Der proteische Mensch

Dr. phil. Kulle, P.D.

Inhalt:

  1. Vorwort
  2. Proteus
  3. Die Moderne
  1. Der Begriff der Moderne
  2. Der Mensch der Moderne
  1. Die Postmoderne
  1. Geistesgeschichtliche Hintergründe
  2. Merkmale der Postmoderne
  3. Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch
  1. Nachbemerkung

Vorwort

Ein Gespenst geht um 1, nicht nur in Europa, sondern in der gesamten so genannten zivilisierten, also vulgo industrialisierten Welt. Es handelt sich um den proteischen Menschen. Dieses Phantom geistert durch die Köpfe vieler menschlicher Männer 2 , die sich selbst als postmoderne Philosophen bezeichnen oder gerne bezeichnen lassen. Dieses Gespenst bereitet mir, anders als das Gespenst des Kommunismus, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 beschworen haben, keine Hoffnungen. Dieses Gespenst des 19. Jahrhunderts war nämlich real und verhieß eine lebenswerte Zukunft. Das neue Gespenst bereitet mir auch keine Furcht. Es existiert nämlich nicht. Was zu beweisen sein wird.

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Proteus

Wer oder was war oder ist der Namensgeber des angeblich existierenden proteischen Menschen? Auszuschließen sind der sechste gleichnamige Mond des Planeten Neptun, Proteus anguinus, der Grottenolm, und ebenso die Proteusbakterien, die im menschlichen Körper schwere Blasen- und Nierenbeckenentzündungen verursachen können 3. Auch ein Flugzeug der Firma Scaled Composites kommt nicht in Betracht, ebenso wenig wie manches andere 4. Näher kommen wir der Antwort auf unsere Frage, wenn wir einen Blick auf die Homer zugeschriebene “Odyssee” werfen. Dort begegnen wir Proteus, einem alten, weisen und wandlungsfähigen Meeresgott, der auf der Insel Pharos als Robbenhüter lebt. Im Zentrum und auf dem Gipfel der griechischen Mythologie, auf dem Olymp, finden wir schließlich den wahren Proteus, den Ur-Proteus als Glied der zeusschen Götterfamilie. Er ist ein Meister der Verwandlung und kann jede beliebige Gestalt annehmen.

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Die Moderne

Der Begriff der Moderne

Mir als seriösem Wissenschaftler ist der Begriff “Moderne” zutiefst zuwider, stammt er doch aus einem Bereich des gesellschaftlichen Überbaus, dem naturgemäß ein Übermaß an Freiheit und Kreativität, damit auch an Unernsthaftigkeit, zugesprochen wird, nämlich aus der Kunst bzw. der Kunstgeschichte. Wie dem auch sei, der Begriff wurde allmählich auch von ernsthaften Wissenschaften wie der Soziologie adaptiert und so zur Quantité non négligeable.
Die Vorstellungen von Anfang und Ende dieser Epoche sind jedoch bis zum heutigen Tag ebenso unscharf wie der Epochenbegriff selbst. Begann die Moderne 1789 mit der Französischen Revolution oder erst am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen des Naturalismus in Deutschland? Endete sie 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 5, 1990 mit dem Ende der Bipolarität, oder dauert sie noch an? Das ist alles umstritten.
Ich erspare es mir und dem Leser, an dieser Stelle die angeblichen oder tatsächlichen Merkmale dieser so genannten “Epoche” aufzulisten – das lässt sich ebenso gut bei Wikipedia 6 oder in anderen Lexika nachlesen. Zentral und unbestritten ist jedoch, dass dieser wie auch immer definierte Zeitabschnitt der Menschengeschichte von einem bisher unbekannten und revolutionären Wirtschaftssystem dominiert wurde, nämlich dem Kapitalismus 7. Ja, revolutionär. Zwar stellte der Kapitalismus die Welt nicht vom Kopf auf die Füße 8, aber er verpasste ihr eine ordentliche Drehbewegung.

Der Mensch der Moderne

Welches Menschen bedarf ein Wirtschaftssystem, das auf Privateigentum an Produktionsmitteln basiert und nur ein Ziel verfolgt, das der Profitmaximierung? Hier gilt es zu differenzieren.
Der Mensch im Kapitalismus, sei er Bourgeois oder Proletarier, ist ohne Arbeitsethik nicht überlebensfähig, ob er sie sich nun freiwillig aneignet wie die protestantische Ethik 9 oder von der “Peitsche” des “Aufsehers” bei Strafe seiner Entlassung dazu gezwungen wird. In der Phase der ursprüngliches Akkumulation ist daneben die Bereitschaft zu bescheidenem Lebenswandel gefordert – knappes Kapital muss reinvestiert werden, mit Hungerlöhnen müssen große Familien ihr Leben fristen. Anders stellt sich die Lage dar, wenn der Kapitalismus in die Phase der Massenproduktion von Waren nicht nur mit Maschinen, sondern auch durch Maschinen eingetreten ist – dann ist nicht mehr Asketentum erwünscht, sondern Konsum; dann wird die Warenwelt weiter und weiter entfaltet, so dass alle tatsächlichen oder von den Marketingabteilungen der Unternehmen vorgegaukelten materiellen Bedürfnisse befriedigt werden können. Zumindest theoretisch. Die Kehrseite der Produktion von Waren und auch Dienstleistungen durch Maschinen besteht darin, dass die menschlichen Produzenten und Dienstleister ihre Arbeit verlieren, ihrer gewünschtern Rolle als Konsumenten also nur noch äußerst eingeschränkt gerecht werden können, was wiederum der Produktion Grenzen setzt.

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Die Postmoderne

Geistesgeschichtliche Hintergründe

In Bezug auf die Moderne wird immer wieder behauptet, sie sei von einem großen Fortschrittsglauben geprägt worden. Für das 19. Jahrhundert ist das zweifelsohne der Fall. Wenn allerdings die Erosion oder gar das Ende des Fortschrittsvertrauens auch das Ende der Moderne eingeläutet oder bedeutet haben sollte, dann müsste das bereits 1912 der Fall gewesen sein, als die “unsinkbare” Titanic von den Fluten des Atlantiks verschlungen wurde. Aber lassen wir das.
Fortschrittsglaube, menschlicher Fortschrittsglaube impliziert die Vorstellung, die Welt erkennen und beherrschen zu können. Verfechter der These, die menschliche Gesellschaft befinde sich heute nicht mehr in der Phase der Moderne, sondern in der der Postmoderne, argumentieren gerne damit, beides habe sich als Illusion erwiesen, und zitieren zum “Beweis” mit Vorliebe den Physiker Werner Heisenberg oder den Mathematiker Kurt Gödel. Beide haben in der Tat erkannt, dass Termiten an ihren jeweiligen wissenschaftlichen Gebäuden nagen.
Heisenberg kam zu der Feststellung, dass im Quantenraum eine objektive Beobachtung unmöglich ist, weil der Beobachter das Experiment beeinflusst. Wohlgemerkt, im Quantenraum, also im Picobereich – das bedeutet 10-12 m und kleiner. Postmoderne “Wissenschaftler” weisen unter Berufung auf diese Heisenbergsche Unschärferelation die Idee einer festen, objektiven Realität zurück. Bei Rifkin heißt es:
“Die Welt ist den Postmodernisten zufolge ein menschliches Konstrukt”. 10
Rifkin zitiert Heisenberg:
“Unsere wissenschaftliche Arbeit in der Physik besteht darin, Fragen über die Natur zu stellen in der Sprache, die wir besitzen.” 11
Die Sprache der Physik ist die Mathematik, das steht schon bei Galilei, und in mehr als 400 Jahren hätte man das lernen können. Aber welche Folgerungen ziehen postmodernefreundliche Bestsellerautoren aus dieser Aussage?
“Realität ist damit also eine Funktion der Sprache.” 12
Hier liegen nicht nur Leseschwäche und ein kapitaler wissenschaftlicher Lapsus in Bezug auf Schlussfolgerungen vor, sondern auch ein Rückfall in subjektiven Idealismus, ja mehr, in Solipsismus. Anstatt eines bärischen Wutausbruches über so viel Dummheit lasse ich lieber Goethe sprechen, der einen Solipsisten sagen lässt:
“Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein.”, worauf ihm Mephisto, der Teufel, antwortet:
“Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein.” 13
Jedenfalls ist mit derlei “Theorie” keine neue Epoche zu machen.

Merkmale der Postmoderne

Wie wir gesehen haben, ist es um die theoretische Legitimation der Postmoderne schlecht bestellt. Wie viel schwerer haben es deren Verfechter da erst auf der materiellen Ebene angesichts der Tatsache, dass die grundlegenden Produktionsverhältnisse des Kapitalismus dieselben geblieben sind, ja, sich sogar nach der Implosion des so genannten “real existierenden Sozialismus” auf den gesamten Globus ausweiten konnten! Aber sie begreifen dergleichen keineswegs als Fortschreibung des alten, sondern erfinden flugs einen neuen Kapitalismus.
Wir haben es angeblich mit einer neuen Ära zu tun, der des kulturellen Kapitalismus, in der nur noch die Verfügbarkeit, der Zugang, zählten, wohingegen das Eigentum immer bedeutungsloser werde 14. Dinge herzustellen, auszutauschen und Eigentum zu akkumulieren, sei nebensächlich geworden 15. Dieser neue Kapitalismus habe Zeit, Kultur und gelebte Erfahrungen warenförmig gemacht. 16
Immerhin – Lyotard, Baudrillard und wie sie alle heißen, geben zu, dass sie im Kapitalismus leben. Sie meinen, eine neue Qualität des Kapitalismus zu benennen, und verkennen, dass es sich lediglich um eine quantitative Verschiebung des Systems handelt. Niemand leugnet, dass moderne kapitalistische Gesellschaften Dienstleistungsgesellschaften sind, dass sie also, wie Rifkin formuliert, Zugang und Verfügbarkeit ermöglichen. Angesichts einer immer stärkeren Vernetzung der Menschenwelt einerseits – niemand kann sich das Internet kaufen, jeder kann sich nur gegen eine Gebühr einloggen – und der durch Arbeitslosigkeit und Lohndumping auf internationaler Ebene prekären finanziellen Situation der abhängig Beschäftigten in den Industrieländern andererseits ist ein anderer Weg unrealistisch. Daraus aber die Schlussfolgerung zu ziehen, der Kapitalismus habe sich dergestalt gewandelt, dass Eigentum und die Herstellung von Produkten nicht zählten, ist völlig falsch. Eine solche Argumentation betrachtet nur die Konsumentenperspektive und nicht die der Produzenten, die immer noch all das herstellen und über dessen Qualität verfügen, was die Massen in Abhängigkeit hält: Kühlschränke, MTV, Soap Operas und Autos, oft auf der Basis von Nutzungsverträgen. Nicht zuletzt verfügen die Besitzer der Produktionsmittel über das (Aktien-) Kapital, an dessen Mehrung sie interessiert sind.

Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch

Wie wir oben gesehen haben, ist der griechische Gott Proteus ein Formwandler. Ähnliche Fähigkeiten werden von den Postmodernisten auch dem proteischen Menschen zugesprochen. In der Postmoderne verändern die Menschen angeblich zwar nicht ihre äußere Form, wohl aber ihre Persönlichkeit zu Persönlichkeiten 17. Rifkin versteigt sich gar zu der Formulierung:
“Ein neuer menschlicher Archetyp wird gerade geboren. Einen Teil des Lebens bequem in virtuellen Welten des Cyberspace verbringend, vertraut mit den Funktionsweisen einer vernetzten Wirtschaft, weniger daran interessiert, Dinge zu sammeln als daran, aufregende und unterhaltsame Erfahrungen zu machen, fähig, simultan in parallelen Welten zu interagieren, rasch dabei, die eigene Persönlichkeit zu ändern, um sie irgendeiner neuen Realität, die ihnen – ob simuliert oder echt – begegnet, anzupassen …” 18
Große Worte, in der Tat. Dem angeblich so großen Neuen kann man analytisch-theoretisch und empirisch zu Leibe rücken.
Der proteische Mensch ist, glaubt man Rifkin, souverän. Angelehnt an Freud’sche Kategorien formuliert: Er besitzt “Iche-Stärken”. Ich-Stärke kann er nicht haben, denn er hat keine Persönlichkeit mehr, wohl aber Persönlichkeiten. Für Menschen ist es nicht leicht, angesichts der widerstreitenden Forderungen von “Es” und “Über-Ich” überhaupt ein angemessen starkes “Ich” auszubilden – nun soll dieser Prozess auf einmal multifunktional ein Kinderspiel sein? Die traditionelle Soziologie kennt den Begriff der Rollenambiguität – in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft muss der Mensch sein Handeln, seine Rolle gemäß seiner Position modifizieren. Schon diese Anforderung überfordert die meisten Menschen – woher soll also die Fähigkeit zur Ausbildung multipler Persönlichleiten kommen? Eine Mutation ist jedenfalls nicht in Sicht…

Betrachtet man den real existierenden Menschen, zum Beispiel in Dehland, so stellt man Folgendes fest:

  • er hat überwiegend Angst um seinen Arbeitsplatz oder ist arbeitslos
  • er hat keine Zeit, sich bequem in den virtuellen Welten des Cyberspace zu tummeln, oder er hat keinen Internetzugang. Wenn er sich einloggt, ist das häufigste Suchwort “Sex” – das ist nicht gerade ein Beweis für Bequemlichkeit und Souveränität.
  • Er sieht intensiv und viel zu lange fern und lässt sich von geschauspielerten Pseudopersönlichkeiten gefangen nehmen, die mit der Realität und ihm selbst nichts zu tun haben, obwohl er sich mit ihnen identifiziert
  • Er versteht nichts von der Wirtschaft und deren Funktionsmechanismen
  • er will selbstverständlich aufregende und unterhaltsame Erfahrungen machen (Ist das eigentlich “selbst verständlich”?), landet aber im Urlaub, so er sich diesen leisten kann, auf Mallorca oder in der Dominikanischen Republik – all inclusive, selbstverständlich, und ist dort auf sich selbst zurückgeworfen.
  • Seine eigene Persönlichkeit, falls vorhanden, ändert er mitnichten, weil er froh ist, wenigstens etwas zu haben, woran er sich festhalten kann.

Der proteische Mensch, vielleicht gedacht als innengeleitetes Individuum 19 , ist eine schöne Idee, die aber weder der gesellschaftlichen Realität noch den in ihr zum Leben gezwungenen Menschen gerecht wird.

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Nachbemerkung

  1. Qed.
  2. Ich erspare mir dieses Mal ein Fazit – es wäre zu deprimierend, weil es den bisherigen aufs Haar gliche. Allerdings ist es mir ein Anliegen, meiner abgrundtiefen Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass etliche Menschen, denen noch nicht einmal ich die prinzipielle Fähigkeit zum Denken absprechen will, ihre geistigen Kapazitäten darin erschöpfen, angebliche neue Epochen zu erfinden, anstatt ihr Gehirnschmalz darauf zu verwenden, über die Rettung unseres Planeten nachzudenken, was überfällig, wenn nicht bereits zu spät ist, jedenfalls aus bärischer wie menschlicher Perspektive betrachtet.
  3. Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich diesmal (fast) ernsthaft war.
  4. Falls Jeremy Rifkin meine bescheidenen Anmerkungen lesen und sich ärgern sollte, würde ich mich freuen, aber ich weiß, dass er nicht Deutsch kann.
  5. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.
PD Kulle


Fußnoten:

Wenn Sie sie Maus kurz über einer Fußnote stehen lassen, erscheint der Text. Falls das nicht klappt: hier sind noch einmal alle Fußnoten im Zusammenhang:

  1. Ich bitte um Entschuldigung. Natürlich bediene ich mich eines gängigen Zitats, aber das ist unumgänglich. In dem Fall, den wir zu untersuchen haben, handelt es sich tatsächlich um ein Gespenst.
  2. Falls ich übersehen haben sollte, dass es auch philosophisch dilettierende Frauen gibt, die dem Phänomen des proteischen Menschen nachjagen, dann möge man mir Kenntnis davon geben – meine email-Adresse ist bekannt (kulle@baerdel.de).
  3. Der Glaube an den proteischen Menschen affiziert dagegen eher das Gehirn.
  4. Ich verweise hier nur auf die Riesenschildkröte in: Goethe, “Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ und auf den ägyptischen König Proteus in Euripides‘ “Helena“.
  5. Diese Meinung vertritt Amitai Etzoni, was ich für völligen Unsinn halte. Entweder hat die Moderne die faschistische Barbarei verdaut und überstanden, oder sie hat mit deren Beginn geendet.
  6. http://www.wikipedi.org
  7. Mehr dazu bei Karl Marx.
  8. Das wird, was unmittelbar einleuchtet, erst eine kommunistisch-anarchisch organisierte Assoziation freier Produzenten leisten können.
  9. Vgl. Max Weber
  10. vgl. Jeremy Rifkin, Access, Frankfurt 2000, S. 256, 260
  11. nach Angaben von Rifkin aus: Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Frankfurt/Berlin 1990, S. 40
  12. vgl. Rifkin, ebd., S. 261
  13. Goethe, Faust II, V. 6791f
  14. vgl. Rifkin, ebd., S. 183. Im Übrigen wäre zu klären, was Kapitalismus mit Kultur zu tun hat, aber das ist schon wieder ein anderes Thema.
  15. Vgl. ebd., S. 263
  16. Vgl. ebd., S. 252
  17. vgl. ebd., S. 283
  18. ebd., S. 250
  19. vgl. David Riesman, The Lonely Crowd, New York 1950

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Kulles Schöpfung

Kulles Überlegungen zum menschlichen Selbst- und Weltverständnis

Aufgrund meiner zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten verzichte ich darauf, die hier vorliegende als wissenschaftliche Veröffentlichung zu katalogisieren, zumal der Gegenstand kein wissenschaftlicher ist. Es ist mir allerdings, das möchte ich vor allem gegenüber meinen menschlichen Kollegen betonen, ein Vergnügen, meine Reflektionen zu veröffentlichen.

Die Schöpfung

2

Der Anfang von allem war niemals, weil alles immer schon war, oder irgendwann, falls es damals eine Zeit gab und oder oder es jetzt einen Verstand gibt, der diesen Zeitpunkt bestimmen kann, und vielleicht vor der Materie, die es seitdem gibt und vielleicht vorher nicht oder doch. Niemand weiß das 3 , aber es gibt sie, die Zeit und die Materie, und daraus ward das vergängliche Leben, und alles Sein ist ein Teil von ihr und von ihm, auch der Mensch.
Dem Menschen, der seinen Charakter erkannte, weil er mit der unheilvollen und heilsamen Gabe der Denkfähigkeit ausgestattet war, war es unheimlich ob seiner Bösartigkeit, und er erfand sich ein moralisches Gesetz, das über ihm steht und unerreichbar ist, weil er selbst unfähig ist, sich Gesetze zu geben, die er auch einhält. Dieses Gesetz nennt er Gott.
Und weil er nicht wusste und weiß, woher er kommt und was sein Lebenszweck ist, musste er die Geschichte seines Werdens erfinden. Er hat nicht genug Selbstvertrauen, deshalb schiebt er den Vorgang seinem Gott, seinem Gesetz in die Schuhe.
In der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte zum Beispiel hat der Mensch – wer sonst? Oder spricht Gott von sich in der 3. Person Singular? – geschrieben:
“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“
Dieser Satz wirft ein schlagschattenklares Bild auf den Menschen, denn da er über seine Herkunft keine Auskunft geben kann, erfindet er eine höheres Wesen, das für die Schöpfung verantwortlich gemacht wird und über dessen Herkunft folglich das Geschöpf 4 auch keine Auskunft geben muss. Klug ist er, der dumme Mensch! Die Klugheit beweist sich auch in den beiden ersten angeblichen Schöpfungen: Himmel und Erde. So hat der Mensch zwei Fakten benannt, die sein Leben bestimmen: Die Erde, auf der er steht, und den gestirnten Himmel 5 , der sich über ihm wölbt.
Aber wie geht es weiter? Die nächsten Verse lauten:
“Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“
Nun gut, wir nehmen das zur Kenntnis. Am Ende des ersten Schöpfungstages haben wir Licht. Es ist ja auch durchaus positiv, wenn der Schöpfer, der offenbar auf Augen angewiesen ist, etwas sehen kann. Da die Elektrizität noch unbekannt ist, da der Mensch noch nicht einmal das Feuer entdeckt hat, um es sich nutzbar zu machen, da noch nicht einmal vom Menschen die Rede ist, müssen wir annehmen, dass das benannte Licht das Licht der Gestirne ist.
Merkwürdig jedoch, dass wir weiter hinten lesen:
“Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf Erden. Und es geschah also. Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.“
Aus diesem Zitat lassen sich mehrere Erkenntnisse ziehen.
Erstens ist der hier sprechende Gott – oder der Mensch, der sich stammelnd göttliche Kompetenz anmaßt – ein “Meister“ der Redundanz, ja, der direkten Wiederholung. Mehrmals scheiden die Lichter Tag und Nacht und sind gleich dreimal an der “Feste des Himmels“ befestigt – auf welche Weise auch immer.
Zweitens steht der Autor dieser Zeilen auf Kriegsfuß mit dem Konjunktiv 6 .
Drittens, und das ist das eigentlich Gravierende, ist dieser Schöpfergott vermutlich ein richtiger Chaot. Merkt er denn nicht, dass er seine Schöpfung dupliziert? Hat er vergessen, dass er erst vor drei Tagen sein “Fiat lux!“ gesprochen hat 7 ? Da es schon tagsüber hell ist, ist die Sonne ein überflüssiges Gestirn, und nachts sollte es nach der Planung des ersten Schöpfungstages eigentlich dunkel sein.
Vielleicht ist der Schöpfer aber einfach nur erschöpft. Muss er sich doch, nach nur sechstägiger Arbeit, bereits am siebenten Tage ausruhen. Auch eine andere Textstelle lässt darauf schließen, dass der Schöpfer nicht im Vollbesitz seiner physischen Kräfte ist:
“Und sie 8 hörten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war.“
Sollte ein Schöpfer in der Blüte seiner Jahre seine Geschöpfe nicht auch in der Mittagshitze besuchen können, anstatt sich wie ein Rentner in der Dämmerung im Park zu ergehen, und noch nicht einmal wissen, wo sich die “Krone“ der von ihm geschaffenen Welt aufhält, sondern fragen muss, wo der Mensch ist? 9

Der Mensch

Der Mensch als Autor einer Schöpfungsgeschichte der Erde – und wir behaupten inzwischen mit hundertprozentiger Sicherheit, nicht nur aus ideologischen Gründen 10 , dass der Mensch Autor des ersten und auch der folgenden Bücher Moses ist, denn ein Schöpfergott würde sich nicht als senilen schonungsbedürftigen Greis darstellen – der Mensch als Autor seiner Schöpfungsgeschichte stellt sich gewiss in den Mittelpunkt, und zwar als positiven Helden. Wir werden untersuchen, ob das zutrifft. Unser Untersuchungsgegenstand ist zunächst der sechste Schöpfungstag.
“Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.
Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.
Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise,
und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das da lebt auf Erden, dass sie allerlei grünes Kraut essen. Und es geschah also. 11

Wir wollen uns nicht ein zweites Mal über Redundanzen, Wiederholungen und grammatische Schwächen mokieren, sondern nehmen nur zur Kenntnis, dass sie in diesem Werk der Fiktion unvermeidlich zu sein scheinen. Konzentrieren wir uns auf die Inhalte. Folgendes ist dabei festzustellen:

  • Der Mensch ist als Ebenbild Gottes konstruiert worden, und zwar zweigeschlechtlich; die Erschaffung von Mann und Frau fand, wenn wir den Text beim Wort nehmen, zeitgleich statt. Die Ebenbildhaftigkeit dürfte kaum rein äußerlich zu verstehen sein, zumal Informationen über die Physiognomie des Schöpfergottes völlig fehlen, vielmehr ist anzunehmen, dass eine Art Seelenverwandtschaft intendiert ist.
  • Der so beschaffene Mensch wird mit einem doppelten Arbeitsauftrag versehen: Er soll über alles tierische Leben auf der Erde herrschen, wobei ein Ziel dieser “Herrschaft“ nicht formuliert wird. Um Domestikation zum Zwecke der Nutztierhaltung kann es nicht gehen, sind doch Menschen wie auch alle Tiere Vegetarier, was übrigens eine sehr positiv zu bewertende Idee ist. An pflanzlicher Nahrung scheint kein Mangel zu bestehen, Raubtiere, die eventuell den Menschen bedrohen, gibt es nicht. Zweckfreie Herrschaft hat keinen Inhalt, erfüllt keinen Zweck, das Bedürfnis danach drückt aber sehr wohl eine Haltung aus, einen Charakterfehler, und wir müssen konstatieren, einen Charakterfehler sowohl dieses hier angeblich sprechenden Gottes als auch des tatsächlich schreibenden Menschen, nämlich schiere Machtgier. Der zweite Teil des Arbeitsauftrages, Bedingung des oben betrachteten, besteht darin, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Letzteres haben, wie Bibel- und Geschichtskenner wissen, nicht nur Adam und Eva, sondern auch die meisten ihrer Nachfahren mit erschreckendem quantitativem Erfolg getan. Allerdings wissen Soziologen und Politologen auch, dass Menschen primär dann unkontrolliert Nachwuchs zeugen, wenn ihre Lebensumstände tierunwürdig 12 sind. Der status quo im beginnenden Jahr 2005 verzeichnet weit über sechs Milliarden Menschen – legt man die biblische Zählung zu Grunde, die die Schöpfung zwischen 4000 und 5000 vor der christlichen Zeitrechnung beginnen lässt, bedeutet das im Schnitt nur knapp 2,2 Kinder von jeder Frau, davon die Hälfte Töchter, die auch das geburtsfähige Alter erreichen und ihrerseits ihre Fortpflanzungspflicht tun – keine sonderlich beachtliche Fertilität, wohl aber eine bedrohliche!
    Aber diese mathematische Geburtenrate 13 setzt wahrhaft paradiesische Zustände voraus, und die sind mitnichten gegeben. Hat der Schöpfer doch der Menschenfrau in seinem Zorn geflucht:
    “du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“ 14
    und dem Menschenmann gedroht:
    “verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.“ 15
    Hinter den “Schmerzen“ und dem “Kummer“ verbergen sich in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag Kindersterblichkeit, Hungersnöte, Epidemien, Genozid und Kriege, häufig miteinander verwoben. Das hat die überlebenden Frauen der Menschheit zu einer weit höheren, mathematisch kaum messbaren Fertilität gezwungen.

So weit, so schlecht. Aber der Ungereimtheiten sind noch nicht genug. Es gibt nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft, im zweiten Kapitel des ersten Buches Mose, einen zweiten Schöpfungsmythos, der nicht das uns sattsam bekannte und letztlich harmlose Kriterium der Redundanz erfüllt, sondern völlig neue Inhalte präsentiert. Dieser Version zufolge hat Gott am siebenten Tage geruht und kommt erst danach auf die Idee, den Menschen zu machen, weil er offenbar gewahr wird, dass es niemanden gibt, der das Land bebauen kann 16. Welch auffälliges Misstrauen des Schöpfers gegenüber der soeben von ihm kreierten Pflanzenwelt! Jeder Wald überall auf der Welt spricht diesem Misstrauen Hohn. Wie dem auch sei, Gott geht, übrigens hier ohne explizit formuliertes Leitziel, ans Werk:

„Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also war der Mensch eine lebendige Seele.“ 17
Wie erfrischend kommt das daher! Eine lebendige Seele begegnet uns, ein fühlendes Wesen, vielleicht gar mit einem Gewissen ausgestattet, denken wir, mit einem Gespür für Falsch und Richtig; aber, wie sich weisen wird, weit gefehlt. Was wir gewiss wissen, ist, dass dieses Geschöpf einsam ist, eine Partnerin ist ihm nicht beigegeben.
Machen wir das Folgende kurz! Der Schöpfergott macht anschießend ein Biotop für sein Menschlein, den Garten Eden, und “setzt“ 18 es hinein. Auch hier geht es nicht ohne Arbeitsauftrag ab:
„Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn baute und bewahrte.“ 19
Respekt, Respekt! Der Gedanke der nachhaltigen Entwicklung anstelle von Herrschaft und Ausbeutung – ich muss gestehen, dass der Schriftstellerkollege, der für diesen Gedanken verantwortlich ist, mir durchaus imponiert.
Der “lebendigen Seele“, dem Menschlein, wird sogleich ein erster Verhaltenskodex gegeben, auf den wir gleich noch eingehen werden. Wichtig ist: Er wird nur dem noch einsamen Mann mitgeteilt. Erst danach, nachdem der Mensch die Aufgabe erledigt hat, allen Tieren, die ihm anscheinend paarweise vorgeführt werden, Namen zu geben, wird festgestellt, dass allein für den Menschen “keine Gehilfin“ 20 vorhanden war. Bereits aus dieser Wortwahl wie auch aus dem folgenden Schöpfungsakt wird die intendierte inferiore Stellung der Menschenfrau ersichtlich:
“Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloss die Stätte zu mit Fleisch.
Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ 21

Da haben wir also die Frau, nach der ersten Version Ebenbild Gottes und gleichzeitig mit dem Mann geschaffen, nach der zweiten Variante lediglich “Gehilfin“, aus dem Körper des Mannes erschaffen. Es wird nicht davon gesprochen, dass auch dieses weibliche Wesen eine “lebendige Seele“ sei. Beiden Frauen ist jedoch eines gemeinsam: Sie wissen nichts von einem göttlichen Verbot – nur der Mann hat dieses vernommen. Es lautet:
“Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten;
aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.“ 22

Schau, schau! Das “Ebenbild Gottes“ soll über keine moralischen Kriterien verfügen! Es wird gar mit dem Tode bedroht, wenn es sich diese erwirbt. Welches egoistische Interesse hat der Schöpfer an diesem Verbot? Die Bibel gibt auf diese Frage keine Antwort, der geneigte Leser denke sich sein Teil.
Die Frau, das Weib, die “Männin“ 23 erfährt jedoch auf nicht bekannte Weise von dem Verbot, wenn auch nur rudimentär, denn sie sagt zur Schlange:
“Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret’s auch nicht an, dass ihr nicht sterbet.“ 24

Interessant, dass der “inferioren“ Frau das Verbot ohne kausale Begründung mitgeteilt worden ist. Interessant auch, dass auf einmal eine “Schlange“ auftaucht. Sie wird beschrieben als “listiger denn alle Tiere auf dem Felde“ 25. Wozu brauchen die Tiere des Schöpfungsberichtes List? Wozu braucht eines gar besonders viel? Wie oben bereits erläutert, herrscht Vegetarismus. List benötigen Tiere zum Täuschen und in Sicherheit wiegen, zum Überwältigen ihrer Beute. Pflanzen allerdings pflegen nicht wegzulaufen, wenn sie gefressen werden sollen. Hat der Schöpfergott die notwendigen intellektuellen Kapazitäten seiner Geschöpfe nicht hinreichend reflektiert? Hat er Tiere mit Fähigkeiten ausgestattet, die sie zu ihrem Leben gar nicht benötigen, und das Leittier, den Menschen, mit Möglichkeiten, die er als Schöpfer nicht realisiert sehen möchte – wie anders ist das Verbot zu erklären?
Wie dem auch sei, mit der Schlange ist das in der Welt, was Theologen “das Böse“ zu nennen pflegen. Aber das “Böse“ obsiegt zu Recht – die Menschenfrau kennt keine Begründung für das göttliche Verbot, die Schlange bietet ihr aber einen sehr plausiblen Grund dafür, es zu brechen:
“Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ 26

O göttliches Weib! Was dem Mann Grund war, das Verbot zu akzeptieren, ist der Frau Grund, es zu brechen. Sie bekam Lust auf die Früchte des Baumes, “weil er klug machte“ 27.
Die Antwort der Bibel auf diesen “Sündenfall“ ist erschreckend peinlich. Angeblich entdeckten Mann und Frau nach dem Verkosten der Erkenntnisfrucht ihre Nacktheit und begannen, sich zu schämen und ihre Blöße mit Feigenblättern zu bedecken. Welch intellektuelles Armutszeugnis, welch literarisches Feigenblatt!
Erklären lässt sich dies nur durch den krampfhaften Versuch der Autoren der Bücher Mose, ihren Gott, der doch im Zentrum des Geschehens stehen soll, positiv darzustellen. Das gelingt nur in Grenzen. Nach unbefriedigender Klärung der “Schuldfrage“ stößt Gott eine Philippika von Verwünschungen und Drohungen aus, die auf seinen Charakter und sein Selbstbewusstsein ein nicht gerade gutes Licht werfen. Bevor die beiden “Sünder“ aus dem “Garten Eden“ geworfen werden, gibt es immerhin eine göttliche Geste guten Willens – offenbar ist dem Schöpfer an der Weiterexistenz seiner Kreaturen, die nun unter widrigen Umständen leben müssen, gelegen:
“Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie.“ 28
Wahrlich nett, wenn man bedenkt, dass “Gott der Herr“ zuvor der Frau Schmerzen, sexuelles Verlangen und Unterordnung unter den Mann, dem Mann schwere körperliche Arbeit, Mangel und Tod “versprochen“ hat. Der Eindruck, dass dieser Gott erratisch handelt und nicht weiß, was er tut, verdichtet sich immer mehr. Allerdings erhärtet sich auch, dass dieser Gott Geschöpfe braucht, weil er sich sonst seiner selbst nicht vergewissern kann.
Kommen wir zum Schluss. Dieser eifersüchtige Gott, der seine Kreatur unterschätzt hat, kennt zumindest am Anfang der menschlichen Existenz noch Mittel und Wege, einen knappen Vorsprung zu behalten:
“Und Gott der Herr sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!
Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden…“ 29

Wir stellen fest, dass es dem Menschen, dem Verfasser oder den Verfassern der ersten Kapitel des Alten Testaments, nicht nur nicht gelingt, seinen Gott positiv darzustellen, sondern auch sich selbst nicht. Vielleicht ist letzteres Absicht: Nur wer fehlerhaft ist, braucht einen Gott, der strafen kann. Aber immerhin – der Mensch behält sich einen Joker vor – die göttlich formulierte Möglichkeit des ewigen Lebens. 30
Wie dem auch sei mit der Schöpfung: Wir 31 sind alle draußen aus dem Paradies. Schön ist es hier nicht. Aber war es das im “Garten Eden“, schön, widerspruchsfrei, logisch, berechenbar? Für Menschenfrauen und Schlangen jedenfalls nicht. Vielleicht für Menschenmänner. Die benehmen sich, was Logik und Rationalität angeht, auch hier draußen bis zum heutigen Tag wie Gott der Herr bei der Schöpfung.

Schlußwort: Ich danke – wie immer – meiner Sekretärin!


Fußnoten: Wenn Sie den Cursor für einen kleinen Moment über der Fußnote stehen lassen, erscheint der Text in einem Extra-Fenster. Zurück!

Ausbeutung

Einige Bemerkungen zur Entwicklung der Ausbeutung vor unserer Zeitrechnung

von P. D. Kulle

Kulle

Inhalt

 

  1. Persönliche Vorbemerkung
  2. Der Begriff der Ausbeutung
  3. Die Klassengesellschaft
  4. Entstehung
  5. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
  6. Die Sklavenhaltergesellschaft
  7. Intellektueller Reflex
  8. Conclusio
  9. Persönliche Nachbemerkung

I. Persönliche Vorbemerkung

Wir, also ich und meine Sekretärin, werden uns bemühen, meine Forschungsergebnisse in Bezug auf menschliches Verhalten in gewohnt prägnanter und präziser Weise zu Papier zu bringen, obwohl der Verfasser unter einer tiefen Depression leidet. Dieser Gemütszustand resultiert aus der Erkenntnis, dass vermutlich1 Ausbeutung keine notwendige, sondern eine Glück2 retardierende Bedingung menschlichen Zusammenlebens ist und dass Alternativen zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen existieren, dass das Wissen darum in der Geschichte dieser Spezies aber immer nur kurzfristig aufblitzte und gegenwärtig praktisch nonexistent ist.
Diese Depression hat auch zur Folge, dass wir uns trotz großer Bedenken entschlossen haben, den Gegenstandsbereich unserer Untersuchungen mit Rücksicht auf unsere begrenzten Kräfte unzulässig einzuengen und auf Europa und dessen näheres Umfeld zu beschränken3. Dagegen betrachten wir es als legitim, unsere Forschungen auf den Zeitraum zu beschränken, den meine abendländischen menschlichern Historikerkollegen gemeinhin als „vor Christus“ bezeichnen. In den für unser Thema relevanten annähernd drei Jahrtausenden vor der Hinrichtung jenes Handwerkersohnes, der nicht zuletzt deshalb sterben musste, weil ihm Besitz und Kirchenfrömmigkeit verabscheuenswürdig waren, ist alles Entscheidende geschehen. Unserem psychischen Zustand ist die Tragödie gemäß, nicht die Farce.4

II. Der Begriff der Ausbeutung

Trotz meiner hohen Wertschätzung für die Forschungsergebnisse des Kollegen Marx definiere ich „Ausbeutung“ nicht als Resultat eines Prozesses, der die private Aneignung der materiellen Differenz von Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft beinhaltet, sondern als Aneignung der Arbeitsergebnisse anderer qua materieller Macht.5

III. Die Klassengesellschaft
a. Entstehung

Die Klassenspaltung einer Gesellschaft ist nur möglich in einer sogenannten Hochkultur.6 Ihre Teilung in Besitzende und Nichtbesitzende ist sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung der Ausbeutung, macht sie doch die Nichtbesitzenden davon abhängig, dass die Besitzenden ihrer bedürfen.7
In Stadtstaaten wie Ur, Uruk, Lagasch, Nippur und Kisch in Mesopotamien verzeichnen wir bereits im Jahr 2733 vor „unserer“ – i.e. der menschlichen – Zeitrechnung8 erstes Privateigentum9. 62 Jahre später ist im gesamten Zweistromland alles noch existierende Gemeineigentum privatisiert.
In Ägypten ist eine parallele Entwicklung nur wenig später zu beobachten: 2606 tritt Privateigentum an Grund und Boden an die Stelle des bisherigen „allen gemeinsamen Königsgutes“. In späteren Überlieferungen, z. B. aus Israel oder Griechenland, ist von Gemeineigentum schon gar nicht mehr die Rede.
Eigentumsverhältnisse erfordern juristische Verhältnisse, die ihnen entsprechen – es ist also nur logisch, dass weitere 50 Jahre danach, 2621, das Privateigentum in Mesopotamien für unantastbar und heilig10 erklärt wird.
Von solchen Entwicklungen profitieren Großgrundbesitzer, Händler, das Priestertum und das Königshaus – in der Regel in Personalunion.11 Da wir unsere Leser nicht unterfordern wollen, ersparen wir uns zu erklären, wer darunter leidet.

b. Maßnahmen zu ihrem Erhalt
In einer sozial gespaltenen Gesellschaft ist Appeasementpolitik notwendig. So werden zum Zwecke des Verbraucherschutzes z. B. in Mesopotamien 2580 für Kupfer, Wolle, Korn und Öl Höchstpreise festgesetzt, 2379 wird ein Höchstzins festgelegt – 20% für Silber, 33% für Waren -; und 2365 werden die Begräbniskosten um 80% gesenkt. In Athen sorgt Solon um 550 für einen allgemeinen Schuldenerlass, durch den viele Bauern aus Schuldknechtschaft und Hörigkeit befreit werden.12
Die folgenden Beispiele zeigen jedoch, dass die herrschende Klasse keinen Spaß kennt, wenn es nicht nur um Peanuts,13 sondern um ihr Eigentum geht: König Agias von Sparta wird 240 wegen seiner radikalen Bodenreformen von den Ephoren erwürgt; Tiberius Gracchus wird 133 mit 200 Anhängern ermordet, weil er mit einer Bodenreform versuchte, die verarmte und entrechtete Landbevölkerung wieder zum Träger des Staates zu machen. Ähnlich liegt der Fall des Katilina, der als Politiker Bodenreform und Schuldenerlass anstrebte, bei Wahlen unterlag, den Aufstand probte und 62 mit seinen Verbündeten dabei ums Leben kam. Die Liste ist verlängerbar.
Auch benötigt eine solche Gesellschaft ein Straf- und Zivilrecht, das von den herrschenden Rechts- und Besitzverhältnissen ausgeht und bei den Beherrschten nicht etwa ketzerische Gedanken aufkommen lässt wie Konnotationen von Eigentum und Diebstahl.14 Dergleichen besorgte schon frühzeitig bekanntermaßen Hammurabi (1760 – 1686), Kaiser von Assyrien, aber vor ihm vermutlich viele andere Herrscher. Ähnlich wie Uru-Kagina15 2363 publizierte er seine Gesetze nicht als Produkte menschlichen Willens, sondern als göttliches Gebot, um ihnen mehr Gewicht zu verschaffen.16

IV. Die Sklavenhaltergesellschaft

Die Einführung der Sklaverei in einer Klassengesellschaft ist der zweite Schritt zum Untergang des Gemeinwesens, besagt sie doch, dass die Besitzenden der „freien“ Nichtbesitzenden nicht mehr bzw. immer weniger bedürfen. Sklaverei stellt also Sprengstoff im doppelten Sinne dar: Sie vertieft die soziale Spaltung der Gesellschaft, und die hohe Zahl der Sklaven mit ihrem Potenzial zum Widerstand bedroht die Gesellschaft insgesamt.
Sklaverei entwickelt sich in der Antike schnell – so umfasst die Mitgift der Mitanni-Prinzession Gilu in Mesopotamien im Jahre 1403 317 Sklavinnen17. Wenige Jahrhunderte später ist der Zerfall der Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten; er ist bedingt durch das schnelle Anwachsen der Zahl der Sklaven.18
Eine nur geringe Rolle spielt die Sklaverei in Ägypten und Israel, obwohl wir uns des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Geschichtsschreibung die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse nicht immer zureichend wiedergibt. Während zum Beispiel israelitische Überlieferungen19 voll sind mit Schilderungen von der qualvollen „Babylonischen Gefangenschaft“ des jüdischen Volkes, wird der Tatsache, dass eben diese Gefangenen, 42000 Köpfe stark, bei ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft im Jahre 537 7500 eigene Sklaven mitbrachten, in der Regel höchstens eine Fußnote gewidmet.
Eindeutig gravierend stellt sich das Problem der Sklaverei in Griechenland dar. Die Bedeutung der Sklavenfrage lässt sich unter anderem an wiederholten Bemühungen zu ihrer Lösung erkennen, vorrangig an den Versuchen, die Zahl der Sklaven zu begrenzen. So wird bereits 588 in Korinth die Anschaffung von weiteren Sklaven verboten, und 509 erhalten in Athen zahlreiche Sklaven Freiheit und Bürgerrecht. Diese Maßnahmen vermögen jedoch nicht zu verhindern, dass 450 in Korinth die Zahl der Sklaven die der freien Bürger übersteigt. 377 kommen in Athen zehn Sklaven auf einen Bürger.
Angesichts dieser Zahlen löst es Erstaunen aus, dass die Sklaverei keine Erosion der griechischen Poleis20 bewirkt hat. Die Annalen verzeichnen lediglich einen erfolglosen Sklavenaufstand (494) und die Flucht von 20000 Sklaven aus Athen (413). Erlaubt sei jedoch die Vermutung, dass der der griechischen Gesellschaft inhärente Sprengstoff sehr wohl explodiert wäre, wenn nicht ein Dritter vorher die Zerstörung übernommen hätte: das Römische Imperium.
Obwohl erst im Jahre 140 die Zahl der Sklaven die der Freien im Römischen Reich übersteigt, kommt es lange vorher zu Sklavenerhebungen. Schon 419 scheitert in Rom ein Sklavenaufstand; 198-196 vereinigen sich Sklaven in mehreren Teilen Italiens (Latium, Etrurien) zu aussichtslosen Freiheitskämpfen, 185 wird eine Erhebung in Apulien niedergeschlagen. Sucht man nach Gründen für dieses verzweifelte Aufbegehren einer schlecht ausgerüsteten Minderheit, so empfiehlt sich ein Blick in eines der Werke Catos des Älteren (234 – 149), „Über den Landbau“. Darin gibt er Ratschläge für Gutsherren und empfiehlt die rücksichtslose Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als wichtige Voraussetzung für Rentabilität.
Ernster wird der Fortbestand des römischen Staates zwischen 136 und 71 gefährdet. Wiederholt erschüttern Aufstände das Reich, nicht nur im italischen Kernland, sondern auch in den Kolonien, und die Aufständischen sind nicht nur Sklaven, sondern auch Proletarier, die sich zu Hunderttausenden vereinen und zum Teil jahrelang große Gebiete kontrollieren. Angesichts exzessiven Großgrundbesitzes und in Anbetracht riesiger Mengen importierten Getreides aus den Kolonien zum Nulltarif bleibt der Plebs ebenso wie den Sklaven nichts anderes als die Vision einer anderen Gemeinschaft. Aber eben daran, an der mangelnden Vision, scheitern diese Erhebungen; eben deshalb ist es den römischen Heeren möglich, selbst einen Aufstand wie den des Spartakus ohne Probleme zu beenden.21

V. Intellektueller Reflex

„Die Vornehmen sind voll Klagen und die Geringen voll Freude. Gold und Lapislazuli sind um den Hals der Sklavinnen gehängt und die einstigen Herren verrichten niederste Sklavenarbeit. Der Reiche schläft durstig, und wer ihn sonst um die Neige bat, trinkt jetzt starkes Bier. Diejenigen, die früher Gewänder besaßen, sind jetzt in Lumpen, die Armen aber besitzen Herrliches. Jede Stadt sagt: Lasst uns die Mächtigen aus unsrer Mitte vertreiben. Alles dreht sich wie eine Töpferscheibe.(Ipuwer , 2273 – 2188)

Revolutionäre Werke wie das des ägyptischen Dichters Ipuwer sind selten. Wesentlich häufiger sind Klagen über die herrschenden Zustände.22 Diesen Texten ist jedoch gemeinsam, dass sie Werke der Literatur sind.
Dichter bzw. Schriftsteller als Gesellschaftskritiker sind ebenso für das ägyptische Reich wie auch für das frühe Griechenland typisch. Wir erwähnen hier nur Hesiod (753 – 680), der als erster Dichter Griechenlands die bedrückte Lage der verarmten Bauernschaft thematisiert, Archilochos (705 – 637), Sohn eines Sklaven, der die Klassenteilung der Gesellschaft anklagt und – welch kühner Gedanke – die Forderung nach freier Entfaltung der Persönlichkeit erhebt, und schließlich Äsop (636 – 564), der sich in zahlreichen Fabeln für die Rechte der Armen einsetzt.23
In den griechischen Stadtstaaten werden die gesellschaftskritischen Dichter bald von anderen Intellektuellen abgelöst: den Philosophen. Anthistenes, Phaleas, Plato, Diogenes, Zeno, Euhemeros, Dikäarch und Chrysipp – welche eine illustre Reihe von Denkern vom 5. bis zum 3. Jahrhundert, welche eine Fülle von Ideen! Da stellt Dikäarch fest, dass die Existenz von Privateigentum einen Abfall vom Naturgesetz bedeute, und Plato kommt zu dem Schluss, Klassengegensätze und Privatbesitz seien die Ursachen für die Fehler einzelner wie auch der Gemeinschaft. Besitz und Genuss, ergänzt Anthistenes, seien die Hauptübel der Menschheit. Aus der Kritik erwachsen produktive Forderungen: Notwendig seien die Veränderung der Besitzverhältnisse (Phaleas) und Gütergemeinschaft (Diogenes). Ob das neue Gemeinwesen nun die Form eines Inselparadieses (Euhemeros) oder eines Weltreiches (Zeno, Chrysipp) annehmen soll – kommunistische Eigentumsverhältnisse und selbst-bewusste Menschen24 sind allen Utopien gemeinsam.25
Eine völlig andere Quelle der Gesellschaftskritik finden wir in Israel vor. Ahia, Elias, Elisa, Amos, Jesaja, Hesekiel – hier sind es die Propheten, die sich gegen die Reichen aussprechen und für die Rechte der Armen eintreten. Natürlich haben die oben Genannten einen deutlich engeren Denkhorizont als die griechischen Philosophen, die, wie z. B. Euphemeros, Götter als idealisierte Menschengestalten deuten. Die Propheten sind gefangen in der Überzeugung, einem Gott zu dienen, der exklusiv ein Volk, nämlich das, dem sie angehören, als das seine auserwählt hat, und betrachten es als ihre Aufgabe, dem Volk und dessen Herrschern den Willen dieses Gottes kundzutun. So verkündet etwa Amos (802 – 745), Jahwe sei der Herr der Welt und das Volk Israel dazu berufen, seine Herrschaft über die Erde zu verbreiten. Gleichzeitig tritt er für die Rechte der Armen ein – ein wenig einleuchtendes Doppelziel.26
Dichter, Philosophen, Propheten – vertreten sind damit Ästhetik, Ethik und Religion. Nota bene – Jahrhunderte lang, Jahrtausende lang treten die intelligentesten Vertreter der Menschheit27 einer unsinnigen Ökonomie auf Ebenen entgegen, die mit ihr nichts, aber auch gar nichts zu tun haben! Der Versuch, Ausbeutern ihr Verhalten mit der Vorhaltung der Menschenrechte auszutreiben, ist eher zum Scheitern verurteilt als Don Quichottes Kampf gegen die bekannten Windmühlenflügel. Nur eine korrekte wirtschaftswissenschaftliche Argumentation könnte hier Erfolg haben.28

Kulle

VI. Conclusio

Wir müssen zugegeben, dass wir die Unfähigkeit menschlicher Kritik nicht beweisen wollten, weil wir sie am Beginn dieser Arbeit noch nicht ins Kalkül gezogen haben, dass wir sie aber leider wissenschaftlich korrekt beweisen mussten. Also doch: QED.

VII. Persönliche Nachbemerkung

 

  1. Der Verfasser leidet immer noch unter Depressionen und zusätzlich unter Übelkeit.
  2. Ich danke dem Kollegen Peters für die Zurverfügungstellung29 etlicher Daten und Zusammenhänge.
  3. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

 


Fußnoten:

1 Diese Vermutungen beziehen sich selbstverständlich auf Menschen. Wir müssen zugeben, dass die menschliche Psychobiologie sich dem bärischen Verständnis weitgehend verschließt. Allerdings sind wir Bären in Hinblick auf unsere eigene mentale Gesundheit für dieses Faktum auch äußerst dankbar.

2 Selbstverständlich ist das bärische Interesse an menschlichem Glück marginal. Allerdings vermögen wir uns sehr gut vorzustellen, dass glückliche Menschen nicht auf die Idee verfallen, Bären zu jagen und zu töten, weil es ihnen Spaß macht.

3 Eine europazentrierte Sicht auf die Weltläufte ist zwar prinzipiell zulässig, sollte jedoch tunlichst unterlassen werden – die Kolonialgeschichte zeigt, wozu dergleichen führt!

4 Vgl. dazu meinen geschätzten Kollegen Karl Marx.

5 Mittels der Marx’schen Definition sind z. B. weder die ökonomischen Verhältnisse in der Sklavenhaltergesellschaft noch zahlreiche Erscheinungen der automatisierten Produktion und die Profitmaximierung im tertiären und quartären Sektor moderner Industriegesellschaften erklärbar. Genauere Erläuterungen hierzu müssen einer späteren wissenschaftlichen Arbeit vorbehalten bleiben.

6 Der Begriff der „Hochkultur“ bezieht sich ausschließlich auf von Menschen organisierte Gesellschaften. Er beschreibt ökonomische Beziehungen des ungleichen Austausches, bei denen der wertmäßig geringere Teil (z. B. Zauberheilung) als der wertmäßig/ideologisch höhere betrachtet und höher bewertet wird als zum Beispiel die Nahrungsmittelproduktion.

7 Dieses Abhängigkeitsverhältnis existiert natürlich auch vice versa, wird als solches in der Regel jedoch nicht wahrgenommen.

8 Im Folgenden werden wir in der Regel auf den Zusatz „vor unserer Zeitrechnung“ verzichten, wenn er selbstverständlich ist.

9 Mit Privateigentum ist hier selbstredend Privateigentum an Ressourcen gemeint, dessen Nutzung der Allgemeinheit dienlich sein könnte, also im weitesten Sinne an Produktionsmitteln, nicht privater Besitz.

10 Wir werden auch im Folgenden wiederholt feststellen, dass juristische und politische, also weltliche Belange religiöse Formen annehmen, und dergleichen ist auch im beginnenden 21.
Jahrhundert die Regel und mitnichten die Ausnahme. Wir überlassen es dem intelligenten Leser, nach geeigneten aktuellen Beispielen zu suchen.

11 So entsteht z. B. 2443 in Ägypten Großgrundbesitz. König Lugal-Anda von Lagasch (2449 – 2367), selbst Großgrundbesitzer und Großhändler, bedient sich der Priesterschaft, um die Bevölkerung effektiver ausbeuten zu können.

12 Parallelen zu aktuellen Formen moderner Sozialpolitik sind selbstredend nicht gegeben – schließlich gehört die freie Preisbildung zu den Grundpfeilern der Marktwirtschaft. (Ich glaube, der Chef meint das ironisch. Die Sekretärin)

13 vgl. den Flick-Bestechungsskandal

14 Vgl. Baboeuf (viel später)

15 2422 – 2360 König in Lagasch

16 vgl. Anmerkung 7

17 Tatsächlich spricht die uns vorliegende Quelle nur von weiblichen Sklaven. Der Prinzessin – wie auch unserer Fantasie – hätte es sicherlich besser gefallen, wenn auch männliche Sklaven zur Mitgift gehört hätten.

18 Dieses ursächliche Phänomen des Gesellschaftszerfalls wird uns auch im Folgenden noch begegnen. In Mesopotamien ist es unter dem Kaiser Asurbanipal zu beobachten, dessen übrigens lobenswerte bildungspolitische Anstrengungen – er veranlasste die erste planmäßig angelegte Bibliothek der Welt – die soziale Erosion seines Reiches nicht verhindern konnten.

19 Einschließlich des Alten Testaments

20 Das ist kein Tippfehler, sondern der Plural von Polis. Die Sekretärin.

21 Man könnte es allerdings als Problem bezeichnen, dass die Via Appia von Süditalien bis nach Rom danach im Abstand von 50 Metern von Gekreuzigten gesäumt war.

22 Vgl. Chun-Anup (2185 – 2123), Klage eines Bauern

23 Die wissenschaftliche Redlichkeit erheischt es leider, zumindest in einer Fußnote Tyrtaios (686 – 613) und Alkaios (639 – 562) zu erwähnen, die die Adelsherrschaft preisen und sich gegen jede Beteiligung des Volkes an der Regierung aussprechen.

24 Wir würden an dieser Stelle den Begriff der „allseits entwickelten Persönlichkeit“ verwenden, wenn er nicht durch den selbst ernannten „real existierenden Sozialismus“ bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden wäre.

25 In seiner Begeisterung hat der Chef bei diesem Absatz die sonst gewohnte historische Korrektheit mitunter vermissen lassen. Die Sekretärin.

26 An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob Schizophrenie nicht eine notwendige Voraussetzung für die Dienstpostenbeschreibung eines Propheten ist.

27 Selbstverständlich gibt es dabei mehr als graduelle Unterschiede, vgl. z. B. Anmerkung 26.

28 An diesem Sachverhalt hat sich bis heute kaum etwas geändert. Der geschätzte Kollege Marx hat sich zwar bemüht, ökonomischen Entwicklungen mit ökonomischen Argumenten zu begegnen, er hat sich aber leider a) immer wieder von diesem Gegenstand ablenken lassen und ist b) zu früh gestorben.

29 Dem Chef muss es wirklich schlecht gehen – er lässt sich auch mit den besten Argumenten nicht davon abbringen, dieses Wortungetüm zu benutzen. Die Sekretärin.

Kulles Kanzler-Interview

Kulles Kanzler-Interview

1

Kulle
Kulle:
Guten Morgen, Herr Kanzler. Haben Sie gut geschlafen?
Kanzler:
Danke, ausgezeichnet.
Kulle:
Das wundert mich. Denn die Gewinneinkommen sind in den vergangenen sechs Jahren um netto 44 Prozent gestiegen, und die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung netto um 3 Prozent. Der hohen Staatsverschuldung auf der einen Seite steht eine ungeheure Anhäufung der privaten Geldvermögen gegenüber. 30 Prozent des Geldvermögens waren 1996 auf drei Prozent der privaten Haushalte konzentriert. Und das läßt einen sozialdemokratischen Kanzler ruhig schlafen? „Kulles Kanzler-Interview“ weiterlesen

Der Mensch

Der Mensch

PD Kulle

von P. D. Kulle

  1. Annäherung an den Gegenstand
    1. Das Tier
    2. Der Raub
    3. Das Raubtier
  2. Der Mensch
    1. Die allgemeine biologische Natur des Menschen
    2. Der Raubtiercharakter des Menschen
    3. Die Bewusstheit des Menschen
  3. Conclusio
  4. Das Übliche

1. Annäherung an den Gegenstand

Wir gehen von der Hypothese aus, dass es sich beim Menschen um ein Tier handelt, obwohl dieser Tatbestand häufig von Angehörigen dieser Spezies geleugnet wird. Wir werden sehen.

1a.  Das Tier

Tiere sind Lebewesen, die sich heterotroph ernähren, also Konsumenten sind. Sie benötigen pflanzliche oder tierische Nahrung oder eine Mischung aus beidem. Die meisten Tiere sind frei beweglich, alle sind mit Sinnesorganen und einem Nervensystem ausgestattet. Grundmodul von Tieren ist die Zelle mit einer sehr dünnen Zellmembran. Tiere haben eine recht kompakte Form mit reich gegliederten inneren Hohlräumen, in denen der Stoffaustausch mit der Umgebung überwiegend stattfindet. Wegen des niedrigen Zelldrucks bilden Tiere Stützorgane in Form von Außen-, Innen- oder Hydroskeletten aus. Es gibt viele Arten, und die Anpassungsfähigkeit von Tieren ist hoch; so wurde auch die Besiedelung extremer Lebensräume möglich. Dazu trägt auch die zum Teil hoch entwickelte Brutpflege bei. – Nach sehr grober Schätzung sind 500 Millionen Arten von Tieren bisher ausgestorben.1 Der von den Menschen erfundene wissenschaftliche Name für die Tierkunde lautet „Zoologie“ und ist aus dem Griechischen abgeleitet.2 Die ebenfalls von den Menschen praktizierte Tier- oder Veterinärmedizin hat ihre Ursprünge im Altertum; entsprechende Papyri aus Ägypten sind überliefert. Diese auf die Heilung von Krankheiten gerichtete Wissenschaft konzentriert ihre Kräfte überwiegend auf Haus-, Nutz-, Versuchs-, Laboratoriums- und Zootiere; in freier Wildbahn lebende Tiere werden von ihr kaum beachtet.

1b.  Der Raub

Raub ist definiert als ein Diebstahl, bei dem die Wegnahme unter Androhung von Gewalt gegen eine Person oder unter Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erfolgt.3 Raub wird – unter Menschen – mit Freiheitsstrafe oder mit Körperstrafen bis hin zur Verstümmelung bestraft.

1c. Das Raubtier

Logisch geschlussfolgert, müsste ein Raubtier ein heterotrophes Lebewesen sein, das anderen heterotrophen oder autotrophen Lebewesen gewaltsam unter Drohungen etwas wegnimmt und dafür bestraft wird. Weit gefehlt! Raubtiere (Karnivoren) sind – Säugetiere! So definieren jedenfalls die Menschen diesen Begriff. Sie zählen etwa 250 Arten solcher Tiere, die tag- oder nachtaktiv sein können und in allen Lebensräumen vorkommen. Gemeinsam ist den Raubtieren ein Gebiss mit stark entwickelten Eckzähnen und meist scharfen Reißzähnen, das bei den meisten dem Töten und Aufreißen größerer Säugetiere dient. Allerdings gibt es auch Allesfresser, wie z. B. Braunbären und Grizzlies4, überwiegende oder fakultative Aasfresser (beispielsweise Schakale und Hyänen) und Pflanzenfresser wie den Bambusbären. Es sei die Bemerkung erlaubt, dass uns diese Klassifizierung als nicht überzeugend erscheint. Wo bleiben die Krebsszelle, der Alligator, der Hai? Aber sehen wir weiter! Genauere Studien ergeben, dass die menschliche Logik räuberisches Verhalten auch jenseits der Säugetiere entdeckt hat, wenn deren Protagonisten auch offenbar nicht wert sind, den Namen „Tier“ zu tragen. So sind Raubameisen bekannt, die Larven und Puppen aus fremden Nestern rauben und die daraus schlüpfenden Tiere als Sklaven für sich arbeiten lassen.5 Auch gibt es – in alphabetischer Reihenfolge – Raubbeutler, Raubfische, Raubfliegen, Raubmöwen, Raubspinnen, Raubvögel, Raubspinnen, Raubwanzen und den Raubwürger, einen Singvogel.

2. Der Mensch

Aufgrund der bisherigen Forschungen ist eine genaue Klassifikation des Menschen ein Kinderspiel. Pikant dabei ist, dass alle folgenden Schlussfolgerungen aufgrund menschlicher Aussagen gezogen werden können.

2a. Die allgemeine biologische Natur des Menschen

Zweifellos sind Menschen heterotrophe Lebenwesen, auf die alle weiteren oben genannten Merkmale zutreffen. Ebenso zweifellos ist der Mensch ein Säugetier, das lebende Junge zur Welt bringt und eine ausgiebige Brutpflege praktiziert. Selbst Menschen geben hin und wieder ihre Tiernatur zu, wenn auch nur widerwillig.6 Diejenigen, die das nicht tun, sind entweder dumm, also religiös verblendet7, oder formal ungebildet.8 Menschen sind überwiegend tagaktiv, können aber auch nachtaktiv sein.9 Das menschliche Gebiss hat sich zwar zurückgebildet, weil die Menschen Mechanismen der Nahrungsaufbereitung entwickelt haben, die ein Reißen mit den Zähnen weitgehend überflüssig machen. Der Mensch besetzt, aktuell und unter Hinterlassung seiner Artefakte, Lebensräume, die andere (Säuge-)Tiere aus gutem Grund meiden. Kein Pinguin besaß jemals die Unvernunft10, am Südpol eine Pinguinfahne zu errichten, und nur der Yeti11 mag ab und an Spaß daran haben, auf dem Mount Everest in den Überbleibseln zahlloser Trekking-Mahlzeiten zu stöbern.

2b. Der Raubtiercharakter des Menschen

Der Raubtiercharakter des Menschen kommt in der Gegenwart direkt nur noch bei sogenannten Kriminellen oder in (Hollywood-)Filmen unmittelbar zum Ausdruck. Der „Böse“ wird, sofern man seiner habhaft wird, aus dem gesellschaftlichen Verkehr gezogen; im Film stirbt er entweder eines spektakulären Todes, oder er entkommt, da er als Bösewicht für eine weitere kassenträchtige Filmfolge benötigt wird. Bei Jägern und Anglern ist das Raubtierverhalten bereits verdeckt, da das Beuteschlagen mittels Maschinen vollzogen wird, die die unmittelbare Beziehung zwischen Jäger und Opfer verdecken, da der Jäger nur noch in den seltensten Fällen selbst das Opfer konsumiert12 und da der Jäger erfolgreich Vorwände für sein Handeln konstruiert, indem er die Jagd z. B. als „Hege“ ausgibt13. Für den „normalen“ Bewohner eines industrialisierten Landes14 spielt die Jagd keine Rolle mehr. Seine Milch, seine Eier, seinen Käse kauft er im Supermarkt oder, als bewusster Verbraucher, im Bioladen. Er ist sich der Tatsache nicht bewusst, dass er Raub begeht, Raub an Kühen, Hühnern, Schafen und Ziegen. Wie sollte er auch: Die genannten Tiere sind in seinen Augen keine „Personen“, denen allein etwas gestohlen werden kann, und in seinem Alltagsleben begreift er sich nicht als Tier.15 Bei den genannten Beispielen handelt es sich „nur“ um Raub, bei den folgenden jedoch um Mord: Huhn, Ente, Gans, Kotelett, Rippchen, Bauchfleisch, Nackenbraten, Beinscheibe, Markknochen, Gulasch, Steak – alles ist Fleisch von Zuchttieren, von Tieren, überwiegend unter untierischen Lebensbedingungen zu einem einzigen Zweck am (kurzen) Leben erhalten: um getötet zu werden, um Fleisch zu liefern.16 Um die zarte Seele des Verbrauchers nicht zu belästigen, liegen diese Fleischfabriken aus gutem Grund abseits von Ballungsräumen.

2c. Die Bewusstheit des Menschen

Der Mensch weiß nichts von sich selbst.

3. Conclusio

Q. E. D.

4. Das Übliche

Da diese Arbeit etwas länger geworden ist, danke ich, wie immer, meiner Sekretärin, und zum wiederholten Male aufrichtig.

 

Noch ein Kulle!

Fußnoten:

1 Dieser Tatbestand gibt mehr Anlass zur Hoffnung als zur Besorgnis.

2 Man beachte die nahe Verwandtschaft zum Wort „Zoo“. Für Menschen scheint der Begriff „Tier“ eng mit „Gefangenschaft“ und „Voyeurismus“ konnotiert zu sein.

3 Nota bene: Dies ist eine menschengemachte Interpretation. Unter „Person“ wird daher immer und ausschließlich ein Mensch verstanden. Wir weisen diese unzulässige Einschränkung auf das Schärfste zurück!

4 Der Autor bekennt sich zu dieser Gruppe.

5 Möglicherweise wurde den Raubameisen die Bezeichnung“ Raubtier“ verweigert, weil ihre Strategie das Tier Mensch zu stark an eigenes Verhalten erinnert?

6 So heißt es in „Meyers Taschenlexikon“: „Aus unabweisbaren morphologischen, anatomischen, serologischen, psychologischen, selbst soziologischen Gründen (sic!) muss (sic!) eine Verwandtschaft zwischen Mensch und Menschenaffen vertreten werden.“

7 Dazu muss ich mich nicht weitergehend äußern. Mein geschätzter Kollege Ludwig Feuerbach hat dazu bereits alles gesagt.

8 Dieser Menschengruppe werfe ich ihre Ignoranz nicht vor, da ihr Status in der Regel das Resultat direkter physischer oder sozialer Gewalt ihrer Artgenossen ist.

9 Unter Zwang arbeiten sie nachts, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, im Schichtdienst; freiwillig gehen sie zur gleichen Tageszeit z. B. in die Disco, damit andere, die dort Schichtdienst leisten, ihren Lebensunterhalt verdienen können.

10 Menschen würden statt „Unvernunft“ „Ehrgeiz“ sagen.

11 Wissenschaftlich ist sein Vorkommen noch ungesichert.

12 Man betrachte z. B. die Arbeiter auf industriellen Fischfangschiffen.

13 Damit kaschiert er natürlich nur sein ökologisches früheres Fehlverhalten, als er die natürlichen Feinde z. B. des Rotwildes ausrottete.

14 Die wenigsten menschlichen Bewohner der Welt sind „normale Bürger eines industrialisierten Landes“, aber alle möchten es sein, zumindest dann, wenn sie bereits von der Existenz industrialisierter Länder erfahren haben. Sie wissen jedoch nicht, dass die von ihnen angestrebte Lebensweise ein optionales Gut ist – aber das ist schon wieder Gegenstand einer anderen Untersuchung.

15 Soweit zum „guten“ Vegetarier.

16 Weiterführende Literatur: Jeremy Rifkin, Das Imperium der Rinder.

Kulles Bildung

Gebildeter Kulle
  1. Um einem Begriff gerecht zu werden, empfieht es sich immer, einen Blick auf seinen etymologischen Werdegang zu werfen.
  2. Bil(d)
  3. Aus dem Germanischen ist der Wortstamm bil- bekannt, für den allerdings eine sichere Erklärung fehlt. Ausgangsbedeutungen wie: Zeichen, Sinnbild, Vorzeichen, angemessen, gerecht, trennen, unterscheiden, beurteilen, deuten, spalten, hauen erscheinen als wahrscheinlich. Gleichgültig, ob es sich um Nomen, Adjektiv oder Verb handelt: Alle Begriffe signalisieren Signifikanz, sind gerichtet auf die klare Heraustrennung eines Gegenstandes oder Bereiches aus der Diffusität der Welt.
  4. Einen Zusammenhang des Begriffs ’Bildung’ mit ’Bilanz’ schließen wir, die Wortentwicklung betrachtend, weitgehend aus. Semantisch allerdings sind durchaus Koinzidenzen zu beobachten, bedeutet ’Bilanz’ doch: vergleichende Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben. Bildungsprozesse bzw. deren Ergebnis lassen sich durchaus in den Kategorien von Input und Output bewerten. Dagegen hat der ’Bilch’, vulgo bekannt als Haselmaus oder Siebenschläfer, definitiv nichts mit Bildung zu tun, sondern bestenfalls, und auch dass nur in den Kategorien des Aberglaubens, mit mehr oder minder verregneten Sommern.
  5. Das Verb ’bilden’ dagegen hilft uns sehr viel weiter. Seine heutigen Bedeutungen, nämlich formen, gestalten, hervorbringen, darstellen, sein, erziehen, die geistigen Anlagen entwickeln, hatte es zum Teil bereits im 9. Jahrhundert.
  6. Die altenglischen und altsächsischen Bedeutungen des Wortes, nämlich Gemach zum Weben, Frauengemach unter der Erde sind völlig verloren gegangen.
  7. Geblieben und verbreitet sind die Bedeutungen Mist, Dünger.
  8. Folgerung: Bildung bedeutet, einen Gegenstand betrachtend zu isolieren und auf einem Misthaufen abzuladen.
  9. QED.
  10. Frage für künftige wissenschaftliche Untersuchungen: Warum beschweren sich Bildungspolitiker über die Ergebnisse der Pisa-Studie?

PS: Ich danke natürlich wie immer meiner Sekretärin, obwohl dieser Text so kurz und konzise ist, dass ich ihn eigenhändig getippt habe.

IWF

IWF
Bärdel
Wohlig drehte Bärdel sich von der rechten auf die linke Seite. Er hatte ein paar Stunden im Schatten eines Apfelbaumes geschlafen und beschloß nun, allmählich aufzuwachen. Sehr allmählich. Sein Magen sagte ihm, daß es später Nachmittag war. Höchste Zeit also, sich an ein ausgiebiges Abendmahl zu machen. Mit geschlossenen Augen malte er sich das Menu aus, auf das er Appetit hatte: Zuerst einen Apfel. Dann…

Fruits

Kulle störte ihn in seinen genießerischen Überlegungen. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte er durch die Gegend, ohne auf Weg und Steg zu achten. Er war vollauf damit beschäftigt, mal die eine, mal die andere Pranke zu heben, an das rechte oder linke Band seiner Fliege zu greifen und sich an den Kopf zu schlagen. Bei dieser merkwürdigen Beschäftigung stolperte er über Bärdel und fiel hin.
„Aua!“ sagte Bärdel. Kulle war auf seine Nieren gepurzelt.
„Was soll denn das?“
Bärdel setzte sich auf, und auch Kulle kam wieder auf die Füße.
„Entschuldige bitte. Ich war in Gedanken.“ Geistesabwesend zupfte Kulle schon wieder an seiner Fliege herum.
Bärdel schmunzelte. Eigentlich war die Sache mit Kulle ganz einfach: Wenn er eine Idee hatte, war er nicht davon abzubringen, und er verriet sie auch nicht, bis er meinte, daß er sie fertig entwickelt hatte. Wollte man vorher etwas aus ihm herausbringen, mußte man ihn ablenken, zumindest für eine Weile.
Bärdel klaubte zwei rotbackige Falläpfel auf, bot Kulle einen an und fragte dann:
„Lecker, nicht?“
Kulle biß in seinen Apfel, kaute und ließ von seiner Fliege ab. Bärdel wußte, daß er gewonnen hatte.
„Was brütest du denn aus?“ wollte er wissen.
Kulle schluckte süßen Apfelsaft hinunter, schlug in gut gespielter Bescheidenheit die Augen nieder und sagte:
„Ich habe ein neues Gesellschaftsspiel entwickelt.“
„Oh Gott!“ entfuhr es Bärdel. Er erinnerte sich gut an ‚Markt und Sozialstaat‚. Dieses sogenannte Spiel hatte Bärenleben beinahe zerstört. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als eine Neuauflage.
„Das verbiete ich!“ sagte er energisch. „Vergiß es. Erfinde stattdessen die ganz allgemeine Relativitätstheorie oder sonstwas – aber ich will kein neues gefährliches Gesellschaftsspiel in Bärenleben.“
„Es wird nicht gefährlich werden,“ antwortete Kulle. „Jedenfalls hoffe ich das. Diesmal sind nicht wir die Spieler. Ich habe ein Brettspiel gebastelt, mit ganz normalen Holzkegeln und vielen Ereigniskarten.“
„Und worum geht es dabei?“ erkundigte sich Bärdel.
„Um den IWF.“
„Was ist denn das für eine bescheuerte Idee?“ Manchmal war auch Bärdel nicht charmant.
„Das ist gar keine bescheuerte Idee. Wer hat denn darauf bestanden, daß wir die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ abonnieren? Du! Seit alle Bären dieses Blättchen lesen, werde ich täglich mit Fragen bombardiert, die sich auf die Wirtschaft beziehen. Und seit der sogenannten Asienkrise habe ich überhaupt keine Ruhe mehr. Alle wollen von mir wissen, was da passiert ist und was der Internationale Währungsfonds dabei für eine Rolle spielt.“
Auch Kulle klang jetzt recht ungehalten.
„Und warum erklärst du es ihnen nicht?“
„Das habe ich ja versucht. Immer und immer wieder. Aber sie kapieren es nicht. Deshalb habe ich mir gedacht, wir spielen das Ganze einfach.“
Bärdel biß ein zweites Mal in seinen Apfel.
„Gut“, sagte er nachdenklich. „Wahrscheinlich ist das eine gute Idee. Wenn ich’s mir genau überlege, kann ich diese wirtschaftlichen Zusammenhänge auch nicht erklären. Und was man nicht erklären kann, hat man nicht verstanden. Spielen wir also dein Spiel. Aber erst nach dem Abendessen. Was hältst du von ein paar Kartoffeln als Hauptgang und einer kleinen Honigwabe zum Schluß?“
Kulle hielt viel davon.

Nach Einbruch der Dunkelheit versammelte sich ganz Bärenleben in der großen Höhle. Aber dunkel war es dort nicht – schon seit einiger Zeit hatte Manfred

Tumu und Manfred
sich erlaubt, eine Fernleitung der Preußag anzuzapfen. Die Bären betrachteten diese ‚Spende‘, wie sie das nannten, als gerechten Ausgleich dafür, daß die Energieerzeugungsunternehmen das Stromeinspeisungsgesetz zu torpedieren versuchten. Selbstverständlich achteten sie darauf, daß ihr Verbrauch nur gering war – sie benutzten ausschließlich Energiesparlampen.

Kulle war ziemlich aufgeregt. Er war zwar daran gewöhnt, vor großem Publikum zu sprechen, aber er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, das Spiel, das er sich ausgedacht hatte, wirklich zu erproben. Dennoch gab er sich gelassen.
„Bären,“ sagte er, „willkommen zum schönsten Teil des Tages. Laßt uns etwas spielen.8 Kugel Billard Ich habe ein Spiel gebastelt, dem Leben nachempfunden, aber ich weiß nicht, ob es klappen wird. Aber auch im Leben gelingt längst nicht immer alles, wie wir wissen. Habt ihr Lust?“
Ein Brummen, so tief, daß es eher im Zwerchfell als in den Ohren klang, erfüllte den Raum. Oh ja sie hatten Lust.
„Gut,“ sagte Kulle. „Ein kleines Problem gibt es noch. Nicht alle von euch werden bei diesem Spiel gewinnen können. Deshalb werden wir die Spieler auslosen. Seid ihr einverstanden?“
Die Bären bekundeten Zustimmung, und Kulle holte daraufhin etliche klein gefaltete Zettelchen aus einer Nische und ließ jeden Bären einen auswählen. Dabei ermahnte er sie, keinem anderen zu verraten, welche Rolle er übernommen habe. Das werde sich erst im Spiel zeigen.
Als Kulle sah, daß jeder versorgt war, zog er drei Spielbretter aus seiner Geheimnische.
„Das Spiel ist ein bißchen kompliziert“, sagte er, während er die drei Papptafeln in drei Ecken der Höhle verteilte. Dabei justierte er jedes Spielbrett sorgfältig, bis es hörbar einrastete.
„Aber für alle gelten die gleichen Regeln: Würfeln und vorwärts ziehen. Wer auf ein Ereignisfeld gerät, muß eine Ereigniskarte nehmen und sich an deren Anweisungen halten. Jeder von euch hat auf dem Zettel, den er gezogen hat, zwei Informationen. Der erste Begriff sagt ihm, wer er ist und was er will oder tut, und der zweite, zu welcher Gruppe er gehört. Die Gruppenbegriffe sind ‚klein‘, ‚groß‘ und ‚Multi‘. Die ‚klein‘-Gruppe geht bitte an dieses Spielfeld, die ‚groß‘-Gruppe an das da hinten und die ‚Multi‘-Gruppe an das dritte.“
Dabei deutete er in die entsprechenden Richtungen. Es entstand eine kurze Unruhe, danach hockten die Bären in drei Gruppen zusammen.
„Jetzt könnt ihr anfangen“, sagte Kulle. “ Ihr könnt auswürfeln, wer den Anfang macht, oder es bleiben lassen. Ich glaube, es spielt keine Rolle, wer beginnt.“
„Alle drei Gruppen spielen gleichzeitig?“ fragte ein alter Bär, der in seinem Leben nie etwas anderes als ‚Bär-ärgere-dich-nicht‘ gespielt hatte.
„Natürlich. Alle drei Gruppen spielen gleichzeitig. Das ist ja das Spannende an der Sache.“
Der alte Bär war in der ‚Multi‘-Gruppe gelandet. Ohne die anderen zu fragen, griff er sich den Würfel und ließ ihn rollen. Er zeigte eine Drei. Er zog daraufhin seine Spielfigur gehorsam auf ein Ereignisfeld und nahm die oberste Karte. Er las und grinste.
„Du mußt laut vorlesen, was auf deiner Karte steht“, sagte Kulle.
„Wir alle wollen jederzeit wissen, was der andere macht, und warum er es macht. In der Wirklichkeit ist das weniger transparent, aber wir wollen die Wirklichkeit ja transparent machen.“
„Ich bin Eigentümer der Nippon United Bank und gewähre der Suharto Sons Kautschukproduktion AG sechs Milliarden $ Kredit“, las der alte Bär gehorsam vor, wobei seine Lesegeschwindigkeit und sein Tonfall deutlich verrieten, daß er überhaupt nichts verstand.
Nicht nur er begriff nichts, auch alle anderen – außer Kulle natürlich – waren deutlich überfordert. Das Würfeln dieser einen Drei, das Ziehen dieser bestimmten Karte schien Auswirkungen auf das gesamte Spiel zu haben. Ohne irgendwelches bärische Zutun drehten sich die Spielfelder, veränderten zum Teil ihre Farbe, und die Karten auf den Ereignisstapeln mischten sich neu.
Ein Murmeln erhob sich.
„Was ist hier los?“ fragte Tumu. Als ordentliche Bärin hielt sie natürlich viel von Frauenzauber, aber dieses merkwürdige Schauspiel jagte ihr Angst ein.
„Keine Angst, Mama!“ Das war Manfred.
„Ich habe nur Kulles neues Spiel ein bißchen verbessert. Er will bestimmte Mechanismen zeigen, die multikausal sind. Also habe ich der Technik Dialektik beigebracht. Veränderte Parameter erzeugen veränderte Reaktionsmuster.“
„Gut, du hast also ein Programm geschrieben“, sagte Tumu. „Und soweit ich informiert bin, haben Menschen ein so adaptives Programm noch nicht zustande gebracht. Glückwunsch, mein Sohn. Aber warum sollen wir noch spielen, wenn sich alles selbst generiert?“
„Das Programm hat keinen Zufallsgenerator, Mama.Es paßt sich lediglich den neuen Gegebenheiten an. Wir Bären bestimmen, welcher Zug als nächster folgt. Deshalb ist es immer noch ein Spiel, auch wenn wir seine Regeln nicht festlegen können.“
„Ich hasse das“, murmelte Tumu vor sich hin. „Bildet der Kleine sich etwa ein, die Antinomie von Voluntarismus und Determinismus mit Hilfe intelligenter Software zu lösen?“ Aber sie entschloß sich, jetzt und hier auf eine grundsätzliche Diskussion zu verzichten. „Ich hab’s verstanden!“ sagte sie laut. „Das klingt spannend. Spielen wir weiter.“
„Wer spielt als Nächster?“ wollte das Schwein wissen, das als erster und einziger politischer Asylant in Bärenleben natürlich Ehrengast der Runde war.
„Wer will“, sagte Kulle. „Es können auch mehrere gleichzeitig ziehen. Ihr müßt euch nur darauf gefaßt machen, daß das Spiel lebendig wird: Vielleicht ist der eine oder andere Zug nicht möglich, weil gerade jemand anders gewürfelt hat.“
„Ich begreife das noch nicht“, beklagte sich eine junge Bärin. „Laßt uns bitte langsam spielen, nicht gleichzeitig, und jeder erklärt so viel wie möglich von dem, was das Spiel mit ihm macht. Schließlich hat Kulle doch gesagt, daß es bei diesem Spiel darum geht, etwas zu verstehen, und nicht darum, zu gewinnen, oder?“
Brummende Zustimmung.
„Alle scheinen einverstanden zu sein“, stellte Tumu fest. „Dann mach du doch weiter!“
Dadurch ermutigt, würfelte die junge Frau. Sie gehörte zur Gruppe der ‚Großen‘. Ihre fünf Augen führten sie auf ein Ereignisfeld.
„Die Suharto Sons AG baut eine neue Kautschukplantage und rodet dafür 1000 Hektar Regenwald. Auf den neuen Besitz nimmt sie eine Hypothek auf und finanziert davon den Bau einer Fabrik für Fahrrad- und Autoreifen.“
„Gerecht soll es zugehen!“ forderte ein Bär aus der Gruppe der ‚Kleinen‘. „Jetzt sind wir dran!“
Er würfelte und erwischte ebenfalls ein Ereignisfeld.
„Ich bin Muhamad Argoto, Bauer auf Sumatra. Ich habe fünf Söhne – vier zuviel. Mehr als eine Familie kann von meinem Land nicht leben. Der Familienrat hat beschlossen, daß meine vier jüngeren Söhne mit ihren Frauen und Kindern nach Jakarta ziehen werden. Sie werden dort eine Arbeit finden – es gibt jetzt viele neue Fabriken. Sie werden gut leben können, anders als hier.“
Der Bär wollte seine Ereigniskarte an der dafür vorgesehenen Stelle ablegen, zuckte aber erschreckt zurück. Das Spiel machte sich selbständig. Hunderte, vielleicht sogar tausende Kärtchen wieselten auf die Markierung zu, die seiner Karte zukam, und stapelten sich dort brav zu einem sauberen Häufchen.
„Was ist denn jetzt los?“ fragte er und zerknautschte seine eigene Karte vor Aufregung in seiner Pranke.
„Du bist eben nicht allein auf der Welt“, schmunzelte Kulle. „Gerade du nicht. Probier es doch einmal aus! Zieh ein paar Karten aus dem Stapel und lies sie uns vor!“
Das Ziehen klappte zwar nicht, weil der Bär warf den hohen Stapel ungeschickt umwarf, aber um so besser konnte er in dem Kartenhaufen wühlen.
„Ich habe sechs Söhne … meine Frau ist gestorben … man hat mir mein Land mit Gewalt genommen …“
Der Bär verstummte, aber er las noch eine Weile still weiter.
„Du hast recht“, sagte er dann. „Es ist irgendwie immer dasselbe. Alle können auf dem Land nicht mehr leben und ziehen in die Stadt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wußte nicht, daß es so viele sind.“
„In der Wirklichkeit sind es viel mehr. Wir spielen hier nämlich nur.“
Kulle hatte sich die Bemerkung nicht verkneifen können, aber er merkte – hier lief etwas schief. Eine Tragödie schon nach drei Spielzügen, das war zu früh. Natürlich sollten die Bären etwas begreifen, aber erst am Ende, nicht schon am Anfang eines geselligen Abends.
Also griff er selber zu den Würfeln, natürlich am Spielfeld der ‚Multis‘ – etwas anderes zu sein als ein Global Player war unter seiner Würde, fand er.
Laut las er seine Ereigniskarte vor: „Ich bin ein Vertreter der Santander Investment Group. Die Suharto Daughters Ltd. erhält fünf Milliarden $ Kredit für den Aufbau einer nationalen Autoproduktion. Es handelt sich bei dieser Summe um die erste Tranche.“
Ebensowenig wie der alte Bär vor ihm konnte Kulle seine Karte ungehindert zurücklegen. Auch ihm flogen Karten zu, allerdings deutlich weniger. Er las sie auszugsweise vor: „Kredit für Suharto Nephews … für Suharto Aunts … für Suharto Oncles …“ Und immer handelte es sich um stolze Summen.
Jetzt wurde am Brett der ‚Kleinen‘ gespielt.
„Meine Eltern sind Bauern, ich habe noch sieben Schwestern. Ich werde in die Stadt ziehen und mir dort Arbeit suchen. Ich werde ganz bestimmt einen Job finden: Im Haushalt oder in einer Fabrik. Vielleicht werde ich mich auch selbst verkaufen, ich bin nämlich hübsch. Von dem Geld, das ich verdiene, werde ich so viel wie möglich meiner Familie schicken, damit sie besser leben kann als bisher.“
Auch hier sagten die Karten, daß die Spielerin mit ihrer Absicht keineswegs alleine war.
„Ich bin Zahnarzt in Dehland. Ich gebe zu, daß ich nicht schlecht verdiene. Natürlich nur in unserem kleinen Kreise. In der Öffentlichkeit würde ich das selbstverständlich nie sagen. Also: Ich verdiene gut, und deshalb habe ich das Problem, wie ich mein Vermögen möglichst gewinnbringend anlegen kann. Meine Bank hat mir zu einem gemischten südostasiatischen Aktienpaket geraten, mit Schwerpunkt Indonesien. Bevor ich gekauft habe, habe ich mich natürlich informiert – schließlich bin ich kein Glücksspieler! Die dortigen Unternehmen gelten international als völlig kreditwürdig, es gibt einen riesigen nationalen und internationalen Markt, und billige Arbeitskräfte garantieren hohe Gewinnspannen. Da gibt es nichts zu zögern – ich kaufe!“
Das kam von Grizzy, der am Mitteltisch gelandet war.
„Moment mal!“
Eine alte Bärin stand auf und brummte ärgerlich.
„Darfst du hier überhaupt mitspielen? Ich meine, natürlich darfst du mitspielen. Aber du hast doch eine falsche Rolle! Was hat auf einmal ein Zahnarzt aus Dehland hier zu suchen?“
Grizzy hatte Mühe mit der Antwort, weil er zunächst einmal vollauf damit beschäftigt war, die Karten zu ordnen, die ihm in großer Zahl zuflogen. Nachdem er einen ansehnlichen Stapel aufgetürmt hatte, sagte er:
„Ich verstehe zwar auch noch nicht genau, was das soll, aber dieser Kartenhaufen scheint mir recht zu geben. Wenn so viele Menschen etwas ähnliches machen wie ich, muß ich hier am richtigen Ort sein. Paß auf, ich lese dir mal einige Karten vor.
Hier: Besitzer einer Autowerkstatt, Ohio, USA. Hat für seine Altersvorsorge ostasiatische Aktien gekauft. Der nächste: Manager in Japan. Hat sein Vermögen umorganisiert und einen Teil seiner japanischen Aktien in indonesische umgewandelt. Spanien – leitender Angestellter einer Ölgesellschaft. Kauft indonesische Aktien, weil er sich lukrative Gewinne verspricht. Reicht das?“
Die Alte nickte langsam.
„Das reicht“, sagte sie. „Aber…“
Sie verstummte und dachte ziemlich lange nach, während die anderen geduldig warteten. Bären haben Respekt vor dem Alter und lassen den Alten die Zeit, die sie brauchen.
„Aber das heißt ja, daß dieses Spiel auf der ganzen Welt spielt?“ fragte sie schließlich unsicher.
Bedächtig nickten viele Bärenköpfe und ein Schweinekopf. Ja, das hieß es anscheinend.
Kulle kicherte lautlos in sich hinein und strich sich über die Fliege. Das erste Lernziel war erreicht.
So leicht war die Bärin aber nicht zufriedenzustellen.
„Das verstehe ich nicht“, murrte sie. „Wie können sich die Menschen überall auf der Welt so schnell miteinander verständigen?“
Manfred öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, kam Bärdel ihm zuvor. Er wußte, daß sein Sohn jetzt liebend gerne einen Vortrag über moderne Kommunikationstechnik abgespult hätte, den kaum jemand verstehen und der das Spiel stören würde.
„Es funktioniert einfach“, sagte er freundlich. „Wenn es dich interessiert, kann ich dir das bei Gelegenheit genauer erklären. Aber nicht jetzt. Laßt uns weiterspielen!“
Um Widerworten vorzubeugen, nahm er selbst den Würfel und ließ ihn rollen. Eine Sechs. Er setzte. Zum ersten Mal geriet ein Spieler nicht auf ein Ereignisfeld. Bärdel zuckte die Schultern und gab den Würfel weiter.
Dem nächsten Bären ging es genauso. Auch dem dritten. Keiner der nächsten zwanzig Spieler kam auf ein Ereignisfeld.
Unfreundliches Brummen erhob sich hier und da:
„Das Spiel wird langweilig!“
„Wieso passiert denn nichts?“
„Ich weiß gar nicht, was ihr wollt“, bemerkte Kulle betont unschuldig. „Es passiert eine Menge. Dreht euch doch mal um!“
Er zeigte zu einer Höhlenwand, und die Spieler folgten seiner Aufforderung. An der Wand hing plötzlich eine elektronische Anzeigetafel, auf der sich in schwindelerregender Geschwindigkeit Zahlen bewegten.
„Davon kriege ich Kopfschmerzen“, grumpfte der alte Bär, der das Spiel begonnen hatte, ungehalten. „Was ist das überhaupt?“
„Solche Tafeln hängen überall in der Welt an Plätzen, an denen Aktien gekauft und verkauft werden. Sie zeigen die Preise der Aktien und deren Entwicklung. Diese Preise nennen die Menschen Kurse. Sehen wir uns doch mal die Kurse von Suharto Daughters Ltd. an. Der Name der Firma steht ganz links. Daneben seht ihr den Preis, den der Käufer für eine Aktie bezahlt hat. Das ist in unserem Spiel jetzt einige Züge her. Und ganz rechts steht, was man heute für dieselbe Aktie bezahlen müßte, wenn man sie kaufen wollte.“
Aufmerksam folgten die Augen der Versammelten den Anweisungen. Tumu entdeckte den Trick als erste.
„Das kann doch nicht sein! Der Kurs der Aktie dieser Firma hat sich verzehnfacht!“
„Das kann schon sein, und das passiert auch“, erklärte Kulle. „Wenn viele Menschen eine begrenzte Menge von Aktien kaufen wollen, steigt deren Preis. Das funktioniert nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Der Wert der Firma spielt dabei aber merkwürdigerweise nur eine geringe Rolle. Erhöht sich der Wert der Firma – also ihr Kapital, ihr Gewinn – entsprechend, ist alles in Ordnung. Wenn nicht, spricht man von einer spekulativen Seifenblase. Mit Devisen funktioniert das übrigens genauso. Die Kursentwicklung der indonesischen Rupiah ist in der untersten Spalte dargestellt.“
„Moment mal!“ Jetzt mischte Tumu sich ein.
„Du willst uns doch nicht erzählen, daß die Menschen so blöd sind, einen hohen Preis für etwas zu bezahlen, dessen Wert sie nicht kennen?“
„Doch, genau das versuche ich euch zu erzählen. Menschen wie der Zahnarzt aus Dehland, der Kfz-Meister aus Ohio oder der Manager in Japan wissen mit großer Wahrscheinlichkeit nichts von Suharto Daughters Ltd. Sie hoffen nur, daß sie die Aktien dieser Firma irgendwann – in zwei Monaten oder in zwanzig Jahren – mit Gewinn verkaufen können.“
„Und wie lange geht so etwas gut?“ wollte das Schwein wissen.
„Sehen wir nach!“ schlug Kulle vor. „Spielen wir weiter!“
Manfred brachte den Würfel wieder zum Rollen und erwischte, wie er es sich gewünscht hatte, ein Ereignisfeld. Weil er wußte, wer in diesem Spiel und im Leben der Menschen wirklich die Karten mischte, hatte er sich in die Multi-Gruppe gemogelt.
„Ich bin der Vertreter eines amerikanischen Bankenkonsortiums. Der Name spielt keine Rolle – wir möchten anonym bleiben. Aus zuverlässiger Quelle haben wir erfahren, daß die Suharto-Firmen in Indonesien unseriöse Geschäfte betreiben. Kurzfristig vergebene Kredite wurden langfristig angelegt, und zwar in Geschäftsfeldern, deren Profitabilität äußerst fragwürdig ist. Wir können allen Investoren nur raten, ihre Gelder zurückzuziehen.“
Die Reaktion des Spiels verblüffte den alten Bären – alias Nippon United Bank – und beinahe auch Kulle als Repräsentanten der Santander Investment Group. Ihre Ereigniskarten, die sie beide festhielten, flutschten ihnen aus den Pfoten und flogen Manfred zu. Dazu erhielt er Grizzys Karten und noch etliche andere, die bisher ruhig in den Stapeln auf den Spielfeldern geruht hatten.
Ärgerlich brummte der alte Bär: „He, was soll das? Das ist meine Karte, die will ich behalten!“
Er stand auf und näherte sich Manfred bedrohlich.
„Gib sofort meine Karte wieder her! Die habe ich ehrlich erspielt!“
Prügel lag in der Luft.
Also doch, dachte Bärdel resigniert. Kulles Spiele sind einfach zu gefährlich.
Aber Kulle rettete die Situation.
„Du kannst deine Karte selbstverständlich gerne wiederhaben“, erklärte er freundlich. „Aber bevor du das tust, solltest du erstmal auf die Anzeigentafel schauen!“
Der Alte verstand zwar nichts, war aber immerhin für den Augenblick abgelenkt. Nicht nur er gehorchte Kulles Rat, auch alle anderen richteten ihre Augen auf das Display.
Kulle half ihnen: „Die rechte Spalte!“
In der rechten Spalte war der Teufel los. Die Flüssigkristallanzeige veränderte sich so schnell, daß es kaum möglich war, ihr zu folgen. Eines aber war doch zu erkennen: Die aktuellen Kurse waren in freiem Fall.
„Na und?“ fragte der alte Bär. „Was hat das mit meiner Karte zu tun?“
„Deine Karte sagt, daß du Geld verleihst. Dieses Display zeigt, daß deine Schuldner immer weniger Geld haben. Wenn du dein Geld zurückhaben willst, mußt du deine Karte abgeben, also deinen Kredit zurückziehen. Deshalb ist dir die Karte weggeflogen. Das Spiel hat das für dich gemacht.“
Manchmal konnte Kulle sogar geduldig sein. Aber den Alten hatte er trotzdem nicht überzeugt.
„Was schert mich Geld!“ grollte er. „Menschenkram! Ich will meine Karte!“
Tumu sah, daß Kulle tief Luft holte, und griff ein. Sie hockte sich neben den Alten und kraulte ihm beruhigend den Nacken.
„Du hast ja recht“, brummte sie. „Aber wir spielen hier ein Menschenspiel. Wir wollen die Menschen verstehen. Mach einfach mit!“
Der Alte beruhigte sich, und Kulle ließ die Luft aus seinen Lungen. Es konnte weitergehen.
Es ging anders weiter, als die Bären gedacht hatten. Zu ihrer Überraschung machte sich jetzt der Würfel selbständig und flog der jungen Bärin in die Hand. Gleichzeitig segelte eine Ereigniskarte auf sie zu.
Die junge Frau fischte die Karte aus der Luft und las sie vor. Die Botschaft war kurz.
„Die Suharto Sons AG meldet Konkurs an.“
Würfel und Karten wanderten selbständig weiter.
„Hier ist wieder Muhamad Argoto. Meine vier Söhne sind aus Jakarta zurückgekommen – sie haben ihre Arbeitsplätze verloren. Ihre Fabrik ist geschlossen. Sie haben ihre Familien mitgebracht. Ich weiß nicht, wovon wir alle in Zukunft leben sollen.“
Der Bär, der durch Zufall in die Rolle eines indonesischen Kleinbauern geraten war, hielt sich schützend die Pranken vor die Augen. So viele Karten schossen auf ihn zu, daß er sich regelrecht bedroht fühlte.
Seiner Nachbarin erging es nicht besser, Würfel und Karte drängten sich ihr auf.
„Ich bin entlassen worden. Zuerst ging alles nach Wunsch: Ich habe eine Zeitlang auf der Straße angeschafft, dann einen Job als Kindermädchen gefunden, und zuletzt habe ich in einem sweat-shop als Näherin gearbeitet. Das Übliche: zwölf Stunden Arbeit am Tag , Akkord, und niedriger Lohn. Meiner Familie konnte ich trotzdem ein bißchen Geld schicken. Sogar gespart habe ich für mich. Aber jetzt ist es aussichtslos, weiter in der Stadt zu leben: Arbeit werde ich nicht mehr finden, und die Preise für Lebensmittel sind stark gestiegen. Ich werde wieder nach Hause gehen, aber wie wir da überleben sollen, weiß ich einfach nicht.“
Die Karten flogen und schienen sie unter sich zu begraben.
„Das ist ja fürchterlich!“ murmelte ein spontaner Bärinnenchor. Alle Frauengesichter wandten sich Kulle zu.
„Und jetzt?“ fragten sie, immer noch unisono.
„Jetzt“, erklärte Kulle feierlich, „kommt der Deus ex machina.“

Die Energiesparlampen flackerten und erloschen danach. In der nun völlig dunklen Höhle rumpelte es. Der Boden erzitterte ein wenig. Die Bären atmeten hastig und schnauften unruhig. Aber sie bewahrten Disziplin. Jetzt hörten sie das Geräusch von Metall auf Metall, begleitet von einem leichten Quietschen. Schließlich rastete irgend etwas ein. Etwa einen Meter über dem Boden leuchtete ein durchsichtiger Quader auf, in dem sich aus dem Nichts ein Kopf materialisierte.

Die Bären reagierten mit irritiertem Brummen und Grunzen, das Schwein mit einem erschreckten Quieken. Das zornigste Geräusch stammte eindeutig von dem alten Bären. Er hielt den unbekannten Kopf für einen Eindringling, der vertrieben werden mußte. Zum Glück saß Tumu noch neben ihm, und es gelang ihr zum zweiten Mal, ihn zu beruhigen.
Als der Kopf den Mund öffnete und zu sprechen begann, breitete sich atemlose Stille aus.
„Guten Abend, meine Damen und Herren Bären“, sagte er. „Oh, ich sehe, ich habe jemanden vergessen. Das ist ja noch ein Schwein. Sind Sie Herr Schwein oder Frau Schwein? Ich will nicht indiskret sein, aber ich würde auch Sie gerne korrekt begrüßen.“

Das Schwein
„Ich weiß gerade nicht, ob ich Männlein oder Weiblein bin“, nuschelte das Schwein irritiert.
„Dann also Herr Schwein“, beschloß der Kopf. „Wenn Sie eine Frau sein sollten, dann wissen Sie ja aus Erfahrung, daß sich bei der männlichen Anrede die Frauen immer mitgemeint fühlen dürfen. Also guten Abend, Herr Schwein.“
Das Schwein war so perplex, daß es tatsächlich „Guten Abend“ sagte, anstatt dem Kopf eine ordentliche Ohrfeige zu verabreichen.
„Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle“, fuhr der Kopf fort. „Mein Name ist Camdessus. Michel Camdessus. Ich bin der Direktor des IMF. Oh Verzeihung, in Dehland sagt man wohl IWF.“
„Des was?“ Das war Tumu.
Kulle öffnete den Mund uns wollte zu einem seiner zwar amüsanten und belehrenden, aber in der Regel endlosen Vorträge ansetzen, jedoch zupfte Grizzy rechtzeitig an seiner Fliege. Kulle schloß die Lippen wieder und ärgerte sich über sich selbst. Schließlich hatte er höchstpersönlich dafür gesorgt, daß die Menschen in diesem Spiel sich weitgehend selbst erklärten, aber sein professoraler Belehrungsdrang war wieder einmal beinahe mit ihm durchgegangen.
Michel Camdessus verdrehte in gespieltem Schmerz die Augen.
„Es ist wohl das Schicksal meiner Organisation, daß kaum jemand sie kennt. Dabei bewirken wir so viel Gutes. Aber häufig tun wir das in der Tat im Verborgenen. ‚IWF‘ heißt ‚Internationaler Währungsfonds‘, und ‚IMF‘ ist lediglich die englische Variante des Begriffs: ‚International Monetary Fond‘. . Diese Organisation gibt es seit 1945. Wir haben im Laufe der Geschichte unterschiedliche Ziele verfolgt, das muß ich, denke ich, hier nicht im einzelnen entwickeln. Heute bestehen unsere Aufgaben darin, Entwicklungsländern aus wirtschaftlichen Krisen zu helfen. Also zum Beispiel aktuell Indonesien.“
Das klang gut, fanden die Bären, und sie schlugen die Tatzen ineinander und klatschten Beifall. Auch das Schwein schloß sich an. Am begeistertsten applaudierte die Bärin, die im Spiel als junge Frau in die Stadt gezogen war und jetzt zu ihrer armen Familie auf dem Land zurückkehren mußte. Sie hatte sich mit ihrer Rolle identifiziert.
Sie wagte es, den Kopf im leuchtenden Quader anzusprechen.
„Ich danke Ihnen, Monsieur Camdessus. Wissen Sie, wer ich bin, oder soll ich das kurz erklären?“
Der Kopf bewegte sich von links nach rechts und wieder zurück.
„Das ist nicht nötig. Ich weiß, wer Sie sind.“
„Wie werden Sie mir helfen, Monsieur Camdessus?“
„Junge Frau, das ist nicht so einfach zu erklären. Es handelt sich hier um höchst komplizierte multilaterale finanzielle Zusammenhänge. Vermutlich werden Sie von den Kausalitäten überfordert sein. Können Sie lesen und schreiben?“
Kaum spürbar hatte sich ein Unterton in die Rede des Kopfes eingeschlichen, der Verachtung zeigte. Die sensiblen Bären merkten das und reagierten mit leichter Unruhe.
Auch der Bärin war die atmosphärische Veränderung nicht entgangen. Sie beschloß aber, ohne Aggressionen weiterzuspielen. Selbstverständlich konnte sie lesen und schreiben, in ihrer Freizeit beschäftigte sie sich mit Kant und Hegel, was sie sehr spannend fand, aber getreu ihrer Rolle sagte sie: „Nein.“
„Sehen Sie“, antwortete der Kopf befriedigt, als sei Analphabetismus sein persönlicher Erfolg. Er schaute in die Runde und registrierte, daß alle Augenpaare ihn aufmerksam anschauten. Man schien etwas von ihm zu erwarten.
„Nun gut“, seufzte der Kopf. „Ich werde es versuchen.“ Ihr Land Indonesien ist in eine schwere Wirtschaftskrise geraten. Ihre florierende Wirtschaft hat sich nicht hauptsächlich auf Eigenmittel, sondern auf internationale Kredite gestützt. Allerdings haben Ihre Wirtschaftsunternehmen die Kredite häufig nicht so verwendet, wie es mit den Gläubigern abgesprochen war. Als das bekannt wurde, haben die Gläubiger ihre Kredite zurückgezogen. Den Unternehmen Indonesiens fehlt dementsprechend jetzt Kapital, es gibt Unternehmensschließungen zuhauf, und Arbeiter werden arbeitslos. Damit verbunden ist ein Verfall der nationalen Währung. Soweit klar?“
Die Bären nickten ungeduldig. Das wußten sie schließlich alles schon. Nur der alte Bär schaute den Kopf staunend an: Ihm war jetzt erst alles verständlich geworden.
„Alles klar“, sagte die Bärin, der ihre Rolle als Dialogpartnerin allmählich Spaß zu machen schien. „Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Monsieur Camdessus: Wie werden Sie mir helfen?“
„Der IWF hat die Lage Indonesiens geprüft und beschlossen, Ihrem Land Kredite zu gewähren. Sie werden bald wieder Geld haben, denn Sie bekommen – auf etliche Tranchen verteilt – an die 60 Milliarden Dollar.“
Die Bärin staunte. „Moment mal – Indonesien hat ungefähr 200 Millionen Einwohner, das habe ich im Lexikon gelesen.“
Als der Kopf zweifelnd die Augenbrauen runzelte, verbesserte sie sich rasch: „Nur ein kleiner Scherz. Ein kluger Bär hat mir das erzählt. Der hat mir übrigens auch ein bißchen Rechnen beigebracht. Wenn 200 Millionen Indonesier 60 Milliarden Dollar bekommen, dann kriege ich also ungefähr 300 Dollar. Und jedes meiner Familienmitglieder auch. Ich habe eine große Familie, wissen Sie! Das ist wirklich mehr als Hilfe!“
Der Kopf schüttelte sich irritiert.
„Wieso Sie und Ihre Familie?“ fragte er. „Das ist ein Mißverständnis. Natürlich werden die Kredite nicht flächendeckend verteilt, sondern gezielt eingesetzt und auch nur unter bestimmten Auflagen vergeben. Erstens verlangen wir eine Abwertung Ihrer Rupiah, um die Inflation einzudämmen. Im Moment liegt die Inflationsrate in Ihrem Land bei über 40 %. Außerdem ist Ihr Land hoch verschuldet. Damit das Loch im Staatshaushalt gestopft werden kann, fordern wir eine Senkung der Staatsquote. Erst wenn das gewährleistet ist, werden die Gelder fließen, gezielt eingesetzt und nicht nach dem Gießkannenprinzip. Die Leistung Ihres Bruttoinlandsprodukts ist in den letzten drei Monaten um über acht Prozent gesunken. Notwendig ist also eine gezielte Wirtschaftsförderung.“
Jetzt war die Bärin tatsächlich ein wenig überfordert. Sie wußte viel über das Ding an sich, den kategorischen Imperativ und den Weltgeist, aber Ökonomie war nicht gerade ihr Spezialgebiet.
„Schade“, sagte sie deshalb nur und blickte verstohlen hilfesuchend in die Runde, in der Hoffnung, daß der Kopf das nicht bemerken würde.
Grizzy sprang ein.
„Das ist ja wirklich ziemlich kompliziert“, erklärte er und lächelte freundlich. „Deshalb möchte ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn Sie gestatten.“
Der Kopf nickte großzügig.
„Wenn wir unsere Währung abwerten, dann bedeutet das, daß alle Waren, die wir aus dem Ausland beziehen müssen, teurer werden, nicht wahr?“
Nicken.
„Also werden sich die Menschen noch weniger kaufen können als bisher, und die Armen werden überhaupt nicht mehr zurechtkommen!“
Der Kopf wiegte sich zweifelnd und versuchte ein leichtes Schütteln.
„Sie fordern eine Senkung der Staatsquote. Das bedeutet, daß der Staat weniger Geld ausgeben soll. Wofür gibt ein Staat Geld aus? Neben so sinnlosen Sachen wie der Rüstung …“ – bei diesen Worten schüttelte der Kopf sich wahrhaft angeekelt – „…hauptsächlich für seine Bürger: Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung, Straßenbau und so weiter. Mit anderen Worten: Eine Senkung der Staatsquote bedeutet eine drastische Verschlechterung der Lebensverhältnisse vor allem der ärmeren Bevölkerung!“
Allmählich begriffen die Bären und rückten dem Kopf näher. Der aber lächelte überlegen.
„Herr Bär…“
„Grizzy“, sagte Grizzy.
„Herr Grizzy, verzeihen Sie, aber das ist doch alles Propaganda, was Sie da von sich geben. Sehen Sie, der Mensch ist frei. Ich bin der letzte, der sich gegen Chancengerechtigkeit ausspricht. Staatliche Übervorsorge aber zerstört dieses Prinzip. Wo ist noch Chancengerechtigkeit, wenn ein arbeitsscheuer Zeitgenosse geruhsam auf Kosten eines fleißigen Steuerzahlers leben darf? Ist es gerecht, wenn Besserverdienende indirekt Zahlungen für ein staatliches Schulsystem leisten, in dem nicht leistungsbereite, aggressive Kinder von asozialen Eltern entweder durch Absentismus glänzen oder ihre Lehrer tätlich angreifen? Jeder ist seines Glückes Schmied – und wer will, kann sich privat gegen persönliche Lebensrisiken absichern.“
Die Bären rückten ein weiteres Stück näher. Grizzy aber nickte nur leichthin.
„Dann habe ich noch eine letzte Frage. Sie sprachen von gezielter Wirtschaftsförderung. Wie sieht das konkret aus?“
Der Kopf lächelte selbstgefällig. „Wir haben da bewährte Rezepte. Natürlich müssen wir mit den Wirtschaftsunternehmen arbeiten, die existieren. Wir beraten sie und wirken darauf hin, daß sie ihr Management effektiver gestalten. Das heißt also Rationalisierung, Qutsourcing, lean Production – falls Ihnen das etwas sagt.“
Einige Bären guckten irritiert, aber Grizzy sagte das sehr viel.
„Mit anderen Worten: Sie wollen mit mehr Maschinen schneller produzieren, also Personal entlassen, und unprofitable Betriebsteile machen Sie zu sogenannten Tochterfirmen, in denen die Beschäftigten unter deutlich schlechteren Bedingungen und dazu mit niedrigeren Löhnen arbeiten als in der Stammfirma.“
Der Kopf wand sich.
„So können Sie das nicht sagen…“
„Ich kann schon, das haben Sie ja gerade gehört“, fuhr Grizzy ihm in die Parade. „Und ich habe recht.“
Der Bärenkreis war jetzt ganz eng und sehr unruhig. Als erstes verlor das Schwein seine Beherrschung.
„Du Schwein!“ quiekte es. Es hatte sich wirklich völlig vergessen. Dennoch gelang es ihm, sich elegant auf einen Hinterhuf zu stellen und den leuchtenden Quader mit dem Kopf zu attackieren. Es fand aber keinen Widerstand. Die umsitzenden Bären sahen einen Schweinekopf, auf dem sich Teile des Gesichts von Michel Camdessus abzeichneten. Verwirrt hielt das Schwein inne.
Manfred löste das Rätsel.
„Das ist nur ein Hologramm“, erklärte er. „Eine dreidimensionale Projektion. Die kann man nicht verletzen. Aber alles, was das Ding eben gesagt hat, ist echt. Ich habe alle Aussagen von Camdessus, die ich kriegen konnte, gesammelt. Und dann brauchte ich nur noch ein kleines Programm, das die Aussagen, die auf eure Fragen paßten, ausgewählt hat. Ich schalte den Kerl jetzt besser aus.“
Der Quader erlosch, die Lampen gingen an. Die Bären blinzelten und schauten einander an.
„Und jetzt?“ fragte die Bärin, die immer noch nicht von ihrer Rolle losgekommen zu sein schien.
„Jetzt ist es spät, und wir gehen ins Bett“, entschied Bärdel. „Vorher aber sollten wir uns noch bei Kulle und Manfred bedanken. Ich denke, daß wir mit ihrer Hilfe viel über die Wirtschaft der Menschen gelernt haben.“
Die Bären bekundeten Zustimmung. Der Alte erhob sich als erster.
„Das war ein schönes Spiel!“ grunzte er und rammte Kulle seine Pranke auf die Schulter. Der kleine Bär knickte beinahe zusammen, fand aber auch, daß das das schönste Lob war, daß er einheimsen konnte.
„Gute Nacht!“ gähnte das Schwein. „Und wenn ihr mich fragt: Die spinnen, die Menschen!“
Niemand erhob Widerspruch.

Im Spiegel

 

Im „SPIEGEL“

 

Spiegel:

Herr Kulle, rauchen Sie Havanna oder Brasil?

Kulle:

Ich bin Nichtraucher.

Spiegel:

Aber Sie haben eine Abhandlung über Die Zigarre geschrieben. Kann man das überhaupt als Nichtraucher?

Kulle:

Sie versuchen gerade, ein Interview mit mir über mich zu machen. Können Sie das überhaupt als Nicht-Kulle?

Spiegel:

Touché. Herr Kulle, Sie sind Nichtraucher und Nichtmensch. Von Zigarren verstehen Sie etwas, das kann man nachlesen. Was denken Sie von Menschen?

Kulle:

Das kann man auch nachlesen, und zwar in meiner Habilitationsschrift.

 

Spiegel:

Vielleicht erzählen Sie uns trotzdem etwas.

Kulle:

Am Beispiel des Spiegel kann ich Ihnen erzählen, daß Menschen nicht nach Effizienzkriterien handeln, sondern rein gewinnorientiert. Wären Sie – was sinnvoll wäre – an möglichst großem Output bei möglichst geringem Input orientiert, hätten Sie Ihre Leser jetzt auf meine eben erwähnte Arbeit verwiesen. Da Sie aber auch am nächsten Montag wieder eine möglichst dicke Zeitschrift auf den Markt werfen müssen, die genügend Anzeigenkunden lockt und mit „Focus“ zumindest optisch konkurrieren kann, werden Sie dieses Interview noch eine Weile fortführen wollen. Ergebnis: Viele Bäume werden zerhäckselt, und auf tausenden von Seiten steht das gedruckt, was auf anderen Seiten auch schon steht.

Spiegel:

Sie haben also etwas gegen unser Wirtschaftssystem?

Kulle:

Überhaupt nicht.

Spiegel:

Eben haben Sie sich aber sehr kritisch darüber geäußert.

Kulle:

Irrtum Ihrerseits. Ihr Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, ist ein in sich logisches und konsistentes System, das allerdings den Fehler hat, so angelegt zu sein, daß es sich in relativ kurzer Zeit selbst killt. Dagegen habe ich überhaupt nichts. Wenn Sie so wollen, ist auch die Sonne ein solches System – sie funktioniert, bis sie in etwa vier Milliarden Jahren ausbrennen wird. Mein Vorwurf richtet sich, wie Sie bemerkt haben sollten, gegen die Menschen, die die Kurzlebigkeit des Kapitalismus nicht erkannt haben und noch heute nicht erkennen, die noch heute gegenüber diesem System eine regelrechte Heilserwartung pflegen.

Spiegel:

Herr Kulle, glauben Sie an Gott?

Kulle:

Wieso weichen Sie plötzlich vom Thema ab?

Spiegel:

Tun wir doch gar nicht. Sie sprachen soeben von Heilserwartung.

Kulle:

In der Tat, ja. Nun gut. Warum wollen Sie das wissen?

Spiegel:

Unsere Leser interessiert es bestimmt, ob ein Bär, zumal ein intellektueller, an Gott glaubt.

Kulle:

Sie meinen den Teil Ihrer Leser, der dem Spiegel wegen bzw. trotz dessen ständiger Angriffe gegen die katholische Kirche die Treue hält? Ich werde Ihre Klientel enttäuschen: Ich glaube an Tussi.

Spiegel:

Wer ist Tussi?

Kulle:

Tussi ist eine Plüschfröschin, in ausgestrecktem Zustand etwa 1,50 Meter lang. Sie hat das Weltall erschaffen und repariert es bei Pannen beständig. Ihr Geliebter Murkel, ein kleiner Plüschhund, teilt…

Spiegel:

Entschuldigen Sie, Herr Kulle, daß wir Sie unterbrechen, aber Sie haben da gerade ein interessantes Problem angesprochen: Plüsch.

Kulle:

Ach ja?

Spiegel:

Nun, da wir über Menschen reden, sollten wir Phänomene des Lifestyles nicht außer Acht lassen. Den Menschen der 90er Jahre zieht es wieder ins Heim, zur Gemütlichkeit, also zum Plüsch. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Kulle:

Vielen Dank, daß Sie mich einen Intellektuellen geheißen haben. Eben habe ich gerade daran gezweifelt, einer zu sein, denn ich konnte Ihren Gedanken nur mit Mühe folgen. Vermutlich sind Bären den Menschen doch unterlegen – aber die Idee möchte ich momentan nicht weiter verfolgen.

Spiegel:

Schade, das hätte interessant sein können.

Kulle:

Schult der Spiegel seine Redakteure eigentlich im Umgang mit Ironie?

Spiegel:

Selbstverständlich. Wieso fragen Sie?

Kulle:

Lassen wir das. Was Ihre Frage betrifft: Der Mensch der 90er Jahre, den Sie bei Ihrer These im Blick haben, ist Angehöriger einer sowohl relativ als auch absolut schrumpfenden Minderheit. Er ist Angehöriger der Mittelklasse und lebt vorzugsweise in Nordamerika oder Europa. Er leistet sich das, was man cocooning nennt, weil er es sich leisten kann, aber weil er zu diesem Verhalten auch gezwungen wird.

Spiegel:

Eine sehr zweifelhafte These!

Kulle:

Wieso? Die schon vor Jahrzehnten konstatierte und heute auch für jeden spürbare Unwirtlichkeit der Städte, die Unsicherheit im öffentlichen Raum, primär bedingt durch das Auseinanderfallen der Gesellschaft, führen zu einem Vermeidungsverhalten. In der häuslichen Gemütlichkeit, im Plüsch, wenn es der denn sein muß, ist man einfach sicherer. Zudem bietet sich im privaten Bereich die Möglichkeit, den erworbenen Wohlstand – von den silbernen Messerbänkchen bis zur Armani- Küchenausstattung – gefahrenfrei zu präsentieren.

Der Durchschnittsmensch der 90er Jahre dagegen hat mit diesem Typus nichts zu tun. Er verelendet zunehmend, ist perspektivlos, im Extremfall auf der Flucht.

Spiegel:

Sie machen es Ihren Interviewern nicht gerade leicht.

Kulle:

Wieso nicht?

Spiegel:

Unsere Frage zielte auf die neue Gemütlichkeit, und Sie landen ganz schnell bei internationalen Flüchtlingsproblemen.

Kulle:

Entschuldigung, ich bin eben doch nur ein Bär.

Spiegel:

Da wir nun schon dabei sind: Wie sehen sie die Zukunft der Migrationsbewegungen?

Kulle:

Positiv.

Spiegel:

Das müssen Sie uns erklären.

Kulle:

Sie meinen vermutlich, ich soll verdeutlichen, wie ich zu dieser Einschätzung komme. Ganz einfach: Betrachtet man die Wanderungsbewegungen der Vergangenheit und Gegenwart und berücksichtigt dazu die politischen Konstellationen in verschiedenen Regionen der Welt, kommt man zu dem Ergebnis, daß mit großer Wahrscheinlichkeit soziale und politische Diskontinuitäten zunehmen werden. Migrationsbewegungen werden dementsprechend anwachsen, sich also positiv entwickeln.

Spiegel:

Sie haben einen merkwürdigen Begriff von positiv.

Kulle:

Einen mathematischen.

Spiegel:

Beschäftigen Sie sich mit Mathematik?

Kulle:

Regelmäßig, in meiner Freizeit. Es gibt kaum etwas Besseres, um logisches Denken zu trainieren. Schach ist allerdings ebenso gut.

Spiegel:

Hätten Sie Lust, gegen Deep Blue zu spielen?

Kulle:

Warum nicht? Aber nur, wenn er seine menschlichen Berater zu Hause läßt. Gegen Kasparow würde ich verlieren. Ich bin schließlich nur ein Bär und Amateur.

Spiegel:

Herr Kulle, möchten Sie ein Mensch sein?

Kulle:

Nein.


Spiegel:

Warum nicht?

Kulle:

Lesen Sie das Interview.

Spiegel:

Möchten Sie abschließend noch etwas bemerken?

Kulle:

Ich danke meiner Sekretärin.

Spiegel:

Herr Kulle, wir danken für das Gespräch.

 

Geschichte

Wenn die Erdbeeren im Frühsommer satt und rot auf der fetten Erde liegen, wenn die Himbeeren rosarot an den Trieben hängen, wenn die Kirschen den Attacken der Stare nicht standhalten können und zu Boden fallen, dann sind die Bären im Schlaraffenland. Schon kurz nach Mittag liegen sie anscheinend faul im weichen Gras herum, aber sie sind durchaus tätig. Sie denken nämlich. Zumindest die jungen unter ihnen tun das, diejenigen, die noch etwas lernen müssen. Das Erstaunliche daran ist: Sie machen das freiwillig. Die Alten helfen ihnen dabei, manchmal allerdings widerstrebend. Die meisten von ihnen sind der Meinung, ein Bär sei intelligent genug, die Welt ohne fremde Hilfe zu begreifen.
Bärdel lag auf dem Bauch und träumte von Tumu. Das wußte nur er. Er schnarchte leise. Das wußte er nicht, aber Manfred lauschte dem regelmäßigen Schnarchen. Er war geduldig, mehr als eine halbe Stunde lang. Dann hatte er genug. Schließlich war jetzt die Stunde des Denkens, da konnte sein Vater doch nicht einfach pennen!
„Papa!“
Bärdels Brummen klang wie ein sehr uncharmantes Grunzen, aber Manfred ließ sich nicht irritieren. Ganz im Gegenteil.
„Papa!“
Das klang schon wesentlich energischer, aber Manfred hatte kein schlechtes Gewissen. Ein junger Bär kannte sein Recht auf Bildung und nahm es wahr. Der Erfolg gab ihm Recht: Bärdel wurde allmählich wach.
„Hmmm,“ machte er. Zwar klang das noch äußerst unverbindlich, dennoch glaubte Manfred gewonnen zu haben. Also setzte er zum dritten Mal an.
„Papa, woher kommen wir eigentlich?“
„Was für eine bescheuerte Frage!“
Bärdel schickte sich an, sich tiefer in die gemütliche Grasmulde zu kuscheln, die er sich für sein Nickerchen zurechtgewühlt hatte. Dennoch fühlte er sich bemüßigt, seinem Sohn ein Minimum an Antwort zuteil werden zu lassen.
„Vielleicht aus den Karpaten oder den Alpen. Möglicherweise auch aus den Pyrenäen. Höchstwahrscheinlich nicht aus Skandinavien. Ich friere nämlich ziemlich leicht.“
Überlegen schüttelte Manfred den Kopf, was Bärdel zum Glück nicht sah, weil er sein Gesicht wieder im Gras begraben hatte. Die Wanderungsbewegungen des europäischen Braunbären in den letzten Jahrhunderten konnte man in jedem Biologiebuch nachlesen. Diese Werke waren ziemlich korrekt, soweit er das beurteilen konnte. Allerdings wußten sie nicht, daß die bedrohte Spezies, von der einige Exemplare soeben in den Pyrenäen versuchsweise ausgewildert wurden, mitten in Dehland ein verstecktes Refugium gefunden hatte.
„Ich meine die Frage nicht geographisch. Ich meine sie geschichtlich.“
Das wirkte offensichtlich, denn Bärdel setzte sich ruckartig auf.
„Wie meinst du die Frage?“ wollte er wissen.
„Geschichtlich. Ich will wissen, was für eine Geschichte wir Bären haben. Davon ist in den Menschenbüchern nichts zu lesen.“
Jetzt saß Bärdel so kerzengerade, wie ein denkender Bär nur sitzen kann. Lange Zeit schwieg er, und Manfred wartete geduldig. Endlich sagte er:
„Ich glaube, wir haben keine Geschichte.“
Manfred erschrak: „Das ist ja furchtbar!“
Er war so aufgebracht, daß er aufstand und wahllos ein paar Brombeerblüten von ihren Zweigen riß, ohne daran zu denken, daß ihm die Früchte in ein paar Wochen fehlen würden.
Bärdel dagegen blieb ganz ruhig.
„Warum ist das furchtbar?“
„Weil ich in allen Geschichtsbüchern der Menschen gelesen habe, daß man aus der Geschichte lernen soll. Aber wenn du Recht hast und wir keine Geschichte haben, dann können wir ja nichts lernen!“
Wie häufig bei schwierigen Diskussionen wünschte Bärdel sich Kulle herbei, aber der war nun mal nicht da, und er sagte sich: Selbst ist der Bär!
Er griff sich zwei Fallkirschen, die die Stare nur leicht malträtiert hatten, bot Manfred eine an und fragte scheinbar leichthin: „Was ist eigentlich Geschichte?“
So einfach ließ Manfred sich nicht einschüchtern.
„Geschichte“, sagte er so selbstverständlich, als hätte er die Definition selbst gefunden, „Geschichte ist das, was in Raum und Zeit geschehen ist, beziehungsweise die Erinnerung daran in mündlicher oder schriftlicher Form. Geschichte bezieht sich auf Gesellschaften, benennt ihre wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und geistigen Veränderungen.“
„Eine hervorragende Definition!“
Bärdel war mit seinem Sohn zufrieden und bot ihm eine weitere Kirsche an.
„Aber du hast mir Recht gegeben. Die Bärengesellschaft hat keine Veränderungen erlebt, soweit wir uns erinnern können. Unsere Vorfahren in den Karpaten oder den Pyrenäen hatten ihre Sippe genau wie wir, ernährten sich ähnlich, trafen sich abends, um zu spielen oder sich Märchen zu erzählen, in der Höhle, und hielten Winterschlaf. Insofern haben wir aus der Geschichte gelernt, ohne eine Geschichte zu haben – wir machen alles genau wie unsere Vorfahren.“
Unzufrieden schüttelte Manfred den Kopf.
„Aber was meinen dann die Menschen damit, wenn sie dauernd fordern, aus der Geschichte zu lernen?“
Weitere Kirschen waren nicht in Sicht, also beschloß Bärdel, daß sein Sohn die nächste Lektion ohne Versüßung schlucken mußte. Es tat ihm leid, denn das, was er zu sagen hatte, war besonders bitter.
„Worin besteht die Geschichte der Menschen?“ Er ließ Manfred keine Zeit zur Antwort, sondern sprach sofort weiter. „Aus gewonnener oder verlorener Macht, nichts weiter. Wenn Menschen also aus der Geschichte lernen wollen“ – er betonte jetzt jedes Wort – „dann wollen sie nichts anderes, als sich mit Hilfe historischer positiver oder negativer Vorbilder gute Vorbedingungen für ihre eigene Machtstellung schaffen.“
Darüber mußte Manfred eine Weile nachdenken. Er kannte sich relativ gut in der Menschengeschichte aus. Cäsar stürzt die römische res publica, Chlodwig schwingt sich zum fränkischen König auf, Henri IV. findet, daß Paris eine Messe wert ist, Ludwig XVI. wird geköpft, das Direktorium köpft Robespierre, Napoleon Bonaparte entmachtet das Direktorium … und so weiter, und so fort. Sein Vater schien Recht zu haben, aber er wehrte sich.
„Politisch – na gut. Aber was ist mit der Entwicklung der Schrift, der Literatur, der Malerei?
Jetzt wünschte sich Bärdel brennend weitere Kirschen herbei, um Manfred das Folgende wenigstens etwas zu versüßen. Aber es gab nun mal keine.
„Die Schrift war nach der Religion das zweite effektive Herrschaftsinstrument der Menschen – genutzt für Verwaltung und Kontrolle. Literatur – na ja. Entweder haben die gerade Herrschenden sie in ihren Dienst gestellt, oder die Schriftsteller wurden toleriert, eben weil sie Schriftsteller waren. Wer schreibt, wirft keine Bomben. Aufsässige Dichter haben außerdem aus Sicht der Herrschenden angenehme Eigenschaften: Sie sterben früh, begehen Selbstmord oder werden, wenn das nicht klappt, verrückt – denk an Büchner, Kleist oder Hölderlin. Was wolltest du noch? Malerei? Die Kunst geht nach Brot – Malerei in der Menschheitsgeschichte ist überwiegend schmeichelnde Hofmalerei. Und wenn das jemand nicht mitgemacht hat, wie zum Beispiel Vincent van Gogh, dann konnte er sich halt ein Ohr abschneiden, ohne daß ein Hahn danach gekräht hat.“
Das reichte erstmal, fand Bärdel.
„Gut“, sagte Manfred. „Oder auch nicht gut. Die Menschen lernen nichts aus ihrer Geschichte, weil sie nur Schlechtes lernen, wenn überhaupt etwas, und wir Bären können nichts aus unserer Geschichte lernen, weil wir im Sinn der Geschichtsdefinition keine haben. Folgerichtig ist meine Ausgangsfrage unsinnig. Richtig?“
„Richtig!“ bestätigte Bärdel. Er hoffte, jetzt weiterdösen zu können, aber da er seinen Sohn kannte, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach.
„Hast du sonst noch Fragen?“
Manfred nickte.
„Ja, Papa. Wohin gehen wir?“
Irritiert schüttelte Bärdel den Kopf.
„Was soll das denn nun?“
„Papa“, erklärte Manfred geduldig, „seit ich denken kann, sind wir in Bärenleben nicht allein. Wir haben mit den Menschen zu tun. Wir lernen von ihnen, wir tricksen sie aus. Wir benutzen ihr Wissen, ihre Bücher. All das tun wir, um weiter in Bärenleben existieren zu können. In gewisser Weise kämpfen wir also auch um die Macht. Wir sind in die Geschichte eingetreten. Ist es nicht so?“
„Oh Gott“, sagte Bärdel, aber er verbesserte sich sofort: „Oh Tussi!“
Dann vergrub er sich in sein Grasbett. Ein mitleidiger Star, der keine Ahnung von Geschichte hatte, ließ eine Kirsche neben  seinem Kopf niederpurzeln, und Bärdel griff dankbar blind danach und aß sie auf.

Kulle über Sex

PD Kulle

Die menschliche Sexualität im Zeitalter ihrer nicht nur natürlichen, sondern auch technischen Reproduzierbarkeit (1)

Kulle

  1. Sexualität bei Pflanzen, Tieren und Menschen
  2. Die quantitative Entwicklung der Menschheit
  3. Die menschliche Anpassungsfähigkeit
  4. Die Nicht-Adaptionsfähigkeit der menschlichen Sexualität
  5. Der Korrekturversuch der Natur und seine Konterkarierung
  6. Künstliche Insemination
  7. Genetische Manipulation
  8. Fazit
  9. Fazit des Fazits
  10. Nachwort

1. Sexualität bei Pflanzen, Tieren und Menschen

 

Menschen können erstaunlicherweise manche Sachverhalte relativ angemessen rational beschreiben, obwohl sie sich in actu unangemessen irrational verhalten. Diese interessante Diskrepanz erlaubt es, zur Definition des zu untersuchenden Gegenstandes vorläufig auf Meyers Lexikon (2) zurückzugreifen.

Sexualität, so lesen wir da, „ist bei Pflanzen und Tieren identisch mit der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei niederen Tieren (3) ist das Fortpflanzungsverhalten allein von Geschlechtshormonen gesteuert, artspezifisch stereotyp und ausschließlich heterosexuell. Bei höheren Arten (4) übernimmt die Großhirnsteuerung eine stetig zunehmende Rolle. Die Folgen sind sexuelle Aktivität vor Eintritt der Geschlechtsreife und außerhalb der Brunst, Selbstbefriedigung, Homosexualität und die Bevorzugung bestimmter Partner.

Die Sexualität des Menschen schließlich geht noch weit (5) über das hinaus, was mit der Lust und den Aktivitäten in Abhängigkeit vom Funktionieren der Geschlechtsorgane sowie mit dem Verhalten, das zur Befruchtung…führen kann, zusammenhängt.“ (6)

Schon nach dieser kurzen Definition läßt sich also feststellen, daß menschliche Sexualität in zwei Richtungen strebt, die teilidentisch, aber auch völlig diskrepant sein können:

  • Fortpflanzung
  • sexuelle und/oder psychische Befriedigung.

Den wichtigsten Aspekt allerdings deutet Meyers Lexikon bestenfalls an:

Die menschliche Sexualität ist in all ihren Emanationen maßlos.

2. Die quantitative Entwicklung der Menschheit

Betrachten wir zunächst die Fortpflanzung.

Allein die absoluten Zahlen sprechen für sich.

Im Jahr 7000 v. Chr. (7) betrug die menschliche Weltbevölkerung ca. 10 Millionen.(8) Im Jahr 4500 v. Chr. waren es 20 Millionen. Homo sapiens sapiens brauchte also 2500 Jahre, um sich zahlenmäßig zu verdoppeln – ein Verhalten, das schon nicht mehr als weise bezeichnet werden kann. Schließlich beträgt die Landmasse der Erde 149 Millionen km2, das ergibt rein rechnerisch pro Mensch im Jahr 4500 v. Chr. etwa 7,5 km2. Die Fläche reichte also bereits nicht mehr für jeden aus, um sich als Jäger und Sammler durchzuschlagen, wenn man die Unwirtlichkeit von Sand- und Eiswüsten berücksichtigt. Allein die Jäger- und Sammlerexistenz wird jedoch jener Notwendigkeit gerecht, die seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „sustainable development“ auch ansatzweise ins menschliche Bewußtsein dringt, obwohl die Menschen unter diesem Slogan natürlich die Entwicklung zu retten versuchen, also den Kapitalismus, nicht aber ihren Lebensraum.

Wie aber ging es weiter? Ich kürze die Darstellung ab: 1950 betrug die menschliche Weltbevölkerung 2,5 Milliarden, 1986 lebten 5 Milliarden Menschen auf der Erde. Die Menschen brauchten also nur noch 36 Jahre, um ihre Zahl zu verdoppeln, und jedem Menschen standen 1986 statistisch 0,03 km2 zur Verfügung.


Entwicklung der Weltbevölkerung

Es gilt, eine Populationszunahme in einem Zeitrahmen von – grob gerechnet – 6500 Jahren zu analysieren, die 25 000% beträgt. Selbst zahlreiche Seuchen, Hungersnöte und etliche Selbstausrottungsversuche der Menschen – sie selbst nennen das Kriege – konnten daran nichts ändern.

25 000%! Eine ungeheure Zahl! Selbst eine Krebszelle wäre stolz, wenn sie um so viel wachsen könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sie ihren Wirtskörper vorher zerstört.

Wie haben die Menschen das geschafft?

Zwar ist die Frage sekundär9 , dennoch soll sie zuerst beantwortet werden.

3. Die menschliche Anpassungsfähigkeit

Der Schlüssel zur Lösung des Rätsels liegt in der verblüffenden intermediären (10) Adaptionsfähigkeit der Gattung Homo sapiens sapiens. Nach der Existenzphase als Jäger und Sammler konnten die Menschen durch die Ausweitung des Lebensraumes der Gattung, durch Ackerbau und Viehzucht, durch die Nutzung regenerativer und fossiler Energien ihren Ressourcenoutput erhöhen und gleichzeitig den individuell benötigten Lebensraum begrenzen. Die zunächst recht langsame zahlenmäßige Zunahme der Menschheit war dem mangelnden Wissen in bezug auf Hygiene und Gesundheit geschuldet, was eine hohe Mortalitätsrate vor allem bei jungen menschlichen Individuen zur Folge hatte. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigte sich das Wachstum der Gattung, denn bessere Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten verringerten die früher letalen Folgen lokaler Katastrophen. Das ausgehende 19. und das frühe 20. Jahrhundert dann sind gekennzeichnet durch bahnbrechende Erkenntnisse der Medizin, dank deren (11) die Mortalitätsrate signifikant sank. Nach dem II. Weltkrieg (12) erreichten die Prinzipien einer öffentlichen Gesundheitspflege und besserer hygienischer Bedingungen auch Asien, Lateinamerika und – zum Teil – Afrika, und Lebensmittel aus den von den Menschen so genannten entwickelten Ländern wurden dorthin exportiert (13), ohne die in diesen Regionen hohe Fertilitätsrate zu reduzieren.

Die Ursache dieses bemerkenswert raschen Wandels in der gesellschaftlichen Organisation des Gattungslebens liegt in dem, was die Menschen Intelligenz nennen (14) . Mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln haben sie sich als Art angepaßt, wobei der Verlust an Individuen bei einem Wandel immer hoch war. (15)

Die eigentlich entscheidende Frage lautet aber:

Warum (16) haben die Menschen das geschafft?

 

4. Die Nicht-Adaptionsfähigkeit der menschlichen Sexualität

Der Schlüssel zur exorbitanten Quantitätszunahme von Homo sapiens sapiens liegt in der menschlichen Sexualität. Nein, falsch! Ich korrigiere mich wie folgt: in der männlichen menschlichen Sexualität. Ganz richtig ist das auch nicht: Das Wachstum hat auch mit der weiblichen Fertilität zu tun.

Wenn ich, P. D. (17) Kulle, zu stottern anfange, muß es sich um ein wirklich schwieriges Problem handeln. Es ist so, in der Tat. Ich werde versuchen, es am Beispiel der Kaninchen zu erläutern.(18)

Das Kaninchen

In Zeiten hoher sexueller Aktivität, wenn das Weibchen empfängnisfähig ist, vulgo Rammelzeit genannt, rammelt das Kaninchen-männchen. Das Rammeln unterscheidet es im Prinzip nicht vom Menschenmännchen (19) . Allerdings ist für dieses, anders als für das Kaninchen, immer Rammelzeit. Menschenfrauen sind nämlich im Prinzip (20) immer zur Paarung bereit, auch wenn sie nur in einem Zyklus von durchschnittlich 28 Tagen empfängnisfähig sind. Tiere dagegen verkehren nur sexuell miteinander, wenn das Weibchen empfangen kann. Ein Kaninchenmann (21) muß sich von Oktober bis Februar anderweitig vergnügen.

Nehmen wir an, die Kaninchenfrau wird schwanger, und auch die Menschenfrau wird schwanger. Beide Schwangerschaften verlaufen gut. Die Menschenfrau bringt ein Kind zur Welt, einen Jungen oder ein Mädchen – völlig normal für Menschenfrauen. Auch die Kaninchenfrau bekommt Kinder, aber deren Zahl richtet sich nach den jeweiligen Umweltbedingungen. Bis zu 30 Jungkaninchen pro Jahr sind biologisch möglich. War der Winter jedoch hart, gibt es also wenig zu knabbern, bleibt der Wurf klein. Sind die Bedingungen besser, kommen mehr Junge zur Welt. Aber auch die Zahl der Jagdfeinde ist bei guten Bedingungen höher, so daß die große Zahl rasch dezimiert wird.

Zwischenbilanz: Die globale Kaninchenpopulation (22) ist zwar kurzfristigen Schwankungen unterworden, sie bleibt aber wegen der in natürliche Vorgänge eingebundenen Lebensweise der Spezies letztlich konstant.

Über ein solches Anpassungsverhalten verfügen die Menschen nicht. Im Gegenteil: Ihr Sexualverhalten zeigt, daß sie sich um so intensiver reproduzieren, je schlechter die individuellen Rahmenbedingungen für die Aufzucht des Nachwuchses sind. Da Jagdfeinde der menschlichen Rasse fehlen (23) , ist auch ein Korrektiv dieses Verhaltens ex post nicht möglich.

Folgerung: Menschliche – männliche wie weibliche – Sexualität ignoriert Umwelt-(24) bedingungen völlig.

5. Der Korrekturversuch der Natur und seine Konterkarierung

 

Bei der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen entsprechend dem Stand der von ihnen entwickelten Produktivkräfte nicht nur von ihrem Willen unabhängige Produktionsverhältnisse ein (25) , es entstehen auch Konsumtionsverhältnisse.

Die angesichts der großen Menschenzahl notwendige Industrialisierung der Agrarwirtschaft und der Lebensmittelproduktion kann und will aus Profitinteresse auf die permanente und zunehmende Induzierung chemischer Substanzen nicht verzichten. Eben diese Industrialisierung und der damit einhergehende Abusus von Boden, Wasser und Luft wirken negativ nicht nur auf die menschliche Gesundheit im allgemeinen, sondern speziell auch auf die Spermaproduktion des Menschenmännchens. Gelten 200 – 300 Millionen Spermien pro Ejakulation als biologisch normal, so läßt sich seit Jahrzehnten eine Abnahme der Samenzellen beobachten, die inzwischen zu signifikanten Unfruchtbarkeitsquoten geführt hat.

Ist also endlich auch mit der Abnahme dieser Spezies zu rechnen, die sich, wir erinnern uns, effektiver vermehrt als eine Krebszelle? (26)

Weit gefehlt!

a) Künstliche Insemination

 

Dem egoistischen Individualsinn der Menschen, der sich hervorragend mit dem Sinn für Profit ergänzt, ist es geschuldet, daß der natürliche Rückgang der Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies konterkariert werden konnte. (27) Menschenfrauen, die unfähig waren, Kinder zur Welt zu bringen, behaupteten, entsetzlich zu leiden (28) . Um diesem entsetzlichen Leiden zu entgehen, waren und sind sie bereit, sich entsetzlichem Leiden auszusetzen. So unterziehen sie sich zum Beispiel der Prozedur der in-vitro-Fertilisation: Sie lassen sich eine Eizelle aus der Gebärmutter entnehmen, die dann im Reagenzglas die Chance bekommt, sich mit Spermien zu vereinigen – möglicherweise Spermien des eigenen Mannes, aber, sollte der unfruchtbar sein, auch mit anderen. Parallel dazu existiert die in-vivo-Befruchtung: Die Menschenfrau erlaubt während ihrer fruchtbaren Tage einer kalten sterilen Kanüle statt eines warmen pulsierenden Penis, sich ihrer Gebärmutter zu nähern und dort ihren Samen zu deponieren.

Es ist nicht nur diese Tortur, die jedes fühlende Wesen schaudern macht, sondern auch ihr Ergebnis: Anders als bei der normalen Befruchtung endet das Rennen der Spermien oft unentschieden, mehrere erreichen gleichzeitig ihr Ziel, die Eizelle, und durchdringen deren Trennwand. Das Ergebnis sind Zwillinge, Drillinge, Vierlinge, Fünflinge – Mehrlinge. Die Menschheit vermehrt sich so in einem Maße, das alle bisherigen Horrorszenarien (29) verblassen läßt.

Damit nicht genug!

b) Genetische Manipulation

 

Seit nunmehr fünfzig Jahren bemühen sich die Menschen, das geheimste Geheimnis der Natur zu entschlüsseln: Das Genom, das Erbgut. Sie haben inzwischen gelernt, viele der in der DNA verschlüsselten Informationen zu lesen und zu verstehen. Sie können sie auch kopieren und manipulieren, so daß sie die Natur von Pflanzen und Tieren (30) verändern.

Das öffentliche Interesse der Menschen wird gegenwärtig aber nicht von dieser sehr weitgehenden Perspektive beherrscht, sondern von einem Schlagwort, das viel kürzer greift: Kloning. Kloning, das Herstellen von Klonen, meint die Reproduktion biologisch identischer Lebewesen. Die Idee scheint faszinierend (31) , und manche meiner menschlichen Wissenschaftlerkollegen (32) und auch sogenannte normale Menschen (33) sind davon schier besessen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich den bärischen klaren Verstand aber schnell der entscheidende Pferdefuß: Psyche, Wissen und Erfahrung sind nicht übertragbar.

 

6. Fazit

Fassen wir zusammen.

Der Mensch ist das Krebsgeschwür dieser Welt. Er verhält sich wie eine Krebszelle. Wäre er intelligent genug, um zu begreifen, welche Gefahr er darstellt, würde er seine Reproduktion drastisch einschränken. Offenbar ist er dazu nicht intelligent genug, da es ihm an Möglichkeits- und Zukunftssinn mangelt. Im Gegenteil: Die partiellen intellektuellen Fähigkeiten, mit denen er ausgestattet ist, benutzt er, um sich weiter zu vermehren und sein eigenes Gattungsleben um so schneller zu beenden, während er doch glaubt, es zu verlängern.

7. Fazit des Fazits

 

Pfffffffffffft…(34)

8. Nachwort:

 

  • Selbstverständlich weiß inzwischen jeder, daß ich meiner Sekretärin danke.
  • Ich danke den Menschen, bei denen ich immer dann wohne, wenn ich nicht in Bärenleben bin, dafür, daß sie keine Kinder haben.
  • Ich hasse alle Menschen, die mehr als zwei Kinder haben, die sich in vitro oder in vivo fertilisieren oder sich klonen lassen.

Fußnoten:

1 Ich entschuldige mich bei Walter Benjamin für das Plagiat   
2 vgl. Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Mannheim 1997, Schw – Spin   
3 Ich will hier nicht erörtern, wer damit gemeint sein könnte. Meiner Erfahrung nach gehören Frösche auf jeden Fall nicht dazu  .
4 Dankbar nehme ich zur Kenntnis, daß die biologische Systematik der Menschen Bären dazurechnet.   
5 Was „weit“ bedeutet, wird zu untersuchen sein   .
6 ebd. Deutlich wird hier übrigens die Sichtweise, daß Menschen weder Pflanzen noch Tiere sind. Als Wissenschaftler kann ich diesen Unsinn nicht gutheißen, als voreingenommener Bär stimme ich hingegen zu – ich möchte mit den Menschen so wenig wie möglich zu tun haben.  
7 Ich bediene mich hier der gängigen sog. abendländischen Zeitrechnung, obwohl jeder Wissenschaftler weiß, daß diese äußerst fragwürdig ist  .
8 Zwar war ich selbst damals noch nicht geboren und kann dergleichen Angaben also nicht empirisch nachprüfen; auch weiß ich nicht, auf welche Erkenntnisse meine menschlichen Wissenschaftlerkollegen ihre Aussagen stützen. Der Einfachheit halber glaube ich ihnen ausnahmsweise mal.   
9 Die Begründung für diese Einschätzung folgt weiter unten.  
10 Auch dieses wertende Adjektiv wird später erläutert  .
11 besser: derentwegen    
12 Nach menschlicher Zählung, versteht sich: Die Pflanzen und wir Tiere haben noch nie auch nur einen Krieg geführ t.   
13 Natürlich nur die Überschüsse!   
14 „Intelligenz“ impliziert nach menschlicher Definition die Fähigkeit, Wissen zur Bewältigung neuer, akuter Probleme anzuwenden und so bisher unbekannte Situationen bewältigen zu können. Der uns Bären beständig gegenwärtige Möglichkeits- und Zukunftssinn spielt dabei allerdings keine Rolle.    
15 Ich könnte hier übrigens viel darüber erzählen, wie viele andere Gattungen durch die Ausbreitung von Homo sapiens sapiens vernichtet worden sind oder durch sie gelitten haben. Eigentlich habe ich Lust dazu, denn ich bin ein Bär. Aber ich bin auch ein wissenschaftlicher Bär, und als solcher sage ich: Das gehört nicht hierher.   
16 vgl. Anmerkung 9    
17 vgl. „Der Wert“    
18 Man möge mir zugute halten, daß ich nicht, wie die menschlichen Biologielehrer, auf die Bienen zurückgreife.    
19 Im Prinzip nicht, die bei Menschenmännchen beobachtete Phantasie ist allerdings bei einigen wenigen Exemplaren höher ausgeprägt.  
20 Vergewaltigungen müssen bei dem hier zu erörternden Problem leider unberücksichtigt bleiben.   
21 Die Rede ist hier nur von ordentlichen Wildkaninchen, nicht von unordentlichen Haustieren.  
22 „Bevölkerungsexplosionen“ auf so genannten neu entdeckten Kontinenten wie Amerika oder Australien bleiben hier aus evidenten Gründen unberücksichtigt   .
23 vgl. Anmerkung 15   
24 Ich benutze diesen Begriff lediglich, damit menschliche Leser mich verstehen. Selbstverständlich wäre es viel korrekter, von „Welt-“ zu sprechen  .
25 Ich entschuldige mich ebenfalls bei Karl Marx   .
26 Die Menschheit ist übrigens auf dem Weg, ihren Wirtskörper zu zerstören, beeindruckend weit vorangekommen. Dieses an sich positive Phänomen hat allerdings eine Kehrseite: Der Wirtskörper der Menschen ist auch der aller anderen Existenzen   .
27 Das Modalverb gibt selbstverständlich die menschliche Sicht der Entwicklung wieder. 
28 Ich als Bär maße mir nicht an, dieses Leiden zu beurteilen. Allerdings gebe ich zu, daß es mir schwer fällt, ein heimliches Kichern zu verbergen  .
29 Ich verweise hier z. B. auf den vielleicht auh Menschen bekannten Spielfilm: „2024 – die überleben wollen“  .
30 Da Menschen, wissenschaftlich betrachtet, Tiere sind, können die Menschen natürlich auch in ihre eigene biologische Struktur eingreifen – und sie tun das auch. Allerdings geben sie das bisher öffentlich nicht zu. Entsprechende Arbeit wird in höchst geheimen Labors geleistet  .
31 Ich muß leider zugeben, daß auch ich selbst eine Sekunde lang von der Idee fasziniert war, mich verdoppelt zu sehen   .
32 Dr. Seed aus den USA z. B. will sich unbedingt klonen – ob da der Name das Bewußtsein bestimmt   ?
33 Die Zahl der Witwen, die sich einen Klon ihres Mannes wünschen, oder der unglücklichen Mütter, die auf diese Art der Reproduktion ihr totes Kind zurückhaben möchten, ist Legion  .
34 Ich gebe zu, daß ich überrascht davon bin, daß eine ökonomische und eine biologische wissenschaftliche Arbeit zu demselben Ergebnis führen!

Markt und Sozialstaat

Du sollst begehren Deines Nächsten Markt
„Papa, ich les‘ da gerade ein Buch…“

„Sehr gut, mein Sohn!“ Bärdel war hoch erfreut, daß sein in der Regel nichtsnutziger Sproß sich einmal einer sinnvollen Tätigkeit hingab. „Du mußt viele Bücher lesen, wie jeder von uns, damit wir die Menschen besser verstehen.“

„Das ist es ja“, seufzte Manfred, „ich versteh es nicht.“

„Worum geht’s denn?“

„Es heißt: ‚Markt und Sozialstaat‘. Und darin steht, daß der Sozialstaat am Ende ist, weil der Markt nicht behindert werden darf. Da ich aber weder weiß, was ‚Markt‘ noch was ‚Sozialstaat‘ ist, kapier ich überhaupt nichts.“

Bärdel lächelte nachsichtig. Da er stunden- und nächtelang mit Kulle diskutiert hatte, wußte er natürlich über alles Bescheid, was irgendwie mit Ökonomie zusammenhing.

„Das ist eigentlich ganz einfach,“ erklärte er deshalb. „Der Markt ist definiert als Ort der Austauschbeziehungen von Waren, die ihren Wert nur dort zu realisieren vermögen. Marktwirtschaft ist ergo immer anarchisch – was übrigens nichts mit wahrer Anarchie zu tun hat. Da der Kapitalismus die Tendenz hat, zu einem weltumfassenden System zu werden…“

Manfred unterbrach ihn. „Entschuldige, Papa, aber ich verstehe immer weniger. Vielleicht kannst Du mir das ja morgen erklären. Ich suche mir jetzt erst mal ein paar Brombeeren.“ Und er trollte sich.

Am nächsten Tag erklärte Bärdel seinem Sohn überhaupt nichts. Auch nicht am übernächsten und an den Folgetagen. Er erklärte nichts, weil ihm bewußt geworden war, daß er nichts erklären konnte. Und gleichzeitig hatte er erkannt, daß das, was Manfred wissen wollte, eigentlich die ganze Sippe wissen müßte. Er sann darüber nach, wie das zu bewerkstelligen war.

Endlich fiel ihm eine Lösung ein, aber er fühlte sich dabei nicht wohl in seiner Bärenhaut. Das Problem, um das es ging, konnte nicht einfach nur erklärt, es mußte erfahren werden. Und dabei wußte er zweierlei nicht: Würden alle Bären mitmachen, wie es erforderlich war? Und, viel gravierender: Wie würde das Experiment ausgehen?

Bärdel verzichtete darauf, eine außerordentliche Bärenversammlung einzuberufen, sondern wartete, äußerlich gelassen, das nächste ordentliche Treffen ab. Nur nicht den Anschein erwecken, daß etwas Besonderes vorging! Jede Nacht beobachtete er in langen schlaflosen Stunden den Himmel und zählte die Tage: bis zum Vollmond, dem traditionellen Datum aller Bärenmeetings.

Auch als es dann soweit war, ließ er sich nichts anmerken. Bei dem einzigen und immer behandelten Tagesordnungspunkt „Spiele“ meldete er sich als letzter.

„Ich möchte Euch ein Spiel vorschlagen!“

Zufrieden brummten die Alten, und die Jungen schlugen übermütige Purzelbäume. Genau das war es, was sie sich gewünscht hatten. Bären lieben nichts mehr, als Spiele zu spielen.

„Was ist es? Erzähl! Endlich mal wieder! Toll! Jetzt kommt Leben in die Bude! Wir werden unseren Spaß haben! Worum geht es?“

Alle riefen durcheinander.

„Das ist ein ganz besonderes Spiel“, erklärte Bärdel und fühlte, wie unter seinem Pelz eine Gänsehaut über ihn kroch. „Ein geheinmisvolles Spiel. Seine Besonderheit besteht darin, daß keiner von Euch die Spielregeln kennt. Erst am Schluß werdet Ihr sie erfahren. Macht Ihr trotzdem mit?“

Er hörte ein skeptisches Brummen aus der Frauenecke, aber das wurde schnell übertönt. Allgemein setzte sich Zustimmung, ja Begeisterung durch.

„Wann fangen wir an?“ „Ja, Wann?“ wurde Bärdel von allen Seiten gefragt.

„Morgen!“

Die erste Hürde war genommen.

Am nächsten Morgen brummten alle im Bärental durcheinander. Ungeduldig wurde Bärdel erwartet. Schließlich erschien er und wurde sofort wieder bedrängt: “Geht‘s jetzt endlich los?“

„Komm, fang schon an!“

Bärdel hob die Hand, und augenblicklich breitete sich erwartungsvolle Stille aus.

„Ich werde Euch in vier Gruppen einteilen. Wer zu welcher Gruppe gehört, wird das Los entscheiden, ich habe das vorbereitet. Die Mitglieder der Gruppe I werden die Höhlenbesitzer, wer in der zweiten Gruppe ist, verfügt über die Brombeeren. Gruppe III hat gar nichts, und Gruppe IV ist dafür verantwortlich, daß alles funktioniert.“

Ein Sturm der Entrüstung wollte losbrechen, aber noch einmal gelang es Bärdel, mit erhobenem Arm Stille herzustellen.

„Noch etwas: Ich habe Euch gestern gesagt, daß niemand von Euch die Regeln dieses Spiels kennen wird, bevor es zu Ende ist. Das iat auch richtig. Eine einzige Regel aber müßt Ihr vorher kennen und auch unbedingt beherzigen: Keiner von Euch darf ohne Gegenleistung auf etwas verzichten, das er hat.“

Jetzt waren die Bären wirklich nicht mehr zu bremsen.

„Wieso sollen einzelne Gruppen das alleinige Recht auf etwas haben?“

„Warum hat eine Gruppe gar nichts?“

„Es ist unbärisch, für alles eine Gegenleistung zu verlangen!“

Wild schrien sie durcheinander, und Bärdel ließ sie sich austoben. Als es etwas ruhiger geworden war, sagte er – und tat dabei, als sei er völlig desinteressiert: „Ich dachte, Ihr wolltet spielen! Ich zwinge Euch doch zu nichts. Wenn Ihr nicht wollt, lassen wir es…“

Die Taktik war klug gewählt. Zwar blieb ein unterschwelliges Brummen hörbar, aber darüber erhoben sich mehr und mehr fordernde Stimmen und Gelächter.

„Na klar, wir wollen spielen! Laßt uns losen! Wir werden schon unseren Spaß haben! Und wenn nicht – aufhören können wir immer!“

„Hoffentlich“, dachte Bärdel, doch er ließ sich nichts anmerken.

„Na gut, dann zieht Eure Lose!“

Niemand dachte sich etwas dabei, als sich herausstellte, daß die alten Bären durchweg zu Höhlenbesitzern geworden waren, während die Jungen sich als Habenichtse entpuppten. Auch Manfred gehörte zu dieser Gruppe. Bärdel hatte Fortuna ein wenig beeinflußt. Schließlich meinte er zu wissen, was kommen würde – kommen mußte.

„Na dann viel Spaß“, wünschte er allen, als die Rollen verteilt waren. Dabei lächelte er freundlich und unschuldig.

Nur Kulle sah, daß er sich das Lächeln aufzwang. Na klar – Kulle war natürlich eingeweiht. Bärdel hatte ihn als Berater für seine Planungen herangezogen, und er fürchtete auch, ihn zu brauchen, wenn sein Spiel aus dem Ruder lief – was fast zwangsläufig war. Offiziell aber war Kulle Mitspieler wie jeder andere – und er hatte, wen wird es überraschen, ein Los als Mitglied der Koordinatorengruppe gezogen.

„Vielen Dank, vielen Dank!“ riefen die Bären. „Aber – was sollen wir denn jetzt machen?“

„Das werdet Ihr schon merken!“ sagte Bärdel.

Diese verwünschte Gänsehaut – er wurde sie einfach nicht mehr los.

Die Bären trollten sich. Nach einiger Zeit des unkontrollierten Herumtobens wurden sich zumindest einige ihrer Spielrollen bewußt: Die Höhlenbesitzer fegten ihre Wohnungen, legten frisches Gras für ein Lager aus und begaben sich dann zur Ruhe, und die Herren der Brombeeren schlugen sich in ihren Hecken den Wanst voll, häuften noch einen Vorrat für später auf und pennten dann ebenfalls. Anders die Mitglieder der Gruppe III: Sie wußten eigentlich nicht, was sie tun sollten. Also spielten sie herum und wollten schließlich schlafen. Vorher aber wollten sie, was alle Bären wollen, bevor sie sich zur Nachtruhe begeben: essen.

Also machten sie sich auf in Richtung Brombeerhecken. Geschützt von ihrem dicken Bärenfell, ließen sie sich von den Dornen nicht stören. Die Zweige zerknackten, das Laub raschelte laut, als sie in das Dickicht eindrangen. Sie machten so viel Lärm, daß die Brombeerenbesitzer erwachten.

„He, was macht Ihr denn da?“

„Blöde Frage!“ schmatzten die „Diebe“. „Essen!“

„Aber das dürft Ihr nicht! Das sind unsere Brombeeren!“

„Wieso das denn? Ihr spinnt ja!“ grunzten und riefen die empörten Esser durcheinander.

Ja, wieso eigentlich? Das wußten die Brombeerenbesitzer auch nicht so genau. Aber sie konnten sich auf Formalitäten berufen: „Wir spielen doch Bärdels Spiel!“

„Blödes Spiel!“ rebellierten die andren. „Wir haben Hunger!“

Nachdenkliches und zum Teil auch zustimmendes Brummen erhob sich unter den Herren der Brombeeren, aber schließlich erinnerte sich einer von ihnen an die Regel, die Bärdel so bestimmt verkündet hatte: „Keiner von euch darf ohne Gegenleistung auf etwas verzichten, das er hat!“

Und er sagte: „Nein!“

„Was ‚Nein'“, fragten die anderen, die eben wieder zu fressen beginnen wollten.

„‘Nein‘ ist’Nein‘. Es ist mir egal, ob ihr Hunger habt oder nicht. Wenn ihr etwas von unseren Brombeeren haben wollt, müßt ihr uns etwas dafür geben.“

Es herrschte verblüfftes Schweigen. Hauptsächlich deshalb, weil zum ersten Mal, seit sie denken konnten, ein Bär einem anderen erklärt hatte, daß es ihm gleichgültig sei, wenn es ihm schlecht gehe. Aber auch, weil die Hungrigen nicht wußten, was sie jetzt tun sollten.

„Ja, und was sollen wir jetzt machen?“ fragte schließlich einer. „Was sollen wir denn tun, damit wir essen dürfen?“

Diese Frage überforderte die Brombeerbesitzer zunächst. Sie schwiegen und dachten nach, suchten nach Lösungen. Ja, was? Sie könnten die anderen Purzelbäume schlagen lassen, sich ein Brombeersoufflé bereiten lassen, sie zwingen, ihnen die Brombeeren zu pflücken und ins Maul zu schaufeln…alles Unsinn. Unsinn, und doch nicht. Denn als sie diese an sich nutzlosen Gedanken wälzten, wurde den Klügeren unter ihnen bewußt, daß sie etwas hatten, was sie bisher nicht kannten. Weil sie es nicht kannten, fehlte ihnen der Begriff dafür. Die Menschen nennen es Macht. Anderen etwas befehlen können, das ist Macht.

Endlich entdeckte einer einen praktischen Aspekt. „Besorgt uns einen Schlafplatz!“ sagte er. „Wir haben die Brombeeren, aber die erste Gruppe hat die Höhlen. Platz darin werden sie uns ohne Gegenleistung nicht geben. Wenn ihr das schafft, dürft ihr euch den Bauch vollschlagen.“

Wider Erwarten war es leicht, mit diesem Problem fertigzuwerden, zumindest prinzipiell. Zuerst hatten die Habenichtse vor, allesamt zu den Höhlen zu ziehen, um deren Besitzern ein Brombeerabendmahl anzubieten – gegen die Bereitstellung von Schlafplätzen. Dann aber kam der Älteste unter ihnen auf die Idee, daß die Höhlenbesitzer einen solchen massenhaften Aufmarsch als Angriff werten könnten – man sollte lieber eine Delegation schicken, schlug er vor. Sein entsprechender Vorschlag wurde einstimmig angenommen, und weil er den Einfall gehabt hatte, wurde er allein als Delegation bestimmt.

Also marschierte er zu den Höhlen, entbot einen höflichen Abendgruß und unterbreitete sein Angebot: „Ihr seid doch bestimmt hungrig nach diesem langen Tag. Ich mache Euch deshalb ein Angebot: Wir bringen Euch Brombeeren zum Essen, wenn ihr…“

Er stockte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er sich seine Strategie nicht gut genug überlegt hatte. (Wie sollte er auch? Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Bären im Umgang mit Bären noch nie eine Strategie gebraucht.) Wenn… Wenn was? Was sollte er fordern? Schlafplätze für die Brombeerherren? Das wäre gerecht gewesen, denn sie waren diejenigen, die die Brombeeren zur Verfügung stellten. Andererseits: Stellte nicht Tussi die Brombeeren zur Verfügung? Und: Auch seine Spielgruppe, die Habenichtse, brauchte einen geschützten und warmen Schlafplatz. Aber – konnten sie ein Anrecht darauf geltend machen? Vielleicht, weil er den – das – die – vermittelt hatte?

Die Vokabel, nach der er vergeblich suchte, hieß: Handel. Den Menschen war sie völlig geläufig. Die Bären würden sie rasch lernen.

„Brombeeren sind keine schlechte Idee,“ brummte die Höhlenälteste. „Aber du hast deinen Satz nicht zu Ende geführt. Wenn was?“

„Wenn ihr uns Schlafplätze zur Verfügung stellt!“

Er hatte Glück. Die alte Bärin war gutgläubig und naiv und dachte nicht über seine vage Formulierung nach. „Einverstanden – kommt ruhig!“

Als er zufrieden zu den Brombeerhecken zurücktrottete, merkte er, daß er vielleicht zu viel Erfolg gehabt hatte.

Die Brombeerherren würden Brombeeren abgeben und einen Schlafplatz dafür bekommen.

Die Höhlenbesitzer würden Höhlenplatz abgeben und dafür Brombeeren bekommen.

Die Habenichtse würden nichts abgeben – logisch, sie hatten ja auch nichts -, aber dafür sowohl einen Schlafplatz als auch Essen erhalten.

Ob das auf die Dauer gutgehen konnte?

Er hatte recht mit seinen Befürchtungen. An diesem und an drei weiteren Abenden hielten sich Brombeerherren, Höhlenbesitzer und natürlich die glücklichen Habenichtse an die von ihm getroffene Vereinbarung.

Am vierten Morgen brachte ein Gespräch zwischen der Höhlenältesten und einem Brombeerenbesitzer, der sich in der Höhle vertrödelt hatte, die Wende.

„Ach,“ stöhnte die Älteste, während sie mit gebücktem Rücken den Schmutz der Nacht auskehrte, „für die paar Beeren jeden Abend müssen wir ganz schön viele Gäste beherbergen! Ich komme gar nicht an gegen all den Dreck!“

Stimmt! schoß es dem Brombeerherren durch den Kopf. Nicht nur wir schlafen hier, sondern auch die Horde dieser an sich nutzlosen Habenichtse. Und nicht nur die Höhlenbesitzer leiden unter ihnen, sondern auch wir. Wir müssen sie schließlich mit unseren Beeren durchfüttern.

„Paß auf,“ sagte er langsam, während er noch überlegte. „Ich habe eine Idee. Ab heute Abend schlafen nur noch wir, die Brombeerherren, bei euch. Du wirst also weniger Arbeit haben. Und ihr Höhlenbesitzer habt davon noch einen Vorteil: Wir werden euch mehr Brombeeren bringen als bisher.“ Er hatte blitzschnell gerechnet: Es gab doppelt so viele Habenichtse wie Höhlenbesitzer, es kostete ihn also nichts, großzügig zu sein. „Einverstanden?“

Natürlich war die alte Bärin einverstanden. Bärdels Spiel war ihr als äußerst dumm erschienen, und sie hatte sich nicht sonderlich um die Regeln gekümmert. So war ihr nicht klar, welche Konsequenzen diese Vereinbarung für die Habenichtse hatte: Sie saßen auf der Straße. Ohne Nahrung, ohne Obdach.

Als die Habenichtse am Abend zu den Brombeerhecken kamen, wurde ihnen die neue Lage mitgeteilt. Ohne zu zögern, hatten alle Brombeerherren die neue Idee gutgeheißen. Niedergeschlagen zogen die Habenichtse von dannen. Ihr Ältester aber, ihr ehemaliger Delegierter, schäumte vor Wut. Brüllend rannte er in den Wald und hinterließ eine Spur geknickter Büsche, abgerissener Zweige und zerquetschter Blätter.

Wut ist gut, um sich abzureagieren, allein – sie führt nicht zu Lösungen. Das merkte auch unser Delegierter, als er erschöpft auf einer Lichtung zusammensank, um wieder zu Puste zu kommen. Was tun? Da er einerseits bärisch sozialisiert war und andererseits Lenin nicht kannte, kam er nicht auf die Idee, die Revolution auszurufen. Wieder zu den Habenichtsen zurückkehren? Was sollte er mit denen anderes tun, als gemeinsam zu hungern und zu frieren! Bei den Brombeerherren oder den Höhlenbesitzern betteln gehen? Das mußte vergeblich sein, denn da gab es Bärdels Spielregel. Wen gab es denn noch?

Plötzlich schoß es ihm durch den Kopf: Wo war eigentlich die Gruppe IV geblieben? Die, die alles koordinieren sollte? Dieses sogenannte Spiel lief jetzt schon seit vier Tagen, aber von dieser Gruppe hatte sich noch kein Mitglied blicken lassen. Er beschloß, sie zu suchen – für irgendetwas mußten sie schließlich nutze sein.

Aber wo sollte er suchen? In Richtung Mittag oder Mitternacht, Morgen oder Abend? Da er erschöpft war und sich nicht entscheiden konnte, beschloß er, erst mal ein Nickerchen zu machen – vielleicht würde ihm ein Traum eine Idee eingeben.

Wenn Bären zu schlafen beschließen, pennen sie sofort ein. Und wenn sie träumen wollen, dann klappt das auch immer. Unser Delegierter träumte von einer kleinen Blumenwiese inmitten von grünen Birken und Buchen (das war die Lichtung, auf der er eingeschlafen war) und von einem Wind, der sich plötzlich erhob und ihn kräftig zauste. Der Sturm war so stark, daß er davon erwachte.

Als er sich auf den Rücken wälzte und sich die Sandmännchenscheiße aus den Augen rieb, merkte er, daß der Sturm kein Sturm gewesen war. Noch immer hatte eine mächtige Pranke seine Schulter gepackt und rüttelte ihn ordentlich durch.

Die Pranke gehörte zu Kulle.

„Meinen brüderlichen Bärengruß!“ sagte er. „Gehe ich recht in der Annahme, daß du Hunger und Durst hast? Da, bedien dich!“ Dabei wies er auf ein nett arrangiertes Mahl aus saftigen Äpfeln, Wurzeln und Pilzen. Zum Dessert gab es sogar eine halbe Honigwabe.

Sein Gegenüber vergaß für ein paar Minuten alle eigentlich selbstverständliche Bärenhöflichkeit und aß erst mal. Um ganz ehrlich zu sein: Er fraß. In Sekundenschnelle verschwanden alle Leckereien in seinem Schlund. Erst als er sich danach die Schnauze wischte, erinnerte er sich wieder an seine Erziehung. Es kam ihm aber nicht in den Sinn, daß Kulle Bärdels Spielregel verletzt hatte – sonst hätte er nämlich nichts zu futtern bekommen.

„Entschuldigung. Danke. Ich hatte wirklich Hunger. Woher hast du das alles?“

Kulle schmunzelte. „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure kleine Brombeer- und Höhlenwelt sich träumen läßt…Aber lassen wir das. Wir haben uns nur ein bißchen umgetan. Komm mit zu uns, dann kriegst du noch mehr!“

„Gerne!“ sagte der Habenichts. Aber dann zögerte er. „Die…die anderen Habenichtse haben bestimmt genausoviel Hunger wie ich. Könntest du nicht auch sie…?“

Kulle weigerte sich. „Zwei oder drei Tage werden sie auch allein durchhalten. Und danach ist das Spiel, so wie es jetzt läuft, ohnehin zu Ende.“

Obwohl er die Antwort nicht verstand, gab der Habenichts-Delegierte sich damit zufrieden. Kulles Aussagte lockte: „…dann kriegst du noch mehr!“

Die Koordinatoren-Gruppe hatte sich unmittelbar nach Spielbeginn weit von den anderen entfernt. Sie suchte ihre eigene Nahrungsbasis- und hatte sie gefunden, wie das Menu, das Kulle auftischte, beweist. Zwei Dinge hatte sie allerdings nicht, und die Bären vermißten sie schmerzlich: Brombeeren, ihre Lieblingsspeise, fehlten. Noch schlimmer aber war, daß sie nicht über einen warmen und trockenen Schlafplatz verfügten. Nachts kuschelten sie sich unter dichten Büschen aneinander und versuchten sich gegenseitig Wärme zu spenden.

Ohne Kulle hätten sie sich vermutlich anders verhalten, wahrscheinlich ähnlich wie die Habenichtse. Als er ihnen aber klargemacht hatte, daß die Brombeerherren und die Höhlenbesitzer bald meinen würden, ohne die Habenichtse auszukommen, waren sie seinem Vorschlag gefolgt. Sie waren zwar nicht zufrieden mit ihrem augenblicklichen Leben, aber Kulle hatte ihnen versprochen, daß es nur wenige Tage andauern würde.

Die Bären hatten ihre Erfahrungen mit Kulle: Er konnte stundenlang reden, ohne gefragt worden zu sein. Wenn er aber nichts oder nichts Genaueres sagen wollte, dann war auch nichts aus ihm herauszuholen. Und: Meistens hatte er recht.

Also fügten sie sich und warteten ab.

Auch diesmal bestätigte sich Kulles Prognose. Sieben Tage lang führten die Bären der Gruppen I und II ein Leben in Brombeersaus und Höhlenschmaus, aber dann verbreitete sich Unmut. Langweilig und gleichförmig war ihr Leben, und ungesund dazu: Die eintönige Kost begann sie krank zu machen, der Bärendurchfall, verursacht durch Beerendiät, grassierte. Außerdem vermißten viele von ihen Freunde und Verwandte.

Deshalb berief die Höhlenälteste eine Versammlung ein.

„Ich habe euch einen Vorschlag zu machen,“ begann sie. „Am liebsten würde ich sagen: Wir suchen jetzt die anderen, und dann ist Schluß mit diesem dämlichen Spiel, vor allem mit Bärdels blöder Regel! Da wir uns aber darauf eingelassen haben, müssen wir wohl weitermachen. Also: Wir malen jetzt große Reklametafeln. Darauf schreiben wir: Wir tauschen!“

Verständnisloses Gemurmel antwortete ihr. Tauschen? Was sollte das denn bedeuten? Sie kannten das Wort nicht.

Geduldig erklärte die Alte: „Wir dürfen doch nicht ohne Gegenleistung auf das verzichten, was wir haben. Also werden wir für Brombeeren und warme Schlafplätze von den anderen etwas verlangen. Dafür habe ich mir gerade das Wort ‚tauschen‘ ausgedacht.“ (Wie gut, daß sie gerade auf diese acht Buchstaben gekommen war, denn so haben die menschlichen Leser dieses Märchens sofort verstanden, was sie meinte.) Jetzt begriffen auch die Bären.

„Gar keine schlechte Idee.“ „Endlich Schluß mit dem flüssigen Bärendreck.“ „Ich habe schon lange Appetit auf Pilze.“ „Und ich auf Honig!“ „Hmmm, Honig!!“

Die Zustimmung war einhellig, und alle machten sich auch gleich an die Arbeit. Die Idee mit den großen Reklametafeln verwarfen sie allerdings schnell, soviel Aufwand wollten sie nicht treiben. Es war doch viel einfacher, das Angebot mit ihren scharfen Klauen in die Baumrinde einzuritzen. Sie verteilten sich im gesamten Bärental, und bald stand unübersehbar in Augenhöhe an allen dicken Bäumen: WIR TAUSCHEN!

Nach dieser anstrengenden Arbeit zogen sie sich zu Brombeerhecken und Höhle zurück und warteten. Dabei träumten sie von den Genüssen, in denen sie bald schwelgen würden.

Sie mußten lange träumen. Es passierte nämlich nichts. Falsch, natürlich geschah etwas: Hummeln und Bienen summten und besorgten die herbstliche Honigernte, Fliegen schwirrten um die Bären herum und kitzelten sie, Libellen zickzackten in der Spätseptembersonne über den Teich, in verwelkten Blüten wuchsen Früchte und bildeten Samen. Aber niemand passierte. Niemand kam vorbei und wollte tauschen.

„Ich will Honig!“ begann ein Bär schließlich zu jammern. „Warum kommt niemand und bringt welchen zum Eintauschen, zum Beispiel gegen einen Schlafplatz?“

„Weiß ich auch nicht!“ „Vielleicht sind sie woanders.“ Unwilliges Gebrumm von allen Seiten. Einer probierte sogar einen müden Scherz: „Vielleicht haben sie das Lesen verlernt.“

Bei diesem Satz setzte sich einer der Brombeerherren kerzengerade auf und schlug sich so schallend vor die Stirn, daß auch alle anderen aus ihrem Dämmerzustand erwachten.

„Natürlich!“ rief er. „Sie können zwar lesen, aber sie verstehen nicht. Wir haben es zuerst doch auch nicht verstanden. ‚T-a-u-s-c-h-e-n‘ – was bedeutet das denn?“

Jetzt ging allen ein Licht auf. Sie mußten ihre Botschaft deutlicher gestalten. Seufzend erhoben sie sich – das bedeutete noch einmal Arbeit.

Jeder Bär trottete zu den Bäumen, die er bereits bearbeitet hatte, und schrieb unter die allgemeine Botschaft, was seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprach.

Und so war der Wald nach einiger Zeit voll von unterschiedlichen Angeboten, zum Beispiel:

GEBE SCHLAFPLATZ GEGEN HONIG.

 BIETE BROMBEEREN, SUCHE NÜSSE

ICH WILL PILZE, GEBE BROMBEEREN.

SUCHE NÜSSE, BIETE SCHLAFPLATZ.

 

Kurze Zeit später war es vorbei mit der Ruhe am Rastplatz der Brombeerherren und Höhlenbesitzer. Von allen Seiten strömten die Habenichtse herbei, beladen mit Köstlichkeiten. Ein wildes Durcheinander begann.

„Welcher Bär hat Brombeeren und sucht Nüsse?“

„Ich suche Nüsse, ich biete aber einen Schlafplatz.“

„Das interessiert mich im Moment nicht.“

Ich habe Brombeeren, hat jemand Nüsse?“

„Ich will Brombeeren, ich habe aber Pilze.“

„Ich möchte aber Nüsse.“

„Und ich möchte keine Brombeeren, sondern einen Schlafplatz.“

So ging es endlos weiter. Jeder Bär hatte etwas und wollte etwas, aber kaum einer fand den entsprechenden Partner.

Wieder war es die Alte, die Höhlenälteste, die eine Lösung fand. Energisch klatschte sie so lange in die Pranken, bis das Stimmengewirr verstummte und sie sich Gehör verschaffen konnte.

„Bären,“ brummte sie, „so geht es offenbar nicht. Wenn wir denn schon tauschen müssen – sowieso eine bescheuerte Idee -, dann brauchen wir dazu Regeln, so wie es aussieht. Zum Beispiel muß jeder einen Tauschpartner finden können. Am besten wäre es, wenn jeder mit jedem tauschen könnte. Dazu müssen wir irgendetwas finden, was wir gegen alles tauschen können. Das kann dann als Vermittler dienen, um das nächste Ding einzutauschen, das wir wirklich brauchen.“

Die Bären waren durch diese Ausführungen intellektuell sichtlich überfordert, und sogar unter ihren dichten Pelzen war zu erkennen, daß sie die Stirnen krausten. Kulle aber, der sich heimlich angeschlichen hatte und die Versammlung belauschte, rieb sich erfreut die Pranken: Im Prinzip war soeben im Bärental die allgemeine Warenform erfunden woden. Er würde Bärdel umgehend informieren. (Seit Beginn des Spiels hatte Bärdel sich mit heftiger Migräne in den hintersten Winkel von Bärental verzogen.)

Die Alte erklärte weiter, und allmählich begriff die Versammlung. Man mußte einen Platzhalter finden, der jederzeit gegen jedes andere Gut eintauschbar war.

„Gute Idee!“ lobten sie. „Aber was nehmen wir?“

„Ich schlage das Anrecht auf einen Höhlenschlafplatz vor,“ antwortete die Alte. „Jeder will nämlich in der Höhle schlafen, man muß den Schlafplatz nicht mit sich herumschleppen, und er verdirbt nicht. Was haben wir Praktischeres?“

Da niemandem etwas Besseres einfiel, wurde der Vorschlag angenommen.

Sie verabredeten, daß eine oder mehrere Handvoll Nahrungsmittel dem Anrecht auf einen Schlafplatz entsprechen sollte.

Da es eine annähernd gleich große Zahl von Brombeerherren und Höhlenbesitzern und eine doppelt so große Anzahl von Habenichtsen gab, rechneten sie sich schnell aus, daß jeder von ihnen satt werden und einen Schlafplatz haben würde, wenn Brombeerherren und Habenichtse pro Tag zwei Hände voll Nahrungsmittel und die Höhlenbesitzer eine Handvoll sammelten und dann tauschten.

Zufrieden gingen sie auseinander.

Ein paar Tage lang funktionierte das Abkommen, dann aber fingen einige Höhlenbesitzer an zu maulen.

„Schließlich haben wir das Monopol auf die Höhlen!“

„Das was?“

„Na ja, niemand außer uns kann das wichtigste im Bärenleben zur Verfügung stellen: einen gemütlichen, warmen Schlafplatz.

„Und?“

„Dafür sollten wir uns besser bezahlen lassen!“

„Was heißt: bezahlen?“

„Wir sollten mehr dafür verlangen!“

Auf der nächsten Versammlung der Höhlenbesitzer wurde hitzig über dieses Thema diskutiert. Die Höhlenälteste argumentierte heftig gegen eine ‚Preiserhöhung‘, wie das neuerdings genannt wurde, aber sie unterlag. Im Laufe von Bärdels Spiel hatte sich die Mehrheitsmeinung gegen die Weisheit durchgesetzt. Nichts gegen Demokratie, aber wenn sie von egoistischen Interessen geleitet wird, kann manches schiefgehen.

Die Höhlenbesitzeregoisten setzten sich also durch und verkündeten: „Ab sofort hat nur Anrecht auf einen Schlafplatz, wer drei Hände voll Nahrungsmittel abliefert.“ Daß die Höhlenbesitzer von dieser Regelung ausgenommen waren, veröffentlichten sie vorsichtshalber nicht.

Zähneknirschend unterwarfen sich Brombeerherren und Habenichtse ihrem Diktat. Den Brombeerherren fiel das noch vergleichsweise leicht: Sie brauchten nur ihre Hecken abzugrasen. Schaudernd aber dachten einige von ihnen an den nahenden Winter: Was sollte werden, wenn sie keine Früchte mehr zur Verfügung hätten? Schon sahen sie sich als Habenichtse, den ganzen Tag auf Achse, immer auf der Suche nach Nahrung.

So ging es den Habenichtsen in der Tat: Sie machten sich die Pfoten schmutzig beim Durchwühlen der Erde nach Wurzeln, sie riskierten, sich beim Pilzesammeln zu vergiften, sie rissen sich die Tatzen auf beim Nüsseknacken, und immer wieder mußten sie sich von wütenden Bienen und Hornissen beim Honigsammeln zerstechen lassen.

Aber noch ertrugen sie die neuen Bedingungen.

Noch. Denn die neuen schlechten Bedingungen galten nicht lange. Die Höhlenbesitzer, oder zumindest deren Mehrheit, schienen unersättlich. Plötzlich verkündeten sie, für einen Schlafplatz seien künftig vier Hände voll Nahrungsmittel erforderlich. Brombeerherren wie Habenichtse saßen auf einmal in einem Boot: Das konnten sie nicht schaffen.

Auch verstanden sie die Höhlenbesitzer nicht: „Was wollen die denn mit dem ganzen Zeug? Soviel kann man doch gar nicht fressen!“

Aber sie hielten sich nicht mit der Analyse eines kranken Verstandes auf. Es galt, ihr eigenes Problem zu lösen. Was sollten sie tun?

Lethargisch lagen sie im Bärenwald herum, knabberten an ihrem Honig, ihren Wurzeln oder Pilzen, ihren letzten Brombeeren. Schaudernd dachten sie an die bevorstehende kalte Nacht. Ihnen fiel kein Ausweg ein. Manche versuchten einzuschlummern, um der bösen Welt zu entkommen.

Aber alle schreckten auf, als der Wald plötzlich lebendig zu werden schien. Eine Horde näherte sich und stampfte rüchsichtslos durchs Unterholz. Dazu brummte etwas, und das klang sogar melodisch. Wortfetzen ließen sich vernehmen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit…“

Die Koordinatorengruppe kam!

Sie brachte nicht nur Gesang mit, sondern auch das beste Honigsoufflé, ausreichend für alle, das Habenichtse und Brombeerherren jemals gegessen hatten.

Lange schmatzte und schmauste die Gruppe, und als sich auch der letzte den allerletzten süßen Tropfen vom Maul geleckt hatte, richteten sich aller Augen erwartungsvoll auf Kulle. Der verstand die stumme Aufforderung und ließ sich nicht lange bitten.

„Brüder Bären,“ rief er, während er seine Fliege zurechtzupfte und kämpferisch den rechten Arm hob, „Brüder Bären, was ist aus uns geworden? Unsere Gemeinschaft ist zerbrochen, nur der Besitz zählt noch. Wo ist unsere sprichwörtliche Bärensolidarität geblieben? Sie ist dahin! Was hat sie zerstört? Ihr denkt jetzt sicher, daß die Höhlenbesitzer in ihrer unersättlichen Gier nach unseren Pilzen, Wurzeln, Beeren und unserem Honig die Schuldigen sind.“

„Klar sind sie das!“ „Sie beuten uns aus!“ „Schau dir meine kaputten Pfoten an!“ „Nieder mit den Höhlenbesitzern!“

Die Zurufe kamen von allen Seiten. Kulle hatte Mühe, wieder Ruhe herzustellen.

„Ich kann euren Zorn gut verstehen, Brüder, aber die Höhlenbesitzer sind nicht schuld.“

Um einem neuen Sturm der Entrüstung vorzubeugen, sprach Kulle schnell weiter: „Was ist wirklich schuld? Ich will es euch sagen. Eigentlich ist es auch ganz klar. Schuld sind nicht die Höhlenbesitzer, schuld ist Bärdels Spielregel.“

Er erntete verblüfftes Schweigen. Aber er wußte, sie würden ihm recht geben. Der Redestil Stalins, gespickt mit rhetorischen Fragen, auf die der Redner immer selbst gleich die Antwort gab, war erprobt und wirkungsvoll. Außerdem stimmte der Inhalt seiner Aussagen.

Es gab noch nicht einmal eine Diskussion. Irgendwo hinten brummte jemand: „Scheiß Regel.“

Aus einer anderen Ecke wurde ihm geantwortet: „Scheiß Bärdel!“ Und zuerst murmelnd, dann laut und immer lauter bildete sich ein Sprechchor:

NIEDER MIT BÄRDEL! NIEDER MIT BÄRDEL! NIEDER MIT BÄRDEL!

Schreck durchzuckte Manfred, aber er wußte, jetzt hatte es keinen Zweck, sich zu wehren, Er konnte nur hoffen, daß Kulle alles in den Griff bekam.

Dieses war der gefährlichste Moment des ganzen Spiels, vor dem auch Kulle gewaltige Angst gehabt hatte. Es gelang ihm jedoch, seine Unsicherheit zu überspielen. Er wartete einfach ab, bis sich die Versammlung genügend heiser gebrüllt hatte.

Scheinbar beiläufig sagte er: „Brüder Bären, ihr verwechselt da etwas. Nicht Bärdel ist schuld, sondern die Regel, die er uns gegeben hat. Und, genaugenommen sind wir alle schuld, weil wir diese Regel akzeptiert haben. Das Ergebnis ist, daß wir jetzt in der Tinte sitzen und die Höhlenbesitzer im Warmen.“

Sofort schlug die Stimmung um.

NIEDER MIT DEN HÖHLENBESITZERN! schallte es jetzt. Und schnell pflanzte sich ein Ruf fort, den Manfred gefunden hatte:

VERTREIBEN WIR SIE! VERTREIBEN WIR SIE!

Wieder wartete Kulle ab, bis der Bärenzorn sich ausgetobt hatte. Genau im richtigen Moment aber, als die Versammlung gerade aufbrechen wollte, um ihre Forderung in die Tat umzusetzen, hielt er sie zurück.

„Halt! Wollt ihr Gleiches mit Gleichem vergelten?“ Er haßte diese Jesus-Christus-Attitüde, und wäre das hier kein Spiel gewesen, wenn auch ein sehr riskantes, hätte er anders gesprochen. Aber man durfte die Dinge nicht so weit auf die Spitze treiben, daß ein bärisches Leben im Bärental hinterher nicht mehr möglich sein würde. Außerdem war jetzt nach Bärdels Anliegen der zweite Teil des Spiels an der Reihe: der Sozialstaat. Ihre Lektion in Sachen Freier Markt‘ konnte als abgeschlossen betrachtet werden. Aber es tat ihm in der Seele weh, daß er eine revolutionäre Situation nicht ausnutzen konnte.

Die Bären waren stehengeblieben.

Kulle wiederholte seine Frage: „Wollt ihr Gleiches mit Gleichem vergelten? Wollt ihr die Höhlenbesitzer in die Kälte hinaustreiben, unter der ihr seit Tagen gelitten habt? Nein, sie sollen ihren warmen Schlafplatz behalten können. Aber wir wollen auch einen Platz in der Höhle!“

Die Bären murrten, weniger, weil sie rachsüchtig waren, sondern weil sie nicht wußten, wie das erreicht werden könnte. Sie bombardierten Kulle mit Fragen.

„Wir gehen zu den Höhlen und belagern sie,“ erklärte Kulle. „Kein Höhlenbesitzer darf rein oder raus. Und zu essen bekommen sie natürlich auch nichts. Jedenfalls solange nicht, wie sie unsere Forderungen nicht erfüllen.“

Jubel brach los. Ohne weitere Diskussion trotteten die Bären davon, Richtung Höhle. Aber am Anfang des Demonstrationszuges gab es einen Tumult, der Zug stockte. Manfred war die Ursache, er stand wie ein Fels in der Brandung mitten im Weg. Knüffe und Püffe der anderen störten ihn nicht.

„Wartet doch mal!“ sagte er. „Wir belagern die Höhlen, bis unsere Forderungen erfüllt sind. Schön. Aber – was sind denn unsere Forderungen?“

Seufzend kehrten die Bären wieder um. Schade, sie hatten sich so darauf gefreut, den Bären loszumachen. Aber Manfred hatte recht – vorher mußten sie klären, was sie eigentlich wollten.

Ein langes Palaver begann. Habenichtse, Brombeerherren und auch die meisten Mitglieder der Korrdinatorengruppe spürten, daß sich das Machtgleichgewicht in den letzten Stunden zu ihren Gunsten verschoben hatte, und das wollten viele von ihnen ausnutzen. Sollten doch künftig die Höhlenbesitzer täglich vier Handvoll Nahrung beschaffen! Deshalb mußte Kulle immer wieder geduldig seine Jesusfrage stellen.

Schließlich einigten sie sich auf Folgendes:

Alle sammeln Nahrung. Die Höhlenbesitzer brauchen aber nur halb so viel zu arbeiten wie die anderen und bekommen dennoch doppelte Rationen. Dafür werden die Höhlenbesitzer verpflichtet, Kranke und Alte mit durchzufüttern und ihnen natürlich auch einen Schlafplatz zu gewähren.

Mit diesen Forderungen zogen sie schließlich davon und begannen ihre Belagerung.

Für sie war die Besetzung des Eingangs ein fröhliches Fest, das drei Tage dauerte. Die Nächte allerdings wurden immer unangenehmer – der Winter nahte. Aber sie ließen sich gegenüber den Höhlenbesitzern nichts anmerken und fraßen in Sicht der Höhleneingänge ununterbrochen die herrlichsten Bärenleckereien. Wenn drinnen ein Knurren ertönte, lachten sie einfach nur. Das Knurren wurde immer lauter – es kam aus den leeren Mägen der Höhlenbesitzer.

Am Morgen des vierten Tages wankte die Alte heraus. Sie überbrachte die Kapitulation. Alle Bedingungen wurden angenommen.

Sie beschränkte sich auf das Nötigste. Daß die Höhlenbesitzeregoisten zu feige gewesen waren, selbst mit den Besatzern zu verhandeln, verschwieg sie. Sie war eine anständige Bärin. Aber Kulle dachte sich sein Teil und nahm sie schweigend in den Arm.

Obwohl die anderen den Grund dafür nicht kannten, war das das Signal für eine allgemeine Versöhnung.

Sie lebten jetzt friedlich zusammen. Aber eines störte sie doch erheblich: Immer noch mußten sie dieses fürchterlich umständliche Tauschritual vollziehen. Manchmal hatten sie das Gefühl, daß ihnen kein anderer Bär gegenüberstand, sondern daß sie es mit einer Handvoll Nüsse oder Pilze zu tun hatten.

Kulle, der den Ausweg aus dem großen Streit gewiesen hatte, genoß bei ihnen hohen Respekt. Sie fragten ihn, was sie tun könnten, um diese Regel loszuwerden.

Kulle zuckte die Schultern: „Schafft sie doch einfach ab! Es ist genug Nahrung und genug Schlafplatz für alle da. Warum also tauschen?“

„Aber Bärdel hat doch…“

„Bärdel hin, Bärdel her. An sinnlose Regeln sollte man sich nicht halten. Wir sollten auf unserer nächsten Versammlung beschließen, das Spiel zu beenden.“

Und so geschah es. Alle waren damit zufrieden, am meisten aber die ehemaligen Höhlenbesitzer – sie hatten soviel Nahrungsmittel bekommen, daß manche von ihnen vor lauter Fett schon richtig kurzatmig geworden waren.

Als der Beschluß gefaßt war, erhob sich die alte Bärin.

„Bären,“ rief sie, „ihr wißt, daß Reden nicht meine Stärke ist. Aber jetzt muß ich etwas sagen. Ihr habt alle gehört, wie ich während dieses Spiels immer wieder auf Bärdel und seine bescheuerte Regel geschimpft habe. Und das aus vollem Herzen. Dazu stehe ich auch heute noch. Aber ich habe aus dieser Regel viel gelernt. Ihr bestimmt auch. Daß man nämlich nicht bärisch miteinander umgehen kann, wenn einigen etwas gehört, was andere nicht haben. Daß dann Habsucht und Gier entstehen. Und Haß und Neid. Und Gleichgültigkeit. Dann sieht man nicht mehr den Bären im anderen, sondern sieht nur noch auf das, was er in der Pranke hält. Auch, wenn verhindert wird, daß manche Bären zu stark ausgenutzt werden.“

„Vielleicht sollten wir das ja lernen…“ murmelte Manfred vor sich hin. Plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Natürlich!

Unter den erstaunten Blicken aller Anwesenden stürmte er los, hinaus in den dunklen, schwigenden Nachtwald.

„Papa!“ brüllte er, so laut, daß die Käuzchen und Eulen glaubten, taub werden zu müssen. „Papa!!!“

Bärdel hatte nach wie vor Migräne, und so zersprang ihm fast der Kopf von dem Geschrei. Sich zu stellen war immer noch besser, als diesen Lärm länger auszuhalten, und so kam er aus seinem Versteck.

Ungestüm umarmte ihn Manfred und keuchte, völlig außer Atem: „Papa, komm nach Hause. Ich glaube, keiner ist dir mehr böse. Alle haben viel gelernt. Ich auch: Ich glaube, ich weiß jetzt, was mit Marktwirtschaft‘ und mit Sozialstaat‘ gemeint ist. Aber warum der Sozialstaat angeblich am Ende ist und die freie Marktwirtschaft wieder eingeführt werden muß, weiß ich noch nicht. Spielen wir das im nächsten Spiel?“

„Um Tussis Willen, nein!“ stöhnte Bärdel und hielt sich seinen schmerzenden Kopf. „Dieses Spiel hat mir völlig genügt. Laß dir das alles in einer stillen Stunde von Kulle erklären. Aber ich komme jetzt nach Hause. Tumu hat sicher ein paar Aspirin für mich und kann mir den Rücken kraulen. Ich habe ihr viel zu erzählen…“

Bevor Vater und Sohn einträchtig nach Bärenleben zurückwanderten, holte Bärdel noch schnell eine besonders leckere Honigwabe aus einem Versteck. Die war für Kulle.

Nicht als Tauschobjekt, sondern als Dank.

Wahrnehmung

In der sanft gewellten norddehländischen Endmoränenlandschaft gaben sich Bärdel und Kulle einer eigentlich sehr unbärischen Beschäftigung hin: Sie gingen spazieren. Lange trotteten sie schweigend nebeneinander her und setzten nur Fuß vor Fuß.

Endlich sagte Bärdel in einem Tonfall, der sich zwischen Brummen und wohligem Seufzen nicht entscheiden konnte: „Ist es nicht schön?“

Das war eine rhetorische Frage, und Bärdel hätte darauf keine Antwort erwarten dürfen. Er wünschte sich aber eine Bestätigung und war deshalb beleidigt, als Kulle nicht reagierte. Etwas schärfer wiederholte er: „Ist es nicht schön?“

Trotz seines aggressiven Tones dauerte es eine Weile, bis Kulle sich regte. Und die Antwort befriedigte Bärdel überhaupt nicht.

Kulle murmelte nämlich unverbindlich und unbestimmt: „Ich weiß nicht…“

„Du weißt nicht?“ Bärdel war selbst nicht klar, wieso seine Stimmung so jäh umschlug. Eben noch war er friedlich durch die Hügel gewandert und hatte den Sommer genossen, und plötzlich war er wütend.

„Wieso weißt du nicht? Du brauchst dich doch bloß umzusehen!“

Kulle war sehr sensibel, und Bärdels Stimmung übertrug sich sofort auf ihn. Aber er beherrschte sich mit Mühe: „Du hast recht, ich brauche mich bloß umzusehen. Ich sehe eine für Norddehland typische Julilandschaft. Das Wintergetreide ist schon abgeerntet, das Sommergetreide braucht noch eine oder zwei Wochen. Auf Hügelkuppen oder in zu feuchten Niederungen wächst Wald oder Buschwerk. Am Feldrain blühen Kamille und die zweite Margueritengeneration zwischen etlichen grünen Wildkräutern. In 500 Metern Entfernung verläuft eine wenig befahrene Landstraße, der Verkehr ist kaum zu hören.“

Die akribische Beschreibung machte Bärdel nur zorniger.

Bevor er explodieren konnte, winkte Kulle ab.

„Werd jetzt bloß nicht wütend. Ich weiß, das ist nicht das, was du willst. Ich hab das alles auch nur gesagt, um mich selbst zu vergewissern. Um mir klar zu machen, was ich sehe. Aber: Ich weiß nicht, ob das, was ich sehe, ist. Und deshalb kann ich nicht einfach sagen, daß ich’s schön finde.“

Das reichte, um Bärdel eine Weile zu beschäftigen. Erst nach hundertundsieben weiteren Metern konnte er fragen: „Du weißt nicht, ob es das gibt, was du siehst?“

„Ungenaue Rückfrage,“ replizierte Kulle. „Vielleicht hast du Recht: Es gibt das nicht, was ich sehe. Oder was wir sehen. Allerdings halte ich Solipsismus für eine blöde Theorie.“

Bärdel öffnete dem Mund, um sich nach der Bedeutung des schwierigen Fremdworts zu erkundigen, aber Kulle redete ohne Pause weiter: „Möglicherweise sehen wir aber etwas, das ist, auch falsch.“

Bärdel merkte, das lief auf eine ernsthafte Diskussion hinaus, und deshalb löste sich seine Aggression in Luft auf.

„Wieso?“ fragte er ernsthaft interessiert.

„Wieviele Sinne hast du?“

Die Gegenfrage hätte Bärdel beinahe wieder in Rage gebracht, aber er beherrschte sich und antwortete brav.

„Ich kann riechen, sehen, hören, fühlen und schmecken. Apropos schmecken und sehen – komm, da vorne sind noch ein paar späte Himbeeren!“

Kulle ließ sich verführen. Natürlich schmeckten die sonnenwarmen Beeren hervorrragend, und bevor er sie mit der Zunge zu süßem duftendem Brei zerdrückte, liebkoste er im Mund jede einzelne Frucht und ertastete die samtig weiche Oberfläche. Das überzeugende sensorische Erlebnis verbesserte seine argumentative Situation nicht gerade. Bärdel spürte, daß er an Boden gewonnen hatte.

„Siehste!“ sagte er nur.

Aber so schnell gab Kulle sich nicht geschlagen, zumal die gerade genossene Portion Fruchtzucker seinem Gehirn zu rascherer Aktivität verhalf.

„Was?“ fragte er nur und schmunzelte.

Bärdel war verwirrt: „Na, ist doch klar. Die Himbeeren haben prima geschmeckt, also gibt es sie, und es gibt sie so, wie wir sie wahrnehmen.“

„Vermutlich gibt es sie,“ gab Kulle zu. „Wenn nicht, lebten wir in einem ziemlich komischen Wahrnehmungsuniversum. Schließlich scheißen wir als Ergebnis unseres Konsums irgendwann den Bärendreck wieder aus, und die Doppelillusion von Nahrungsaufnahme und Defäkation wäre in der Tat ziemlich starker Tobak. Stärker als die beste Zigarre.. „Aber woher wissen wir, daß die Himbeeren gut schmecken?“

Wieder spürte Bärdel, daß sein Geduldsfaden sich spannte und zu reißen drohte. Seine bemüht ruhige Antwort wurde durch einen grollenden Unterton beherrscht. Er beschränkte sich auf einen Nebensatz:

„Weil ich sie gerade gegessen habe!“

„Wo ist der Himmel?“ fragte Kulle.

Das warf Bärdel völlig aus dem Gleis. Was sollte das denn jetzt wieder? Wollte Kulle eine theologische Argumentation? Oder eine astronomische? Er schaute hoch und beobachtete eine Weile die Gebirge weißer Cumuli, die majestätisch langsam gen Osten segelten.

Eine Wolke grinste ihn an wie ein Clownsgesicht. Bärdel beschloß zum zweiten Mal an diesem Nachmittag, sich nicht aufzuregen.

„Oben,“ sagte er knapp.

„Das sehe ich auch so“, meinte Kulle.

Bärdel entspannte sich – endlich fand dieses Gespräch wieder vernünftige Bahmen.

„Aber das war nicht immer so,“ fuhr Kulle fort.

Bärdel spürte, wie sich seine Nackenmuskeln gegen seinen Willen verhärteten.

Zum Glück sprach Kulle sofort weiter: „Als wir geboren wurden, waren unsere Augen und unser Sehnerv noch nicht an diese Welt angepaßt. Wir sahen alles auf dem Kopf. Das Empfinden der Schwerkraft bringt Babys dazu, ihre visuellen Sinne auf eine praktischere Norm umzustellen. Das dauert nur ein paar Stunden. Aber Fakt ist: Ursprünglich sehen Babybären die Welt so, wie es erwachsene Bären als verkehrt bezeichnen würden. Was ist denn nun „verkehrt“? Unser physiologisch ausgebildeter Sinn oder die pragmatische Anpassung an die Umwelt?“

Weil Bärdel durch diese Ausführungen völlig überrumpelt war, konnte Kulle ungestört weiterreden.

„Und jetzt nimm die Himbeeren. Wir lieben sie, sie schmecken uns. Sie duften herrlich, ihr Geschmack kitzelt unseren Gaumen. Das ist das subjektive Bärenempfinden. Beeren allgemein scheinen unserem Metabolismus gut zu bekommen. Das ist, soweit ich das beurteilen kann, die objektive Gegebenheit. Also ist folgender Sachverhalt denkbar: Himbeeren stinken entsetzlich und schmecken scheußlich. Weil wir sie aber aus physiologischen Gründen brauchen, haben wir ihren Geruch und Geschmack pragmatisch umdefiniert. Genauso, wie wir unseren Gesichtssinn vom Kopf auf die Füße gestellt haben. Und deshalb sage ich: Ich weiß nicht, ob das, was ich sehe, höre, schmecke, fühle und rieche, überhaupt ist oder so ist, wie ich es wahrnehme.“

Bärdel war weiterhin baff und brauchte eine lange Pause, um sich zu sammeln. Schließlich fragte er, und sein sonst so sonorer Bärenbaß wackelte dabei hörbar:

„Willst du damit sagen daß Tumu möglicherweise nicht schön ist, wie sie mir erschent, sondern häßlich?`Daß ich ihr Äußeres nur ‚pragmatisch umdefiniert‘ habe?“

„Genau!“ bestätigte Kulle fröhlich, denn Bärdel hatte seinen Gedanken erfaßt.

Seine Freude sollte nicht lange dauern. Auf Bärdels Stirn schwoll eine Ader, die nur äußerst selten sichtbar wurde. Mit erhobenen Pranken stürzte er auf Kulle los.

Kulle machte sich dünn, und so sausten Bärdels geballte Fäuste wirkungslos rechts und links an ihm vorbei. Verblüfft starrte Bärdel auf seine in der Luft baumelnden Tatzen.

„Siehst du, auch das bestätigt meine Theorie. Vielleicht nehmen wir die Wirklichkeit nicht so wahr, wie sie ist; aber auf jeden Fall mit Verzögerung. Unsere Sinne sind ganz schön träge.“ Kulle war furchtlos stehengeblieben, denn er wußte, daß Bärdel einem neuen interessanten Gedanken nicht widerstehen konnte.

„Stimmt!“ gab der denn auch zu. Seine Aggression war verflogen.

In stillschweigender Übereinkunft setzten beide endlich ihren Spaziergang fort. Irgendwann sagte Bärdel bittend:

„Meine Äußerung über Tumu bleibt aber unter uns, oder?“

„Klar!“ lächelte Kulle. Er wußte, wie unangenehm die sonst so umgängliche Bärenfrau werden konnte.

Wieder folgte eine lange Pause.

Kurz bevor sie an der Kreuzung wieder nach Bärenleben abbiegen wollten, stellte Bärdel seine letzte Frage: „Ist es wirklich unmöglich zu wissen, was ist?“

„Das ist eine hochinteressante Frage. Ich lese gerade eine Menge Menschenbücher darüber. Die Marxisten waren lange Zeit der Meinung, unsere Wahrnehmung entspreche der Wirklichkeit. ‚Widerspiegelung‘ nannten sie das. Aber das waren Menschen der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, optimistisch wie alle damals. Auch die Physiker haben sich lange dagegen gesträubt, daß sie manche Dinge nicht erkennen und dementsprechend auch nicht berechnen können. ‚Gott würfelt nicht‘, hat Albert Einstein geschimpft. Und Sartre hat Jahre später behauptet, die Wahrheit sei ein Objekt unendlicher Annäherung. Er dachte also, man könne ihr näher kommen, werde sie aber nie erreichen.“

„Menschenbücher! Menschengeschwätz!“ grollte Bärdel. „Soll ich dir sagen, worin die Wahrheit und die Wahrnehmung der Menschen bestehen? Sie machen kaputt, was sie wahrnehmen, sie zerstören alles – auch sich selbst, Tussi sei Dank! Sie behaupten, sie schützten das Leben, und bringen allen den Tod. Ihre Physiker spielen mit der Natur und legen mit ihren Forschungen die Grundlage für Technologien, die Menschen nicht beherrschen können. Und was deinen Sartre angeht: Die Menschen, die das Sagen haben, haben ihre Wahrheit längst gefunden. Sogar zwei Wahrheiten: Macht und Profit!“

Sie hatten Bärenleben erreicht. Bärdel beschleunigte seinen Schritt und lief auf Tumu zu, die ihm von ferne zugewinkt hatte. Zweifellos war sie die schönste Bärenfrau der Welt.

Kulle beobachtete, wie er sie in die Arme schloß. Er schmunzelte und wandte sich nach links, seiner Höhle zu. Viele Menschenbücher warteten dort auf ihn.