(Weih)-Nacht

Bosch-Die Kreuztragung
Es war einmal ein Bär, der liebte Märchen über alles. Am meisten mochte er das Märchen von Weihnachten, das seine Großmutter ihm immer erzählt hatte, als er noch ganz klein war. Es war ein Menschenmärchen, aber das störte ihn überhaupt nicht.

In diesem Märchen war immer alles ganz dunkel, denn es herrschte tiefster Winter. Der Mond schien hell, und unter seinen Strahlen erglänzte der Schnee, der das Land mit einer dicken Decke einhüllte. Eisig kalt war es, und die wenigen Menschen, die draußen zu tun hatten, beeilten sich, wieder ins Warme zu kommen, in die heimeligen Häuser. Dort bullerten die Öfen, eine Tanne stand dort mit aufgesteckten Lichtern, und die Menschen standen oder saßen darum herum und sangen melodische Lieder. Sie freuten sich über diesen Tag und liebten einander, und um sich das zu zeigen, machten sie einander Geschenke – selbstgestrickte Pullover oder Socken zum Beispiel, eine Stichsägearbeit oder sonst irgendeine Bastelei.

Der Bär hatte immer bedauert, daß er das nicht miterleben konnte. Denn seine Großmutter hatte ihm erzählt, daß Weihnachten eigentlich gar kein Märchen sei, sondern Wirklichkeit – Wirklichkeit für die Menschen. Für Bären dagegen, die Winterschlaf hielten, würde Weihnachten immer ein Märchen bleiben. Dachte der Bär.

Seinen Wintereinkauf erledigte der Bär immer Ende Oktober. Ja, auch die Bären waren modern geworden und verließen sich immer weniger allein auf den angefressenen Winterspeck. Eine zusätzliche Konserve, eine Wolldecke – dadurch konnten die Schlafmonate in der kalten Höhle viel angenehmer werden. Geld mußte man dafür natürlich haben, aber das war seit einiger Zeit kein Problem mehr. Seit die Grenzen zu den östlichen Ländern geöffnet worden waren, konnte man Automaten ohne Probleme wertlose Zloty andrehen, und gefälschte Kreditkarten gab es auch massenhaft. Natürlich mußte man sich als Mensch verkleiden, aber das war leicht. Da die Menschen die Bären seit Jahrtausenden ermordeten oder als Circusclowns mißbrauchten, hatte der Bär bei solchen Tarn- und Täuschungsmanövern keinerlei moralische Skrupel.

Er hatte einen ruhigen Herbsteinkaufstag erwartet, aber er hatte sich getäuscht. Zwar schien die Sonne vom strahlend blauen Himmel, nachdem die Morgennebel sich aufgelöst hatten, aber kaum hatte er das erste Kaufhaus betreten, schallten ihm ungewohnte Klänge entgegen. Menschliche Singstimmen waren mit sanfter Musik unterlegt, und als er genau hinhörte, verstand er auch den Text:

„Süßer die Kassen nie klingeln,
als zu der Weihnachtszeit.“

Weihnachtszeit? Aber es war doch erst Ende Oktober, noch nicht einmal Zeit für den Winterschlaf! Irritiert ging er weiter.

Schon nach wenigen Schritten aber kam er nicht mehr voran, denn er steckte in einem Menschengedränge. Alles wimmelte um Verkaufsstände mit Plastiktannen, Engelspüppchen, Lametta in Weiß, Gold, Rot und Blau, Glaskugeln, Plastikadventskränzen und Kerzen in allen denkbaren Farben.

Er versuchte zu flüchten, aber in der nächsten Abteilung war es auch nicht besser: Hier schienen die Menschen die letzte Schlacht um die letzten Süßigkeiten zu schlagen. Es mußten wirklich die letzten sein, entschied der Bär, nachdem er einen Blick auf das eine oder andere Preisschild geworfen hatte.

Ein paar Meter weiter wanderten überwiegend ältere Frauen durch eine Ausstellung von Puppen. Oh, wie lieb sahen die aus! Lange Kleider trugen sie und aufgesteckte Zöpfe, manche hielten auch eine kupferne Bratpfanne in der Hand. Zur Illustration und vollkommenen Illusion war der altertümliche Herd mit den Feuerringen auf der Platte gleich nebenan aufgebaut. Verzaubert wiegten die Kundinnen die Puppen im Arm und träumten ein paar Sekunden, bis ein Blick auf das Preisschild sie veranlaßte, die Plastikgeschöpfe wieder in ihr Regal zurückzusetzen.

Den Bären schauderte es, und er flüchtete aus dem Kaufhaus. Draußen atmete er tief durch. Die frische Luft tat gut. Froh hob er die Augen zum Himmel.

Hoch über der Straße waren Männer damit beschäftigt, viele elektrische Lampen zu installieren.

Neben sich belauschte er unfreiwillig Gespräche:

„Ein Diamant ist wirklich unvergänglich…“

„Du kannst mir glauben, Nerze werden heutzutage artgerecht gehalten…“

„Ich weiß wirklich nicht, was ich meiner Mutter schenken soll…“

„Hör endlich auf zu quengeln…“

„Das ist zu teuer, das ist er mir nicht wert…“

Beinahe wäre er über die Beine eines Mannes gestolpert, der auf der Erde saß, auf dem kalten Betonboden, mit dem Rücken an ein Schaufenster gelehnt, in dem warme Männerpullover ausgestellt waren. Der Mann hatte ein Schild vor sich aufgestellt. „Ich habe Hunger“, stand darauf.

Der Bär hatte nichts, was er ihm hätte anbieten können. Seine falschen Zlotys mochte er ihm nicht zumuten.

Er mochte auch sich selbst nichts mehr zumuten.

Weihnachten? Weihnachten??

Er wünschte, er könnte neun Monate lang Winterschlaf halten. Und er wünschte, die Menschen könnten es auch.

Auf jeden Fall beschloß er, nicht mehr im Oktober bei den Menschen einkaufen zu gehen, sondern schon im September.

Auf dem Heimweg schoß ihm die Frage durch den Kopf, ob das auf die Dauer reichen würde.