Kein Kanzlerbesuch

„Immer noch keine Anfrage? kein Annäherungsversuch?“ fragte Bärdel seinen Sohn.

„Nö.“

Könntest Du Dein Überwachungssystem bitte noch einmal überprüfen?“

„Könnte ich.“

Bärdel wurde zornig. „Solche unhöflichen Antworten gehören sich nicht, das solltest Du wissen!“ wies er Manfred zurecht.

„Das finde ich auch, Papa,“ stimmte der zu. „Ich habe mir übrigens nur erlaubt zu zitieren. Was der Nummer Drei in Dehland recht ist, sollte einem kleinen Bären in einem klandestinen Dorf doch nur billig sein.“

„Na gut.“ Bärdel beruhigte sich. „Aber unhöflich bleibt unhöflich, auch wenn es der Kanzler ist. Schade, ich habe eigentlich auf seinen Besuch gehofft. Olaf Scholz kennt sich doch aus mit Finanzskandalen und verschwundenen Steuergeldern. Er hätte mir bestimmt einen Tipp geben können, wie ich meinen Ärger mit dem norddehländischen Finanzamt  endlich loswerden kann.“

„Mir tut es auch leid,“ mischte sich Tumu ein. „Ich wollte ihm gerne einen Bananenkuchen backen.“

Tumu

„Seit wann sind wir so nett zu Kanzlern? Bis auf den ersten waren das schließlich alle sehr unsympathische Wesen.“

„Das stimmt schon. Aber der Arme kriegt in Hamburg doch bestimmt immer nur Fisch zu essen. Und in Berlin gibt es zwar ausgezeichnete Restaurants, aber in die darf sich ein Politiker in diesem Land nicht hineinwagen. Die Wähler nähmen das übel und würden ihm Verschwendung vorwerfen, sagt jedenfalls der Bundespräsident. Deshalb der Kuchen. Das Rezept dafür habe ich in einem Gorillakochbuch gefunden. Man braucht dafür auch Erebereblätter, und ich weiß noch nicht, woher ich die bekomme. Ich habe schon bei Rungis angefragt, aber die haben nur verständnislos den Kopf geschüttelt.“

Auch Bärdel und Manfred schüttelten nur verständnislos den Kopf, aber so sanft, dass Tumu es nicht bemerkte. Sorgen hatten die Frauen!

„Also kommt niemand,“ fasste Tumu das bisherige Gespräch zusammen.

Kulle

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Kulle hatte gelauscht. „Der Kanzler ist wohl beratungsresistent. Aber in der Regierung gibt es ja auch Minister, wie man weiß, und ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass von denen jemand hier auftaucht.“

„Wen meinst Du denn?“ wollte Bärdel wissen. „Die Baerbock?“

„Die nun gerade nicht. Die ist auch beratungsresistent, wie der Name schon sagt. Und sie braucht auch keine Beratung. Tapfer ist sie – kämpft wie ein Bär oder kämpft tapfer gegen Bären – und starrsinnig. Bockig. Die wird sich von uns sicher nicht sagen lassen wollen, wie sie ihrem Kollegen Lawrow gegenübertreten soll.

„Und wer dann?“

Als Kulle gerade den Mund auftat, um zu antworten, brach ein Mensch durch die Brombeerbüsche am Dorfrand. Er war erkennbar erschöpft, desorientiert und am Ende seiner Kräfte. Als er erkannte, dass ihm Lebewesen gegenüberstanden, stieß er mit letzter Kraft hervor: „Sag Gas!“ 

Otto als Neubürger in Bärenleben war schüchtern und hatte sich im Hintergrund gehalten, als der Fremde auftauchte, aber als er dessen zwei Worte hörte, konnte er nicht mehr an sich halten, trat eilig vor und stupste aus Versehen Bärdel zur Seite.

Otto

„Du liebst Palindrome!“ strahlte er den Ankömmling an. „Willkommen in Bärenleben!“ Er schob Anna, die sich hinter seiner breiten Schulter versteckt hatte, denn sie hatte immer noch Angst vor Menschen, nach vorn: „Anna neben Otto!“

Otto und Anna

Kulle fasste sich als erster. „Unser Freund hier liebt Sprachspiele, lass Dich davon nicht irritieren. Was das Gas angeht: Bei uns findest Du weder den Emir von Katar noch den russischen Präsidenten. Du bist weder in Doha noch in Moskau.“

„Trollort!“ brummte Otto verächtlich.

 Kulle ließ sich dadurch nicht irritieren: „Wir hier sind Demokraten. Vielleicht keine lupenreinen, aber auf jeden Fall keine Sklavenschinder und Giftmörder. Und wir bedauern: Gas haben wir nicht im Angebot.“

„Schade.“ Der Mensch sank erschöpft ins Gras.

„Ich gase, also bin ich?“ Kulle hatte kein Mitleid mit dem Ankömmling.

Der Mann richtete sich gerade auf und war plötzlich hellwach. „Alles Gasende ist Gas. Und ohne Gas ist alles nichts. Ich meine: Nichts. Jedenfalls im nächsten Winter in Dehland. Tertium non datur.“

Kulle war begeistert. Endlich war da mal jemand, der ihm philosophisch-grundsätzlich gewachsen war. „Klären wir den Begriff!“, forderte er. „Existenz: Gas existiert.“

„Zweifellos. Aber notwendiges immer weniger in Dehland.“

Kulle ließ sich nicht vom Prinzip abbringen: „Identität: Gas ist Gas.“

„Falsch. ‚Gas‘ ist ein Aggregatzustand, sonst nichts. Du meinst wahrscheinlich Erdgas. Erdgas ist ein Gasgemisch. Erdgas ist ein fossiler Energieträger. Ich hasse fossile Energieträger, denn sie tragen wesentlich zur menschengemachten Klimaveränderung bei. Diese Klimaveränderung wird uns umbringen, wenn es schlecht läuft, auf jeden Fall wird sie uns einem Stresstest unterziehen, den wir uns kaum vorstellen können. Wir müssen den Klimakollaps so weit wie möglich abfedern. Deshalb bin ich in dieser Regierung. Aber stattdessen jage ich Gas. Erdgas.“ 

Kulle vermutete, dass der Ankömmling ihm in Sachen Naturwissenschaften über war, wenn auch wohl nicht in Philosophie und Ökonomie. Er gab sich naiv: „Warum konterkarierst Du Deine vernünftigen Ziele durch unvernünftiges Handeln?“

„Weil ich weiß, was Menschen tun, wenn sie ihre Lage als aussichtslos begreifen. Weil…“

Kulle fiel ein: „Weil Du das, was Menschen zivilisierte Verhältnisse nennen, aufrechterhalten willst, solange es möglich ist. Dazu muss alles weiterlaufen wie bisher, vielleicht ein wenig modifiziert, aber nur ein wenig, sonst wird die Unruhe zu groß.“

„Woher wusstest Du, was ich sagen wollte?“ fragte der Mensch verblüfft.

„Das war leicht, denn Du denkst wie die frühere Kanzlerin. Die hat als Physikerin genau gewusst, was auf uns zukommt, und hat trotzdem nichts Entscheidendes unternommen.“

„Ich muss ganz ehrlich sagen…“

Alle Bären verzogen so angewidert das Gesicht, dass der Mensch sich unterbrach.

„Jetzt werde ich Dir mal sagen, was Du sagen müsstest, wenn Du wirklich ehrlich wärst!“  fauchte Tumu ihn an. „Dass Putins Überfall auf die Ukraine zwar ein schreckliches Verbrechen ist, aber den Dehländern die Gelegenheit bietet, etwas zu tun, was schon lange überfällig ist: Fossilen Energieträgern den Rücken zuzukehren. Natürlich ist das brutal von heute auf morgen. Aber was machst Du? Du schaffst neue Infrastruktur dafür, dass Gas und Kohle weiter genutzt werden! Glaubst Du ernsthaft, dass die schönen neuen LNG-Terminals gleich wieder abgebaut werden, wenn es genug Windkraft und Solarthermie gibt? Falls es die gibt!

Und bei wem übst Du den Kotau? Bei wem gehst Du betteln? Bei Alleinherrschern, denen die Rechte anderer am Arsch vorbeigehen. Pardon my french!

Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß hat Churchill 1940 den Briten versprochen. Das war ehrlich! Das Blut könntest Du getrost weglassen, aber den Rest nicht.

Du solltest Dich schämen!“

Bärdel war beeindruckt: So kannte er seine sanftmütige Frau gar nicht.

Noch beeindruckter war der Mensch. Er schlug die Augen nieder und biss sich auf die Lippen. Er machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, und schloss ihn gleich wieder. Vor den Bären stand eine Personifikation schlechten Gewissens.

„Um es philosophisch zu formulieren: Du hast kein Sein gehabt. Kein Selbst-Bewusst-Sein.“ Kulle fand es an der Zeit, das Gespräch auf eine sachliche Ebene zurückzuführen.

„Ich wollte die Koalition nicht gefährden,“ murmelte der Mann.

„Und damit gefährdest Du viel Wichtigeres,“ kommentierte Bärdel. „Und jetzt geh und tue, was richtig ist. Und wenn Du das getan hast, darfst Du wiederkommen.“

„Dann backe ich Dir auch einen Bananenkuchen!“ Tumu hatte sie wieder beruhigt. „Nach Originalrezept! Die Erebereblätter dafür werde ich schon irgendwo auftreiben.“

„Nie solo sein!“ bekräftigte Otto.

Der Mensch nickte und bahnte sich seinen Weg zurück durch die Brombeerbüsche.

„Meint Ihr, dass der wiederkommt?“ fragte Manfred.

„Wir werden sehen,“ antwortete Bärdel. „Ich will das nicht ausschließen. Dann hatten wir vermutlich gerade so eine Art vorgezogenen Kanzlerbesuch.“

Nicht in Bärenleben

August 2022