Männin“ 23 erfährt jedoch auf nicht bekannte Weise von dem Verbot, wenn auch nur rudimentär, denn sie sagt zur Schlange:
“Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret’s auch nicht an, dass ihr nicht sterbet.“ 24

Interessant, dass der “inferioren“ Frau das Verbot ohne kausale Begründung mitgeteilt worden ist. Interessant auch, dass auf einmal eine “Schlange“ auftaucht. Sie wird beschrieben als “listiger denn alle Tiere auf dem Felde“ 25. Wozu brauchen die Tiere des Schöpfungsberichtes List? Wozu braucht eines gar besonders viel? Wie oben bereits erläutert, herrscht Vegetarismus. List benötigen Tiere zum Täuschen und in Sicherheit wiegen, zum Überwältigen ihrer Beute. Pflanzen allerdings pflegen nicht wegzulaufen, wenn sie gefressen werden sollen. Hat der Schöpfergott die notwendigen intellektuellen Kapazitäten seiner Geschöpfe nicht hinreichend reflektiert? Hat er Tiere mit Fähigkeiten ausgestattet, die sie zu ihrem Leben gar nicht benötigen, und das Leittier, den Menschen, mit Möglichkeiten, die er als Schöpfer nicht realisiert sehen möchte – wie anders ist das Verbot zu erklären?
Wie dem auch sei, mit der Schlange ist das in der Welt, was Theologen “das Böse“ zu nennen pflegen. Aber das “Böse“ obsiegt zu Recht – die Menschenfrau kennt keine Begründung für das göttliche Verbot, die Schlange bietet ihr aber einen sehr plausiblen Grund dafür, es zu brechen:
“Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ 26

O göttliches Weib! Was dem Mann Grund war, das Verbot zu akzeptieren, ist der Frau Grund, es zu brechen. Sie bekam Lust auf die Früchte des Baumes, “weil er klug machte“ 27.
Die Antwort der Bibel auf diesen “Sündenfall“ ist erschreckend peinlich. Angeblich entdeckten Mann und Frau nach dem Verkosten der Erkenntnisfrucht ihre Nacktheit und begannen, sich zu schämen und ihre Blöße mit Feigenblättern zu bedecken. Welch intellektuelles Armutszeugnis, welch literarisches Feigenblatt!
Erklären lässt sich dies nur durch den krampfhaften Versuch der Autoren der Bücher Mose, ihren Gott, der doch im Zentrum des Geschehens stehen soll, positiv darzustellen. Das gelingt nur in Grenzen. Nach unbefriedigender Klärung der “Schuldfrage“ stößt Gott eine Philippika von Verwünschungen und Drohungen aus, die auf seinen Charakter und sein Selbstbewusstsein ein nicht gerade gutes Licht werfen. Bevor die beiden “Sünder“ aus dem “Garten Eden“ geworfen werden, gibt es immerhin eine göttliche Geste guten Willens – offenbar ist dem Schöpfer an der Weiterexistenz seiner Kreaturen, die nun unter widrigen Umständen leben müssen, gelegen:
“Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie.“ 28
Wahrlich nett, wenn man bedenkt, dass “Gott der Herr“ zuvor der Frau Schmerzen, sexuelles Verlangen und Unterordnung unter den Mann, dem Mann schwere körperliche Arbeit, Mangel und Tod “versprochen“ hat. Der Eindruck, dass dieser Gott erratisch handelt und nicht weiß, was er tut, verdichtet sich immer mehr. Allerdings erhärtet sich auch, dass dieser Gott Geschöpfe braucht, weil er sich sonst seiner selbst nicht vergewissern kann.
Kommen wir zum Schluss. Dieser eifersüchtige Gott, der seine Kreatur unterschätzt hat, kennt zumindest am Anfang der menschlichen Existenz noch Mittel und Wege, einen knappen Vorsprung zu behalten:
“Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!
Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden…“ 29

Wir stellen fest, dass es dem Menschen, dem Verfasser oder den Verfassern der ersten Kapitel des Alten Testaments, nicht nur nicht gelingt, seinen Gott positiv darzustellen, sondern auch sich selbst nicht. Vielleicht ist letzteres Absicht: Nur wer fehlerhaft ist, braucht einen Gott, der strafen kann. Aber immerhin – der Mensch behält sich einen Joker vor – die göttlich formulierte Möglichkeit des ewigen Lebens. 30
Wie dem auch sei mit der Schöpfung: Wir 31 sind alle draußen aus dem Paradies. Schön ist es hier nicht. Aber war es das im “Garten Eden“, schön, widerspruchsfrei, logisch, berechenbar? Für Menschenfrauen und Schlangen jedenfalls nicht. Vielleicht für Menschenmänner. Die benehmen sich, was Logik und Rationalität angeht, auch hier draußen bis zum heutigen Tag wie Gott der Herr bei der Schöpfung.

Schlußwort: Ich danke – wie immer – meiner Sekretärin!


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Ausbeutung

Einige Bemerkungen zur Entwicklung der Ausbeutung vor unserer Zeitrechnung

von P. D. Kulle

Kulle

Inhalt

 

  1. Persönliche Vorbemerkung
  2. Der Begriff der Ausbeutung
  3. Die Klassengesellschaft
  4. Entstehung
  5. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
  6. Die Sklavenhaltergesellschaft
  7. Intellektueller Reflex
  8. Conclusio
  9. Persönliche Nachbemerkung

I. Persönliche Vorbemerkung

Wir, also ich und meine Sekretärin, werden uns bemühen, meine Forschungsergebnisse in Bezug auf menschliches Verhalten in gewohnt prägnanter und präziser Weise zu Papier zu bringen, obwohl der Verfasser unter einer tiefen Depression leidet. Dieser Gemütszustand resultiert aus der Erkenntnis, dass vermutlich1 Ausbeutung keine notwendige, sondern eine Glück2 retardierende Bedingung menschlichen Zusammenlebens ist und dass Alternativen zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen existieren, dass das Wissen darum in der Geschichte dieser Spezies aber immer nur kurzfristig aufblitzte und gegenwärtig praktisch nonexistent ist.
Diese Depression hat auch zur Folge, dass wir uns trotz großer Bedenken entschlossen haben, den Gegenstandsbereich unserer Untersuchungen mit Rücksicht auf unsere begrenzten Kräfte unzulässig einzuengen und auf Europa und dessen näheres Umfeld zu beschränken3. Dagegen betrachten wir es als legitim, unsere Forschungen auf den Zeitraum zu beschränken, den meine abendländischen menschlichern Historikerkollegen gemeinhin als „vor Christus“ bezeichnen. In den für unser Thema relevanten annähernd drei Jahrtausenden vor der Hinrichtung jenes Handwerkersohnes, der nicht zuletzt deshalb sterben musste, weil ihm Besitz und Kirchenfrömmigkeit verabscheuenswürdig waren, ist alles Entscheidende geschehen. Unserem psychischen Zustand ist die Tragödie gemäß, nicht die Farce.4

II. Der Begriff der Ausbeutung

Trotz meiner hohen Wertschätzung für die Forschungsergebnisse des Kollegen Marx definiere ich „Ausbeutung“ nicht als Resultat eines Prozesses, der die private Aneignung der materiellen Differenz von Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft beinhaltet, sondern als Aneignung der Arbeitsergebnisse anderer qua materieller Macht.5

III. Die Klassengesellschaft
a. Entstehung

Die Klassenspaltung einer Gesellschaft ist nur möglich in einer sogenannten Hochkultur.6 Ihre Teilung in Besitzende und Nichtbesitzende ist sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung der Ausbeutung, macht sie doch die Nichtbesitzenden davon abhängig, dass die Besitzenden ihrer bedürfen.7
In Stadtstaaten wie Ur, Uruk, Lagasch, Nippur und Kisch in Mesopotamien verzeichnen wir bereits im Jahr 2733 vor „unserer“ – i.e. der menschlichen – Zeitrechnung8 erstes Privateigentum9. 62 Jahre später ist im gesamten Zweistromland alles noch existierende Gemeineigentum privatisiert.
In Ägypten ist eine parallele Entwicklung nur wenig später zu beobachten: 2606 tritt Privateigentum an Grund und Boden an die Stelle des bisherigen „allen gemeinsamen Königsgutes“. In späteren Überlieferungen, z. B. aus Israel oder Griechenland, ist von Gemeineigentum schon gar nicht mehr die Rede.
Eigentumsverhältnisse erfordern juristische Verhältnisse, die ihnen entsprechen – es ist also nur logisch, dass weitere 50 Jahre danach, 2621, das Privateigentum in Mesopotamien für unantastbar und heilig10 erklärt wird.
Von solchen Entwicklungen profitieren Großgrundbesitzer, Händler, das Priestertum und das Königshaus – in der Regel in Personalunion.11 Da wir unsere Leser nicht unterfordern wollen, ersparen wir uns zu erklären, wer darunter leidet.

b. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
In einer sozial gespaltenen Gesellschaft ist Appeasementpolitik notwendig. So werden zum Zwecke des Verbraucherschutzes z. B. in Mesopotamien 2580 für Kupfer, Wolle, Korn und Öl Höchstpreise festgesetzt, 2379 wird ein Höchstzins festgelegt – 20% für Silber, 33% für Waren -; und 2365 werden die Begräbniskosten um 80% gesenkt. In Athen sorgt Solon um 550 für einen allgemeinen Schuldenerlass, durch den viele Bauern aus Schuldknechtschaft und Hörigkeit befreit werden.12
Die folgenden Beispiele zeigen jedoch, dass die herrschende Klasse keinen Spaß kennt, wenn es nicht nur um Peanuts,13 sondern um ihr Eigentum geht: König Agias von Sparta wird 240 wegen seiner radikalen Bodenreformen von den Ephoren erwürgt; Tiberius Gracchus wird 133 mit 200 Anhängern ermordet, weil er mit einer Bodenreform versuchte, die verarmte und entrechtete Landbevölkerung wieder zum Träger des Staates zu machen. Ähnlich liegt der Fall des Katilina, der als Politiker Bodenreform und Schuldenerlass anstrebte, bei Wahlen unterlag, den Aufstand probte und 62 mit seinen Verbündeten dabei ums Leben kam. Die Liste ist verlängerbar.
Auch benötigt eine solche Gesellschaft ein Straf- und Zivilrecht, das von den herrschenden Rechts- und Besitzverhältnissen ausgeht und bei den Beherrschten nicht etwa ketzerische Gedanken aufkommen lässt wie Konnotationen von Eigentum und Diebstahl.14 Dergleichen besorgte schon frühzeitig bekanntermaßen Hammurabi (1760 – 1686), Kaiser von Assyrien, aber vor ihm vermutlich viele andere Herrscher. Ähnlich wie Uru-Kagina15 2363 publizierte er seine Gesetze nicht als Produkte menschlichen Willens, sondern als göttliches Gebot, um ihnen mehr Gewicht zu verschaffen.16

IV. Die Sklavenhaltergesellschaft

Die Einführung der Sklaverei in einer Klassengesellschaft ist der zweite Schritt zum Untergang des Gemeinwesens, besagt sie doch, dass die Besitzenden der „freien“ Nichtbesitzenden nicht mehr bzw. immer weniger bedürfen. Sklaverei stellt also Sprengstoff im doppelten Sinne dar: Sie vertieft die soziale Spaltung der Gesellschaft, und die hohe Zahl der Sklaven mit ihrem Potenzial zum Widerstand bedroht die Gesellschaft insgesamt.
Sklaverei entwickelt sich in der Antike schnell – so umfasst die Mitgift der Mitanni-Prinzession Gilu in Mesopotamien im Jahre 1403 317 Sklavinnen17. Wenige Jahrhunderte später ist der Zerfall der Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten; er ist bedingt durch das schnelle Anwachsen der Zahl der Sklaven.18
Eine nur geringe Rolle spielt die Sklaverei in Ägypten und Israel, obwohl wir uns des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Geschichtsschreibung die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse nicht immer zureichend wiedergibt. Während zum Beispiel israelitische Überlieferungen19 voll sind mit Schilderungen von der qualvollen „Babylonischen Gefangenschaft“ des jüdischen Volkes, wird der Tatsache, dass eben diese Gefangenen, 42000 Köpfe stark, bei ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft im Jahre 537 7500 eigene Sklaven mitbrachten, in der Regel höchstens eine Fußnote gewidmet.
Eindeutig gravierend stellt sich das Problem der Sklaverei in Griechenland dar. Die Bedeutung der Sklavenfrage lässt sich unter anderem an wiederholten Bemühungen zu ihrer Lösung erkennen, vorrangig an den Versuchen, die Zahl der Sklaven zu begrenzen. So wird bereits 588 in Korinth die Anschaffung von weiteren Sklaven verboten, und 509 erhalten in Athen zahlreiche Sklaven Freiheit und Bürgerrecht. Diese Maßnahmen vermögen jedoch nicht zu verhindern, dass 450 in Korinth die Zahl der Sklaven die der freien Bürger übersteigt. 377 kommen in Athen zehn Sklaven auf einen Bürger.
Angesichts dieser Zahlen löst es Erstaunen aus, dass die Sklaverei keine Erosion der griechischen Poleis20 bewirkt hat. Die Annalen verzeichnen lediglich einen erfolglosen Sklavenaufstand (494) und die Flucht von 20000 Sklaven aus Athen (413). Erlaubt sei jedoch die Vermutung, dass der der griechischen Gesellschaft inhärente Sprengstoff sehr wohl explodiert wäre, wenn nicht ein Dritter vorher die Zerstörung übernommen hätte: das Römische Imperium.
Obwohl erst im Jahre 140 die Zahl der Sklaven die der Freien im Römischen Reich übersteigt, kommt es lange vorher zu Sklavenerhebungen. Schon 419 scheitert in Rom ein Sklavenaufstand; 198-196 vereinigen sich Sklaven in mehreren Teilen Italiens (Latium, Etrurien) zu aussichtslosen Freiheitskämpfen, 185 wird eine Erhebung in Apulien niedergeschlagen. Sucht man nach Gründen für dieses verzweifelte Aufbegehren einer schlecht ausgerüsteten Minderheit, so empfiehlt sich ein Blick in eines der Werke Catos des Älteren (234 – 149), „Über den Landbau“. Darin gibt er Ratschläge für Gutsherren und empfiehlt die rücksichtslose Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als wichtige Voraussetzung für Rentabilität.
Ernster wird der Fortbestand des römischen Staates zwischen 136 und 71 gefährdet. Wiederholt erschüttern Aufstände das Reich, nicht nur im italischen Kernland, sondern auch in den Kolonien, und die Aufständischen sind nicht nur Sklaven, sondern auch Proletarier, die sich zu Hunderttausenden vereinen und zum Teil jahrelang große Gebiete kontrollieren. Angesichts exzessiven Großgrundbesitzes und in Anbetracht riesiger Mengen importierten Getreides aus den Kolonien zum Nulltarif bleibt der Plebs ebenso wie den Sklaven nichts anderes als die Vision einer anderen Gemeinschaft. Aber eben daran, an der mangelnden Vision, scheitern diese Erhebungen; eben deshalb ist es den römischen Heeren möglich, selbst einen Aufstand wie den des Spartakus ohne Probleme zu beenden.21

V. Intellektueller Reflex

„Die Vornehmen sind voll Klagen und die Geringen voll Freude. Gold und Lapislazuli sind um den Hals der Sklavinnen gehängt und die einstigen Herren verrichten niederste Sklavenarbeit. Der Reiche schläft durstig, und wer ihn sonst um die Neige bat, trinkt jetzt starkes Bier. Diejenigen, die früher Gewänder besaßen, sind jetzt in Lumpen, die Armen aber besitzen Herrliches. Jede Stadt sagt: Lasst uns die Mächtigen aus unsrer Mitte vertreiben. Alles dreht sich wie eine Töpferscheibe.(Ipuwer , 2273 – 2188)

Revolutionäre Werke wie das des ägyptischen Dichters Ipuwer sind selten. Wesentlich häufiger sind Klagen über die herrschenden Zustände.22 Diesen Texten ist jedoch gemeinsam, dass sie Werke der Literatur sind.
Dichter bzw. Schriftsteller als Gesellschaftskritiker sind ebenso für das ägyptische Reich wie auch für das frühe Griechenland typisch. Wir erwähnen hier nur Hesiod (753 – 680), der als erster Dichter Griechenlands die bedrückte Lage der verarmten Bauernschaft thematisiert, Archilochos (705 – 637), Sohn eines Sklaven, der die Klassenteilung der Gesellschaft anklagt und – welch kühner Gedanke – die Forderung nach freier Entfaltung der Persönlichkeit erhebt, und schließlich Äsop (636 – 564), der sich in zahlreichen Fabeln für die Rechte der Armen einsetzt.23
In den griechischen Stadtstaaten werden die gesellschaftskritischen Dichter bald von anderen Intellektuellen abgelöst: den Philosophen. Anthistenes, Phaleas, Plato, Diogenes, Zeno, Euhemeros, Dikäarch und Chrysipp – welche eine illustre Reihe von Denkern vom 5. bis zum 3. Jahrhundert, welche eine Fülle von Ideen! Da stellt Dikäarch fest, dass die Existenz von Privateigentum einen Abfall vom Naturgesetz bedeute, und Plato kommt zu dem Schluss, Klassengegensätze und Privatbesitz seien die Ursachen für die Fehler einzelner wie auch der Gemeinschaft. Besitz und Genuss, ergänzt Anthistenes, seien die Hauptübel der Menschheit. Aus der Kritik erwachsen produktive Forderungen: Notwendig seien die Veränderung der Besitzverhältnisse (Phaleas) und Gütergemeinschaft (Diogenes). Ob das neue Gemeinwesen nun die Form eines Inselparadieses (Euhemeros) oder eines Weltreiches (Zeno, Chrysipp) annehmen soll – kommunistische Eigentumsverhältnisse und selbst-bewusste Menschen24 sind allen Utopien gemeinsam.25
Eine völlig andere Quelle der Gesellschaftskritik finden wir in Israel vor. Ahia, Elias, Elisa, Amos, Jesaja, Hesekiel – hier sind es die Propheten, die sich gegen die Reichen aussprechen und für die Rechte der Armen eintreten. Natürlich haben die oben Genannten einen deutlich engeren Denkhorizont als die griechischen Philosophen, die, wie z. B. Euphemeros, Götter als idealisierte Menschengestalten deuten. Die Propheten sind gefangen in der Überzeugung, einem Gott zu dienen, der exklusiv ein Volk, nämlich das, dem sie angehören, als das seine auserwählt hat, und betrachten es als ihre Aufgabe, dem Volk und dessen Herrschern den Willen dieses Gottes kundzutun. So verkündet etwa Amos (802 – 745), Jahwe sei der Herr der Welt und das Volk Israel dazu berufen, seine Herrschaft über die Erde zu verbreiten. Gleichzeitig tritt er für die Rechte der Armen ein – ein wenig einleuchtendes Doppelziel.26
Dichter, Philosophen, Propheten – vertreten sind damit Ästhetik, Ethik und Religion. Nota bene – Jahrhunderte lang, Jahrtausende lang treten die intelligentesten Vertreter der Menschheit27 einer unsinnigen Ökonomie auf Ebenen entgegen, die mit ihr nichts, aber auch gar nichts zu tun haben! Der Versuch, Ausbeutern ihr Verhalten mit der Vorhaltung der Menschenrechte auszutreiben, ist eher zum Scheitern verurteilt als Don Quichottes Kampf gegen die bekannten Windmühlenflügel. Nur eine korrekte wirtschaftswissenschaftliche Argumentation könnte hier Erfolg haben.28

Kulle

VI. Conclusio

Wir müssen zugegeben, dass wir die Unfähigkeit menschlicher Kritik nicht beweisen wollten, weil wir sie am Beginn dieser Arbeit noch nicht ins Kalkül gezogen haben, dass wir sie aber leider wissenschaftlich korrekt beweisen mussten. Also doch: QED.

VII. Persönliche Nachbemerkung

 

  1. Der Verfasser leidet immer noch unter Depressionen und zusätzlich unter Übelkeit.
  2. Ich danke dem Kollegen Peters für die Zurverfügungstellung29 etlicher Daten und Zusammenhänge.
  3. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

 


Fußnoten:

1 Diese Vermutungen beziehen sich selbstverständlich auf Menschen. Wir müssen zugeben, dass die menschliche Psychobiologie sich dem bärischen Verständnis weitgehend verschließt. Allerdings sind wir Bären in Hinblick auf unsere eigene mentale Gesundheit für dieses Faktum auch äußerst dankbar.

2 Selbstverständlich ist das bärische Interesse an menschlichem Glück marginal. Allerdings vermögen wir uns sehr gut vorzustellen, dass glückliche Menschen nicht auf die Idee verfallen, Bären zu jagen und zu töten, weil es ihnen Spaß macht.

3 Eine europazentrierte Sicht auf die Weltläufte ist zwar prinzipiell zulässig, sollte jedoch tunlichst unterlassen werden – die Kolonialgeschichte zeigt, wozu dergleichen führt!

4 Vgl. dazu meinen geschätzten Kollegen Karl Marx.

5 Mittels der Marx’schen Definition sind z. B. weder die ökonomischen Verhältnisse in der Sklavenhaltergesellschaft noch zahlreiche Erscheinungen der automatisierten Produktion und die Profitmaximierung im tertiären und quartären Sektor moderner Industriegesellschaften erklärbar. Genauere Erläuterungen hierzu müssen einer späteren wissenschaftlichen Arbeit vorbehalten bleiben.

6 Der Begriff der „Hochkultur“ bezieht sich ausschließlich auf von Menschen organisierte Gesellschaften. Er beschreibt ökonomische Beziehungen des ungleichen Austausches, bei denen der wertmäßig geringere Teil (z. B. Zauberheilung) als der wertmäßig/ideologisch höhere betrachtet und höher bewertet wird als zum Beispiel die Nahrungsmittelproduktion.

7 Dieses Abhängigkeitsverhältnis existiert natürlich auch vice versa, wird als solches in der Regel jedoch nicht wahrgenommen.

8 Im Folgenden werden wir in der Regel auf den Zusatz „vor unserer Zeitrechnung“ verzichten, wenn er selbstverständlich ist.

9 Mit Privateigentum ist hier selbstredend Privateigentum an Ressourcen gemeint, dessen Nutzung der Allgemeinheit dienlich sein könnte, also im weitesten Sinne an Produktionsmitteln, nicht privater Besitz.

10 Wir werden auch im Folgenden wiederholt feststellen, dass juristische und politische, also weltliche Belange religiöse Formen annehmen, und dergleichen ist auch im beginnenden 21.
Jahrhundert die Regel und mitnichten die Ausnahme. Wir überlassen es dem intelligenten Leser, nach geeigneten aktuellen Beispielen zu suchen.

11 So entsteht z. B. 2443 in Ägypten Großgrundbesitz. König Lugal-Anda von Lagasch (2449 – 2367), selbst Großgrundbesitzer und Großhändler, bedient sich der Priesterschaft, um die Bevölkerung effektiver ausbeuten zu können.

12 Parallelen zu aktuellen Formen moderner Sozialpolitik sind selbstredend nicht gegeben – schließlich gehört die freie Preisbildung zu den Grundpfeilern der Marktwirtschaft. (Ich glaube, der Chef meint das ironisch. Die Sekretärin)

13 vgl. den Flick-Bestechungsskandal

14 Vgl. Baboeuf (viel später)

15 2422 – 2360 König in Lagasch

16 vgl. Anmerkung 7

17 Tatsächlich spricht die uns vorliegende Quelle nur von weiblichen Sklaven. Der Prinzessin – wie auch unserer Fantasie – hätte es sicherlich besser gefallen, wenn auch männliche Sklaven zur Mitgift gehört hätten.

18 Dieses ursächliche Phänomen des Gesellschaftszerfalls wird uns auch im Folgenden noch begegnen. In Mesopotamien ist es unter dem Kaiser Asurbanipal zu beobachten, dessen übrigens lobenswerte bildungspolitische Anstrengungen – er veranlasste die erste planmäßig angelegte Bibliothek der Welt – die soziale Erosion seines Reiches nicht verhindern konnten.

19 Einschließlich des Alten Testaments

20 Das ist kein Tippfehler, sondern der Plural von Polis. Die Sekretärin.

21 Man könnte es allerdings als Problem bezeichnen, dass die Via Appia von Süditalien bis nach Rom danach im Abstand von 50 Metern von Gekreuzigten gesäumt war.

22 Vgl. Chun-Anup (2185 – 2123), Klage eines Bauern

23 Die wissenschaftliche Redlichkeit erheischt es leider, zumindest in einer Fußnote Tyrtaios (686 – 613) und Alkaios (639 – 562) zu erwähnen, die die Adelsherrschaft preisen und sich gegen jede Beteiligung des Volkes an der Regierung aussprechen.

24 Wir würden an dieser Stelle den Begriff der „allseits entwickelten Persönlichkeit“ verwenden, wenn er nicht durch den selbst ernannten „real existierenden Sozialismus“ bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden wäre.

25 In seiner Begeisterung hat der Chef bei diesem Absatz die sonst gewohnte historische Korrektheit mitunter vermissen lassen. Die Sekretärin.

26 An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob Schizophrenie nicht eine notwendige Voraussetzung für die Dienstpostenbeschreibung eines Propheten ist.

27 Selbstverständlich gibt es dabei mehr als graduelle Unterschiede, vgl. z. B. Anmerkung 26.

28 An diesem Sachverhalt hat sich bis heute kaum etwas geändert. Der geschätzte Kollege Marx hat sich zwar bemüht, ökonomischen Entwicklungen mit ökonomischen Argumenten zu begegnen, er hat sich aber leider a) immer wieder von diesem Gegenstand ablenken lassen und ist b) zu früh gestorben.

29 Dem Chef muss es wirklich schlecht gehen – er lässt sich auch mit den besten Argumenten nicht davon abbringen, dieses Wortungetüm zu benutzen. Die Sekretärin.

Der Mensch

Der Mensch

PD Kulle

von P. D. Kulle

  1. Annäherung an den Gegenstand
    1. Das Tier
    2. Der Raub
    3. Das Raubtier
  2. Der Mensch
    1. Die allgemeine biologische Natur des Menschen
    2. Der Raubtiercharakter des Menschen
    3. Die Bewusstheit des Menschen
  3. Conclusio
  4. Das Übliche

1. Annäherung an den Gegenstand

Wir gehen von der Hypothese aus, dass es sich beim Menschen um ein Tier handelt, obwohl dieser Tatbestand häufig von Angehörigen dieser Spezies geleugnet wird. Wir werden sehen.

1a.  Das Tier

Tiere sind Lebewesen, die sich heterotroph ernähren, also Konsumenten sind. Sie benötigen pflanzliche oder tierische Nahrung oder eine Mischung aus beidem. Die meisten Tiere sind frei beweglich, alle sind mit Sinnesorganen und einem Nervensystem ausgestattet. Grundmodul von Tieren ist die Zelle mit einer sehr dünnen Zellmembran. Tiere haben eine recht kompakte Form mit reich gegliederten inneren Hohlräumen, in denen der Stoffaustausch mit der Umgebung überwiegend stattfindet. Wegen des niedrigen Zelldrucks bilden Tiere Stützorgane in Form von Außen-, Innen- oder Hydroskeletten aus. Es gibt viele Arten, und die Anpassungsfähigkeit von Tieren ist hoch; so wurde auch die Besiedelung extremer Lebensräume möglich. Dazu trägt auch die zum Teil hoch entwickelte Brutpflege bei. – Nach sehr grober Schätzung sind 500 Millionen Arten von Tieren bisher ausgestorben.1 Der von den Menschen erfundene wissenschaftliche Name für die Tierkunde lautet „Zoologie“ und ist aus dem Griechischen abgeleitet.2 Die ebenfalls von den Menschen praktizierte Tier- oder Veterinärmedizin hat ihre Ursprünge im Altertum; entsprechende Papyri aus Ägypten sind überliefert. Diese auf die Heilung von Krankheiten gerichtete Wissenschaft konzentriert ihre Kräfte überwiegend auf Haus-, Nutz-, Versuchs-, Laboratoriums- und Zootiere; in freier Wildbahn lebende Tiere werden von ihr kaum beachtet.

1b.  Der Raub

Raub ist definiert als ein Diebstahl, bei dem die Wegnahme unter Androhung von Gewalt gegen eine Person oder unter Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erfolgt.3 Raub wird – unter Menschen – mit Freiheitsstrafe oder mit Körperstrafen bis hin zur Verstümmelung bestraft.

1c. Das Raubtier

Logisch geschlussfolgert, müsste ein Raubtier ein heterotrophes Lebewesen sein, das anderen heterotrophen oder autotrophen Lebewesen gewaltsam unter Drohungen etwas wegnimmt und dafür bestraft wird. Weit gefehlt! Raubtiere (Karnivoren) sind – Säugetiere! So definieren jedenfalls die Menschen diesen Begriff. Sie zählen etwa 250 Arten solcher Tiere, die tag- oder nachtaktiv sein können und in allen Lebensräumen vorkommen. Gemeinsam ist den Raubtieren ein Gebiss mit stark entwickelten Eckzähnen und meist scharfen Reißzähnen, das bei den meisten dem Töten und Aufreißen größerer Säugetiere dient. Allerdings gibt es auch Allesfresser, wie z. B. Braunbären und Grizzlies4, überwiegende oder fakultative Aasfresser (beispielsweise Schakale und Hyänen) und Pflanzenfresser wie den Bambusbären. Es sei die Bemerkung erlaubt, dass uns diese Klassifizierung als nicht überzeugend erscheint. Wo bleiben die Krebsszelle, der Alligator, der Hai? Aber sehen wir weiter! Genauere Studien ergeben, dass die menschliche Logik räuberisches Verhalten auch jenseits der Säugetiere entdeckt hat, wenn deren Protagonisten auch offenbar nicht wert sind, den Namen „Tier“ zu tragen. So sind Raubameisen bekannt, die Larven und Puppen aus fremden Nestern rauben und die daraus schlüpfenden Tiere als Sklaven für sich arbeiten lassen.5 Auch gibt es – in alphabetischer Reihenfolge – Raubbeutler, Raubfische, Raubfliegen, Raubmöwen, Raubspinnen, Raubvögel, Raubspinnen, Raubwanzen und den Raubwürger, einen Singvogel.

2. Der Mensch

Aufgrund der bisherigen Forschungen ist eine genaue Klassifikation des Menschen ein Kinderspiel. Pikant dabei ist, dass alle folgenden Schlussfolgerungen aufgrund menschlicher Aussagen gezogen werden können.

2a. Die allgemeine biologische Natur des Menschen

Zweifellos sind Menschen heterotrophe Lebenwesen, auf die alle weiteren oben genannten Merkmale zutreffen. Ebenso zweifellos ist der Mensch ein Säugetier, das lebende Junge zur Welt bringt und eine ausgiebige Brutpflege praktiziert. Selbst Menschen geben hin und wieder ihre Tiernatur zu, wenn auch nur widerwillig.6 Diejenigen, die das nicht tun, sind entweder dumm, also religiös verblendet7, oder formal ungebildet.8 Menschen sind überwiegend tagaktiv, können aber auch nachtaktiv sein.9 Das menschliche Gebiss hat sich zwar zurückgebildet, weil die Menschen Mechanismen der Nahrungsaufbereitung entwickelt haben, die ein Reißen mit den Zähnen weitgehend überflüssig machen. Der Mensch besetzt, aktuell und unter Hinterlassung seiner Artefakte, Lebensräume, die andere (Säuge-)Tiere aus gutem Grund meiden. Kein Pinguin besaß jemals die Unvernunft10, am Südpol eine Pinguinfahne zu errichten, und nur der Yeti11 mag ab und an Spaß daran haben, auf dem Mount Everest in den Überbleibseln zahlloser Trekking-Mahlzeiten zu stöbern.

2b. Der Raubtiercharakter des Menschen

Der Raubtiercharakter des Menschen kommt in der Gegenwart direkt nur noch bei sogenannten Kriminellen oder in (Hollywood-)Filmen unmittelbar zum Ausdruck. Der „Böse“ wird, sofern man seiner habhaft wird, aus dem gesellschaftlichen Verkehr gezogen; im Film stirbt er entweder eines spektakulären Todes, oder er entkommt, da er als Bösewicht für eine weitere kassenträchtige Filmfolge benötigt wird. Bei Jägern und Anglern ist das Raubtierverhalten bereits verdeckt, da das Beuteschlagen mittels Maschinen vollzogen wird, die die unmittelbare Beziehung zwischen Jäger und Opfer verdecken, da der Jäger nur noch in den seltensten Fällen selbst das Opfer konsumiert12 und da der Jäger erfolgreich Vorwände für sein Handeln konstruiert, indem er die Jagd z. B. als „Hege“ ausgibt13. Für den „normalen“ Bewohner eines industrialisierten Landes14 spielt die Jagd keine Rolle mehr. Seine Milch, seine Eier, seinen Käse kauft er im Supermarkt oder, als bewusster Verbraucher, im Bioladen. Er ist sich der Tatsache nicht bewusst, dass er Raub begeht, Raub an Kühen, Hühnern, Schafen und Ziegen. Wie sollte er auch: Die genannten Tiere sind in seinen Augen keine „Personen“, denen allein etwas gestohlen werden kann, und in seinem Alltagsleben begreift er sich nicht als Tier.15 Bei den genannten Beispielen handelt es sich „nur“ um Raub, bei den folgenden jedoch um Mord: Huhn, Ente, Gans, Kotelett, Rippchen, Bauchfleisch, Nackenbraten, Beinscheibe, Markknochen, Gulasch, Steak – alles ist Fleisch von Zuchttieren, von Tieren, überwiegend unter untierischen Lebensbedingungen zu einem einzigen Zweck am (kurzen) Leben erhalten: um getötet zu werden, um Fleisch zu liefern.16 Um die zarte Seele des Verbrauchers nicht zu belästigen, liegen diese Fleischfabriken aus gutem Grund abseits von Ballungsräumen.

2c. Die Bewusstheit des Menschen

Der Mensch weiß nichts von sich selbst.

3. Conclusio

Q. E. D.

4. Das Übliche

Da diese Arbeit etwas länger geworden ist, danke ich, wie immer, meiner Sekretärin, und zum wiederholten Male aufrichtig.

 

Noch ein Kulle!

Fußnoten:

1 Dieser Tatbestand gibt mehr Anlass zur Hoffnung als zur Besorgnis.

2 Man beachte die nahe Verwandtschaft zum Wort „Zoo“. Für Menschen scheint der Begriff „Tier“ eng mit „Gefangenschaft“ und „Voyeurismus“ konnotiert zu sein.

3 Nota bene: Dies ist eine menschengemachte Interpretation. Unter „Person“ wird daher immer und ausschließlich ein Mensch verstanden. Wir weisen diese unzulässige Einschränkung auf das Schärfste zurück!

4 Der Autor bekennt sich zu dieser Gruppe.

5 Möglicherweise wurde den Raubameisen die Bezeichnung“ Raubtier“ verweigert, weil ihre Strategie das Tier Mensch zu stark an eigenes Verhalten erinnert?

6 So heißt es in „Meyers Taschenlexikon“: „Aus unabweisbaren morphologischen, anatomischen, serologischen, psychologischen, selbst soziologischen Gründen (sic!) muss (sic!) eine Verwandtschaft zwischen Mensch und Menschenaffen vertreten werden.“

7 Dazu muss ich mich nicht weitergehend äußern. Mein geschätzter Kollege Ludwig Feuerbach hat dazu bereits alles gesagt.

8 Dieser Menschengruppe werfe ich ihre Ignoranz nicht vor, da ihr Status in der Regel das Resultat direkter physischer oder sozialer Gewalt ihrer Artgenossen ist.

9 Unter Zwang arbeiten sie nachts, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, im Schichtdienst; freiwillig gehen sie zur gleichen Tageszeit z. B. in die Disco, damit andere, die dort Schichtdienst leisten, ihren Lebensunterhalt verdienen können.

10 Menschen würden statt „Unvernunft“ „Ehrgeiz“ sagen.

11 Wissenschaftlich ist sein Vorkommen noch ungesichert.

12 Man betrachte z. B. die Arbeiter auf industriellen Fischfangschiffen.

13 Damit kaschiert er natürlich nur sein ökologisches früheres Fehlverhalten, als er die natürlichen Feinde z. B. des Rotwildes ausrottete.

14 Die wenigsten menschlichen Bewohner der Welt sind „normale Bürger eines industrialisierten Landes“, aber alle möchten es sein, zumindest dann, wenn sie bereits von der Existenz industrialisierter Länder erfahren haben. Sie wissen jedoch nicht, dass die von ihnen angestrebte Lebensweise ein optionales Gut ist – aber das ist schon wieder Gegenstand einer anderen Untersuchung.

15 Soweit zum „guten“ Vegetarier.

16 Weiterführende Literatur: Jeremy Rifkin, Das Imperium der Rinder.

Kulle über Sex

PD Kulle

Die menschliche Sexualität im Zeitalter ihrer nicht nur natürlichen, sondern auch technischen Reproduzierbarkeit (1)

Kulle

  1. Sexualität bei Pflanzen, Tieren und Menschen
  2. Die quantitative Entwicklung der Menschheit
  3. Die menschliche Anpassungsfähigkeit
  4. Die Nicht-Adaptionsfähigkeit der menschlichen Sexualität
  5. Der Korrekturversuch der Natur und seine Konterkarierung
  6. Künstliche Insemination
  7. Genetische Manipulation
  8. Fazit
  9. Fazit des Fazits
  10. Nachwort

1. Sexualität bei Pflanzen, Tieren und Menschen

 

Menschen können erstaunlicherweise manche Sachverhalte relativ angemessen rational beschreiben, obwohl sie sich in actu unangemessen irrational verhalten. Diese interessante Diskrepanz erlaubt es, zur Definition des zu untersuchenden Gegenstandes vorläufig auf Meyers Lexikon (2) zurückzugreifen.

Sexualität, so lesen wir da, „ist bei Pflanzen und Tieren identisch mit der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei niederen Tieren (3) ist das Fortpflanzungsverhalten allein von Geschlechtshormonen gesteuert, artspezifisch stereotyp und ausschließlich heterosexuell. Bei höheren Arten (4) übernimmt die Großhirnsteuerung eine stetig zunehmende Rolle. Die Folgen sind sexuelle Aktivität vor Eintritt der Geschlechtsreife und außerhalb der Brunst, Selbstbefriedigung, Homosexualität und die Bevorzugung bestimmter Partner.

Die Sexualität des Menschen schließlich geht noch weit (5) über das hinaus, was mit der Lust und den Aktivitäten in Abhängigkeit vom Funktionieren der Geschlechtsorgane sowie mit dem Verhalten, das zur Befruchtung…führen kann, zusammenhängt.“ (6)

Schon nach dieser kurzen Definition läßt sich also feststellen, daß menschliche Sexualität in zwei Richtungen strebt, die teilidentisch, aber auch völlig diskrepant sein können:

  • Fortpflanzung
  • sexuelle und/oder psychische Befriedigung.

Den wichtigsten Aspekt allerdings deutet Meyers Lexikon bestenfalls an:

Die menschliche Sexualität ist in all ihren Emanationen maßlos.

2. Die quantitative Entwicklung der Menschheit

Betrachten wir zunächst die Fortpflanzung.

Allein die absoluten Zahlen sprechen für sich.

Im Jahr 7000 v. Chr. (7) betrug die menschliche Weltbevölkerung ca. 10 Millionen.(8) Im Jahr 4500 v. Chr. waren es 20 Millionen. Homo sapiens sapiens brauchte also 2500 Jahre, um sich zahlenmäßig zu verdoppeln – ein Verhalten, das schon nicht mehr als weise bezeichnet werden kann. Schließlich beträgt die Landmasse der Erde 149 Millionen km2, das ergibt rein rechnerisch pro Mensch im Jahr 4500 v. Chr. etwa 7,5 km2. Die Fläche reichte also bereits nicht mehr für jeden aus, um sich als Jäger und Sammler durchzuschlagen, wenn man die Unwirtlichkeit von Sand- und Eiswüsten berücksichtigt. Allein die Jäger- und Sammlerexistenz wird jedoch jener Notwendigkeit gerecht, die seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „sustainable development“ auch ansatzweise ins menschliche Bewußtsein dringt, obwohl die Menschen unter diesem Slogan natürlich die Entwicklung zu retten versuchen, also den Kapitalismus, nicht aber ihren Lebensraum.

Wie aber ging es weiter? Ich kürze die Darstellung ab: 1950 betrug die menschliche Weltbevölkerung 2,5 Milliarden, 1986 lebten 5 Milliarden Menschen auf der Erde. Die Menschen brauchten also nur noch 36 Jahre, um ihre Zahl zu verdoppeln, und jedem Menschen standen 1986 statistisch 0,03 km2 zur Verfügung.


Entwicklung der Weltbevölkerung

Es gilt, eine Populationszunahme in einem Zeitrahmen von – grob gerechnet – 6500 Jahren zu analysieren, die 25 000% beträgt. Selbst zahlreiche Seuchen, Hungersnöte und etliche Selbstausrottungsversuche der Menschen – sie selbst nennen das Kriege – konnten daran nichts ändern.

25 000%! Eine ungeheure Zahl! Selbst eine Krebszelle wäre stolz, wenn sie um so viel wachsen könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sie ihren Wirtskörper vorher zerstört.

Wie haben die Menschen das geschafft?

Zwar ist die Frage sekundär9 , dennoch soll sie zuerst beantwortet werden.

3. Die menschliche Anpassungsfähigkeit

Der Schlüssel zur Lösung des Rätsels liegt in der verblüffenden intermediären (10) Adaptionsfähigkeit der Gattung Homo sapiens sapiens. Nach der Existenzphase als Jäger und Sammler konnten die Menschen durch die Ausweitung des Lebensraumes der Gattung, durch Ackerbau und Viehzucht, durch die Nutzung regenerativer und fossiler Energien ihren Ressourcenoutput erhöhen und gleichzeitig den individuell benötigten Lebensraum begrenzen. Die zunächst recht langsame zahlenmäßige Zunahme der Menschheit war dem mangelnden Wissen in bezug auf Hygiene und Gesundheit geschuldet, was eine hohe Mortalitätsrate vor allem bei jungen menschlichen Individuen zur Folge hatte. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigte sich das Wachstum der Gattung, denn bessere Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten verringerten die früher letalen Folgen lokaler Katastrophen. Das ausgehende 19. und das frühe 20. Jahrhundert dann sind gekennzeichnet durch bahnbrechende Erkenntnisse der Medizin, dank deren (11) die Mortalitätsrate signifikant sank. Nach dem II. Weltkrieg (12) erreichten die Prinzipien einer öffentlichen Gesundheitspflege und besserer hygienischer Bedingungen auch Asien, Lateinamerika und – zum Teil – Afrika, und Lebensmittel aus den von den Menschen so genannten entwickelten Ländern wurden dorthin exportiert (13), ohne die in diesen Regionen hohe Fertilitätsrate zu reduzieren.

Die Ursache dieses bemerkenswert raschen Wandels in der gesellschaftlichen Organisation des Gattungslebens liegt in dem, was die Menschen Intelligenz nennen (14) . Mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln haben sie sich als Art angepaßt, wobei der Verlust an Individuen bei einem Wandel immer hoch war. (15)

Die eigentlich entscheidende Frage lautet aber:

Warum (16) haben die Menschen das geschafft?

 

4. Die Nicht-Adaptionsfähigkeit der menschlichen Sexualität

Der Schlüssel zur exorbitanten Quantitätszunahme von Homo sapiens sapiens liegt in der menschlichen Sexualität. Nein, falsch! Ich korrigiere mich wie folgt: in der männlichen menschlichen Sexualität. Ganz richtig ist das auch nicht: Das Wachstum hat auch mit der weiblichen Fertilität zu tun.

Wenn ich, P. D. (17) Kulle, zu stottern anfange, muß es sich um ein wirklich schwieriges Problem handeln. Es ist so, in der Tat. Ich werde versuchen, es am Beispiel der Kaninchen zu erläutern.(18)

Das Kaninchen

In Zeiten hoher sexueller Aktivität, wenn das Weibchen empfängnisfähig ist, vulgo Rammelzeit genannt, rammelt das Kaninchen-männchen. Das Rammeln unterscheidet es im Prinzip nicht vom Menschenmännchen (19) . Allerdings ist für dieses, anders als für das Kaninchen, immer Rammelzeit. Menschenfrauen sind nämlich im Prinzip (20) immer zur Paarung bereit, auch wenn sie nur in einem Zyklus von durchschnittlich 28 Tagen empfängnisfähig sind. Tiere dagegen verkehren nur sexuell miteinander, wenn das Weibchen empfangen kann. Ein Kaninchenmann (21) muß sich von Oktober bis Februar anderweitig vergnügen.

Nehmen wir an, die Kaninchenfrau wird schwanger, und auch die Menschenfrau wird schwanger. Beide Schwangerschaften verlaufen gut. Die Menschenfrau bringt ein Kind zur Welt, einen Jungen oder ein Mädchen – völlig normal für Menschenfrauen. Auch die Kaninchenfrau bekommt Kinder, aber deren Zahl richtet sich nach den jeweiligen Umweltbedingungen. Bis zu 30 Jungkaninchen pro Jahr sind biologisch möglich. War der Winter jedoch hart, gibt es also wenig zu knabbern, bleibt der Wurf klein. Sind die Bedingungen besser, kommen mehr Junge zur Welt. Aber auch die Zahl der Jagdfeinde ist bei guten Bedingungen höher, so daß die große Zahl rasch dezimiert wird.

Zwischenbilanz: Die globale Kaninchenpopulation (22) ist zwar kurzfristigen Schwankungen unterworden, sie bleibt aber wegen der in natürliche Vorgänge eingebundenen Lebensweise der Spezies letztlich konstant.

Über ein solches Anpassungsverhalten verfügen die Menschen nicht. Im Gegenteil: Ihr Sexualverhalten zeigt, daß sie sich um so intensiver reproduzieren, je schlechter die individuellen Rahmenbedingungen für die Aufzucht des Nachwuchses sind. Da Jagdfeinde der menschlichen Rasse fehlen (23) , ist auch ein Korrektiv dieses Verhaltens ex post nicht möglich.

Folgerung: Menschliche – männliche wie weibliche – Sexualität ignoriert Umwelt-(24) bedingungen völlig.

5. Der Korrekturversuch der Natur und seine Konterkarierung

 

Bei der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen entsprechend dem Stand der von ihnen entwickelten Produktivkräfte nicht nur von ihrem Willen unabhängige Produktionsverhältnisse ein (25) , es entstehen auch Konsumtionsverhältnisse.

Die angesichts der großen Menschenzahl notwendige Industrialisierung der Agrarwirtschaft und der Lebensmittelproduktion kann und will aus Profitinteresse auf die permanente und zunehmende Induzierung chemischer Substanzen nicht verzichten. Eben diese Industrialisierung und der damit einhergehende Abusus von Boden, Wasser und Luft wirken negativ nicht nur auf die menschliche Gesundheit im allgemeinen, sondern speziell auch auf die Spermaproduktion des Menschenmännchens. Gelten 200 – 300 Millionen Spermien pro Ejakulation als biologisch normal, so läßt sich seit Jahrzehnten eine Abnahme der Samenzellen beobachten, die inzwischen zu signifikanten Unfruchtbarkeitsquoten geführt hat.

Ist also endlich auch mit der Abnahme dieser Spezies zu rechnen, die sich, wir erinnern uns, effektiver vermehrt als eine Krebszelle? (26)

Weit gefehlt!

a) Künstliche Insemination

 

Dem egoistischen Individualsinn der Menschen, der sich hervorragend mit dem Sinn für Profit ergänzt, ist es geschuldet, daß der natürliche Rückgang der Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies konterkariert werden konnte. (27) Menschenfrauen, die unfähig waren, Kinder zur Welt zu bringen, behaupteten, entsetzlich zu leiden (28) . Um diesem entsetzlichen Leiden zu entgehen, waren und sind sie bereit, sich entsetzlichem Leiden auszusetzen. So unterziehen sie sich zum Beispiel der Prozedur der in-vitro-Fertilisation: Sie lassen sich eine Eizelle aus der Gebärmutter entnehmen, die dann im Reagenzglas die Chance bekommt, sich mit Spermien zu vereinigen – möglicherweise Spermien des eigenen Mannes, aber, sollte der unfruchtbar sein, auch mit anderen. Parallel dazu existiert die in-vivo-Befruchtung: Die Menschenfrau erlaubt während ihrer fruchtbaren Tage einer kalten sterilen Kanüle statt eines warmen pulsierenden Penis, sich ihrer Gebärmutter zu nähern und dort ihren Samen zu deponieren.

Es ist nicht nur diese Tortur, die jedes fühlende Wesen schaudern macht, sondern auch ihr Ergebnis: Anders als bei der normalen Befruchtung endet das Rennen der Spermien oft unentschieden, mehrere erreichen gleichzeitig ihr Ziel, die Eizelle, und durchdringen deren Trennwand. Das Ergebnis sind Zwillinge, Drillinge, Vierlinge, Fünflinge – Mehrlinge. Die Menschheit vermehrt sich so in einem Maße, das alle bisherigen Horrorszenarien (29) verblassen läßt.

Damit nicht genug!

b) Genetische Manipulation

 

Seit nunmehr fünfzig Jahren bemühen sich die Menschen, das geheimste Geheimnis der Natur zu entschlüsseln: Das Genom, das Erbgut. Sie haben inzwischen gelernt, viele der in der DNA verschlüsselten Informationen zu lesen und zu verstehen. Sie können sie auch kopieren und manipulieren, so daß sie die Natur von Pflanzen und Tieren (30) verändern.

Das öffentliche Interesse der Menschen wird gegenwärtig aber nicht von dieser sehr weitgehenden Perspektive beherrscht, sondern von einem Schlagwort, das viel kürzer greift: Kloning. Kloning, das Herstellen von Klonen, meint die Reproduktion biologisch identischer Lebewesen. Die Idee scheint faszinierend (31) , und manche meiner menschlichen Wissenschaftlerkollegen (32) und auch sogenannte normale Menschen (33) sind davon schier besessen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich den bärischen klaren Verstand aber schnell der entscheidende Pferdefuß: Psyche, Wissen und Erfahrung sind nicht übertragbar.

 

6. Fazit

Fassen wir zusammen.

Der Mensch ist das Krebsgeschwür dieser Welt. Er verhält sich wie eine Krebszelle. Wäre er intelligent genug, um zu begreifen, welche Gefahr er darstellt, würde er seine Reproduktion drastisch einschränken. Offenbar ist er dazu nicht intelligent genug, da es ihm an Möglichkeits- und Zukunftssinn mangelt. Im Gegenteil: Die partiellen intellektuellen Fähigkeiten, mit denen er ausgestattet ist, benutzt er, um sich weiter zu vermehren und sein eigenes Gattungsleben um so schneller zu beenden, während er doch glaubt, es zu verlängern.

7. Fazit des Fazits

 

Pfffffffffffft…(34)

8. Nachwort:

 

  • Selbstverständlich weiß inzwischen jeder, daß ich meiner Sekretärin danke.
  • Ich danke den Menschen, bei denen ich immer dann wohne, wenn ich nicht in Bärenleben bin, dafür, daß sie keine Kinder haben.
  • Ich hasse alle Menschen, die mehr als zwei Kinder haben, die sich in vitro oder in vivo fertilisieren oder sich klonen lassen.

Fußnoten:

1 Ich entschuldige mich bei Walter Benjamin für das Plagiat   
2 vgl. Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Mannheim 1997, Schw – Spin   
3 Ich will hier nicht erörtern, wer damit gemeint sein könnte. Meiner Erfahrung nach gehören Frösche auf jeden Fall nicht dazu  .
4 Dankbar nehme ich zur Kenntnis, daß die biologische Systematik der Menschen Bären dazurechnet.   
5 Was „weit“ bedeutet, wird zu untersuchen sein   .
6 ebd. Deutlich wird hier übrigens die Sichtweise, daß Menschen weder Pflanzen noch Tiere sind. Als Wissenschaftler kann ich diesen Unsinn nicht gutheißen, als voreingenommener Bär stimme ich hingegen zu – ich möchte mit den Menschen so wenig wie möglich zu tun haben.  
7 Ich bediene mich hier der gängigen sog. abendländischen Zeitrechnung, obwohl jeder Wissenschaftler weiß, daß diese äußerst fragwürdig ist  .
8 Zwar war ich selbst damals noch nicht geboren und kann dergleichen Angaben also nicht empirisch nachprüfen; auch weiß ich nicht, auf welche Erkenntnisse meine menschlichen Wissenschaftlerkollegen ihre Aussagen stützen. Der Einfachheit halber glaube ich ihnen ausnahmsweise mal.   
9 Die Begründung für diese Einschätzung folgt weiter unten.  
10 Auch dieses wertende Adjektiv wird später erläutert  .
11 besser: derentwegen    
12 Nach menschlicher Zählung, versteht sich: Die Pflanzen und wir Tiere haben noch nie auch nur einen Krieg geführ t.   
13 Natürlich nur die Überschüsse!   
14 „Intelligenz“ impliziert nach menschlicher Definition die Fähigkeit, Wissen zur Bewältigung neuer, akuter Probleme anzuwenden und so bisher unbekannte Situationen bewältigen zu können. Der uns Bären beständig gegenwärtige Möglichkeits- und Zukunftssinn spielt dabei allerdings keine Rolle.    
15 Ich könnte hier übrigens viel darüber erzählen, wie viele andere Gattungen durch die Ausbreitung von Homo sapiens sapiens vernichtet worden sind oder durch sie gelitten haben. Eigentlich habe ich Lust dazu, denn ich bin ein Bär. Aber ich bin auch ein wissenschaftlicher Bär, und als solcher sage ich: Das gehört nicht hierher.   
16 vgl. Anmerkung 9    
17 vgl. „Der Wert“    
18 Man möge mir zugute halten, daß ich nicht, wie die menschlichen Biologielehrer, auf die Bienen zurückgreife.    
19 Im Prinzip nicht, die bei Menschenmännchen beobachtete Phantasie ist allerdings bei einigen wenigen Exemplaren höher ausgeprägt.  
20 Vergewaltigungen müssen bei dem hier zu erörternden Problem leider unberücksichtigt bleiben.   
21 Die Rede ist hier nur von ordentlichen Wildkaninchen, nicht von unordentlichen Haustieren.  
22 „Bevölkerungsexplosionen“ auf so genannten neu entdeckten Kontinenten wie Amerika oder Australien bleiben hier aus evidenten Gründen unberücksichtigt   .
23 vgl. Anmerkung 15   
24 Ich benutze diesen Begriff lediglich, damit menschliche Leser mich verstehen. Selbstverständlich wäre es viel korrekter, von „Welt-“ zu sprechen  .
25 Ich entschuldige mich ebenfalls bei Karl Marx   .
26 Die Menschheit ist übrigens auf dem Weg, ihren Wirtskörper zu zerstören, beeindruckend weit vorangekommen. Dieses an sich positive Phänomen hat allerdings eine Kehrseite: Der Wirtskörper der Menschen ist auch der aller anderen Existenzen   .
27 Das Modalverb gibt selbstverständlich die menschliche Sicht der Entwicklung wieder. 
28 Ich als Bär maße mir nicht an, dieses Leiden zu beurteilen. Allerdings gebe ich zu, daß es mir schwer fällt, ein heimliches Kichern zu verbergen  .
29 Ich verweise hier z. B. auf den vielleicht auh Menschen bekannten Spielfilm: „2024 – die überleben wollen“  .
30 Da Menschen, wissenschaftlich betrachtet, Tiere sind, können die Menschen natürlich auch in ihre eigene biologische Struktur eingreifen – und sie tun das auch. Allerdings geben sie das bisher öffentlich nicht zu. Entsprechende Arbeit wird in höchst geheimen Labors geleistet  .
31 Ich muß leider zugeben, daß auch ich selbst eine Sekunde lang von der Idee fasziniert war, mich verdoppelt zu sehen   .
32 Dr. Seed aus den USA z. B. will sich unbedingt klonen – ob da der Name das Bewußtsein bestimmt   ?
33 Die Zahl der Witwen, die sich einen Klon ihres Mannes wünschen, oder der unglücklichen Mütter, die auf diese Art der Reproduktion ihr totes Kind zurückhaben möchten, ist Legion  .
34 Ich gebe zu, daß ich überrascht davon bin, daß eine ökonomische und eine biologische wissenschaftliche Arbeit zu demselben Ergebnis führen!