Völkermord

Na und Nuk

Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge, hatten sich gut überlegt, wo und wann sie Athabasca und Kulle am besten abpassten, ohne dass den Erwachsenen eine Ausrede einfiel, mit der sie sie schnell abwimmeln konnten. Die sportliche Bärin war nach einem langen Trainingslauf am Morgen in den Dorfteich gesprungen und gerade wieder daraus aufgetaucht. Sie schüttelte sich das Fell trocken. Kulle kehrte  aus der Bibliothek zurück und musste erst einmal den deprimierenden Aufsatz von Jem Bendell über die Klimakatastrophe verdauen, den er gerade gelesen hatte. Er ließ sich nur zu gerne davon ablenken.

„Tante Atti, Onkel Kulle, wir möchten Euch unsere erste wissenschaftliche Arbeit zeigen!“ verkündete Na stolz.

„Vielleicht sagen wir besser: Unseren ersten Versuch einer wissenschaftlichen Arbeit.“ Nuk war wie immer vorsichtiger als ihre Schwester.

Athabasca und Kulle machten große Augen. Davon hatten sie bisher nichts gewusst.

„Auf welchem Gebiet habt Ihr denn geforscht?“ erkundigte sich Kulle schließlich.

„Wir interessieren uns für Anthropologie,“ antworteten die Zwillinge im Chor.

Kulle setzte zu der Erklärung an, dass es viel interessantere und sehr viel weniger Schwermut verursachende Gegenstände gebe, aber ihm wurde noch rechtzeitig klar, dass er selbst sich mit nichts anderem beschäftigte. Also hielt er seinen Mund.

„Das ist ein weites Feld,“ kommentierte er stattdessen unverbindlich. „Worum geht es denn in Eurer Arbeit?“

„Das lest Ihr am besten selbst. Wir haben für jeden von Euch ein Exemplar ausgedruckt.“

Sie drückten den beiden Erwachsenen jeweils eine Mappe in die Hand und sausten davon.

Athabaska

Athabasca warf einen Blick auf den Titel. „‚Genozid‘“ sagte sie angewidert. „Kulle, das fällt in Dein Ressort. Damit will ich nichts zu tun haben.“

PD Dr. Kulle

Ehe er sich’s versah, stand Kulle mit zwei Mappen allein da. Athabasca war ebenso schnell verschwunden wie die Eisbärenzwillinge. Er beschloss, sich gleich an die Lektüre zu machen. Völkermord war immer noch besser als der Zusammenbruch der gesamten Zivilisation.

Genozid

von Na und Nuk

Betrachten wir folgendes Ereignis: 

Eine Gruppe Hominiden lebt friedlich zusammen, bis sie sich räumlich trennt und verschiedene benachbarte Territorien bewohnt. Es dauert nicht lange, bis Feindseligkeiten ausbrechen. Innerhalb von vier Jahren werden alle Männer der einen Gruppe getötet, ebenso ein Teil der Frauen, die anderen Frauen werden Beute der Männer der siegreichen Gruppe. Die Sieger okkupieren das Territorium der Besiegten.

Dieses Geschehen erfüllt Kriterien, die die Vereinten Nationen 1948 als Crime of Genocide, als Völkermord, definiert haben. Nach Artikel II der UN-Konvention versteht man darunter Handlungen, die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe verübt werden, nämlich

  • die Tötung von Mitgliedern der Gruppe,
  • die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe,
  • die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
  • die Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind,
  • die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Das Besondere an unserem Beispiel ist, dass die aggressiven Hominiden nicht der Gattung Homo angehörten, sondern der Gattung Pan troglodytes. Sie waren Schimpansen. Der „Gombe Chimpanzee War“ von 1974 bis 1978 wurde von Jane Goodall beobachtet.

Ihr Verhalten darf man den Schimpansen aber nicht vorwerfen, denn sie konnten schließlich nicht lesen, kannten also die Konvention der Vereinten Nationen nicht.. Das ist nicht auf einen Mangel an Intelligenz zurückzuführen, sondern auf einen Mangel an Schulen in Tansania. Auch Goodall hat, wie ihrem Werk ‚The Chimpanzees of Gombe. Patterns of Behaviour‘ zu entnehmen ist, die Menschenaffen nicht unterrichtet.

Wir wollen in dieser Arbeit nicht plump die These vertreten, dass Aggression und Krieg die entscheidenden Triebkräfte der menschlichen Entwicklung waren und sind. Wir sind keine Psychohistoriker, und wenn wir Asimov richtig gelesen haben, gibt es nur wenige Vertreter dieser Wissenschaft. Allerdings geben die Tatsachen, dass das Töten von Artgenossen den engsten rezenten genetischen Verwandten von Homo sapiens sapiens (im folgenden: Hss) leicht von der Hand zu gehen scheint, dass Hss selbst die Lösung von Konflikten bevorzugt mit militärischen Mitteln zu erreichen sucht und dass auch Völkermord, obwohl offiziell geächtet und als Verbrechen eingestuft, immer noch als probates Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele benutzt wird, zu denken.

Zu denken gibt auch, dass in sogenannten heiligen Büchern wie dem Alten Testament der Bibel, das von Juden wie von Christen als Gottes Wort angesehen wird, die Vernichtung fremder Völker durch das – angeblich – auserwählte Volk Gottes nicht nur gerechtfertigt wird, sondern sogar als dem Willen Gottes entsprechend dargestellt wird.

Dazu ein Beispiel.

Als das Volk Israel nach seiner Knechtschaft in Ägypten von Moses zurück ins gelobte Land geführt wurde, war Kanaan keineswegs menschenleer. Es musste Platz geschaffen werden, zum Beispiel durch den Krieg gegen die Midianiter.

Im vierten Buch Mose, Kapitel 31, Verse 1 – 18, ist zu lesen:

Der HERR sprach zu Mose: Nimm für die Israeliten Rache an den Midianitern!… Da redete Mose zum Volk und sagte: Rüstet einen Teil eurer Männer für das Heer! Sie sollen über Midian herfallen, um die Rache des HERRN an Midian zu vollziehen. Aus jedem Stamm Israels sollt ihr tausend Mann zum Heer abstellen…

Sie zogen gegen Midian zu Feld, wie der HERR es Mose geboten hatte, und brachten alle männlichen Personen um. Neben den anderen, die sie erschlugen, brachten sie auch die Könige von Midian um…Die Frauen von Midian und deren kleine Kinder nahmen die Israeliten als Gefangene mit. All ihr Vieh und ihre Güter und ihre Habe plünderten sie. Alle Städte im Siedlungsgebiet der Midianiter und ihre Zeltdörfer brannten sie nieder. Alle Menschen und das ganze Vieh, das sie erbeutet und geraubt hatten, nahmen sie mit.

Sie brachten die Gefangenen, das Geraubte und die Beute zu Mose, zum Priester Eleasar und zur Gemeinde der Israeliten in das Lager in den Steppen von Moab am Jordan bei Jericho. Als Mose, der Priester Eleasar und alle Anführer der Gemeinde ihnen aus dem Lager heraus entgegengingen, geriet Mose in Zorn über die Befehlshaber des Heeres…

Und Mose sagte zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen am Leben gelassen? Siehe, sie haben… den Israeliten Anlass gegeben, dem HERRN untreu zu werden, sodass die Plage über die Gemeinde des HERRN kam. Nun bringt alle kleinen Knaben um und tötet ebenso alle Frauen, die schon mit einem Mann geschlafen haben! Aber alle Mädchen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, lasst für euch am Leben!

Bibel

Wir sind begeistert: Die Israeliten haben es bereits 1200 Jahre vor unserer Zeitrechnung geschafft, alle, aber auch wirklich alle Kriterien für den Völkermord zu erfüllen!

Danach geht es immer so weiter. Als Beleg sei nur der dritte Punische Krieg genannt, der 146 vuZ mit der Zerstörung Karthagos und der Versklavung seiner überlebenden Bewohner endete. Cato der Ältere ist eindeutig daran schuld, hat er doch unermüdlich am Schluss aller seiner Reden im Senat wiederholt: ‚Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!‘

Eine große Rolle beim Vernichten von Völkern spielt der Kolonialismus. In den Amerikas zum Beispiel waren die indigenen Einwohner den europäischen Kolonisten im Weg; sie wurden zu guten, also toten Indianern gemacht oder in Reservationen abgedrängt, die ihnen keine Lebensgrundlage liefern konnten. Wo sie dennoch überleben konnten, rächen sie sich heute in den USA mit dem Betrieb von Spielcasinos, in denen sie dem weißen Mann seine Dollars aus der Tasche ziehen.

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind Genozide gut dokumentiert. Wir verweisen hier nur auf den Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904 – 1908), der ganz gewiss stattgefunden hat, hat doch die deutsche Bundesregierung bestätigt, dass es ihn gab. Der Völkermord an den Armeniern ab 1915 auf Veranlassung der türkischen Regierung ist immer noch umstritten, denn der amtierende türkische Präsident Erdogan leugnet ihn, und der muss es schließlich wissen. Zum Holocaust von 1941 bis 1945 sagen wir lieber nichts. Jeder, der behauptet, er sei nicht das fürchterlichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit gewesen, gilt als Nationalsozialist, mindestens als Nationalist, und das sind wir gewiss nicht, gibt es doch keine Eisbärennation. Also beschränken wir uns auf die Aussage: Es gab ihn.

Viel schlimmer sind aber die Völkermorde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, denn da gab es die oben erwähnte UN-Konvention bereits. Die Mörder mussten also wissen, dass sie ein Verbrechen begingen, während das in früheren Zeiten nicht der Fall war. Das gilt zum Beispiel für die Massaker in Ruanda und Burundi 1965, 1972 und 1994, in denen erst Tutsi Hutu ermordeten und danach umgekehrt. Die Tutsi haben also genug Hutu überleben lassen, sonst hätten sie anschließend nicht von ihnen ermordet werden können.

Wir meinen allerdings, dass die Menschen die moralische und juristische Verurteilung des Völkermords nicht wirklich ernst meinen. Täten sie es, würden sie die Finger davon lassen, gezielt andere Menschengruppen zu eliminieren, was sie erkennbar nicht machen. Täten sie es, würden sie ihre Kinder im Sportunterricht in der Schule sicher nicht den Vernichtungskrieg üben lassen: Das sogenannte Spiel „Völkerball“ endet mit der vollständigen Vernichtung einer Mannschaft.

Kulle klappte seine Mappe zu. Die Zwillinge mussten noch viel lernen. Aber er war dennoch zufrieden. Die Kernaussage gefiel ihm.

Kulle und die Nachwuchswissenschaftlerinnen

November 2019

Klimakanzlerin

Bärdel war mit Kulle auf seinem Morgenspaziergang rund um Bärenleben an diesem Tag allein, und das war ihm recht, denn er hatte etwas auf dem Herzen.

Kulle (er liebt immer noch die Photos seiner alten Inkarnation) neben Bärdel (der aussieht wie immer)

„Kulle“, sagte er, „ich verstehe da etwas nicht.“

Kulle verkniff sich die Bemerkung, dass dergleichen häufiger der Fall war, und antwortete ermutigend: „Schieß los!“

„Klimakanzlerin“ weiterlesen

Zur Evolution

P.D. Kulle

Uns ist eine sehr alte Geschichte überliefert:

Ein göttliches Wesen schuf allein aus seinem Willen eine ganze Welt und benötigte dazu nur sieben Tage. Genau genommen, brauchte er nur sechs, denn danach war er vom Schöpfen so erschöpft, dass er sich einen Ruhetag gönnte, um neue Kraft zu schöpfen.

Am sechsten Tag hatte er aus Materie ein ihm ebenbildliches Wesen geformt, den Menschen. Der war neugierig, ungehorsam, emotional unkontrolliert und mörderisch, zudem für alle Laster empfänglich. Das versetzte seinen Schöpfer in Zorn, und er beschloss, ihn zu vernichten. Die Tiere aber, die er vor dem Menschen geschaffen hatte, wollte er überleben lassen, wozu er der Hilfe einiger Menschen bedurfte. Er suchte sich Noah und dessen Söhne aus, die er beauftragte, ein großes Schiff zu bauen, in dem von jedem der Tiere ein Paar Quartier finden sollte, je ein männliches und ein weibliches. Dass er vergaß, Noah und seinen Söhnen Frauen beizugeben, sei nur am Rande vermerkt. Oder er hat es nicht vergessen, sondern die Übermittler der alten Geschichte waren alte Männer und hielten Frauen für nicht erwähnenswert. Wie auch immer: Als alle wie gefordert an Bord waren, ließ der Schöpfer für 40 Tage eine verheerende Flut über die Welt kommen. Alle Menschen kamen dabei um, logischerweise auch alle Pflanzen und alle Tiere außerhalb des Schiffes, aber die waren nach der Überschwemmung wieder da, sonst hätten die geretteten Tieren ja verhungern müssen. Logischen Überlegungen zufolge hätte sich der Schöpfer die gesamte Operation also sparen können. Die Arche der Tiere strandete am Berg Ararat, der, wie man weiß, in der Türkei zu finden ist. Dort müssen alle ausgestiegen sein, und ihre Nachfahren erfreuen sich noch heute des Lebens, so die Erzählung.

Dass diese alte Geschichte einige Fragen aufwirft, haben wir oben bereits angedeutet. Eine wesentliche Frage aber beschäftigte Naturforscher bis in die Neuzeit hinein: Wenn alle Tiere in der Türkei anlandeten, wie kamen dann zum Beispiel die Bisons nach Nordamerika, die Pinguine in die Ant-, die Eisbären dagegen in die Arktis? Und: Sind alle Arten wirklich noch vorhanden? Wie sollte man sich Fossilienfunde erklären, die sich keiner rezenten Tierart zuordnen ließen? Wenn einiges darauf hindeutet, dass Arten aussterben können, sollten nicht auch neue entstehen?

Die Antwort auf all diese Fragen lieferte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Charles Darwin mit seinem Werk „Über die Entstehung der Arten“. Aufgrund empirischer Forschungen konnte er plausibel erklären, dass das Leben auf der Erde nicht in wenigen Tagen „geschöpft“ worden war, sondern sich in Jahrmillionen entwickelt hatte, und zwar sinnvoll auf der Basis des Zufalls. Pflanzen wie auch Tiere sind keine freischwebenden Individuen, sondern haben Lebensräume. Die Art, die in einem bestimmten Habitat die meisten Nährstoffe zu gewinnen vermag, wird sich stärker als konkurrierende Spezies reproduzieren und wird diese verdrängen. Die Art, die in der Lage ist, ein neues Biotop zu besiedeln, wird dieses Biotop dominieren. Individuen innerhalb einer Art, die sich am besten zu ernähren wissen, werden stärker als ihre weniger dazu fähigen Artgenossen und haben größere Chancen, sich fortzupflanzen. Der Zufall bei diesem Prozess der Evolution wird durch das Erbgut gegeben, das bei sexueller Fortpflanzung neu gemischt wird. Dazu kommt, das die Erbinformationen nicht immer korrekt kopiert werden und so Fehler entstehen, Mutationen, die in ihrer überwiegenden Zahl negativ für die Folgegenerationen sind, aber mitunter auch qualitative Sprünge bewirken können.

Es handelt sich bei der Evolution also um einen Kampf ums Überleben, der so lange fortdauert, wie es miteinander konkurrierende Arten gibt.

Was aber geschieht, wenn eine Spezies alle Habitate besetzt hat und andere Arten nicht mehr zu fürchten braucht? Ist diese Spezis nicht nur vernunftbegabt, sondern vernünftig, wird sie die Situation analysieren, sich einen Überblick über die ihr zur Verfügung stehenden Rohstoffe verschaffen und ihren Stoffwechsel mit der Natur auf einem Niveau stabilisieren, das ihr eine lange Existenz in ihrem Habitat zwar nicht garantieren, wohl aber ermöglichen kann. Ist sie es nicht, wird sie ihre Lebensbasis zugrunde richten.

Der Planet Erde ist in das Zeitalter des Anthropozän eingetreten. Homo sapiens sapiens hat in einem langen Evolutionsprozess nicht nur seine menschlichen Konkurrenzarten aus dem Feld geschlagen, sondern braucht sich auch vor anderen Raubtieren nicht mehr zu fürchten. Allein Viren und Bakterien können ihm noch gefährlich werden, aber Homo hat eine hoch effiziente Forschung entwickelt, die es ihm bisher jedenfalls erlaubt hat, derartige Angriffe zurückzuschlagen. „Aus dem Feld schlagen“ und „zurückschlagen“ ist nicht nur auf mikrobiologischer Ebene, sondern in vielen Fällen gleichzusetzen mit „ausrotten“. Eine Kosten-Nutzen-Relation wurde dabei in der Regel nicht erstellt, dergleichen pflegt Homo im Rahmen seiner Ökonomie, die ihm alles bedeutet, nur für Betriebe zu berechnen. Während Fauna und Flora um ihn herum schwinden, ist Homo zur Selbstbegrenzung nicht bereit. Seine ideologische Setzung, unabhängig von allen Kulturen, lautet: „Menschliches Leben ist unantastbar. Der Wunsch nach Kindern muss erfüllt werden“. Die eingangs erwähnte alte Geschichte ist dabei relevant: Der Glaube an die Gottähnlichkeit oder zumindest Gottesnähe der eigenen Spezies ist in den meisten Menschnköpfen so tief verankert, dass er genetische Grundlagen zu haben scheint. Damit ist der Mechanismus der Evolution, nur den besser Adaptierten die Fortpflanzung zu ermöglichen, außer Kraft gesetzt. Ermöglich wird das Leben nahezu aller gezeugten Menschen, unabhängig von ihrem Potential, durch die weit entwickelte menschliche Medizin. Ungewollt kinderlosen Paaren wird, zumindest in den reichen Ländern, auch künstliche Befruchtung ermöglicht. So explodiert die menschliche Bevölkerung auf der Welt. Eine rationale Bewertung der zur Verfügung stehenden begrenzten Ressourcen wird durch die ideologische Selbstwahrnehmung  verunmöglicht. Der zentrale weltanschauliche Grundsatz wird immer in Zeiten des Krieges verletzt, Zeiten, die in der menschlichen Geschichte den Regelzustand darstellen. In diesen Zeiten gilt, dass keine Regel gilt. Trotz des  Blutzolls, der permanent gefordert wird, ist es Homo nicht gelungen, seine Spezies zu dezimieren. Das Gegenteil ist der Fall.

Wir kommen zum Schluss.

Q.E.D. :
Pffffffffffttt

Oder, um mein bekanntes Fazit zu variieren: Dumm gelaufen.

P.S. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

April 2019

Money money money

Bärdel und Kulle

Es war um die Zeit der Wintersonnenwende, also herrschte noch völlige Dunkelheit während des rituellen Morgenspaziergangs von Bärdel und Kulle. Wie so oft begleiteten sie Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge. Natürlich haben alle Kinder an lichtlosen Wintermorgen keine Lust aufzustehen, aber ihre Wissbegier hatte die Schwestern aus der gemütlichen Höhle hinausgetrieben: Man konnte immer etwas lernen, wenn man die beiden Alten belauschte oder ihnen Fragen stellte. Heute war sogar Athabaska mit von der Partie. Sie hatte ihre ausgiebige Joggingrunde schon beendet und stichelte, während sie sich vom Rennen erholte:

Athabaska sommerlich


„Na, alte Männer, wie wär’s mal mit ein bisschen mehr Bewegung?“

Bärdel ließ sich tatsächlich provozieren und trabte los in die Finsternis. Kulle runzelte verständnislos die Stirn, die Kinder machten große Kulleraugen, und Atti grinste. Schon nach wenigen Augenblicken hörten sie einen gewaltigen Rums, das Knacken von Ästen, den Fall eines schweren Körpers auf die Erde und einen kräftigen Fluch.

Kulle schüttelte den Kopf zum zweiten Mal und tastete sich vorsichtig in die Richtung, in die sein Freund gerannt war. „Bleib ganz ruhig, ich komme!“ brummte er und fügte völlig überflüssig hinzu: „Hast Du Dir was getan?“

„Natürlich nicht! Ich habe mir nur das Handgelenk verstaucht, und an der Stirn habe ich eine blutende Platzwunde oder eine riesige Beule oder beides. Es geht mir also blendend.“ Bärdels Sarkasmus war nicht zu überhören.

„Wird schon nicht so schlimm sein“, wiegelte Kulle ab. „Du bist gegen eine Wärmepumpe gelaufen, die Manfred hier aufgestellt hat. Davon gibt es jetzt eine Menge. Beleuchtet sind die Dinger natürlich nicht. Wenn es stockfinster ist, sollte man eben nicht…“

„Spar Dir Deine Ratschläge!“ knurrte Bärdel. Er war froh, dass er seinen Ärger auf Kulle abwälzen konnte, aber eigentlich war er auf sich selbst wütend. Wie dumm, einfach loszurennen!

Die Beiden tapsten vorsichtig zurück zu den anderen.

„Darf ich mal sehen?“ fragte Atti. Ihre Qualifikation als Krankenschwester war in Bärenleben unbestritten.

„Nein!“ Bärdel würdigte sie keines Blickes, was allerdings nicht auffiel, denn immer noch herrschte biblische Finsternis. Er nahm gemessenen Schrittes seinen Spaziergang wieder auf, Kulle an seiner Seite, und die anderen folgten schweigend. Jetzt nur nichts falsch machen, dachten sie sich.

„Mein Sohn installiert also Wärmepumpen?“ erkundigte Bärdel sich nach einer Weile. „Solarzellen und zwei Windmühlen hat er auch schon. Bärenleben dürfte allmählich energetisch autark sein, sehe ich das richtig?“

Kulle pflegte sich nicht um solche trivialen Fragen zu kümmern, Na und Nuk verstanden nicht, wovon die Rede war, blieb also Athabaska. Ihr oblag die Bärenlebener Buchhaltung, sie war hier kompetent.

„Wir sind inzwischen autark, sogar mehr als das, aber wir speisen unsere Überschüsse nicht in das dehländische Netz ein, weil wir dann unsere Existenz preisgeben müssten. Immerhin kostet uns die Energie jetzt nichts mehr.“

„Super, Tante Atti!“ Nuk wagte sich aus der Defensive. „Das finde ich toll, dass uns die Energie jetzt nichts mehr kostet. Aber wenn Onkel Manfred Solarzellen und Wärmepumpen und Windmühlen gekauft hat, dann hat er dafür doch Geld gebraucht, oder?“

Nuk und Na

„Ja, klar!“

„Und woher hatte er das?“

„Tja…“

„Du kannst es den Kindern ruhig sagen. Wir haben Menschen betrogen. Genauer gesagt: Wir haben Banken von Menschen betrogen. Wir haben Kreditkaren benutzt, die anderen Menschen gehören, und haben damit eingekauft. Wir haben so getan, als seien wir sie. Das haben wir schon mal gemacht, als wir in den USA waren. In Dehland ist das jetzt schwieriger, aber es klappt immer noch.“ Kulle sprach ganz ruhig, obwohl er wusste, dass ihn ein Sturm erwartete.

Der Sturm kündigte sich durch völlige Windstille an. Wie sich das Meer zurückzieht vor einem Tsunami. Da ist nichts – keine Luftbewegung, kein Wasser. Aber dann wüten die Elemente.

„Ihr habt betrogen und gestohlen! Ihr betrügt und stehlt!“

„Ihr seid Diebe!“

„Ihr seid Lügner! Ihr habt uns belogen! Ihr belügt uns!“

„Ihr habt gesagt, so etwas darf man nicht tun!“

„Wir haben Euch vertraut!“

„Wir glauben Euch nicht mehr! Kein Wort glauben wir Euch!“

„Nie wieder!“

Es war immer noch stockfinster. Eisbärenpfoten sind weich, selbst empfindliche Grizzlyohren hören kaum, wenn sie den Boden berühren. Aber Athabaska, Bärdel und Kulle merkten es. Die Zwillinge rannten davon.

„Ihr bleibt bitte hier!“ Noch immer redete Kulle, ohne die Stimme zu heben. Und das Wunder geschah: Na und Nuk blieben stehen.

Bärdel war seinem Freund dankbar. Er ließ ihn machen, was er für richtig hielt. Er selbst hielt sich lieber aus der Sache heraus. Seine immer noch pochenden Kopfschmerzen boten ihm ein willkommenes Alibi. Athabaska unternahm einen Versuch, die Wogen zu glätten. Sie zog Nussriegel aus ihrer Gürteltasche – Joggingproviant, den sie nicht gegessen hatte – und wollte anfangen, sie zu verteilen. Aber niemand griff zu, deshalb versuchte sie eine andere Strategie.

„Nehmen wir an, wir hätten keinen Kreditkartenbetrug begangen. Welche Folgen hätte das gehabt?“ fragte sie.

„Tante Atti, wir müssten dann auf elektrische Energie verzich…“. Nuk begann brav zu antworten, wie es ihre Art war, aber ihre Schwester unterbrach sie mit einem wütenden Redeschwall.

Na

„Ja, natürlich hätten wir dann keine Energie und keine Computer und keine Bibliothek aber wir hättenunserePrinzipiennichtverratenwirwären nichtgenausowiedieMenschen Undjetzt kommmirnichtmit Gesinnungsethikdie nichtdieFolgenbedenktunddamitdassVerantwortungsethikdemstarrenDenken inNormenvorzuziehenist Verantwortungsethik dasistdocheinfachlächerlich wennDuehrlichwärestmüsstestDuzugebendasssichdahinteregoistischer utilitaristischerOpportunismusverbirgtundsonstgarnichts“

Na hörte auf, weil ihr die Puste ausgegangen war.

Ihre entsetzte Schwester versuchte zu retten, was zu retten war: „Aber Na, das kann man doch so nicht sagen…“

Weil es immer noch richtig dunkel war, konnte sie nicht sehen, dass Athabaska und Kulle schmunzelten und einander in die Rippen knufften. Sie freuten sich, dass zumindest eine ihrer Schülerinnen das Stadium des kindlichen Urvertrauens in die Lehren der Erwachsenen verloren hatte und selbstständig dachte.

Athasbaska und Kulle 1

„Das kann man schon so sagen. Und richtig ist es in gewisser Weise auch. Wir Bären sind halt Opportunisten, das zeigt schon unser Fressverhalten. Apropos Fressverhalten…“ Athabaska bot ihre Nussriegel zum zweiten Mal an. Diesmal langten alle zu, und Na beruhigte sich.

„Aber, Tante Atti, ich sehe ja ein, dass wir viele Dinge brauchen, die man nur bekommt, wenn man dafür Geld ausgibt. Gab es denn keinen anderen Weg, als Menschen zu betrügen? Es gibt doch jetzt diese Kryptowährungen, Die kann man schöpfen, habe ich gelesen. Warum machen wir das nicht?“

Bei abstrakten Geldfragen überließ Athabaska das Feld gerne Kulle.

„Erstens sind diese Währungen sehr volatil, man kann keine verlässliche Kalkulation auf ihnen aufbauen. Zweitens dauert das „Schöpfen“ elend lange, und drittens verbraucht es irrsinnig viel Energie. Kryptowährungen sind etwas für Spieler, aber nichts für Bärenleben.“

„Und warum haben wir uns das Geld, das wir brauchen, nicht einfach geliehen?“ Nuk wagte sich wieder aus der Deckung.

„Wer einen Kredit bei einer Bank aufnehmen möchte, dessen Bonität wird in Dehland vorher genau  geprüft. Man will sicher sein, dass der Kredit auch zurückgezahlt wird. Wir würden also unser verstecktes Leben aufgeben müssen.“

„Und wenn wir das Geld einfach schöpfen? Wie die Bitcoins, aber schneller, ohne hohen Energieaufwand, wie Euros oder Dollars?“ Na wollte ihre Idee noch nicht aufgeben.

„Wenn wir das machen“, erklärte Kulle, „nennt man das Geldfälschung. Wenn eine Bank das macht, nennt man das Wertschöpfung.“

Nicht nur Bärdel schwirrte jetzt der Kopf, auch Athabaska und die Kinder waren völlig verwirrt.

„Das verstehe ich nicht!“ sagten alle gleichzeitig.

Kulle richtete sich auf eine längere Erklärung ein.

Kulle 2 als Erklärbär

„Woher kommen alle Euros?“

In die Pause nach der Frage, die lediglich rhetorisch sein sollte, platzte Na mit einer Antwort: „Von M. Draghi.“

Nuk reagierte schwesterlich: „Du spinnst doch!“

„Tue ich nicht! M. Draghi steht auf allen Euroscheinen!“ 

„Und demnächst wird da eine andere Unterschrift stehen, aber Na hat nicht Unrecht.  Mario Draghi ist der Präsident der Europäischen Zentralbank, der EZB, und deren Druckerei produziert die Euro-Banknoten.“

„Einfach so?“

„Einfach so!“

„Und wo kommen diese Banknoten danach überall hin?“

„ Zu Menschen, die berufstätig sind und dafür Geld erhalten, zu Rentnern, Empfängern von Transferleistungen, Couponschneidern und vielen anderen.“

Na wunderte sich, dass Menschen, die transportiert wurden, dafür auch noch Geld bekamen, statt eine Fahrkarte zu bezahlen. Nuk verstand nicht, warum man Euros für das Abschneiden von Rabattcoupons erhielt. Aber beide fragten nicht nach. Statt ihrer wollte Bärdel wissen: „Kriegen auch Regierungen das Geld?“

„Unter Umständen schon. Regierungen erhalten Geld von den Steuern und Abgaben ihrer Bürger und geben das dann wieder aus für Dinge, die ihnen wichtig erscheinen. Wenn die Regierungen der Länder der Eurozone mehr ausgeben wollen, als sie an Steuern einnehmen, müssen sie einen Kredit aufnehmen. Das tun sie aber nicht direkt bei der EZB, sondern bei einer Geschäftsbank.“

„Und woher nimmt die die Euros?“

„Die schöpft sie!“

Den Chor: „Das verstehe ich nicht!“ bekam Kulle jetzt zum zweiten Mal zu hören.

Er holte tief Luft: „Nehmen wir an, der dehländische Finanzminister will einen Kredit von 50 Milliarden Euro aufnehmen. Die Bank, bei der er anfragt, ist von Dehlands Bonität überzeugt, und im Handumdrehen hat der Minister 50 Milliarden Euro auf seinem Konto. Er hat das Geld, obwohl die Bank es vorher nicht hatte. Die Bank hat ihrer Buchführung nach 50 Milliarden Euro ausgegeben und erwartet, sie wiederzubekommen. Aber sie hat das Geld in Wirklichkeit nicht gehabt. Sie hat es, wie man sagt, „geschöpft“. Der Finanzminister dagegen verfügt aufgrund der Gutschrift auf seinem Konto über „wirkliches“ Geld aus der Druckerei der Europäischen Zentralbank.“

„Das ist doch ein riesiger Schwindel!“ empörte sich Athabaska.

Kulle hob die Schultern und ließ sie resigniert wieder fallen: „Geld ist in der Tat ein riesiger Schwindel. Der funktioniert aber, weil alle Beteiligten an den Schwindel glauben.“

„Onkel Kulle, warum nimmt die Regierung überhaupt einen Kredit auf? Warum druckt sie nicht selber das Geld, das ihr fehlt?“  Na hatte schon wieder eine intelligente Idee.

„Manche Regierungen können das, zum Beispiel die USA. Der Dollar ist ihre eigene Währung. Davon können sie drucken, soviel sie wollen, das heiß, sie können auch ohne Ende Schulden machen, ohne dass es ihnen Probleme bereitet. In Dehland ist das aber anders, denn der Euro ist keine dehländische Währung, sondern die Währung aller Staaten im Euroraum. Er ist also so etwas wie eine Fremdwährung, über die die EZB entscheidet.“

„Siehste!“ Na schnitt ihrer Schwester eine Grimasse, und da es inzwischen heller geworden war, konnte Nuk sie auch sehen. „Alle Euros kommen von M. Draghi!“

„Mir dröhnt immer noch der Schädel!“ stöhnte Bärdel und berührte vorsichtig seine Stirn, auf der eine eindrucksvolle Beule gewachsen war. „Aber eins habe ich, glaube ich, trotzdem verstanden: „Wenn Du Recht hast, dann ist der ganze Aufstand, den Trump wegen des US-Handelsbilanzdefizits veranstaltet, völliger Blödsinn?“

„So ist es,“ erklärte Kulle fröhlich. „Passt doch ins Bild: Das meiste, was der Kerl veranstaltet, ist völliger Blödsinn. Und jetzt lasst uns einen Schritt zulegen: Aus der Dorfküche steigt mir der liebliche Duft von Pancakes mit Brombeermarmelade in die Nase, und ich wette, die sind nicht einfach aus dem Nichts geschöpft!“ 

Januar 2019

Bemerkungen zum Untergang

P. D. Kulle

Der Mensch als zoon politikón ist zwar kein zwangsläufig staatenbildendes, wohl aber ein sich in Gesellschaften formierendes Tier. Seine Sozialgeschichte zeigt dabei Entwicklungsmuster, deren Gesetzmäßigkeiten es auf den Grund zu gehen gilt.

Unter Gesellschaft verstehen wir eine soziale Gemeinschaft, deren Mitglieder einen Wertekanon teilen 1. Zu diesem Kanon gehören also ideologische, ethische und ästhetische Aspekte, die qua Enkulturation von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Die aus diesem Kanon resultierenden Haltungen der der Gesellschaft angehörenden Individuen sind dementsprechend recht persistent.

Daneben ist für eine Gesellschaft ein bestimmter Entwicklungsstand der Produktivkräfte charakteristisch, woraus sich deren Produktionsverhältnisse ergeben. Diese wirtschaftlichen Gegebenheiten werden durch adäquate politische Rahmenbedingungen abgesichert 2.

Kleine menschliche Gesellschaften können statisch sein. Das ist der Fall, wenn ihr Stoffwechsel mit der Natur sehr gering ist, wenn sie als Jäger und Sammler leben. Wir beobachten dergleichen noch heute bei isolierten indigenen Gruppen in Lateinamerika und auf einigen Inseln.

Diese Gruppen sind aber aktuell nicht Gegenstand unseres Interesses 3. Wir fragen uns stattdessen: Was hat große, hoch entwickelte Gesellschaften wie z. B. die Maya, das Römische Reich, das minoische Kreta, die Anazasi, Angkor Wat, die Osterinsel, die Weimarer Republik oder die Sowjetunion zerstört?

Charakteristisch für solche Gesellschaften ist nicht ein geringer, sondern ein starker Stoffwechsel mit der Natur 4, bei dem die Gefahr, die eigene Lebensgrundlage zu zerstören, sehr hoch ist. Konkret: Gefahren sind Entwaldung und damit Lebensraumzerstörung, denn mit dem Holz verschwinden Rohstoffe und Nahrungsmittel, und Mikroklima und Wasserhaushalt können sich dramatisch verändern 5. Wesentlich sind auch Probleme mit Acker- und Weideland wie Erosion, Versalzung, abnehmende Fruchtbarkeit. Im Zusammenhang damit sind Fehler bei der Wasserbewirtschaftung zu nennen, die zu Versalzung wie auch zu Übernutzung führen können. Auch Proteinquellen werden aufgrund von übermäßiger Jagd und Überfischung nicht nachhaltig genutzt.

Je entwickelter die Gesellschaft, desto größer der Bedarf an Rohstoffen, desto höher die bei deren Gewinnung und Verarbeitung in die Umwelt entlassenen mehr oder minder toxischen Emissionen, desto größer also der ökologische Fingerabdruck des einzelnen Menschen 6.

Worin liegt die Ursache solcher menschengemachter Fehler? Sie liegt in der schieren Zahl der Gesellschaftsglieder. Während bei normalen Säugetieren körperliche Veränderungen oder Verhaltenssignale die fruchtbaren Phasen der Frauen anzeigen, wird der Eisprung bei Menschenfrauen bestenfalls vom betroffenen Individuum wahrgenommen. Der Geschlechtsakt beim Menschen ist dementsprechend nicht zwingend mit der Fortpflanzung verbunden 7, Menschen üben ihn wesentlich häufiger aus als andere Säugetiere und zeugen permanent Nachkommen. Ist es möglich, die Kinder zu ernähren, werden sie großgezogen. In entwickelten Gesellschaften ist das eher der Fall als in statischen. Das führt jedoch zur Zerstörung des Lebensraums.

Denn das Bevölkerungswachstum zwingt die Menschen zur Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion und zur Ausweitung der Produktionsflächen: Statt gut geeigneter Flächen muss man nun auch weniger gute bewirtschaften, um immer mehr hungrige Münder zu füttern. Nicht nachhaltige Methoden führen zu den zuvor aufgeführten Umweltschäden, mit der Folge, dass man landwirtschaftliche Flächen aufgeben muss. Daraus erwachsen für die Gesellschaft zahlreiche Folgen: Nahrungsknappheit, Hungersnöte, Krieg um knapp bemessene Ressourcen. Schließlich geht die Bevölkerungszahl durch Hunger, Krieg oder Krankheiten zurück, und die Gesellschaft verliert  einen Teil der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Komplexität, die sie in ihrer Blütezeit besessen hatte 8.

Natürlich gibt es auch andere Ursachen für den Niedergang oder Untergang entwickelter Gesellschaften als selbstindizierte. Etliche solcher Ursachen lassen sich nicht oder nur äußerst kurzfristig vorhersagen: Meteoriteneinschläge, Tsunamis, Erdbeben oder Vulkanausbrüche 9.

Der der eigenen Spezies geschuldete Verfall kündigt sich dagegen in der Regel durch eine drohende oder schleichende Verschlechterung der Lebensbedingungen 10 an, und das generiert Ängste. Die Menschen befürchten die Erosion gewohnter Strukturen, allen voran den Verlust ihrer Einkommensquellen (vulgo: Arbeit) und die Zerstörung ihrer privaten Beziehungen (vulgo: Familie),  auch ihrer Religion. In solchen Situationen suchen Menschen nach sogenannten „einfachen Lösungen“: Sie wittern allenthalben Verschwörungen, suchen Sündenböcke, die an „allem“ schuld sind, und gieren nach dem „starken Mann“ 11, der all die Unordnung in die gewünschte Ordnung zurückführen soll.

Der „starke Mann“ ist in der Regel in vielerlei Gestalt rasch bei der Hand. In der Türkei wird er durch Recep Tayyib Erdogan verkörpert, in Russland durch Wladimir Wladimirowitsch Putin, in Brasilien durch Jair Bolsonaro, in den USA durch Donald John Trump … die Liste ist verlängerbar. Wie er auch heißen mag, er propagiert und verspricht stets das Gleiche: Wir in unserem Land sind besser als die anderen. Wir halten alle zusammen und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Wir sind alle gleich – das trifft natürlich nur für die zu, die wirklich zu uns gehören. Wir haben denselben Glauben und praktizieren dieselben Rituale. Wenn wir alle zusammenstehen, stellen wir die guten alten Zustände wieder her. Was sie nicht sagen aber meinen, ist: Wir negieren Pluralismus.

Die vier Genannten haben bisher darauf verzichtet, die Demokratie (völlig) abzuschaffen. Sie haben sich bzw. die ihnen zugehörigen Institutionen also wählen lassen und können dementsprechend mit gewissem Fug und Recht behaupten, den Willen des Volkes zu exekutieren. Sie befinden sich in illustrer Gesellschaft: Auch Adolf Hitler hat sich bis zu seinem unseligen Ende auf das „Deutsche Volk“ berufen.

Um auf den Boden der politischen Theorie zurückzukehren: Wenn die Produktionsverhältnisse gefährdet sind, wird der gesellschaftliche Überbau instrumentalisiert, um die Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren.

Für eine Weile mag das gutgehen. Da die Existenzbedingungen der Menschen sich inzwischen jedoch nicht ameliorisiert, sondern peorisiert haben 12, kann diese Herrschaft nur von kurzer Dauer sein. Denn zu den oben genannten, von Menschen induzierten Gefährdungen sind andere gekommen: die Klimakatastrophe, die Anhäufung toxischer Stoffe und die „Herrschaft“ über die Biodiversivität, die in ein gigantisches Artensterben mündet. Mindestens ebenso bedeutend ist, dass die gewählten – oder auch ursupatorischen – Eliten und ihre Klientel Partikularinteressen vertreten, nämlich ihre eigenen, die auf ihr aktuelles Wohlleben ausgerichtet sind. Langfristige Perspektiven, Interessen anderer oder gar der gesamten Spezies sind da eher kontraproduktiv 13.

Für die aus Partikularinteressen resultierenden Konflikte kennen die Menschen seit Urzeiten eine Lösung: Krieg. 

Pfffffftttt

Dezember 2018

Ich danke – wie immer – meiner Sekretärin.

Das Anthropozän

PD Kulle in der ungewohnten neuen Inkarnation

Vorbemerkung

Paul Crutzen ist ein bedeutender Chemiker und und beschäftigt sich vornehmlich mit der Analyse der Erdatmosphäre. Das impliziert die permanente Konfrontation mit den Emissionen menschlicher Tätigkeit: dem Ozonabbau in der Stratosphäre, der Zunahme von CO2 und CH4 1 in der Atmosphäre, der globalen Temperaturerhöhung. Crutzen scheint vom Ausmaß dieser Auswirkungen so beeindruckt gewesen zu sein, dass er  im Jahr 2000 vorschlug, der aktuellen geologischen Epoche den Namen „Anthropozän“ zu geben. Dieser Vorschlag löste unter menschlichen Wissenschaftlern eine bis heute andauernde heftige Debatte aus – Grund genug, der Angelegenheit aus bärischer Sicht auf den Grund zu gehen.

Was ist eine geologische Epoche?

Wie bekannt, beträgt das Alter der Erde etwa 4.500.000.000 Jahre.2 Mehr als 90% davon werden dem Präkambrium zugerechnet. Organisches Leben spielt hier kaum eine Rolle, wichtig ist dagegen die Tektonik: Die Kerne der heutigen Kontinente, die Kratone, werden gebildet, Ozeane entstehen und verschwinden, die moderne Plattentektonik wird entwickelt. Erde, Wasser, Luft und Feuer interagieren, wie es der Lehre der klassischen Antike entspricht. Die verschiedenen Phasen des Präkambriums werden folgerichtig allein gemäß tektonischer Veränderungen definiert.

Ganz anders verhält es sich mit dem Kambrium, dessen Beginn sich recht genau 541 Millionen Jahre zurückdatieren lässt. Umgangssprachlich formuliert: Dann explodiert die Fauna. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden: Im Paläozoikum3  entwickelten sich die heute bekannten Tierstämme; Tiere und Pflanzen begannen, das Land zu erobern. Das Mesozoikum4  gilt als Zeitalter der Dinosaurier. Das Känozoikum5  brachte die Entwicklung der Säugetiere und der Vögel in der heute bekannten Vielfalt.6

Woher weiß man das?

Seit dem Kambrium sind tierische Lebewesen auf der Erde groß genug, um als Fossilien Spuren zu hinterlassen, die sich leicht identifizieren lassen. Dabei handelt es sich in der Regel um Überreste von Meeresbewohnern, weil Schelfsedimente als Fundstellen besonders ergiebig sind. Die Ersetzung einer dominanten Fossilienart durch eine neue begründet eine neue erdgeschichtliche Epoche. Anthropologen markieren diese Schnittstelle durch einen „Goldenen Nagel“.7

Der gegenwärtige Abschnitt der Erdgeschichte ist das Holozän, die Nacheiszeit. Hier wird der rapide Temperaturanstieg als Marker für den Epochenumbruch genommen, nicht das Auftauchen neuer Spezies.8  Homo sapiens sapiens ist nach dem Ende der letzten Eiszeit längst nachgewiesen. Das Holozän beginnt der menschlichen Phrasierung zufolge vor 12.000 Jahren und ist damit der kürzeste jemals definierte Zeitabschnitt. Denn eigentlich gilt für erdgeschichtliche Abschnitte: Sie sind lang, sehr lang.

Gibt es das Anthropozän?

Das „Zeitalter des Menschen“ soll dadurch gekennzeichnet ein, dass die Spezies Mensch den Planeten maßgeblich prägt. Macht Homo das seit 7000 Jahren, als er vom Jäger und Sammler zum Ackerbauer und Viehzüchter wurde? Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also seit dem Beginn der industriellen Revolution? Oder erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, als er mit der Kernphysik die Mittel erlangte, sich und seine Welt zu zerstören? Über diese Frage herrscht unter den Menschen Uneinigkeit.

Wann auch immer man das Anthropozän beginnen lassen will, es wäre die kürzeste aller bisherigen Epochen. Zieht man aus dem beobachtbaren Verhalten der Menschen Rückschlüsse und formuliert, darauf basierend, eine Prognose, so liegt die Vermutung nahe, dass das Anthropozän sein Alter nicht mehr wesentlich wird steigern können.

Andererseits sind die Veränderungen, die dem Planeten aufgrund des Wirkens von Homo zugefügt wurden und werden, bemerkenswert.

Eine wichtige Rolle bei der Beantwortung der Frage nach der Existenz des Anthropozäns spielt das Artensterben. Den Paläontologen sind mindestens fünf große Massensterben während des Kambriums bekannt, für die geologische, kosmische bzw. atmosphärische Ursachen vermutet werden. Jetzt aber ist eine einzige biologische Art für einen Aussterbe-Tsunami verantwortlich. Der Grenzwert für das verkraftbare Aussterben von Arten ist weit überschritten, bis zu 130 Arten täglich(!) verschwinden. Gründe dafür sind die Art der Landnutzung9, die nicht zuletzt aus der Zahl der Weltbevölkerung resultiert. In den letzten 40 Jahren dürfte die Hälfte der Tierwelt durch den Menschen ausgelöscht worden sein.10

Von atmosphärischen Auswirkungen menschlichen Agierens war bereits die Rede.

Atemberaubend ist nicht nur die Degenerierung des Planeten durch den Menschen, atemberaubend ist auch die Zunahme der auf der Erde lebenden Individuen. Seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung ist die Weltbevölkerung von 200 bis 400 Millionen Menschen bis zum Jahr 1800 auf eine Milliarde gestiegen11. Danach ging es in beschleunigtem Sauseschritt voran12 : Nach weiteren 123 Jahren wurde die zweite Milliarde erreicht, nach 33, 15, 13, 12 und wieder 13 Jahren13 die dritte, vierte, fünfte, sechste und siebente. Man schrieb das Jahr 2011. Nach Prognosen der UN, die von der Annahme ausgehen, die Fertilitätsrate pro Frau werde sich weltweit bei zwei Kindern einpendeln, wird das Wachstum der Menschheit in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts aufhören14 . Wie auch immer: Bereits bei der jetzigen Zahl reicht die Regenerationskraft des Planeten nur zu zwei Dritteln aus, um die menschlichen Aktivitäten zu kompensieren.

Warum befürworten die meisten Menschen den Begriff „Anthropozän“?

Das Zeitalter des Menschen – stolz klingt das, wenigstens in menschlichen Ohren!

Weniger stolz klingen die Verse des Menschen Sophokles15  in seiner Tragödie „Antigone“:

Ungeheuer ist viel. Doch nichts
ungeheuerer als der Mensch.

Sophokles: Antigone

Grässlich, schrecklich und furchterregend ist der Mensch … einerseits. Aber auch groß, großartig, zu vielem fähig.

Der Mensch hört hiervon in der Regel nur die zweite Bedeutung. Er beschönigt, was seine Existenz ausmacht, er verbrämt unangenehme Tatsachen, kurz, er lebt in einer Welt gedanklicher und begrifflicher Euphemismen.

So bezeichnet er die Anzahl egoistischer Nationalstaaten, die um Vorteile rangeln, skrupellos Kriege gegeneinander bzw. gegen die eigene Bevölkerung führen, als „die Menschheit“, „Staatengemeinschaft“ oder „Vereinte Nationen“.

Die Entwicklung immer raffinierterer Vernichtungswaffen gilt ihm als „Verteidigung“.

Die Kleingruppe, in der Kaufkraft generiert und „Humankapital“ herangezogen wird, ist ihm „Familie“.

Die Instanz zur Durchsetzung von Investorenimperativen: das Parlament.

Das Zeitalter, in dem der Mensch in seiner infamsten Ausprägung, in der Ausprägung des Kapitals, die Erde ruiniert: das Anthropozän.

Nachbemerkung

Der Mensch arbeitet mit Nachdruck an der Abschaffung des Anthropozäns, wenn es denn ein solches gibt, indem er durch seine Aktivitäten seine eigenen Spezies ihrer Lebensgrundlage beraubt. Vielleicht führt sein gedankenloses Profitstreben auch dazu, rasch eine andere dominante Spezies zu installieren, die Künstliche Intelligenz. Beginnt dann ganz schnell das Androidozän?

Vielleicht macht aber auch Terra dem Menschen Konkurrenz: Man vermutet, dass Supervulkanausbrüche für Artensterben (mit)verantwortlich waren. Wenn der Yellowstone-Vulkan oder die Phlegräischen Felder16  aus ihrem Schlummer erwachen und einen vulkanischen Winter verursachen, dürfte dem Anthropozän ebenfalls ein Ende bereitet werden.

Wie auch immer:

PFFFTTTTT…

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

Oktober 2018

Fußnoten: Die Fußnoten lassen sich sowohl klicken als auch mit ruhendem Cursor per „PopUp“ aufrufen

Kulles Verwandlung

Kulle kam aus der Höhle, rieb sich den Bärendreck aus den Augen und begrüßte Bärdel, der bereits auf ihn wartete, mit einem heiteren „Guten Morgen“. Ohne sich umzudrehen, gab Bärdel den Gruß zurück; er hatte seinen besten Freund an der Stimme erkannt. Na und Nuk, die sich ebenfalls zum Morgenspaziergang eingefunden hatten, zögerten dagegen. 

Der neue Kulle

„Guten Morgen. Onkel Kulle?“

Nuk und Na

Das war nicht die gewohnte Satzmelodie eines fröhlichen Morgengrußes. Das war unzweideutig eine Frage.

„Natürlich bin ich Onkel Kulle!“ Ob der ungewohnten Begrüßung war Kulle wirklich indigniert. Er hatte, zusammen mit Atti, die Eisbärenzwillinge erzogen und unterrichtet, seit sie mit ihrer Mutter in Bärenleben angekommen waren. Er fühle sich fast wie ihr Vater, nicht nur wie ihr Onkel. Und jetzt das!

„Ein bisschen komisch siehst Du schon aus!“ mischte Bärdel sich ein. „Ich hätte Dich auch kaum wiedererkannt, außer an der Stimme. Du hast auf einmal so lange Arme…“

„…und Beine!“ fiel Nuk ein.

„Und so einen kleinen Kopf!“ fügte Na hinzu. Kulle war sofort beleidigt – zweifelte das Kind etwa an seinem überragenden Verstand?

„Allerdings ist der Kopf jetzt bärischer als bisher“, stellte Bärdel fest. „Das gefällt mir.“

Atti sauste an der Gruppe vorbei. Sie war auf ihrer täglichen Joggingrunde. Als sie Kulles ansichtig wurde, stieß sie einen anerkennenden Pfiff aus. Ein neuer hübscher Kerl im Dorf – das fand sie gut.

Athabaska

„Onkel Kulle, Tante Atti hat Dich auch nicht erkannt! Was ist eigentlich passiert?“

„Vielleicht leidet Ihr ja alle an Bewusstseinsstörungen. An Sehstörungen. Ich sehe bestimmt aus wie immer!“

Er ging zu einer großen Pfütze ein paar Meter weiter, die sich während des letzten nächtlichen Regens gebildet hatte, um sich im Wasser zu spiegeln. Es waren nur ein paar Schritte bis dahin, der Boden war völlig eben, aber Kulle stolperte kurz davor. Als er versuchte, sich mit den Armen abzustützen, kam er unvermittelt rasch auf der Erde auf und stauchte sich das Handgelenk.

„Au!“ schimpfte er, mehr vor Schreck als vor Schmerz. Er hatte wirklich plötzlich andere, ungewohnte Extremitäten.

Die Pfütze war von dem Sturz nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, Kulle konnte das tun, was er hatte tun wollen: sich spiegeln. „Heiliger Marx!“ rief er, als er sich sah. „Ich glaub’s nicht! Das war nur ein blöder Traum! Träume sind unterbewusst, sie dienen der Gehirnreinigung, sonst gar nichts!“

Ups? Das ist Kulle?

Ungeachtet seines schmerzenden Handgelenks trommelte er wütend mit den Fäusten auf die Erde.

Bärdel trottete zu ihm und fing ihn in einer großen Umarmung auf. „Kulle, Du siehst nicht aus wie immer. Du benimmst Dich aber wie immer. Irgend etwas ist passiert, und das scheint mit Deinem Schlaf zu tun zu haben. Was hast Du geträumt?“

Kulle steht am Ufer des Dorfteiches, der  völlig zugewachsen ist mit Schilf und auf dem Teichrosen mit riesigen Blättern wachsen. Von Oicy und ihren Kindern ist nichts zu sehen, ebensowenig von den anderen Bewohnern Bärenlebens. Tussi taucht aus dem Wasser auf und grinst ihn an. Über ihrem Kopf schwirrt etwas in der Luft, das Kulle zunächst für einen rotierenden braunem Golfball hält. Erst bei näherem Hinsehen stellt er fest, dass es sich um einen kleinen Hund handelt, der seine Ohren so schnell rotieren lässt, dass er wie ein Kolibri in der Luft zu stehen vermag. Kulle beschließt, dass er das nicht verstehen muss.

Tussi und Merkel

„Hallo, Stinker!“ begrüßt Tussi ihn. „Oder besser: Lieblingsstinker! Von der ganzen Bärenbrut kannst Du mit Abstand am besten denken, deshalb schätze ich Dich besonders.“

„Vom Denken kriegt man Beulen,“ brummt Kulle.

„Hä?“ quakt Tussi. 

„Wer denkt, ist links. Wer links ist, demonstriert. Wer demonstriert, kriegt von der Polizei Prügel. von Prügel kriegt man Beulen. Also kriegt man vom Denken Beulen.“

„Gefällt mir. Kannte ich noch nicht.“

„Ist von Dietrich Kittner.“

„Kenne ich auch nicht.“

„Schade. Wirst Du nicht kennenlernen. Ist schon tot.“

„Ich will nicht, dass Du auch bald tot bist. Beulen hast Du nicht, aber schon ziemlich viele Löcher im Fell. Und in Deinen Organen. Ich verpasse Dir eine Neuinkarnation, damit Du Bärenleben und mir noch lange erhalten bleibst und den Menschen weiterhin den Spiegel vorhältst. Vielleicht gucken sie eines Tages ja tatsächlich rein, obwohl ich das nicht glaube. Okay?“

Aber…“

„Damit wir uns richtig verstehen, Stinker: Das war keine echte Frage. Finde Dich einfach damit ab!“

„So war das also! Ich glaube Dir jedes Wort. Mit mir hat Tussi leider schon lange nicht mehr gesprochen, aber die Bärenlebener werden sich freuen zu hören, dass sie sich noch in unser Leben einmischt. Heute Abend wirst Du in der Höhle der Star sein, und schon Morgen wird niemand, der Dich sieht, bezweifeln, dass Du Kulle bist.“

Kulle war sich da nicht so sicher, aber was blieb ihm anderes übrig?

September 2018

Schwächelnde Konjunktur

Die Eisbärenkinder begleiteten Bärdel und Kulle heute auf deren Morgenspaziergang, aber anders als sonst tollsten sie nicht um die beiden Alten herum, sondern tapsten artig hinter ihnen her und waren ungewöhnlich still. Kulle war, seiner Denkart entsprechend, mit gesellschaftspolitischen Problemen beschäftigt und nahm seine Umwelt dabei nicht wahr. Bärdel aber drehte sich schließlich um.

„Na, was ist los mit Euch beiden?“ erkundigte er sich.

Bärdel

„Och, Onkel Bärdel, wir sind ein bisschen traurig.“

„Und warum?“

„Wir haben in den Nachrichten gehört und auch in der Zeitung gelesen, dass es der Konjunktur nicht gut geht. Sie schwächelt. Das heißt doch, dass sie krank ist und immer schwächer wird, oder? Wir würden ihr gerne helfen, aber wir wissen nicht, wie. Wir wissen auch gar nicht recht, wer sie ist und wo wir sie finden können. Wir haben Onkel Manfred danach gefragt, aber der hat einen Lachanfall gekriegt und uns nicht geantwortet. Mami hat uns weggeschickt und gesagt, wir sollten Robben fangen lernen, anstatt dumme Fragen zu stellen. Tante Atti hätte uns bestimmt nicht ausgelacht oder uns weggeschickt, aber die haben wir nicht finden können. Lachst Du uns auch aus, Onkel Bärdel?“

Robben fangen – doch nicht jetzt!

Die Frage war nur allzu berechtigt, denn Bärdel hatte große Mühe, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Um nicht antworten zu müssen, täuschte er einen Hustenanfall vor. Den nutzte er dazu, Kulle in die Seite zu knuffen und aus seinen Gedanken zu reißen.

PD Dr. Kulle – hier informell

„Was ist denn los?“ fragte Kulle unwillig.

Da Bärdel immer noch vorgab zu husten, antwortete Nuk. „Die Konjunktur schwächelt, Onkel Kulle!“

„In der Tat, das scheint so zu sein. Wurde auch allerhöchste Zeit. Kalle würde im Grabe rotieren, wenn er erführe, dass ein Zyklus so lange dauern kann. Zu etwas scheint dieser Trump also doch gut zu sein.“

Na und Nuk schauten erst Kulle an und dann einander. Sie hatten kaum etwas verstanden, aber eines begriffen sie: Onkel Kulle stellte die ethischen Werte, die er selbst ihnen vermittelt hatte, auf den Kopf.

„Du freust Dich, dass jemand krank ist?“ Na war fassungslos.

„Wieso? Wer ist krank?“ Jetzt war Kulle irritiert.

„DIE KONJUNKTUR!“ schrieen die Zwillinge. „UND DU FREUST DICH DARÜBER!“

Nuk und Na

„Ja natürlich!“ Kulle verstand die Aufregung nicht. „Denn…“

Jetzt griff Bärdel ein. Bevor hier noch mehr Missverständnisse wuchsen, musste einiges geklärt werden, fand er.

„Wisst Ihr eigentlich, was die Konjunktur ist?“ wollte er von den Kindern wissen.

Die beiden wussten es nicht, aber es war unter ihrer Würde, ihre Ignoranz zuzugeben.

„Sie ist weiblich,“ behauptete Na selbstsicher.

Kulle machte sich eine mentale Notiz: Über den Unterschied zwischen Genus und Sexus würde man noch zu reden haben.

„Ihr Zustand wird von den Menschen genau beobachtet,“ ergänzte Nuk. 

Und damit waren sie am Ende ihrer Weisheit angekommen. 

„Wir wissen vieles nicht: Was für eine Art Lebewesen sie ist, wo sie lebt und an welcher Krankheit sie leidet. Aber wir finden es richtig, dass sie uns leid tut und dass wir ihr helfen wollen!“ erklärten sie schließlich trotzig.

„Das ist auch gut so. Empathie ist etwas sehr Positives. Aber Ihr geht von einer falschen Voraussetzung aus: Die Konjunktur ist kein Lebewesen. Sie ist ein Abstraktum. Ihr wisst doch, was Abstrakta sind, oder?“

„Klar. Abstrakta sind Begriffe, mit denen etwas bezeichnet wird, das kein Gegenstand ist. Vertrauen zum Beispiel. Oder Freiheit.“

„Sehr gut!“ lobte Bärdel. „Wenn die Freiheit oder das Vertrauen schwinden, dann ist das bedauerlich. Und wenn man das verhindern oder beenden will, dann kann man nicht die Freiheit oder das Vertrauen kurieren, sondern muss die konkreten Verhältnisse ändern, die für ihren Schwund verantwortlich sind. Verstanden?“

„Verstanden, Onkel Bärdel. Unser Ansatz war also falsch. Wir können die Konjunktur nicht finden, denn sie ist kein Konkretum. Wir müssen stattdessen die konkreten Verhältnisse ändern, die für ihr Schwächeln verantwortlich sind. Richtig?“

„In sich schlüssig, an sich falsch.“ Kulle schaltete sich wieder ein. „Ihr geht von der Annahme aus, dass eine starke Konjunktur etwas Positives ist, wie großes Vertrauen und große Freiheit. Bei der Konjunktur stellt sich aber die Frage nach dem cui bono: Wem nützt eine starke, wem eine schwache Konjunktur?“

„Onkel Kulle, bitte!“ Nanuk waren jetzt ganz kleinlaut. „Onkel Kulle, wir haben doch schon zugegeben, dass wir gar nicht wissen, was das ist: die Konjunktur.“

Na, das kann dauern, dachte Bärdel. „Kommt, wir gehen da hinten in die Brombeeren!“ schlug er vor. „Mit einer Erfrischung denkt es sich besser.“

Kulle verstand den Wink mit dem Zaunpfahl – er sollte ein Beispiel für seine Erklärung nutzen. Nachdem alle genüsslich die erste Handvoll der köstlichen schwarzen Bällchen genascht hatten, sagte er: „Konjunktur ist ein Begriff, der die Wirtschaftsleistung in einem Land oder in der ganzen Menschenwelt erfassen soll. Es geht darum, wie viele Menschen Arbeit haben und damit Geld verdienen, und wie viel Geldwert dabei geschaffen wird. Nehmen wir diese Brombeerbüsche hier und stellen wir uns vor, nur für einen kurzen Augenblick, wir wären Menschen“ – die Zwillinge schauderte es, und auch Bärdel fühlte, wie ein Eiszapfen seine Wirbelsäule hinunterwanderte. „Wir könnten alle Beeren in kurzer Zeit abernten. Wir würden dafür bezahlt, und wir oder ein anderer Mensch würde sie verkaufen, an uns oder an andere Menschen. Wir alle hätten Arbeit und würden mit ihr den maximal möglichen Geldwert schaffen. Das wäre eine gesunde Konjunktur!“

Nanuk schauten Kulle an, als zweifelten sie an seinem Verstand.

„Onkel Kulle…“ Nuk wagte nicht weiterzusprechen.

Auch der vorlauten Na fiel es nicht leicht, Kulle ihre Meinung zu sagen, aber sie wagte es trotzdem. „Onkel Kulle, aber das ist doch dumm! Morgen hätte niemand mehr Brombeeren! Ganz abgesehen davon, dass es idiotisch ist, erst Beeren zu ernten, dafür bezahlt zu werden und dann dieselben Beeren wieder zu kaufen, wahrscheinlich für mehr Geld, als man für das Abernten bekommen hat!“

Kulle freute sich über die kluge Antwort, aber Bärdel wusste, dass er einiges klarstellen musste, sonst kamen die Zwillinge noch auf die Idee, seinen Freund für die menschliche sogenannte Wissenschaft ‚Volkswirtschaftslehre‘ verantwortlich zu machen.

„Natürlich ist das dumm! Aber die Menschen wissen es nicht besser. Für uns dagegen  ist eine kranke Konjunktur besser. Die Menschen verbrauchen dann weniger von dem, was die Welt an Schätzen zu bieten hat.“

„Jetzt haben wir verstanden, Onkel Bärdel!“

„Gut!“ meinte Kulle dann können wir ja…“

„…noch ein paar Brombeeren essen!“ fiel Bärdel ihm ins Wort.

Kulle gab sich zufrieden. Sein Freund hatte ja Recht. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Inflationsrate, Freihandel, Schutzzölle und Konjunkturzyklen konnten bis zur nächsten Gelegenheit warten. Er nahm die Geschenke der Eisbärenkinder, die ihm Brombeeren pflückten, gerne an.

August 2018

Zoon Politikon

Kulle

Eisbärenfamilie

„Onkel Kulle, Onkel Bärdel, kennt Ihr schon den neuesten Eisbärenwitz?“

Bärdel wie auch Kulle glaubten, alle Eisbärenwitze zu kennen, aber natürlich wollten sie die fröhlichen Eisbärenzwillinge nicht enttäuschen, schon gar nicht an einem wunderschönen Aprilmorgen wie diesem.

Also sagte Bärdel, und er legte viel gespannte Erwartung in seine Stimme: „Nein, bestimmt nicht. Erzählt doch mal!“

Na fing an: Es war einmal ein Eisbärenkind, das fragte seine Mutter: “Bist Du wirklich eine echte Eisbärin?“

Nuk fuhr fort: „Aber selbstverständlich. Und Dein Vater und Eure Großeltern sind auch echte Eisbären. Warum fragst Du überhaupt?“

Nanuk schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an. „Gleich kommt die Pointe. Habt Ihr eine Ahnung?“

„Nein!“ Die beiden alten Bären logen, so gut sie konnten.

„Mir ist so kalt!“ sagten die Zwillinge unisono.

Na und Nuk

Bärdel und Kulle lachten pflichtschuldigst, aber nicht überzeugend genug.

„Ihr kanntet den Witz schon! Ihr seid gemein! Aber der Witz ist trotzdem gut, oder?“

„Der Witz ist trotzdem gut, ja. Denn er nimmt eine überraschende Wendung, was einen ordentlichen Witz auszeichnet, und er transportiert dazu noch eine Wahrheit statt eines Vorurteils, was die meisten schlechten Witze auszeichnet.“

„Eine Wahrheit, Onkel Bärdel? Welche denn?“

Baerdel

„Das Eisbärkind in dem Witz friert, und das gehört sich nicht für ein Tier, das ein Fell mit hervorragender Wärmedämmung besitzt. Es hat Angst, nicht dazu zu gehören.“

„Warum ist es wichtig, dazu zu gehören?“

Bärdel seufzte. Warum konnte er nicht einfach auf seinem Morgenspaziergang den Frühling genießen, statt sich mit überraschenden Grundsatzfragen konfrontiert zu sehen?

Kulle dagegen war in seinem intellektuellen Element: „Was Wirbeltiere angeht, so kenne ich mich bei Reptilien, Amphibien, Fischen und Vögeln nicht sonderlich aus. Bei den meisten Säugetieren ist Gruppenbildung zu beobachten. Nehmt uns, die Bären – nur die ignoranten menschlichen Biologen behaupten, wir seien Einzelgänger. Die waren halt nie in Bärenleben!“

Kulle

„Und das ist auch gut so!“ brummte Bärdel.

„Sind denn die Menschen Einzelgänger oder Gruppengänger?“ wollte Nuk wissen.

„Die Menschen sind gesellige Tiere, wie wir auch. Früher, in der Menschenkindheit, haben sie auch gelebt wie wir, in Gruppen, die die Anthropologen beliebig mal als Stamm, Horde, Großfamilie, Clan oder Sippe bezeichnen. Wie auch immer man dieses Zusammenleben nennt: Alle Mitglieder waren ranggleich, es gab keine oder eine gering ausgeprägte Arbeitsteilung, es gab keinen nennenswerten individuellen Besitz. Jeder trägt unter solchen Bedingungen zum Wohl der Gemeinschaft bei, so gut er kann.“

„Ich weiß ja, dass die Menschen nicht sonderlich intelligent sind, aber wie dumm muss man sein, um so schöne Lebensbedingungen aufzugeben?“ Das war Na, die selten an Selbstzweifeln litt.

Na

„Die ständige Fortentwicklung der Produktionsmittel führt zur Höherentwicklung der Produktionsverhältnisse, damit verbunden aber auch notwenig der Ausbildung von Klassen, wobei die Expropriateure darauf bedacht sind…“

Ein Blick in verständnislose Kinderaugen ließ Kulle verlegen innehalten. „Also“, sagte er, „nach einer gewissen Zeit wurde eine Gruppe von Menschen reicher als die anderen, und die Reichen wollten ihren Besitz behalten. Die Männer unterwarfen dazu die Frauen und zwangen sie, nur mit einem von ihnen Geschlechtsverkehr zu haben, so dass sie sicher sein konnten, dass sie die Väter der Kinder waren, die die Frauen zur Welt brachten. Besonders fiese Männer erfanden die Regel, dass alle so zu leben hatten, auch die Armen, und damit die Vorschrift befolgt wurde, behaupteten sie, sie sei von einem Gott gegeben, der alle bestrafen würde, die sie verletzen, vielleicht schon in ihrem Leben auf der Erde, ganz sicher aber im ewigen Dasein nach dem Tod.“

„Und das hat funktioniert? Die Erfindung der Religion?“ fragten Nanuk ungläubig.

„Das hat funktioniert, denn Arme und Reiche, Frauen und Männer wollten zu den Guten, Gerechten gehören und nicht zu den Schlechten, Verdammten.“

„Lange?“

„Sehr lange. In vielen Gegenden der Welt funktioniert es immer noch.“

„Aber in Dehland spielt das Christentum inzwischen eine immer geringere Rolle, richtig?“

„Richtig, Nuk!“ sagte Bärdel. „Vielleicht ist es Dir nicht aufgefallen: Du hast gerade ein Beispiel für eine andere Einrichtung genannt, zu der Menschen gehören müssen oder sollen oder können oder wollen.“

„Hmm,“ machte Nuk verlegen, weil ihr des Rätsels Lösung nicht sofort einfiel.

„Der Staat natürlich, nicht wahr, Onkel Bärdel?“ Na warf ihrer Schwester einen gemeinen Blick zu, während sie Bärdel und Kulle honigsüß anlächelte.

„Ja, der Staat. Menschen können ihn sich nicht aussuchen. In der Regel werden sie Bürger eines Staates, wenn sie in ihm geboren worden sind. In manchen Staaten ist das ein Fluch, zum Beispiel in Afghanistan, im Jemen, in Syrien. In anderen Staaten ist das dagegen ein Segen, zum Beispiel in Dehland, denn es gibt Versicherungen für alle, zum Beispiel gegen Krankheitskosten, und wer finanziell nicht für sich selbst sorgen kann, bekommt Geld vom Staat, wenn es auch nicht viel ist.“

„Ist der Staat in Dehland also nett?“ erkundigte sich Na.

„Politik, kleine Schwester, ist Handeln zur Durchsetzung von Interessen. Das haben wir bei Tante Atti und Onkel Kulle gelernt. Mit Nettigkeit hat das nichts zu tun. Du hast wohl wieder mal nicht aufgepasst, was?“

Die Rache war gelungen. Die Haut rund um Nas Nase wurde rosarot. Sie schämte sich.

„Aber etwas verstehe ich nicht. Warum bezahlt der Staat das alles?“

Bärdel pflückte sich eine große Portion Löwenzahnblätter und stopfte sie sich in den Mund, bevor er antwortete. Er wollte nicht zulassen, dass die Kinder sein Morgenvergnügen völlig ruinierten.

Loewenzahn

„Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass der Staat alles bezahlt. Tatsächlich verteilt er nur Gelder um, die die Bürger ihm zur Verfügung stellen mussten, indem sie Steuern zahlten. Aber Bürger, die denken, dass der Staat für sie sorgt, tun, was sie sollen, ohne zu widersprechen oder sich gar aufzulehnen.Sie funktionieren, gehen brav arbeiten, finden es normal, dass die Unternehmen nicht ihnen gehören, sondern Aktionären, und wählen alle paar Jahre die politischen Parteien, die ihnen in ihren Augen so viele Wohltaten zukommen lassen.“

„Ich hab’s doch vorhin schon gesagt: Menschen sind dumm!‘“ Na hatte sich schnell wieder von ihrer Blamage erholt. „Mir fällt übrigens noch eine Gruppe ein, zu der Menschen dazugehören wollen: Soziale Netzwerke.“

Das war das richtige Stichwort, um Kulle zornig zu machen. Aber er verzichtete darauf, wieder einen schwer verständlichen wissenschaftlichen Vortrag zu beginnen. Pädagogik war gefragt.

„Du hast recht, kleine Na. Eine Milliarde und fünfhundert Millionen Menschen sind zum Beispiel bei Facebook aktiv, und es wären noch viel mehr, wenn man sie ließe, aber in vielen Ländern ist es verboten. Lasst uns mal nachdenken, warum Facebook so erfolgreich ist! Ein paar Antworten sollten uns einfallen.“

Mit uns‘ meinte Kulle natürlich die Kinder, und die enttäuschten ihn nicht.

„1,5 Milliarden Menschen – das ist so eine große Gruppe! Wenn man dazu gehört, kann man einfach nichts falsch machen!“

„Jeder kann etwas mögen oder auch nicht, jeder kann etwas posten: Jeder einzelne hat das Gefühl, wichtig zu sein!“

„Man kann viele Freunde haben.“

„Man bekommt nur Sachen mitgeteilt, die der eigenen Meinung entsprechen. Man braucht sich also nicht über entgegengesetzten Ansichten zu ärgern.“

Die Zwillinge sahen Kulle erwartungsvoll an und bekamen auch das Lob, das sie verdienten.

„Sehr richtig, Ihr Beiden. Aber lasst uns noch ein bisschen grundsätzlicher nachdenken.“

Nanuk strahlten. Nachdenken war ihr zweitliebster Sport, gleich nach dem Herumtollen im Dorfteich.

„Au fein!“

„Facebook ist ein kapitalistisches Unternehmen. Im Kapitalismus werden Waren getauscht. Waren haben einen Tauschwert und einen Gebrauchswert. Der Käufer einer Ware ist am Gebrauchswert interessiert, der Verkäufer am Tauschwert. Der Tauschwert wird in der Regel im Preis ausgedrückt, also in Geld. Soweit alles klar?“

Die Kinder nickten ein wenig herablassend. Natürlich war das klar.

„Die Mitgliedschaft bei Facebook ist aber kostenlos. Welchen Preis zahlen die Nutzer an Mark Zuckerberg?“

Das war eine härtere Nuss, an der die beiden durchaus zu knabbern hatten. Sie tuschelten miteinander. Das war typisch: Wenn sie beide herausgefordert wurden, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

„Wir glauben, Onkel Kulle, dass Facebook viel über seine Mitglieder erfährt. Und vielleicht kann Mark Zuckerberg diese Informationen verkaufen, an andere verkaufen, an Unternehmen oder politische Parteien vielleicht, und bekommt so seinen Tauschwert. Auf einem Umweg, sozusagen.“ Nuk sprach langsam und stockend. Na, die sonst so vorlaute, hatte ihre ältere Schwester vorgeschickt. So konnte sie selbst in der Deckung bleiben. Aber die Vorsicht war überflüssig. Kulle war voll des Lobes, und auch Bärdel wiegte anerkennend den Kopf, obwohl er hauptsächlich mit der nächsten Portion Löwenzahn beschäftigt war.

„Gut gedacht! Es bleibt aber noch eine zweite Frage: Welche Gebrauchswert hat Facebook für die Nutzer?“

Als die Kinder nicht gleich antworteten, gab er ihnen einen Tipp: „Denkt an Eure Antworten vorhin: Warum ist Facebook so erfolgreich?“

„Die Mitglieder haben ein gutes Gefühl!“ sagten Na und Nuk gleichzeitig und brachten ihre Aussagen damit auf den Punkt.

„Hmmm,“ brummte Bärdel mit vollem Mund, und nachdem er seine Kräuterportion hinuntergeschluckt hatte, meinte er: „Noch wichtiger ist: Niemand langweilt sich mehr. Facebook ist die beste Verdummungs- und Zeittotschlagsmaschine, die je erfunden wurde.“

Kulle beendete das Gespräch: „Der größte Euphemismus dabei ist die Bezeichnung soziale Netzwerke‘. Facebook sollte besser Zuckerbergs Spinnennetz‘ heißen.“

Darüber mussten die Zwillinge erst mal nachdenken.

Mai 2018

Anmerkungen zu Theorie und Realität des Freihandels

P. D. Kulle

Zu Zeiten, als freier Handel zwischen Ländern verpönt war, leistete der geschätzte Kollege David Ricardo 1817 Bahnbrechendes, um ihm zu Ehren zu verhelfen. Er entwickelte eine Theorie, bekannt geworden unter dem Namen der Theorie der komparativen Kosten, in der er bewies, dass sich freier Handel immer lohne, selbst dann, wenn die Produktionskosten in einem Land höher sind als in dem anderen.

Er bewies diese erstaunliche Behauptung tatsächlich, allerdings unter Annahmen, die einfache Bedingungen setzten: Er nahm zwei Länder an, die jeweils ein Produkt herstellten, das als Ware getauscht wird, Länder, in denen gleiche Arbeitskosten existierten und deren Kapital national gebunden war. Stellten sich beim Warenaustausch Verwerfungen ein, wurde ggf. eine Währung abgewertet.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 2016 war Freihandel dagegen offiziell das Credo der kapitalistischen Wirtschaftswelt – bis der designierte US-Präsident Trump andere Prioritäten ankündigte. Mit diesem Clash of Priorities werden wir uns im Folgenden auseinandersetzen.

Auf der Erde gibt es knapp 200 sehr verschiedene Staaten, die meisten davon mit kapitalistischem Wirtschaftssystem, und alle treiben Handel mit anderen, wenn auch sehr unterschiedlich intensiv. Es existieren Ländergruppen, die zu Freihandelszonen, zu Zollunionen oder zu Staatenbünden zusammengeschlossen sind, dort ist der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kommunikation besonders intensiv. Zwischen verfeindeten Staaten(gruppen) findet dagegen kaum Handel statt
(1).

Ricardo konnte am Beginn des 19.Jahrhunderts zu Recht davon ausgehen, dass eine Ware komplett in einem Land gefertigt wird, in seinem Beispiel sind das Wein in Portugal und Wolltuche in England. Eine solche Art der Produktion stellt heute allerdings eher die Ausnahme als die Regel dar. Die zahllosen, oft nutzlosen (2) Produkte, mit denen der Weltmarkt überschwemmt wird, werden zumeist international im Auftrag supranationaler Unternehmen arbeitsteilig gefertigt: Die Rohstoffe stammen vielleicht aus dem Kongo, wie seltene Erden (3), oder aus Ägypten, wie Baumwolle (4), sie werden weiter verarbeitet zu High-Tech-Geräten in China oder zu Kleidungsstücken in Vietnam oder Bangladesh (5), und von dort finden sie ihren Weg zu Endverbrauchern in den USA oder der Europäischen Union.

Diese Art der Produktion bedarf natürlich eines funktionierenden, billigen Transportsystems, das auf der Langstrecke“ durch Frachtschiffe und Flugzeuge, über kürzere Distanzen durch LKWs realisiert wird (6).

Solch parzellierte Produktion, solch konzertierte Distribution bedarf der permanenten Kommunikation, der Planung und Überwachung. Mit der klassischen Briefpost ließe sich hier nichts ausrichten, auch nicht mit den modernen Mitteln der Telekommunikation wie etwa dem Telegrafen oder dem Fernschreiber: Zu groß sind die Datenmengen, zu dringend ist die Notwendigkeit der Verständigung ohne jeden Zeitverzug. Das Internet macht das möglich (7).

Es versteht sich von selbst, dass unter derartigen Bedingungen Kapital frei flottieren kann und muss: Als Investitionskapital allemal, aber auch als Spekulationssubjekt, trachtet es doch immer nach Profit und ist kühn genug, sich dem Glücksspiel anheim zu geben. (8)

1948 wurde das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) gegründet, 46 Jahre später ersetzte die WTO (World Trade Organization) dieses Abkommen. Über 160 Unterzeichnerstaaten des WTO-Vertrages sind sich offiziell einig in dem Bemühen, tarifäre (9) und nicht tarifäre (10) Handelshemmnisse zu verringern und gegen Null zu reduzieren. De facto wird jedoch häufig versucht, die eigenen Produzenten vor Konkurrenz-Importen zu schützen. Dabei kommt es oft zu Ungleichgewichten (11). Auch ist es offiziell nicht gestattet, die Produktion oder den Export der eigenen“ Wirtschaft zu subventionieren. Diese Regel wird ebenfalls gern missachtet. (12)

Überschüsse und Defizite eines Staates bei Export und Import werden bilanziert. Auch hier muss zwischen einer offiziellen und einer tatsächlichen Zielsetzung unterschieden werden: Eine ausgeglichene Leistungsbilanz, also eine wertmäßige Gleichheit von importierten und exportierten Waren und Dienstleistungen, wäre in der Tat für alle Volkswirtschaften am vorteilhaftesten, aber unter dem Aspekt des nationalen Egoismus wünscht man natürlich einen Exportüberschuss, denn die Steuern aus dem Verkaufserlös der Im Inland produzierten Güter werden im Inland gezahlt. (13)

Die Defizite bzw. Überschüsse einiger Staaten beim Warenhandel stechen auffallend hervor. Nehmen wir das Jahr 2016: Das Handelsbilanzdefizit der USA betrug knapp 800 Milliarden US-Dollar, während die Volksrepublik China einen entsprechenden Überschuss von 510 Milliarden US-Dollar erwirtschaftete. Der Überschuss Deutschlands belief sich auf 250 Milliarden Euro (14). Alle drei Staaten pflegen intensive Handelsbeziehungen miteinander. Ein Grundschulkind könnte auf die Idee kommen, dass das Defizit und die Überschüsse einander in etwa decken. Trump, der Amerika“ wieder groß machen möchte, kam auf die Idee, gegen die Importflut Strafzollmauern zu errichten (15). Wie sinnvoll sind solche Maßnahmen?

Das Handelsbilanzdefizit beruht zum großen Teil auf dem Import von Konsumgütern aus der VR China. Der Import von Rohöl, in früheren Jahren weitgehend aus dem Nahen Osten, ist dagegen zurückgegangen (16). Das ist dem Fracking zu verdanken, einer Horizontalborungmethode, die unter Zuhilfenahme von Wasser und chemischen Zusatzstoffen Gesteinsschichten aufbricht und so Öl und Gas gewinnen kann. (17) Dennoch wächst das Handelsbilanzdefizit, denn der Wert aller Exportwaren aus den USA nimmt beständig ab.

Das war bisher kein Grund zur Besorgnis. Die USA sind ein sogenannter Konsumentenmarkt, das heißt, dass das volkswirtschaftliche Wohl und Wehe primär vom binnenwirtschaftlichen Konsum abhängt, nicht vom Außenhandel. Und: Die monetären Verluste aufgrund der negativen Außenhandelsbilanz werden beständig kompensiert: Die VR China hält US-Staatsanleihen im Wert von mehr als einer Billion Dollar, allerdings ist die Tendenz rückläufig. Und die Petrodollars, die die Staaten des Nahen Ostens eingenommen haben, wurden gern wieder in den USA investiert. (18)

Richtig ist jedoch, dass in den USA in den letzten Jahrzehnten aufgrund des Strukturwandels zahlreiche Arbeitsplätze verloren gingen, so in der Automobilindustrie, in der Kohlgewinnung und Verarbeitung und in der Holzindustrie. Der sekundäre Sektor trägt nur noch 20% zum BIP bei, nahezu 80% werden im Dienstleistungsbereich erwirtschaftet. (19)

Was könnte getan werden, um das US-Handelsbilanzdefizit zu verringern und im eigenen Land Arbeitsplätze zu schaffen?

Eine Abwertung des Dollars hätte keine Auswirkungen auf den Binnenmarkt, wohl aber auf den Außenhandel, denn amerikanische Produkte würden sich verbilligen. Eine derartige Maßnahme steht aber nur autoritären Regimes zu Gebote. Der Dollarkurs dagegen ist allein der Willkür der Devisenmärkte ausgesetzt und kann von der US-Notenbank nur indirekt durch die Höhe des Zinssatzes, zu dem sich Banken Geld leihen können, beeinflusst werden.

Also bietet sich die Möglichkeit an, die Trump ins Auge gefasst hat: (20) Schutzzölle auf Importwaren erheben.

Die Folgen einer solchen Maßnahme sind zahlreich. Aufgrund von Schutzzöllen steigen die Preise für Importwaren, was den Absatz dieser Waren und damit Importe verringert. Sollten die bisherige Importeure keine neuen Märkte erschließen können, führt das in ihren Ländern zu erhöhter Arbeitslosigkeit. Dagegen dürfte in den USA die Inlandsproduktion für den Eigenbedarf steigen. Die Produktion für den Export dürfte sich aber eher rückläufig entwickeln, denn die Geschichte (21) zeigt, dass die Staaten, deren Volkswirtschaften von Schutzzöllen betroffen sind, ihrerseits Zollmauern errichten (22). Werden immer mehr Staaten in diesen Strudel hineingezogen, nehmen die Weltproduktion und der Welthandel ab, damit werden Arbeitsplätze vernichtet, die Kaufkraft sinkt, und es entwickelt sich eine internationale Rezession.

Um den politischen Zustand der Welt ist es nicht sonderlich gut bestellt (23), um den sozialen ebenfalls nicht, aber die brummende Weltkonjunktur hat das Elend des Lebens immerhin für Millionen Bewohner der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer erträglicher gemacht. Fallen die gegenwärtigen Erwerbsmöglichkeiten fort, so sind soziale Verwerfungen, soziale Unruhen, politische Instabilität absehbar. In einer Phase, in der die Menschheit sich weiterhin unkontrolliert vermehrt und in der der Klimawandel sich auszuwirken beginnt, sind deren Folgen kaum abzusehen.

Für die Natur, für die Umwelt“, wie die Menschen abschätzig zu sagen pflegen, wäre eine solche Entwicklung allerdings eine gute Nachricht. Die Übernutzung der irdischen Ressourcen könnte zumindest verlangsamt werden – gestoppt werden wird sie vermutlich nicht. (24)

April 2018


Fußnoten

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(1) Wäre es anders, brauchten die Menschen z.B.im Gaza-Streifen keinen Mangel zu leiden.

(2) Um diese Bewertung nachzuvollziehen, genügt es, das Sortiment eines beliebigen Billigkaufhauses in Augenschein zu nehmen, falls man es wagt, sich den olfaktorischen Attacken der Weichmacher der angepriesenen Waren auszusetzen.

(3) Rohstoffe aus dem Kongo, sei es Blut-Koltan oder seien es Blut-Diamanten, werden unter unsäglichen Bedingungen geschürft und finanzieren oft die Budgets von Warlords.

(4) Die Baumwollpflanze benötigt sehr viel Wasser – ein Gut, das in Ägypten nicht gerade im Überfluss vorhanden ist.

(5) Arbeiterrechte sind in den drei genannten Ländern unbekannt.

(6) Ob es sich um Tanker, Schüttgutfrachter oder Containerschiffe handelt: Sie alle werden mit „Bunker“, also mit Bitumen, betrieben. Flugzeuge vieler Staaten fliegen mit subventioniertem Kerosin. LKWs fahren mit Benzin oder Diesel. Alle Transportmittel befördern den Treibhauseffekt in hohem Maße.

(7) Ob es wirklich nur ein Zufall ist, dass das Internet seine Existenz der militärischen Kommunikation verdankt?.

(8) So muss Apple die Firma Foxconn in beiden Chinas finanzieren können und vorgeben, ein irisches Unternehmen zu sein, um im Heimatland USA kaum Steuern zu zahlen. So hat die Deutsche Bank sich von ihren Kleinanlegern verabschiedet und sich auf das Investmentgeschäft verlegt, um mindestens 25% Profit zu machen, das wollte zumindest der weiland Vorstandsvorsitzende Ackermann. Dass das Glücksspiel sich in ein Unglücksspiel verkehren kann, zeigt der gegenwärtige desolate Zustand des ehemaligen deutschen Bankenflaggschiffs.

(9) Zölle betreffend.

(10) nationale Bestimmungen betreffend, z. B. Vorschriften im Lebensmittelrecht. Besonders aktiv ist in diesem Bereich die Volksrepublik China, die ausländisches Kapital nur in Form von Beteiligungen an chinesischen Unternehmen gestattet.

(11) Die EU geht hier keineswegs mit leuchtendem Beispiel voran. Für Autos aus den USA müssen z. B. 10% Zoll gezahlt werden, während die USA im Gegenzug nur 2,5% erheben.

(12) Auch hier spielt zum Beispiel die Europäische Union eine unrühmliche Rolle. Die Massen-Geflügelhaltung dort generiert eine Überproduktion minderwertiger Fleischteile der Tiere, da auf dem europäischen Markt oft nur die Brustfilets nachgefragt werden. Flügel und Keulen werden zum großen Teil auf afrikanische Märkte verbracht, wo sie die nicht konkurrenzfähigen einheimischen Produzenten längst verdrängt haben. Die ihrerseits sehen keinen anderen „Ausweg“, als in der vergeblichen Hoffnung auf ein besseres Auskommen die städtischen Slums zu vergrößern.

(13) ein Mindestmaß an Steuerehrlichkeit vorausgesetzt

(14) alle Zahlen wurden großzügig gerundet.

(15) Der Unternehmer Trump, der, wie inzwischen offensichtlich ist, weder vom politischen Geschäft noch von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen Ahnung, geschweige denn Kenntnisse hat, denkt rein betriebswirtschaftlich. Und unter betriebswirtschaftlichen Aspekten sind rote Zahlen schlecht, sie müssen in schwarze verwandelt werden. Im Rahmen seines beschränkten Denkhorizonts handelt Trump also folgerichtig. ⤾)

(16) Diese Entwicklung beruht nicht auf der vernünftigen Entscheidung der amerikanischen Autofahrer, das Fahrrad zu nutzen (was, zugegeben, bei manchen Entfernungen in den USA an naturräumliche Grenzen stößt) oder wenigstens auf weniger spritschluckende Modelle umzusteigen – ganz im Gegenteil.

(17) Dabei wird häufig das Grundwasser geschädigt, was Brunnen kontaminieren kann, und es entstehen Erdbeben.

(18) Das schafft übrigens Arbeitsplätze, und sei es nur für die Putzkolonnen in überwiegend ungenutzten Edelimmobilien in der Fifth Avenue, NYC.

(19) Im Dienstleistungsbereich sind etliche „personennahe“ Tätigkeiten vereint, die als gemeinsames Merkmal schlechte Bezahlung aufweisen und sich in Ballungszentren konzentrieren. Arbeitslose Bergleute im ländlichen Kentucky oder entlassene Logger in Washington werden sich darauf kaum vermitteln lassen. Es stellt sich auch die Frage, ob der „White Trash“, den eine skrupellose Medizinindustrie opioidabhängig gemacht hat, überhaupt noch fähig ist, Fast-Food-Burger zu braten.

(20) Oder zumindest ab und zu ins Auge fasst, wenn er nicht völlig Widersprüchliches verlautbart.

(21) Aus der die Menschen angeblich unbedingt lernen sollen, aber noch nie etwas gelernt haben.

(22) Man handelt also Zug um Zug, oder besser, Mauer um Mauer,wie es sich für einen richtigen Deal gehört. Hat Trump sich möglicherweise inzwischen auf diese Art von Mauern eingetwittert, weil er mit dem Bollwerk gegen Mexiko bisher gescheitert ist?

(23) Die Zahl der Staaten mit demokratischen Systemen nimmt seit einigen Jahren ab.

(24) Es sei, denn, Trump trifft sich nicht mit Kim Jong-Un zur friedlichen Teezeremonie, sondern beweist dem Nordkoreaner, dass sein Atomknopf größer ist. Dann beginnt das Spiel des Lebens von vorn. Auch kein Grund zur Aufregung: Im Laufe der irdischen Evolution, sagen die menschlichen Biologen, sind 98 Prozent aller Arten wieder ausgestorben.

 

Maikäfer flieg!

Maikäfer, flieg!

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, erzählst Du uns eine Geschichte?“

„Natürlich eine Geschichte, aus der wir etwas lernen können, bitte.“

„Schön gruselig soll sie sein!“

„Ja, gruselig, aber auch realistisch. Also ohne Vampire und Zombies.“

Na und Nuk

Kulle konnte dem Charme der Eisbärenzwillinge wie immer nicht widerstehen. „Nun gut!“ sagte er. „Ich erzähle Euch, wie auf einem Planeten einmal das Ökosystem zusammenbrach.“

Kulle und Atti

„Auf der Erde?“ fragte Na gespannt.

„Dumme Schwester, das geht doch nicht!“ wies Nuk sie zurecht. „Wenn auf der Erde das Ökosystem zusammengebrochen ist, sind wir Bären alle tot, und Onkel Kulle kann uns keine Geschichte erzählen, klar?“

„Sehr gut erkannt, kleine Nuk,“ schmunzelte Kulle. „Und deshalb erzähle ich Euch, wie ein alter Bär namens Elluk auf dem Planeten Edre neugierigen Eisbärenzwillingen vom Zusammenbruch des irdischen Ökosystems erzählt. Die beiden sind übrigens Schwestern und heißen An und Kun.“

„Es war einmal die Erde, und die war nicht wüst und leer, sondern es lebten auf ihren Kontinenten und in ihren Meeren Millionen von Pflanzen- und Tierarten. Die standen in vielerlei Wechselwirkungen zueinander: Sie fraßen und wurden gefressen, lebten in Symbiose, besetzten exotische Nischen oder waren weit verbreitet, und wenn es ihnen nicht gelang zu überleben, dann starben sie aus. Der der Evolution inhärente Fehler der Mutation sorgte dafür, dass neue Arten entstanden und so neue Netze geknüpft wurden.“

Nanuk nickten stolz: Dass ‚inhärent‘ ‚innewohnend‘ heißt, hatten sie schon gelernt. Und über Evolution und Mutationen wussten sie natürlich ebenfalls Bescheid.

„In späteren Jahrmillionen entwickelten sich Hominiden, eine besondere Art von Säugetieren. Sie waren wiederholt in ihrer Existenz bedroht, aber sie verfügten über eine erstaunliche Adaptionsfähigkeit. So gelang es ihnen, nahezu die gesamte feste Erdoberfläche zu besiedeln und sich als Art zu erhalten. Nach einer Jahrzehntausende andauernden numerisch recht stabilen Phase vermehrten sie sich dann explosionsartig.

Schlau war sie, die letzte überlebende Hominidenart, und so brauchte sie nicht zu verhungern. Denn sie hatte Methoden entwickelt, ertragreiche Nahrungspflanzen zu züchten, auch hielt sie Nutztiere für die Fleischproduktion. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie es in einem ihrer sogenannten heiligen Büchern heißt, er muss sich kleiden und wärmen, denn er ist felllos, er braucht ein Dach über dem Kopf, denn er ist krallenlos und hat keine Reißzähne, er braucht das Salz der Erde, und er hat die uneingeschränkte Fähigkeit, immer neue Bedürfnisse zu entwickeln, wenn man ihm lange genug sagt, dass er sie hat.

Für all das braucht der Mensch Energie, und er fand sie auf seinem Planeten: Holz, Kohle, Öl und Gas hielt die Erde in großen Quantitäten vorrätig. Diese Stoffe kann man verbrennen und so Antriebsenergie gewinnen.“

„Und jetzt kommt der Treibhauseffekt!“ Natürlich konnte Na wieder einmal ihr Maul nicht halten.

„Richtig, kleine Na, aber für An und Kun muss Elluk den Treibhauseffekt erklären, denn die beiden kennen so etwas auf ihrem Planeten nicht.

Also: Beim Verbrennen entsteht in der irdischen Atmosphäre Kohlenstoffdioxid. Dieses Gas hat es auf der Erde schon sehr lange gegeben, aber aufgrund der zahlreichen menschengemachten Verbrennungsprozesse nahm es stark zu. CO2 ist lichtdurchlässig, die Sonnenstrahlen gelangten also ungehindert auf die Erdoberfläche. Von der aufgeheizten Erdoberfläche stieg Wärme nach oben, aber CO2 ist nicht wärmedurchlässig, und so wurde es auf der Erde immer wärmer. Das heißt: In heißen Gegenden wurde es noch heißer, oft zu heiß für die Menschen, Eispanzer am nördlichen und am südlichen Pol schmolzen ab, der Meeresspiegel stieg.

Da der Mensch schlau ist, wie ich schon sagte, hat er das natürlich gemerkt und gesehen, dass diese Entwicklung für ihn nicht gut ist. Schließlich haben sich alle Menschen zusammengetan und beschlossen, die Erderwärmung auf maximal 2°Celsius zu begrenzen. Es sah tatsächlich so aus, als könnte ihnen das gelingen, denn sie konzentrierten sich auf diese Aufgabe und arbeiteten ausnahmsweise einmal zusammen, nicht gegeneinander.“

„Eine Geschichte, in der die Menschen überleben, finde ich schon gruselig!“ maulte Nuk. „Ich habe mir aber etwas anderes erhofft.“

„Warte es nur ab! Elluk macht es ein bisschen spannend. Er erzählt weiter: Vor lauter Konzentration auf die Klimakatastrophe verloren die Menschen aus den Augen, dass nicht nur die Atmosphäre der Erde, sondern auch die Fauna der Erde aus den Fugen geraten war. Sie waren so stolz darauf, wie sehr sie ihren Planeten verändert hatten, dass sie ihrem Zeitalter einen neuen Namen gaben: Sie sprachen vom Anthropozän. Sie hätten bedenken sollen, dass ein neues Zeitalter immer mit einem signifikanten Artensterben einhergeht. Sie bemerkten aber nicht, dass die größte und artenreichste Klasse der Tiere innerhalb weniger Jahre verschwand: die Insekten. Als sie es schließlich registrierten, war es zu spät. Sie fanden sich in einer veränderten Welt wieder, in der sie sterben würden. Sehr schnell sterben. Vor der Klimakatastrophe brauchten sie sich nicht mehr zu fürchten.

Weil die Bestäuber verschwanden, gab es große Ernteausfälle – bei manchen wichtigen Nutzpflanzen bis zu 90 Prozent. Auch Pflanzenfutter für Wild- und Nutztiere fehlte. Viele Tiere und Menschen verhungerten. Wer überlebte, musste auf Kleidung aus gewohnten Materialien verzichten: Baumwolle, Wolle und Leder standen nicht mehr zur Verfügung. Den Ratten ging es dagegen blendend. Sie konnten sich noch stärker ausbreiten als bisher. Denn es gab keine Insekten mehr, die für sie tödliche Krankheiten übertrugen. Sie fraßen den Menschen die letzten Lebensmittel weg.

Insekten waren auch die wichtigsten Wiederverwerter auf der Erde; ohne sie sammelten sich immer grössere Dung- und Aasmengen an.

Im letzten Jahrzehnt des Anthropozäns musste sich der Mensch also fast ausschliesslich von Getreide ernähren, das von Feldern mit viel Unkraut und kargem Boden geerntet wurde und das er gegen die wachsenden Rattenpopulationen zu verteidigen versuchte. Mit von Skorbut blutendem Zahnfleisch und von anderen Mangelkrankheiten gebeugtem Körper suchten die Menschen behutsam zwischen den überall herumliegenden toten Körpern nach irgendwelchen verbliebenen Insekten, in der Hoffnung, sie wieder an ihren angestammten Platz in der Nahrungskette zu setzen. Vergeblich.“

Kulle sah sich nach seinen Zuhörerinnen um. Na versteckte ihren Kopf unter Nuk, und Nuk hielt sich die Ohren zu, so fest sie konnte. Er stupste beide an:

„Wie ich sehe, war die Geschichte gruselig genug, richtig?“

„Puh, Onkel Kulle, schrecklich gruselig. Was meist Du – dürfen wir ein bisschen Honig schlecken, um uns davon zu erholen?“

„Ganz bestimmt. Ich kann auch ein paar Tropfen vertragen. Noch gibt es ja Bienen…“

Als sich die Zwillinge wie auch der Erzähler von der Geschichte erholt hatten, wollten Nanuk wissen, warum Kulle den Menschen schlau genannt hatte, nicht aber klug.

„Das findet Ihr beiden gefälligst allein heraus. Ihr wisst ja, wo die Bibliothek ist!“

November 2017

Der zweite Untergang der Titanic

P. D. Kulle

 

Kulle

 

Der zweite Untergang der „Titanic“

 

“We’re going to have to come to grips with a long-term employment crisis and the fact that — strictly from an economic point of view, not a moral point of view — there are more and more ‘surplus humans.’” — Karl Fogel, partner at Open Tech Strategies, an open-source technology firm.

Vorwort

Das Passagierschiff „Titanic“; war bei der Indienststellung (1) am 2. April 1912 das größte Schiff der Welt und galt als unsinkbar. Auf ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York kollidierte die „Titanic“ am 14. April 1912 etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland allerdings mit einem Eisberg und sank zwei Stunden und 40 Minuten später. 1514 der über 2200 Passagiere starben, was große Teile der Besatzung aus egoistischen Motiven nicht zu verhindern suchten und was das Bordorchester nicht verhindern konnte, obwohl es bis zur letztmöglichen Minute optimismusfördernde Melodien spielte, um das Ertrinken in den eisigen Fluten angenehmer zu gestalten.
Der US-Kinofilm „Titanic“ aus dem Jahr 1997 gewann elf Oscars und hatte allein in den USA 131 Millionen Zuschauer. Das zeigt, wie sehr die damalige Katastrophe die Menschen der Gegenwart anspricht (2). Überhaupt beweist der Erfolg zahlreicher Hollywood-Produktionen, dass Menschen von Katastrophen magisch angezogen werden – solange sie nicht selbst davon betroffen werden.
Die Erkenntnis ist nicht neu:
Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen. (3)

Was aber hat der Untergang der „Titanic“ vor 105 Jahren mit einer kurzen Untersuchung der sozioökonomischen Gegebenheiten heute zu tun?
Wir werden sehen.

Anamnese

Wir benennen im folgenden einige globale und regionale Fakten beziehungsweise Trends.
• Täglich erhöht sich die Zahl der menschlichen Bewohner des Planeten Erde um etwa 80 Millionen. Am höchsten ist die Fertilitätsrate in Afrika, dem Kontinent, in dem Armut und Nahrungsmittelknappheit am größten sind, während an Diktaturen und Kriegen kein Mangel herrscht.
• Erwerbsarbeit, seit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals mit wenigen Ausnahmen überall die Grundlage für die Gewährleistung eines Lebensunterhalts (4), ist ein rares Gut geworden. Vermutlich sind 2017 mehr als 200 Millionen Menschen arbeitslos (5).
• Die Menschen schaffen qualitativ und quantitativ immer bessere Bedingungen dafür, einander umzubringen. Der weltweite – offizielle – Handel mit Waffen hat ein geschätztes Volumen von jährlich zwischen 40 und 50 Milliarden US-Dollar (6). Eine wichtige Importregion ist der Nahe und Mittlere Osten. Der durchschnittliche Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist weltweit nirgends höher als hier.
• Kriege und Konflikte in Afrika haben zwischen 1990 und 2005 ebenso viel Geld vernichtet, wie an Entwicklungshilfe in den Kontinent geflossen ist – 284 Milliarden US-$.
• Hunger und/oder Kriege sind Fluchtursachen. Weltweit sind über 60 Millionen Menschen auf der Flucht.
• Der Siegeszug der Demokratie ist beendet. Ein in europäischen Staaten wieder salonfähiger Nationalismus, eine russische Führung, die immer selbstbewusster ihr autoritäres Gegenmodell zur westlich-liberalen Demokratie propagiert, der Nahe Osten und der Maghreb, die wieder in Richtung Konflikt und Diktatur kippen, die Türkei auf dem Weg in die Präsidialdiktatur, China im Würgegriff seiner korrupten, alles beherrschenden Partei, die sich nicht entblödet, sich immer noch als kommunistisch zu bezeichnen, und nicht zuletzt die USA, deren Präsident die Unabhängigkeit der Justiz in Zweifel zieht, sind deutliche Indizien.
• Multilaterale Bündnisse und Verträge sind gefährdet, dafür stehen exemplarisch der Brexit“ und auch die Aufkündigung des TTP-Vertrages durch US-Präsident Trump.

Diagnose

Die Symptome zeigen unzweifelhaft ein Krankheitsbild der Weltgesellschaft. Die genannten Probleme werden durch Überfluss generiert, nämlich durch einen Überfluss an Angst.
Platt formuliert: Putin hat Angst, dass Russland von der NATO bedroht wird, Kim Jong-Un meint, sich als Diktator nur halten zu können, wenn er international Drohpotential aufbauen kann, Assad fürchtet sich davor, nicht mehr Diktator Syriens, sondern vielleicht Angeklagter vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu sein, Erdogan fürchtet sich vielleicht wirklich vor Gülen… Die Liste ist verlängerbar.
Die Angst der Mächtigen ist beängstigend genug, vermögen doch etliche von ihnen, auf berüchtigte rote Knöpfe“ zu drücken, nachdem einer von ihnen eine rote Linie“ überschritten hat.
Vielleicht noch bedrohlicher ist die Angst der Machtlosen. Sie fürchten nicht um Pfründe. Sie fürchten um ihre Lebensgrundlage. Ihre Lebensgrundlage – das ist ihr Arbeitsplatz. Zumindest ein Arbeitsplatz.
Warum, so fragen sie sich, gibt es nicht genug Arbeitsplätze? Offizielle und offiziöse Antworten sind wohlfeil: Weil Ausländer die Arbeitsplätze gekapert haben (7). Weil zu viele Umweltschutzgesetze existieren. Weil subventionierte Importe die eigene nationale Wirtschaft schwächen (8). Bei derlei Erklärungen wird die Ursache wo auch immer behauptet, nur nicht bei den Unternehmen des eigenen Landes.
Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Elite sprechen nur ungern darüber, dass die kapitalistisch organisierte Ökonomie des eigenen Landes zwangsläufig profitorientiert ist. Wenn man schon genötigt ist, Veränderungen im eigenen Land zu thematisieren, bedient man sich gern euphemistischer Formulierungen. Derzeit ist allerorts die Rede von „Industrie 4.0“. Das klingt gut, ist es doch eine Steigerung der „Industrie 3.0“, der Automatisierung durch Elektronik – was soll an Steigerungen negativ sein? Gemeint ist allerdings die Robotisierung des Arbeitsmarktes – das hört sich wesentlich schlechter an. Einer Studie der ING Diba zufolge sind 59% der Arbeitsplätze in Dehland in ihrer jetzigen Form davon bedroht. (9)
Weil diese Prognose so brisant ist, versuchen „Experten“ abzuwiegeln und beschwören für die nächsten Jahre einen drohenden Facharbeitermangel oder orakeln von einem Strukturwandel, der zwar zu höheren Anforderungen an die Arbeitskräfte, aber auch zu höheren Lohnsummen führe. (10)
Wer von den Menschen auch im Zeitalter sogenannter „sozialer Netzwerke“ noch bereit und in der Lage ist, über das hinauszuhorchen, was neuerdings als „Echokammer“ bezeichnet wird, der kommt nicht umhin, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Drohnen anstelle von Paketzustellern, Algorithmen als Autofahrer (11) oder Analysatoren juristischer Texte, elaborierte Schreibprogramme anstelle von Versicherungskaufleuten – die lebendige Arbeit war so effektiv, sich weitgehend durch tote zu ersetzen.
Vor diesen Armen und Arbeitslosen fürchten sich die Mächtigen und versuchen, sie zu beruhigen, indem sie Sündenböcke erfinden (12). Die Armen und Arbeitslosen in den Industriestaaten mit mehr oder weniger tragfähigen sozialen Netzen fürchten sich vor den noch Ärmeren aus Kriegs- und Krisengebieten, die aus ihrer Heimat zu flüchten versuchen.
Sie flüchten sich in die Arme starker „Männer“ (13). Die Ärmsten der Armen werden weiter, auch bei Gefahr ihres Lebens, ins gelobte Land zu gelangen versuchen.

Therapieversuch?

„Wir müssen dringend Maßnahmen zur Schaffung menschenwürdiger Arbeit ergreifen, ansonsten besteht die Gefahr erhöhter sozialer Spannungen und Unruhen“ so Guy Ryder von der ILO.
Woran denkt der Brite Ryder, wenn er so etwas sagt? An die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und in Äthiopien? Oder an die Arbeitslosen in England?
Auf einem Planeten mit schon längst übernutzten Ressourcen und einer weiter exponentiell steigenden menschlichen Bevölkerung ist es nicht wahrscheinlich, dass Arbeit menschenwürdig gestaltet werden kann, zumal das bisher auch nicht gelungen ist, falls es überhaupt jemand in nennenswertem Umfang versucht hat.
Bleiben die entwickelten Länder, in denen Ressourcen zur Verfügung stehen, die zur Alimentierung der Bevölkerung genutzt werden können. Es stellt sich die Frage, ob in einer Welt, in der der immer größere Teil der Wertschöpfung von Maschinen geleistet wird, Einkommen teilweise von der klassischen Erwerbsarbeit getrennt werden sollte oder muss.
Es verblüfft, dass Gegner wie Befürworter des Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens in allen politischen Lagern zu finden sind. Es ist bezeichnend, das viele Väter dieser Idee im Silicon Valley beheimatet sind – wer dort arbeitet, weiß, welche Revolution er befördert, und er ist sich wohl auch bewusst, welchen Sprengstoff sie in sich birgt.
Aber ist ein solches Grundeinkommen sinnvoll? Diese Frage impliziert auch die nach der Notwendigkeit. Wenn man (14) das Leben von Homo sapiens sapiens als notwendig betrachtet, auch dann, wenn er seine sozialökonomische Aufgabe der Weiterentwicklung der Produktionsmittel nicht mehr erfüllt, weil die Produktionsmittel diese Entwicklung selbst in die Metallhände genommen haben, dann lautet die Antwort „Ja“.
Was aber macht der Mensch mit seiner Freiheit, mit seiner Freisetzung, mit seinem überflüssigen Da-Sein? Pflanzt er einen Baum, zeugt er einen Sohn?(15) Verhilft die ausreichende Alimentierung dem Homo sapiens sapiens zum Reich der Freiheit, in dem er morgens Fischer und abends kritischer Kritiker sein kann, oder ist er tagfüllend Konsument des RTL-Fernsehprogramms beziehungsweise tummelt sich in der virtuellen Realität, in der er seine Perversionen ausleben kann?
Was auch immer der durch ein unabhängiges Grundeinkommen in den Industrieländern alimentierte Mensch tun wird, ob er gar nicht oder völlig in einer Echokammer gefangen sein wird, er wird sich Informationen von außen nicht völlig verschließen können. Er wird erfahren, dass die Flüchtlinge aus Afrika an seine europäische Tür klopfen. Er wird wissen müssen, dass Waffen eingesetzt werden, in seinem Haus oder „weit, in der Türkei“.
Er wird erleben, dass „seine“ Welt untergeht, „seine“ Titanic, und er wird die Lust an Katastrophen verlieren, falls seine mentalen Ressourcen noch ausreichen, um an Lust zu denken.
April 2017

Kulle

Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Ein fürchterliches dehländisches Menschenwort!
  2. Auch wenn die Untergangsstory durch eine süßliche Liebesgeschichte geschmeidig gemacht wurde.li>
  3. Goethe, Faust. Erster Teil. Vers 860ff. Inzwischen ist die Türkei, in der die Völker immer noch aufeinander schlagen, dem dehländischen Spießer recht nahe gerückt.
  4. oder zumindest die Chance darauf
  5. Schätzung der ILO, der internationalen Arbeitsorganisation
  6. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2012, sind also viel zu niedrig.
  7. Das behauptet in Dehland zum Beispiel die NPD.
  8. Das behauptet in den USA zum Beispiel Donald Trump.
  9. vgl. ING Diba economic research 30.4.2015
  10. vg. IAB-Forschungsbericht 13/2016. Die IAB ist eine Forschungseinrichtung der Bundesanstalt für Arbeit.
  11. Der Begriff des Autofahrers bekommt hier eine ähnlich-andere Bedeutung, sagt der Chef. Eine genauere Erklärung wollte er nicht geben. Die Sekretärin
  12. siehe oben
  13. und auch starker Frauen, z. B. Marine LePen. Und dazu Trump, Putin, Erdogan…
  14. Wer immer das auch ist.
  15. Luther fand beides nützlich, der Chef und auch ich halten das zweite für schädlich. Die Sekretärin

Alternative Fakten

Ramses der Frosch lehnte gemütlich am warmen Dorfbackofen von Bärenleben, und Piggy das Schwein saß ihm gegenüber. Sie waren eifrig in eine Diskussion über die Vor- und Nachteile von Schwimmhäuten und Hufen vertieft und wurden dabei fast von Nanuk überrannt, den Eisbärenzwillingen.

Ramses

 

Piggy

„Oh, Entschuldigung, Tante Piggy, Onkel Ramses! Wr konnten weder Onkel Kulle noch Tante Atti finden. Dürfen wir Euch deshalb etwas fragen?“

Wie so oft sprachen die Zwillinge im Chor.

Na und Nuk

Piggy verzichtete ebenso wie Ramses darauf, die logische Konnotation des ‚deshalb‘ genauer zu untersuchen, und sagte nur: „Klar.“

„Wir möchten Euch Fotos zeigen,“ erklärte Na. „Ihr braucht uns nur zu sagen, was Ihr darauf seht.“

Nuk präsentierte ihnen zwei Aufnahmen, auf denen derselbe große Platz zu sehen war. Immer waren Menschen darauf versammelt, aber auf dem rechten Foto war der Platz fast voll, auf dem linken nur zu einem Drittel gefüllt.

„Auf welchem Foto sind mehr Menschen zu sehen?“ wollte Nuk wissen.

Ramses beugte sich vor, obwohl er dadurch auf die Ofenwärme verzichten musste, ließ sich aber nach einem schnellen Blick wieder zurückfallen.

„Was für einen dumme Frage!“ grummelte er. „Auf dem rechten natürlich!“

„Falsch!“ sagten Nanuk, wieder wie aus einem Munde.

„Wollt Ihr mich ver…, äh, wollt Ihr mich auf den Arm nehmen? Das sieht doch sogar jedes Säugetierauge, auf welchem Platz sich mehr Menschen aufhalten!“

„Entschuldigung, Onkel Ramses, aber Du hast Unrecht. Heute akzeptiert man alternative Fakten, und das tust Du nicht. Auf dem linken Foto sind mehr Menschen! Kannst Du das Gegenteil beweisen?“

„Klar,“ antwortete Ramses siegessicher. Wir fragen Piggy, wer Recht hat.“

„Und wenn Piggy sagt, dass Du Recht hast, steht es zwei zu zwei. Das beweist also gar nichts!“

Aber…“ stammelte Ramses.

„Genau darum geht es, Onkel Ramses! Wenn denkende Wesen sich weigern, intersubjektiv überprüfbare Fakten als Fakten anzuerkennen, und stattdessen darauf beharren, dass eine falsche, eine sogenannte ‚alternative‘ Sicht der Dinge nicht nur möglich, sondern auch richtig ist, ‚auch‘ richtig, versteht sich, dann ist alles falsch, was wir von Tante Atti und und Onkel Kulle gelernt haben. Deshalb suchen wir sie. Helft Ihr uns dabei?“

„Ganz gewiss!“ quiekte Piggy.

„Aber sicher!“ quakte Ramses.

„Ganz gewiss! Aber sicher!“

Ramses hüpfte zur Dorfbibliothek, denn er hoffte, Kulle dort zu finden. Er selbst hielt sich in letzter Zeit dort häufiger auf, hatte er doch ein Buch entdeckt, das ihm großes Vergnügen bereitete (Bernd Hüppauf, Vom Frosch. Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie. Bielefeld 2011). Aber während er sich auf den einen Titel beschränkte, wühlte Kulle sich durch alle möglichen Bände.

Kulle liest

„Schwieriges Thema,“ brummte Kulle, nachdem Ramses ihm das Problem, das Nanuk bewegte, dargelegt hatte. „Habe ich schon lange auf der Agenda, wusste aber nicht so recht, wie ich es anfassen sollte. Weiß ich immer noch nicht. Auf jeden Fall aber brauche ich die Hilfe von Manfred.“

Wie immer verbreitete sich in Bärenleben ein Gerücht mit Windeseile. Als es dunkel wurde, meinten alle zu wissen: Heute würde es einen spannenden Höhlenabend geben. Ganz besonders aufgeregt waren natürlich Na und Nuk.

Nach der Begrüßung forderte Bärdel alle Versammelten auf, ihre Smartphones zu holen, was zu unruhigem Gemurmel führte. Technische Geräte waren bei den täglichen Treffen am Abend nämlich verpönt.

„Das ist schon in Ordnung!“ beruhigte Bärdel. „Wir werden heute ein kleines Experiment machen.“

Als die Bärenlebener wieder vollzählig waren, wurden sie aufgefordert, ihre Social-Media-Accounts zu aktivieren. Alle taten brav, was sie tun sollten, bis auf den sehr alten Bären. Der hatte kein Handy in der Tatze und schaute drein, als wüsste er nicht, was um ihn herum passierte. Die alte Bärin neben ihm knuffte ihn in die Seite: „He, bist Du etwa nicht bei Facebook?“

„Ich bin immer bei mir selbst,“ brummte der Alte zurück. „Was für ein Buch soll das denn sein?“

Seine Nachbarin gab den hoffnungslosen Fall auf und konzentrierte sich auf ihren Account.

Sie sah ein Video, in dem Menschen sehr verschiedene Alters in einem Mehrgenerationenhaus harmonisch zusammenlebten.

Auch alle anderen Bären bekamen Videos vorgespielt, aber jeder sah ein anderes.

  • Menschen lebten in Patchworkfamilien harmonisch zusammen.
  • Lesbische Paare und promiske Schwule lebten harmonisch zusammen.
  • Kinderlose Akademiker waren glücklich und lebten harmonisch zusammen.
  • Ein weißes Ehepaar mit vielen Kindern bildete eine glückliche große Familie.
  • Zwei Partner mit sehr unterschiedlichem Migrationshintergrund lebten harmonisch zusammen.
  • Partner adoptierten Kinder und waren glücklich.
  • Paare heirateten kirchlich.
  • Paare heirateten standesamtlich.
  • Paare heirateten gar nicht.

Aber am Ende aller Videos tauchte derselbe Schriftzug auf: ‚Leben, wie wir wollen. Unsere SPD‘.

„Gute Werbung!“

„Genau so wünsche ich mir das!“

„Ach, das wäre schön!“

Aber in das anerkennende Gemurmel mischte sich die Greisenstimme des sehr alten Bären, der laut kritisierte, dass er kein Video zu sehen bekommen hatte, in dem der Familienvater uneingeschränkt über Frau und Kinder herrschte. Er hatte seiner Nachbarin über die Schulter geschaut.

„Lauter zufriedene Bären und nur ein unzufriedener – wie ist das zu erklären?“ Manfred hatte sich zu Wort gemeldet.

Manfred

„Kann die SPD Gedanken lesen?“

„Die kennen uns vielleicht!“

„Quatsch, uns – wir sind doch ganz verschieden!“

„Kann es sein, dass die jeden einzelnen von uns kennen?“

„Das glaube ich nicht.“

„Das ist unmöglich.“

„Nein, das ist nicht unmöglich,“ mischte sich Manfred in die Diskussion ein. „Nur einer von Euch ist unzufrieden, und der ist nicht bei Facebook – dämmert es?“

„Aber Facebook kennt mich doch nicht…“

„Facebook kennt aber Deine Vorlieben. Es hat sich gemerkt, dass Du dauernd Fotos von süßen kleinen Kindern postest. Oder dass Du erotische Fotos von Dir postest. Es weiß, welche Parfums du magst und wie Du Dich kleidest. Es merkt sich Deine Likes. Es merkt sich alles, was mit Dir zu tun hat, und erstellt so ein Persönlichkeitsprofil. Ein solches Profil kann benutzt werden, um Dich zu beeinflussen, indem eine politische Partei im Wahlkampf zum Beispiel so tut, als verfolge sie genau die Ziele, die Du gut findest.“

„Ich kündige meinen Facebook-Account!“

„Na und? Facebook vergisst nichts.“

„Ich bin aber doch nicht bei Facebook, sondern bei WhatsApp!“

„Ha, ha, ha – WhatsApp gehört Mark Zuckerberg!“

„Ohhh…“

„Die sogenannten sozialen Medien haben im letzten Präsidentenwahlkampf in den USA eine große Rolle gespielt,“ meldete Kulle sich zu Wort. „Die Firma Cambridge Analytica, in deren Vorstand Steve Bannon war, hat die US-Bevölkerung in 32 Persönlichkeitstypen unterteilt und dementsprechend differenzierte Botschaften geschickt, vor allem via Facebook. Dabei ging es nicht nur darum, Trump-Wähler zu gewinnen, sondern auch darum, Clinton-Wähler von der Teilnahme an der Wahl abzuhalten.“

„Das habe ich verstanden, Onkel Kulle.“ Wie so oft wagte sich Na vor. „Das ist Manipulation: Man sagt jedem, was er hören will. Aber das erklärt noch nicht, warum Menschen sich weigern, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen. Wenn auf einem Platz einmal mehr und einmal weniger Menschen versammelt sind und wenn es von diesen Versammlungen Fotos gibt, dann sollte doch klar sein, was wahr ist!“

„Ja, das sollte es!“ seufzte Kulle. „Aber hier kommen wir zum Widerspruch von Erkenntnis und Interesse. Die Menschen – auch die Intellektuellen, ja, leider auch die intellektuellen Bären, suchen die Informationen, die in ihr Weltbild passen, und ignorieren die unpassenden. Ich weiß, warum ich die Schriften von Karl Marx studiere und die Werke von Oswald Spengler mit Verachtung strafe. Ich bitte, mir weitere Beispiele zu ersparen.

Wenn dieser Mechanismus schon in den Studien greift, so um so mehr in der Politik, handelt es sich hier doch um reinstes Interesse. Es geht nicht darum, was richtig ist, sondern was mir subjektiv – und manchmal auch objektiv – nützt.“

„Genau so macht das Nuk auch, wenn sie unbedingt Recht behalten will,“ sagte Na anklagend.

„Das ist gar nicht wahr, Du Lügnerin,“ fauchte Nuk. „Nur weil Du neidisch bist, dass ich…“

Athabasca fasste die kleine Eisbärin energisch am Nackenfell und verpasste ihr einen kräftigen Klaps. „Ruhe jetzt!“ forderte sie. „Eure kindischen Streitereien könnte ihr in Eurem Eiskasten austragen, aber nicht hier!“

Athabaska

Die älteren Bären lächelten. Sie waren derselben Meinung wie ihre amerikanische Schwester: Einen Klaps in Ehren kann niemand verwehren.

Na und Nuk machten sich ganz klein, steckten die Köpfe zwischen die Pfoten und schlossen die Augen. Wenn sie nichts sahen, waren sie für andere unsichtbar; davon waren sie fest überzeugt.

„Kommen wir zurück zu Trump,“ fuhr Kulle fort. Wer sind seine Adressaten, was sagt er ihnen, und wie sagt er es? Er sagt ‚wir‘, wenn er sich an seine wichtigste Klientel wendet: Das sind weiße, aus der Produktion gefallene Industriearbeiter in ehemals prosperierenden Regionen, aus dem Rostgürtel, aus den Appalachen, aus allen Fly-Over-States, die an den amerikanischen Traum geglaubt haben, an den Wert von Arbeit, an Familie und Gott. Die aufgrund des rasanten technologischen Wandels Arbeit und Brot verloren haben und wegen des gesellschaftlichen Wertewandels die moralische Orientierung zu verlieren drohen. Die einfach Angst haben. Hier präsentiert sich Trump als Erlöser, wenn er verspricht, Amerika wieder groß zu machen. Er sagt es nicht deutlich, aber alle verstehen ihn: Er will das weiße Amerika wieder groß machen. Zu den wichtigsten Vokabeln in seiner Inaugurationsrede gehörten: Volk, Fabriken, Arbeitsplätze, Reichtum, Grenzen; geschützt, groß, zusammen, zuerst. Seine Sätze sind kurz, die Botschaften sind simpel. Und sie kommen an.

Das liegt daran, dass Trump seine Zielgruppe richtig anspricht. Er sagt nicht: ‚Eure Qualifikation ist heute nicht mehr gefragt, Ihr müsst umschulen.‘, sondern: ‚Die Globalisierung ist an Eurer Situation schuld. Und die Mexikaner. Deshalb schaffen wir den freien Handel ab. Deshalb bauen wir eine Mauer.‘ Er wiederholt das immer wieder, die Medien verbreiten die Wiederholungen, und je öfter das geschieht, desto tiefer wird die Botschaft in den Gehirnen verankert. Die Menschen glauben, was sie hören, weil sie es hören wollen.“

„Junger Bär,“ grantelte der sehr alte Bär und meinte damit Kulle, „ junger Bär, ich habe Dir geduldig zugehört, weil ich von Natur aus geduldig bin, aber ich muss Dir sagen, dass Du heute ziemlich viel Unsinn erzählt hast. Dieser Trump widerspricht sich doch dauernd und macht einen Fehler nach dem anderen. Dem kann man unmöglich glauben!“

„Großvater, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss Dir widersprechen. Einer der größten Schnitzer, den Trump sich erlaubt hat, war die Sache mit den Fotos von seiner Inauguration, die zeigen, dass sehr viel weniger Menschen vor dem Kapitol versammelt waren als bei der Amtseinführung Obamas. Trump behauptete trotzdem das Gegenteil. Sein Sprecher hat versucht, die Präsidentenaussage zu rechtfertigen, hat aber recht schnell aufgegeben. Trump selbst hat die Lüge nicht mehr wiederholt.

Der dehländische Kanzler Adenauer, den Du bestimmt noch persönlich gekannt hast, hat einmal gesagt: ‚Was schert mich mein Geschwätz von gestern.‘ Er hat ausgenutzt, was die Wissenschaft die ‚kognitive Dissonanz‘ nennt. Und er hatte damit recht.

Denn unlogische, widersprüchliche Aussagen schieben die Menschen weg, wenn sie ihnen nicht passen. Sie können sich nicht mehr daran erinnern, oder sie schwächen sie ab, weil sie angeblich nicht so gemeint gewesen seien. Seine Anhänger glauben Trump, glaub mir das!“

Der sehr alte Bär schüttelte seinen Kopf so energisch, dass das schüttere Fell flog. „Was für ein Unsinn!“ zeterte er. „So einen Quatsch kann kein vernünftiger Bär glauben. Das widerspricht dem gesunden Bärenverstand!“

Niemand entgegnete etwas, denn sie respektierten das Alter. Insgeheim aber schmunzelten sie alle. Kulle sagte so leise, dass nur er es hören konnte: „Quod erat demonstrandum.“

Februar 2017

Herbstdämmerung

Baerdel

Der Sommer war sehr groß, aber jetzt war es Zeit. Der Herr gab den letzten Früchten noch zwei südlichere Tage, aber dann legte er seinen Schatten auf die Sonnenuhren und ließ die Winde auf den Fluren los.

Und damit war den in ein Sonett gegossenen Forderungen Rilkes Genüge getan, wenn auch nur prosaisch.

Bärdel schlug das „Buch der Bilder“, eine wertvolle bibliografische Ausgabe, zu, kraulte sich den wohlgemästeten Bauch und blinzelte in die Morgendämmerung. Er wartete auf Kulle, den regelmäßigen Gefährten seiner Morgenspaziergänge, und hatte sich währenddessen mit der Jahreszeit entsprechender Lyrik unterhalten.

Manfred

Von Kulle war jedoch noch nichts zu sehen. Stattdessen tauchte Manfred aus der Richtung der Kommunikationszentrale von Bärenleben auf. Die Haare seines sonst sehr gepflegten Pelzes standen wirr in alle Richtungen ab, ein untrügliches Zeichen, dass er sehr aufgeregt war. Er war so außer sich, dass er seinen Vater überhaupt nicht wahrnahm, sondern blicklos an ihm vorbeirennen wollte. Erst dessen Stimme stoppte ihn:

„Manfred!“

„Oh, Papa! Ich hab Dich gar nicht…“

„Das war nicht zu übersehen. Was ist denn los?“

„Die Welt ist aus den Fugen!“

„Das ist sie erstens schon lange, und zweitens ist das Zitat falsch: ‚The time is out of joint‘, sagt Hamlet.“ Bärdel hatte erkennbar seine literarische Stunde, aber seine Reaktion regte Manfred nur noch mehr auf.

„Dann redet Hamlet Quatsch! Zeit und Raum sind a priori, das kannst Du bei Kant nachlesen, und können gar nicht aus den Fugen sein! Aber die Welt…“

„Was findet Du denn gerade so schlimm?“ Bärdel merkte, dass Manfreds Gemütszustand mit Bildungsbärentum nicht beizukommen war.

Manfred fasste sich tatsächlich: „Ich habe mir die Nacht um die Ohren geschlagen und das erste Fernsehduell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump verfolgt, und ich war entsetzt. Zwei Menschen im Greisenalter, als Präsidentschaftskandidaten von ihren jeweiligen Parteien nominiert, reden aneinander vorbei. Clinton hat jahrzehntelange Politikerfahrung, vielleicht ein Konzept, aber bestimmt kein Charisma, ihre Reaktionen sind einstudiert, ihre Antworten auswendig gelernt. Trump hat Geld und Selbstbewusstsein, aber kein Selbstbewusstsein – weißt Du, was ich meine?“

Bärdel nickte. „In der deutschen Sprache gibt es da keine Differenzierung. Trump ist self-confident, aber nicht self-conscious. Er ist selbstsicher, aber er ist sich seiner selbst nicht bewusst.“

„Danke, genau das meine ich. Er lügt erkennbar, aber er scheint das gar nicht zu merken. Er ist unbeherrscht. Und er hat von Politik und Wirtschaft keine Ahnung.“ Manfred holte tief Luft. „Ich verstehe nicht, dass Demokraten und Republikaner keine besseren Kandidaten gefunden haben. Und ich verstehe schon gar nicht, dass möglicherweise Trump am achten November zum Präsidenten gewählt wird.“

Bärdel wünschte sich jetzt dringend seinen Freund Kulle herbei, der weniger als er von Literatur verstand, dabei aber um so mehr von Politik. Von Kulle war allerdings immer noch nichts zu sehen. Also fing er mit den einfacheren Erklärungen an.

„In Dehland werden politische Spitzenkandidaten auch von ihren Parteien nominiert, genau wie in den USA, aber anders als in den USA bezahlen die Parteien auch den Wahlkampf. In den USA muss jeder Kandidat um Spenden werben und/oder seine Ausgaben aus eigener Tasche bezahlen, und deshalb gibt es im Wahlkampf meist nur reiche Menschen, wie Clinton, oder Superreiche, wie Trump.“

Kulle

„Die beiden großen Parteien in den USA sind nicht mehr zeitgemäß. Sie verstehen sich immer noch als Vertreter der WASPs, der White Anglo-Saxon Protestants, die nach der Gründung der USA die intellektuell, wirtschaftlich und politisch dominierende Schicht stellten. Auch wenn die Demokraten vorgeben, sich für African Americans und Hispanics einzusetzen, wenn sie sogar acht Jahre lang einen schwarzen Präsidenten gestellt haben, bleibt ihre Politik doch alten Schemata verhaftet. Aber das ist Parteipolitik. Viel spannender ist die Meinung der Bevölkerung.“ Die bekannte Stimme kam zunächst aus dem Gebüsch, aber Kulle teilte die Zweige, während er sprach, und stand jetzt vor ihnen.

„Guten Morgen! Entschuldigung, ich habe mich ein wenig verspätet, ich habe verschlafen. Ich habe mir nämlich den Tort angetan, heute Nacht diese sogenannte Fernsehdebatte zu verfolgen – nun ja. Wie ich höre, war ich nicht der einzige. Manfred, Du hast gerade sehr interessante Fragen aufgeworfen.“

Kulle glättete seine Fliege und fuhr fort. „Wenn es Euch recht ist, möchte ich eine Antwort darauf versuchen.“ Wie zufällig streifte sein Blick Bärdel, und er registrierte mit Genugtuung, dass dessen Gesichtszüge sich entspannten. Manfred sah ihn begeistert an. Kulles Ego vollführte einen begeisterten Salto.

„Ich werde dazu weiter ausholen. Der intelligente Mensch Stanislaw Lem hat eine Theorie über das Wesen der Menschen aufgestellt, deren Kernaussagen er in den Mund einer intelligenten Maschine legt. Dieser Theorie zufolge hat die Evolution des tierischen Lebens auf der Erde auf einer recht hohen Stufe zu einem Zustand geführt, der eine Lücke evozierte: Nicht alle Handlungen wurden mehr rein instinktiv gesteuert. Dass Lem rein instinktives Handeln uns Tieren unterstellt, ist natürlich Unsinn und allein seiner menschlichen Borniertheit geschuldet, aber seine Aussagen über seine eigene Spezies sind zweifellos nachdenkenswert.

Die Lücke bedeutet, sich zwischen Alternativen entscheiden zu können. Die Lücke ist das, was der Mensch selbstgerecht als ‚Verstand‘ bezeichnet.

Nun ist das Entscheiden ein anstrengender Prozess, dauernde Entscheidungen überfordern auch Bären, ganz gewiss aber Menschen. Deshalb, so Lem, organisieren die Menschen ihr Leben in regelhaften Gemeinschaften, die sie selbst als ‚Kulturen‘ bezeichnen. Die Vorschriften darin, die sie selbst gemacht haben, die sie aber schnell als von überirdischen oder irdischen Mächten gegeben betrachten, nehmen ihnen die Notwendigkeit der Entscheidung ab: in toleranten Kulturen nur zum Teil, in doktrinären vollständig. Soweit Lem.

‚Die Welt ist aus den Fugen‘ hat Manfred vorhin gesagt. Das ist zwar ein nicht korrektes Zitat, wohl aber eine korrekte Zustandsbeschreibung. Die technologischen Veränderungen in der Menschenwelt, allen voran die Revolution der Kommunikation und der Berufswelt, stellen tradierte Kulturen in Frage. Die gesellschaftliche Antwort darauf ist ein Auseinanderdriften der Menschengesellschaften: Doktrinär bestimmtes Leben wird noch doktrinärer, permissive Kulturen verzichten zunehmend auf verbindliche Regeln. Und die Gesellschaften mit fixen Grundsätzen und die Gesellschaften ohne fixe Grundsätze werfen den jeweils anderen vor, am fugenlosen Zustand der Welt schuld zu sein.“

„Ist ja alles schön und gut!“ murrte Manfred. „Aber ich weiß immer noch nicht, warum ein Amerikaner Donald Trump wählen sollte.“

Kulle schüttelte den Kopf so leise, dass nur Bärdel es sehen konnte. „Die USA sind eine zumindest in Teilen tolerante Kultur. In ihr zu leben erfordert Entscheidungen. Trump versprich den Menschen, ihnen die Entscheidungen abzunehmen, indem er ihnen sagt, wer böse ist und wer gut. Er verspricht ihnen das Ende der wirtschaftlichen Unsicherheit, indem er die ‚fugenlose‘ Welt von den USA fern hält: Durch eine Mauer gegen Mexiko, durch Protektionismus. Er ist der reiche Onkel, der es ganz nach oben geschafft hat und der verspricht, dass alles für alle gut wird. Wie man Kindern leichtfertig unhaltbare Versprechungen macht.“

Alle schwiegen lange, bis Manfred leise fragte: „Auf der Welt gibt es gerade viele Kinder unter den Menschen, oder?“

„Ich fürchte, ja.“

„Jetzt gehen wir aber endlich spazieren!“ forderte Bärdel gewollt heiter, obwohl ihm das Herz ebenso schwer war wie Manfred. „Wer kommt mit?“

Sie wanderten zu dritt durch die dehländische Ebene, aber anders als sonst begleiteten sie keine munteren Reden.

September 2016

Über Empathie und deren Missbrauch

Was ist Empathie?

Kulle

Der Duden liefert eine sehr enge Definition: Er bezeichnet Empathie als die „Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen“. Demzufolge ist Empathie also eine Empfindung, die nur Menschen anderen Menschen entgegenbringen können.

Wikipedia 1 geht scheinbar weiter:

„Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen. Zur Empathie gehört auch die Reaktion auf die Gefühle Anderer wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls. Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung; je offener man für seine eigenen Emotionen ist, desto besser kann man die Gefühle anderer deuten.“

Und schließlich lesen wir bei „empathie-lernen.de:“2 „Empathie ist die Fähigkeit, wahrzunehmen, was in einem anderen vorgeht.“

Wer also ist fähig zur Empathie wem gegenüber?

Dem Duden zufolge ist das der Mensch gegenüber dem Mitmenschen, bei Wikipedia ist von Personen und Persönlichkeitsmerkmalen die Rede, die Empathie-Seite spricht von „anderen.“ Gemeint ist, wie auch immer formuliert wird, präzise oder unpräzise, der Mensch.

Dieser Logik zufolge kann Tieren keine Empathie entgegengebracht werden, es sei denn, man schreibt ihnen Persönlichkeitsmerkmale zu, was Homo nur sehr zögerlich zu tun bereit ist, sieht er doch dadurch seine behauptete Stellung als Krone der Schöpfung gefährdet.3

Die jahrhunderttausendelange Beziehung zwischen Menschen und Tieren hängt weitgehend von der Zahl der Beine der Tiere ab: Alles, was acht oder sechs Beine hat, mit Ausnahme der Bienen, gilt als lästig und ist es oft auch. Fische sind nahrhaft. Vögel sind nützlich, sofern sie domestizierbar sind, Eier legen und zum Verzehr geeignet. Vierbeiner sind willkommen, wenn sie ähnliche Kriterien erfüllen: Wenn sie Milch und Fleisch geben und/oder ihre Kraft als Zug- bzw. Lasttiere genutzt werden kann. Auch das Raubtier Katze und das teildomestizierte Raubtier Wolf als Hund werden haushaltsnah als Mäusefänger und Wächter gehalten. Als Maxime gilt der ökonomische Nutzen; folgerichtig spricht man von Nutzvieh.

Im Widerspruch zu den eingangs zitierten Definitionen gibt es sehr wohl emotionale, empathische Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Seit der private Wohlstand in den Industrienationen so angewachsen ist, dass der homo oeconomicus sich den Luxus leisten kann, nicht nur wirtschaftlich zu handeln, gesellte er sich das Haustier bei, das eine deutlich andere Position einnimmt als das Nutzvieh. Das Haustier ist Gesellschafter, nicht eierlegende Wollmilchsau.

Man sollte annehmen, dass Homo positive Gefühle gegenüber nahen Verwandten hegt, dem ist aber keineswegs so. Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang Utans werden in Zoos eingesperrt und dort ausgestellt. Zeugt dergleichen von Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls4?

Auch gegenüber genetisch kaum weniger Nahestehenden ist der Mensch gefühlsresistent. Schweine werden unter tierunwürdigen Verhältnissen binnen möglichst kurzer Zeit so zu Tode gebracht, dass sie möglichst viele, wenn auch nach nichts schmeckende Koteletts unters Schlachtmesser bringen.

Anders verhält es sich mit den Haustieren. Der Hund hat seine Ketten verloren und ist auf den Schoß geklettert. Die Katze jagt Mäuse nur noch zum Entsetzen ihrer Halter, die nicht verstehen, warum „Sheba“ et alii das Raubgelüst nicht befriedigen. Das Haustier liebt der Mensch so sehr, dass er nicht davor zurückschreckt, es nach seinem Geschmack zu verstümmeln.

Da ist der rassereine Hund, dessen Becken nicht mehr geeignet ist zu gebären, der asthmatisch ist und dessen Beine ihn nicht mehr tragen, teurer Dauerkunde beim Kleintierarzt und Grund vieler Tränen. Da ist die Katze, die kastriert wird, um nicht ihr, sondern ihrem Besitzer die Kätzchen im nächsten Frühjahr zu ersparen.

In allerjüngster Zeit hat der Mensch weitere Lebewesen entdeckt, die seiner Liebe bedürfen und ihrer würdig sind, wie er meint.

Die Polkappen schmelzen, woran Homo nicht ganz unschuldig ist. In der Antarktis sind die Pinguine bedroht, das ist bedauerlich, meint er, aber letztlich trifft es nur Vögel.

Jedoch: Auch die Arktis schmilzt! Die Eisbären verlieren ihr Habitat! Sie verhungern! Sie ertrinken!

Bilder von abgemagerten Eisbären, die ziellos umherschwimmen, bringen Menschen tatsächlich zum Weinen, und das ist erstaunlich, denn Eisbären sind die größten Landraubtiere. Eisbären bedrohen Menschen nördlich des Polarkreises. Eisbären haben oft blutrote Schnauzen, daran erkennt man, was sie gefressen haben. Eisbären flößen Angst ein. Eisbären jagen Robben, und die haben nach Meinung der meisten Menschen sehr süße Babies.

Was wäre so schlimm daran, wenn es keine Eisbären mir gäbe? Wer hat den Menschen die merkwürdige Liebe zu diesen gefährlichen Räubern eingepflanzt?

Es waren der WWF, Greenpeace und ähnliche Organisationen, und für sie dient der Eisbär dem Fundraising. Wer für den Erhalt der Umwelt kämpft, benötigt in der menschlichen Gesellschaft Geld. Es bedarf geschickter Strategien, es dem homo oeconomicus zu entlocken. Er muss sich der Illusion hingeben können, einen angemessenen Gegenwert zu erhalten, und sei es ein immaterieller. Sagte man ihm, dass sein Konsumverhalten maßgeblich verantwortlich für die Klimaerwärmung ist, so wäre das zwar richtig, hätte aber keinerlei positiven Aspekt. Eine Argumentation gegen das gerade erworbene SUV erweckte die Empathie für das SUV in einem bisher nicht bekannten Umfang. Also lässt man dem Menschen seine klimaschädigenden Konsumartikel und verschafft ihm zugleich ein gutes Gewissen, wenn er für bedrohte Teile des Ökosystems Geld zur Verfügung stellt – und Tiere mit dichtem Fell, deren Junge dem Kindchenschema entsprechen, sind als Repräsentanten solcher „bedrohten Teile“ bestens geeignet.

Empathie, so lernen wir, bezieht sich auf jeden und jedes, wenn Menschen wollen, dass sie dafür Empathie empfinden.5

Die Vermutung liegt nahe, dass Homo seine Empathie zunehmend anderen Subjekten als Vertretern der eigenen Spezies widmen wird. Die Fähigkeit, sich in andere Wesen hineinzuversetzen, ist verständlicherweise numerisch begrenzt. Die zunehmende Zahl der Menschen ist dafür schlechter, die abnehmende Zahl der Eisbären besser geeignet.

Dezember 2015


Fußnoten: („< " führt zum Text zurück)

  1. Der Chef hat Wikipedia lange Zeit verabscheut. Die wissenschaftliche Qualität sei niedrig, die Fehlerquote hoch, behauptete er. Das hat sich geändert. Inzwischen erachtet er Wikimedia als eine wichtige Zugangsmöglichkeit zu Informationen (auch) für wissenschaftlich nicht gebildete interessierte Personen und spendet regelmäßig für deren Erhalt. Die Sekretärin
  2. Die Prämisse des Site-Namens, es handele sich bei Empathie um eine kognitive Fähigkeit, ist so naiv, dass sie schon wieder amüsant ist.
  3. Lediglich Primaten und Walen werden inzwischen Zugeständnisse gemacht.
  4. vgl. Wikipedia
  5. Wir erwarten nicht, diese Erkenntnis demnächst in einem menschlichen Lexikon zu lesen.
  6. Dezember 2015

Zwischengeburtstag

An einem 22. Oktober, dem Tag also, der genau sechs Monate vor und sechs Monate nach ihrem Erinnerungstag, dem Tag, an dem sie erinnert werden wollte oder, wenn es niemanden gab, der sie erinnerte, sich erinnern wollte, nämlich daran erinnern, dass sie die Bewegerin dieses einen Universums unter anderen zahllosen Universen war, deren Bewegerinnen zahllose andere Entitäten waren, am 22. April also, denn aus Gründen, die nur Tussi, denn von ihr ist die Rede, hell sein konnten, legt sie Wert darauf, ihren Erinnerungstag an dem Datum zu begehen, an dem Immanuel Kant und Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, das Licht dieser Welt, also des dritten Planeten des Solarsystems am Rand ihres Universums, erblickt haben, an dem Tag  zwischen den Erinnerungstagen lädt Tussi alle Bewohner Bärenlebens zum Robbenreiten vor der Insel Norderney ein.

Tussi und Merkel

Kulle fand wenig Vergnügen am Reiten von Robben, nicht in der Vergangenheit und auch nicht beim aktuellen Anlass. Er hasste kaltes Wasser, und er glitschte immer wieder von den dicken Tieren mit ihrem fettigen Fell, das keinen festen Griff erlaubte, hinunter. So stapfte er nach einem kurzen Intermezzo im Meer erleichtert wieder an den Inselstrand.

Kulle

„Na, kleiner Stinker? Schon die Nase voll vom Dorfvergnügen?“

Kulle zuckte zusammen, ertappt und schuldbewusst. Einer Göttin zeigt man nun einmal nicht, dass man ihr Unterhaltungsprogramm nicht schätzt. Aber Tussi gab sich huldvoll.

„Schon gut. Ich sollte mir vielleicht was Neues einfallen lassen, solange noch Zeit ist.“ 

Vor der großen Fröschin materialisierte sich ein silberner Kübel, aus dem der Hals seiner Champagnerflasche ragte, daneben stand ein schlanker Kelch. Vor Kulle erschienen zwei irdene Töpfchen.

„Sanddornhonig und Sanddorncreme für dich, Champagner für mich. Recht so?“

Kulle nickte. Süßherbe Düfte stiegen ihm in die Nase. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen, nicht sofort Pfote und Schnauze in die Leckereien zu stecken, sondern zu warten, bis Tussi den ersten Schluck genommen hatte, wie es sich gehörte. Aber noch viel mehr Beherrschung kostete es ihn, Tussi nicht sofort mit Fragen zu überfallen. Tussi war hier! Mit ihm allein! Tussi wusste alles! Er konnte alles erfahren! Er musste es nur geschickt anstellen…

„Sag mal…“

„Sag mal…“

Beide hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen. Beide sahen einander an. Beide nickten. Und beide fuhren gleichzeitig fort:

„Was wolltest Du fragen“?

„Was wolltest Du fragen?“

Kulle war verwirrt, aber er gab sich galant: „Du hast natürlich den Vortritt!“

„Sag mal – wie gefällt es Dir auf meiner Welt?“

Oh weh! Eine solche Frage eines Gottes oder einer Göttin wagt nur der Teufel ehrlich zu beantworten, und Kulle suchte bei ihm Zuflucht.

„Von Sonn‘ und Welten weiß ich nichts zu sagen,

Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.

Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,

Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.

Ein wenig besser würd er leben,

Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,

Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“

„Ja,“ sagte Tussi nachdenklich und nippte am Champagner, „Goethe war ganz schön klug. Dem hätte ich gerne Gesellschaft geleistet, aber ich habe von seiner Existenz erst erfahren, als er schon tot war. Man kann eben nicht alles haben!“

„Aber ich dachte, Du seist allwissend!“

„Das hast Du nicht gedacht, sondern gemutmaßt. Aber das nur am Rande. Und was den Inhalt Deiner Annahme angeht: Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst Du im Ernst, ich könnte hier sitzen und es mir gut gehen lassen, wenn ich alles wüsste, was vorgeht?“

„Aber ich denke – äh, ich nehme an, Du machst alles?“

„Präteritum, mein Lieber, Präteritum! Ich habe alles gemacht, vor langer Zeit, als es Eurer Physik zufolge noch gar keine Zeit gab, und seitdem gucke ich nur zu, was passiert, oder ich schaue auch weg, wenn es zu fürchterlich ist. Um ehrlich zu sein, ich sehe meistens weg.“

„Es gefällt Dir also auch nicht auf der Erde, wo ‚sich die Menschen plagen’ und mit ihrem Verstand überfordert sind, wie Mephisto sagt?“

„Nein. Im Prinzip ist die Erde ein ‚Failed Planet’. Aber man muss nehmen, was man hat, auch als Schöpferin: Allzu viele Planeten mit annehmbaren Umweltbedingungen haben sich in meinem Universum nicht entwickelt, um es vorsichtig zu formulieren. Terra nimmt eindeutig diesbezüglich eine Spitzenposition ein. Ein paar akzeptable Ecken gibt es hier schon.“

„Europa zum Beispiel?“

„Nicht zum Beispiel.  Nur Europa. Nur ein paar europäische Länder.“

„Dann ist Dein Kriterium nicht Reichtum!“

„Richtig erkannt. Du bist ein kluger kleiner Stinker. Ginge es um Reichtum, hätte ich mich in den USA niedergelassen. Habe ich aber nicht.“

„Also geht es um Frieden?“

„Natürlich.“

„Welche europäischen Länder meinst Du?“

„Frankreich, Benelux, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Schweiz, Westdeutschland…“

„Also nicht die DDR? Nicht zum Beispiel Spanien, Portugal, Griechenland?“

„Nein.“

„Also nur die Länder, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges demokratische Strukturen entwickeln konnten, in denen es keine Diktaturen gab?“

„Du bist wirklich ein kluger Stinker. Iss von Deinem Honig und Deiner Creme – die sind gut für Dein Gehirn.“

Kulle war jedoch zu aufgeregt zum Essen.

„Wirst Du länger hierbleiben?“

„70 Jahre Frieden. Das ist in Europa ein einmalig langer Zeitraum. Die europäischen Länder, in denen so lange Frieden herrscht, machen etwa zwei Prozent der Kontinentallandmasse aus – die Antarktis lasse ich außer Acht, weil sie nicht von Menschen besiedelt ist. Wenn ich unterstelle, dass der heutige Mensch die Erde seit 70.000 Jahren besiedelt;­ ein Durchschnittswert, in Afrika lebt der Mensch viel länger, in den Amerikas erschien er erst später , dann entsprechen 70 Jahre einem Promille.“

Jetzt griff Kulle doch in den Honigtopf.

„Du wirst also nicht länger hierbleiben?“

„Die Stochastik spricht dagegen.“

„Vielleicht“, sagte Kulle und sah aufs Meer hinaus, wo Bärdel und Atti und Manf sich, auf dem Rücken von Seehunden reitend, mit Wasser bespritzten, „vielleicht sollte ich jetzt doch noch die Freuden des Meeres genießen. Wer, weiß, wie lange es die noch gibt.“

Oktober 2015

Kulle über das Reisen

Über das Reisen

P. D. Kulle

Kulle

»Guten Tag«, sagte der kleine Prinz.
»Guten Tag«, sagte der Weichensteller.
»Was machst du da?« sagte der kleine Prinz.
»Ich sortiere die Reisenden nach Tausenderpaketen«, sagte der Weichensteller. »Ich schicke die Züge, die sie fortbringen, bald nach rechts, bald nach links.«
Und ein lichterfunkelnder Schnellzug, grollend wie der Donner, machte das Weichenstellerhäuschen erzittern.
»Sie haben es sehr eilig«, sagte der kleine Prinz. »Wohin wollen sie?«
»Der Mann von der Lokomotive weiß es selbst nicht«, sagte der Weichensteller.
Und ein zweiter blitzender Schnellzug donnerte vorbei, in entgegengesetzter Richtung.
»Sie kommen schon zurück?« fragte der kleine Prinz…
»Das sind nicht die gleichen«, sagte der Weichensteller. »das wechselt.«
»Waren sie nicht zufrieden dort, wo sie waren?«
»Man ist nie zufrieden dort, wo man ist«, sagte der Weichensteller.
(aus: Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz, Kap.22)

Inhalt:

  • Vorwort
  • 1. Die Großen Reisen
  • 1.1. Die Reise zur Eroberung der Landmasse
  • 1.2. Die Reise zur Eroberung fremden Territoriums
  • 1.3 Was kennzeichnet Große Reisen?
  • 2. Was kennzeichnet dem gegenüber Kleine Reisen?
  • 2.1. Geschäfts- und Bildungsreise
  • 2.2. Entdeckungs- und Eroberungsreise
  • 2.3. Die Pendelreise
  • 2.4. Die Urlaubsreise
  • Conclusio

Vorwort

Reisen ist eine Tätigkeit, die von Homo sapiens sapiens (im Folgenden auch: HSS) so umfassend und aus so unterschiedlichen Gründen ausgeübt wird wie von keiner anderen Spezies. Deshalb behalten wir die Bezeichnung „Reisen“ ihm vor, während wir bei anderen Tieren von „Wandern“ sprechen. Wanderungen ermöglichen Fortpflanzung und Zugang zu Nahrung, andere Triebkräfte dafür existieren nicht. Das Motiv der Nahrungssuche haben Reisende und Wanderer mitunter gemein, wie wir sehen werden.

1. Die Großen Reisen

1.1. Die Reise zur Eroberung der Landmasse

Fossile Zeugnisse von unterschiedlich entwickelten Hominiden sind sowohl in Asien wie in Europa und Afrika nachgewiesen worden, es ist jedoch nach gegenwärtigem Wissenstand unbestritten, dass die „Wiege der Menschheit“ 1 im nordöstlichen Afrika zu suchen ist. Von dort reiste der Mensch los und durchstreifte die „Alte Welt“ zu Fuß, erst als er die Fähigkeit entwickelt hatte, die Meere zu befahren, machte er Australien zu seinem Lebensraum. Die Bereisung des amerikanischen Doppelkontinents erfolgte noch später als die der Terra australis und fand wiederum auf dem Landweg, über die zu jener Zeit trocken gefallene Beringstraße, statt. So war schließlich auch die gesamte „Neue Welt“ 2 zum Reiseterritorium des Menschen geworden.

Das Motivbündel für diese Jahrhunderttausende währende Reise wohl überwiegend kleiner Gruppen ist zweifellos vielfältiger Natur. Die allenthalben verbreitete nomadisierende Lebensweise, die sich aus der Jäger- und Sammlertätigkeit zur Nahrungsbeschaffung zwangsweise ergab, ist schon an sich eine Reisebetätigung. Regionale Erschöpfung von Ressourcen, kurzfristige Wetterunbilden, Naturkatastrophen und einschneidende klimatische Veränderungen gaben ebenfalls Anlass, einen anderen Lebensraum in der Hoffnung auf bessere Bedingungen zu suchen. Und gewiss spielte die Bedrohung durch Artgenossen eine Rolle, und zwar um so mehr, je weiter HSS sich verbreitete. Und damit kommen wir zur zweiten Form der großen Reisen.

1.2. Die Reise zur Eroberung fremden Territoriums 3

Verteidigung, Bekehrung der Heiden, Lebensraum in welcher Himmelsrichtung auch immer schaffen, Kreuzzug, präventives oder präemptives Handeln – der Mensch war schon immer sehr phantasievoll, wenn es galt, das brutale, organisierte Töten eigener Artgenossen durch speziell dafür geschulte Kämpfer und mit speziell dafür hergestellten Waffen zu beschönigen: den Krieg.

Krieg besteht darin, dass eine Armee in ein von einer anderen Armee kontrolliertes Territorium reist; kann sie es erobern, erweitert sie ihren Kontrollbereich, und die gegnerische Gruppe verliert die Kontrolle über diese Region. Die nicht kämpfende Bevölkerung flieht vor den Kampfhandlungen, reist also fort, oder wird nach deren Beendigung entweder vertrieben, unterdrückt oder assimiliert.

Flüchtlinge oder Vertriebene versuchen, sich ein neues Territorium zu suchen, das aber ist in der Regel menschlich besiedelt, so dass sie entweder abgewiesen werden oder, falls sie akzeptiert werden, zumindest für einen gewissen Zeitraum einen Störfaktor darstellen, da sie wertvolle Ressourcen verbrauchen und enkulturiert werden müssen.

Warum werden Kriege geführt? Auch hier finden wir vielfältige Gründe, die sich aber letztlich auf einen Begriff bringen lassen: Ressourcen. Ob Land, Bodenschätze, landwirtschaftliche und /oder industrielle Produkte, Arbeitskraft, Know-how oder Sexualobjekte der eigenen Verwertung unterworfen werden können: Die Macht des Eroberers wird gesteigert und so seine Herrschaft gesichert. 4

1.3. Was kennzeichnet Große Reisen?

Die Antwort hat der intelligente Leser gewiss bereits gefunden, für den nicht so begabten einen oder anderen menschlichen Interessierten sei sie explizit formuliert: Große Reisen werden unternommen, um zu bleiben.

2. Was kennzeichnet dem gegenüber Kleine Reisen?

Auch diese Antwort liegt antithetisch auf der Hand: Kleine Reisen werden nicht unternommen, um am Reiseziel zu bleiben. Nach kürzerer oder längerer Zeit kehrt der Reisende in seine Ausgangsregion zurück. Was Zwecke und Motive anbetrifft, so ist bei den Kleinen Reisen die Vielfalt erheblich größer als bei den Großen. Wir werden einen Überblick über die wichtigsten geben.

2.1. Geschäfts- und Bildungsreise

Die Geschäfts- und die Bildungsreise sind die ältesten Kleinen Reisen und zudem eng miteinander verwandt, gilt es doch bei beiden, Güter zu erwerben, im ersten Fall materielle, im zweiten immaterielle. In einer Welt knapper und regional unterschiedlich verteilter Güter liegt es nahe, gegen Tausch von Waren oder allgemeinen Warenäquivalenten eine bessere Versorgung in allen Gebieten zu erreichen. Diese Aufgabe übernahmen die Fernkaufleute, aber auch die Höker, die kleinräumig agierten.

Wo sich mit dem Beginn von Zentren unterschiedliche Kulturen entwickelten, entsandten die Herrschenden junge Menschen, oft Angehörige des eigenen Geschlechts, um fremde Sitten und Gebräuche kennenzulernen und die heimische Polis 5 davon profitieren zu lassen 6. Diese Art des Informationserwerbs setzte sich nach der Gründung von Hochschulen bis zum heutigen Tag fort.

Das Motiv derartiger Reisen ist zum einen Gewinnstreben, das, in abgewandelter Form, als Suche nach Vorteilen auch Großen Reisen inhärent ist. Bei Bildungsreisen aber finden wir eine neue, bisher unbekannte Triebkraft: Neugier 7 .

2.2. Entdeckungs- und Eroberungsreise

Ebenfalls eng miteinander verknüpft sind die Entdeckungs- und die Eroberungsreise. Solange die Erde für eine Scheibe gehalten wurde, von deren Rand man ins Nichts herunterfallen konnte, hielt sich die menschliche Lust auf Unbekanntes in Grenzen, aber neue, wenn auch falsche Weltkarten, denen zufolge Terra eine Kugel ist und denen zufolge man Profit versprechende Territorien 8 auf dem Seeweg erreichen zu können glaubte, veranlasste HSS zum Besegeln der bisher gefürchteten Ozeane9.

Ausgestattet mit der richtigen Ideologie, also der Überzeugung, der wahren Religion teilhaftig zu sein und alle menschlichen Wesen, die man „entdeckte“, zu dieser bekehren zu müssen, sorgten die unreinlichen Europäer für ein doppeltes Massaker: die Bestrafung der „Heiden“, die sich dem „Heil“ widersetzten, mit dem Tode, und den Seuchentod.

Mindestens ebenso wie an überirdischen Gütern waren die Entdecker und ihre Geldgeber 10 an irdischen Werten interessiert. Jeder jagte dem „Dorado“ hinterher und fand es in mancherlei Gestalt: im Gold und Silber Lateinamerikas, in der Arbeit der aus Afrika entführen Sklaven auf den Baumwollfeldern der Amerikas und letztlich auch in den Weiten des scheinbar leeren Südkontinents, in denen sich Straftäter entsorgen und so Kosten sparen ließen.

2.3. Die Pendelreise

Eine neue Quantität und auch Qualität des Reisens entstand mit der Industriellen Produktionsweise, zerstörte doch die Fabrik die lokale Einheit von Wohnen und Arbeiten, wo sie sich entwickelte. Diese Zerstörung erheischte eine Beschleunigung und eine quantitative Ausweitung des Reisens, die beide durch die Entwicklung des Lokomobils und einige Jahrzehnte später des Automobils möglich wurden. Die Notwendigkeit des „Pendelns“ von Berufstätigen und Waren ist die Grundlage einiger wichtiger Wirtschaftszweige und zugleich ein Faktor, der die Ökonomie negativ beeinflusst, führt doch die zunehmende Überlastung der Verkehrswege und -mittel zur Vergeudung von toter wie lebendiger Arbeit.

2.4. Die Urlaubsreise

Diese Überlastung beeinträchtigt jene Art der Kleinen Reise, die sich bei den Reisenden höchster Beliebtheit erfreut. In allen sogenannten Industrie- wie auch in vielen Schwellenländern 11 haben beruflich tätige Menschen Anspruch auf eine mehr oder minder lange Spanne arbeitsfreier Tage, und wer über die Mittel dazu verfügt, verbringt diesen „Urlaub“ gerne an einem anderen Ort als dem gewohnten. Es versteht sich von selbst, dass auch diese Kleinen Reisen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind: Transportmittel, Unterkünfte und Möglichkeiten zur Nahrungsaufnahme müssen bereitgestellt werden.

Conclusio

Wie sich gezeigt hat, ist das Reisen zwar kein ontogenetisches, wohl aber ein phylogenetisches Merkmal von Homo sapiens sapiens. Er muss also danach trachten, dieses Verhalten zu perpetuieren, was ihm aber zusehends schwerer fällt, verhindert doch die schiere „Masse Mensch“ 12 das Fortkommen und, was die Urlaubsreise angeht, den Genuss.

Also auch hierbei: Pfffffffffffff…


Fußnoten: („<“ führt zum text zurück)

  1. Die euphemistische Formulierung stammt von menschlichen Anthropologen, nicht von bärischen.
  2. Dem Menschen, der die Amerikas nach deren „Entdeckung“ durch den Italiener Colombo 1492 als „Neue Welt“ bezeichnete, scheint bis heute nicht aufgefallen zu sein, dass er mit diesem Namen den Nagel auf den Kopf getroffenen hatte.
  3. Gemeint ist natürlich fremdes menschliches Territorium. Anderen Tieren den Lebensraum zu nehmen hat dem Menschen selten Probleme bereitet.
  4. Bei der ersten Fassung des Manuskripts hat der Chef formuliert: „Der Usurpator hat bewiesen, dass er den längsten hat.“ Das musste ich leider streichen. Die Sekretärin
  5. Wir beziehen diesen Begriff nicht nur auf griechische Poleis, sondern auf Stadtstaaten allgemein.
  6. Dass diese Reisen nicht immer von Erfolg gekrönt waren, zeigt zum Beispiel die Geschichte von Ödipus.
  7. Gewinnstreben, kombiniert mit Neugier, sind übrigens die Triebkräfte, die dazu geführt haben, dass die Erde sich inzwischen im Elend des Anthropozän befindet – aber das ist eine andere Geschichte.
  8. Indien
  9. Nicht belegte, sondern nur behauptete Entdeckungsfahrten wie die der Wikinger haben vielleicht ebenfalls stattgefunden. Seekarten eines Torricelli-Vorfahren hatte Erik der Rote aber gewiss nicht zur Verfügung.
  10. Wir denken hier an die „katholischen“ spanischen Könige, die dringend Mittel für die Reconquista benötigten.
  11. Der Begriff nährt die Illusion, die etablierten Industrieländer würden ein Überschreiten der „Schwelle“ auf ihr Niveau durch andere Länder tolerieren.
  12. Ernst Toller konnte 1919 noch keine Ahnung haben, wie massenhaft seine Gattung binnen kurzem präsent sein würde: Damals lebten weniger als 2 Milliarden Menschen auf dem Globus.

September 15

Eisbärenabitur – oder: Kant für Anfänger

Eisbärenkinderabitur

Eisbärenfamilie

„Tante Atti, Onkel Kulle, können wir heute bitte Abitur spielen?“

Athabasca und Kulle sahen einander verwundert an. Was war wohl jetzt wieder in Nanuk gefahren?

„Wie kommt ihr denn auf die Idee?“ wollte Atti wissen.

Athabaska

„In ganz Dehland finden jetzt mündliche Abiturprüfungen statt, haben wir in der Zeitung gelesen. Wenn man die besteht, darf man studieren. Das wollen wir auch machen!“

Kulle schüttelte sanft den Kopf. „Man muss auch schriftliche Prüfungen bei den Menschen bestehen, wenn man studieren will. Aber das nur nebenbei. Ihr braucht diese Voraussetzungen nicht: Hier in Bärenleben dürft ihr studieren, wozu immer ihr Lust habt!“

„Das wissen wir doch, Onkel Kulle! Aber wir möchten so gerne spielen….“

„Na gut! Tante Atti und ich werden uns eine Aufgabe für euch ausdenken. Da ihr aber zweifellos klüger seid als die Menschen, werden wir euch nur mit Material versorgen. Die Aufgaben dazu müsst ihr euch selbst überlegen. Mit dem Material dürft ihr euch zwanzig Minuten lang beschäftigen, und danach folgt eine Prüfung von einer halben Stunde. Einverstanden?“

„Super, Onkel Kulle! Wir sind jetzt gleich bei Mami im Wasser. Sagt uns Bescheid, wenn ihr fertig seid.“

Und schon sausten zwei weiße Blitze davon zum Dorfteich.

Athabasca bot Kulle ein paar frisch gepflückte Kräuter an und erkundigte sich: „Was wollen wir den beiden geben? Du hast doch bestimmt schon eine Idee, du Schlaumeier!“

Kulle

Es gab nur einen Bären auf der Welt, genauer gesagt, eine Bärin, von der sich Kulle despektierlich „Schlaumeier“ nennen ließ. Atti war die Frau seiner Träume, seit er sie kennengelernt hatte. Deshalb bedankte er sich artig für den vegetarischen Imbiss und sagte: „Kant. Kurz und knackig. Da ist alles drin und alles draus zu machen.“

Atti mopste sich ein paar Rucolablätter aus Kulles Faust und nickte zustimmend. „Gute Idee. Aber bitte gekürzt.“

„Versteht sich. Die Kleinen werde auch so genug zu knabbern haben.“

Kulle trollte sich in die Bibliothek und kam wenig später mit bedrucktem Papier zurück.

„Nanuk!“ rief er.

Voller Begeisterung sprangen die Zwillinge ans Ufer, schüttelten sich das Wasser aus dem Fell und griffen nach den Zetteln.

„Zwanzig Minuten!“ erinnerte Kulle.

„Viel Spaß!“ wünschte Atti.“

Beantwortung der Frage:

Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich…Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: Räsonniert nicht! Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich, welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung…

„Ganz schön viel Text“, stellte Nuk beeindruckt fest.

„Ach nee“, kommentierte Na ironisch. „Komm, lass uns arbeiten: Von wem ist der Text, was steht drin, sind die Aussagen richtig – einverstanden?“

Nuk antwortete nicht – sie war schon in das Material vertieft. Zwanzig Minuten lang war es still – eisbärenarbeitsstill.

„Seid ihr so weit?“ Athabasca hatte eine Holunderblüten-Honig-Limonade angesetzt und wollte den Kindern davon einschenken, aber Nuk wehrte dankend ab: „Später, bitte, Tante Anti.Erst müssen wir reden!“

„Wir gehen davon aus, dass der Text von einem Aufklärer stammt, also auf das späte 18.Jahrhundert zu datieren ist. Die häufige Verwendung des Verbs ‚räsonnieren‘ und die Anspielung auf einen einzigen Herrn in der Welt, der sagt: ‚Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht‘ sind eindeutige Hinweise auf Preußen und Friedrich II. Der Verfasser des Essays ist vermutlich Immanuel Kant.“

Lehrerin und Lehrer nickten anerkennend.

„Wir könnten jetzt den Textinhalt referieren, wenn ihr möchtet,“ bot Na an. „Wir fänden das, ehrlich gesagt, aber langweilig. Spannender wäre es, den Text politisch einzuordnen, denn Aufklärung ist beziehungsweise war eine intellektuell-politische Bewegung, die ihrer Natur nach bestehende Herrschaftsstrukturen in Frage stellt. Außerdem reizt es uns, die Textaussagen auf ihre aktuelle Relevanz abzuklopfen.“

„Athabasca seufzte vor Glück. Kulle freute sich ebenso, dachte aber wehmütig daran, dass er wohl lange auf die nächste Generation ähnlich begabter Eleven würde warten müssen.

„Wir sind ganz Ohr,“ sagten beide im Chor.

„Ein Revolutionär war der Königsberger Professor Kant nicht gerade. Ist ja auch menschlich: ‚Wes Brot ich ess, des Lied ich sing…‘ Ohne Bevormundung denken sollen die Menschen seiner Meinung nach schon, aber dabei bloß nicht die öffentliche Ordnung und das Gefüge des Gemeinwesens stören, auch wenn es darum nicht zum Besten bestellt sein mag. Deshalb unterscheidet er zwischen öffentlicher und privater Freiheit. Der Privatmensch, ob nun als Soldat oder in einem zivilen Beruf tätig, hat zu gehorchen, öffentlich darf er dagegen seine Gedanken kundtun – gemein formuliert, Kant postuliert die Freiheit der Stammtischmeinung.“

Kulle dachte. ‚Das hätte von mir sein können.‘

„Der Text, den wir bekommen haben, ist mehr als zweihundert Jahre alt, wenn unsere Einschätzung stimmt.“ Nuk schien laut zu denken, für sich zu überlegen, nicht zu ihren Lehren zu sprechen.

„Ich habe gelernt, dass der Optimismus, den er ausdrückt, erst am Beginn des 20. Jahrhunderts zerstört worden ist, durch den Großen Krieg.

Es gab einen zweiten Optimismus-Aufguss mit dem Sieg der Oktoberrevolution 1917, bis sich allmählich herausstellte, dass die Revolution ein Putsch war und die Herrschaft der Arbeiterklasse die Willkürdiktatur der Nomenklatura.

Es gab einen dritten Aufguss nach dem Ende der Bipolarität. Für kurze Zeit sah es so aus, als könnte die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges Schwerter zu Pflugscharen schmieden.“

„Aber“, fuhr Na ebenso träumerisch fort, „das war die Sicht der satten Reichen, die meinten, immer weiter gut leben zu können mit den billigen Rohstoffen der Armen. Denn die Armen waren ruhig gestellt unter der Herrschaft von Diktatoren, mit denen die Reichen hervorragend Handel treiben konnten. Aber die Armen hatten selten Brot und immer keine Arbeit, kein Auskommen, und als manche von ihnen die Diktatoren vertrieben, jubelten die satten Reichen sogar, denn sie meinten, nun würden die Armen das Regierungssystem der Reichen einführen, und dann ließe sich mit ihnen noch besser Handel treiben. Weit gefehlt.“

„Denn,“ spann Nuk den Faden fort, „denn die Aufständischen begaben sich nicht unter die Fuchtel der kapitalistischen Vormünder, sondern, was Kant, wenn er denn der Verfasser des uns vorliegenden Textes ist, verabscheut hätte, unter die Vormundschaft der Imame und der Muftis. Nicht die Vernunft regiert, stattdessen ist die öffentliche Freiheit ein Opfer der Scharia. Die schlimmsten Auswüchse, wenn wir der Presse trauen dürfen, produziert der IS mit Morden und Vergewaltigungen in einem Ausmaß, wie sie – in Europa – seit dem dreißigjährigen Krieg nicht mehr vorgekommen sind.“

„Das soll aber nicht heißen, dass die Menschen in den Industrie- und Schwellenländern rationaler agieren,“ sagte Na. „Die kleinen digitalen Helferlein haben sich längst in die Rolle der Vormünder gedrängelt und sind auf dem besten Weg, die Diktatur zu übernehmen. Der elektronische Assistent ist der elektronische Kontrolleur, und dessen Boss – Google, Apple oder wie such immer – weiß alles über dich. Aber die ‚User‘ scheinen es zu wollen – Netzsucht ist bereits als Krankheit definiert.“

„Und dann sagte Na: „Jetzt habe ich Durst.“

„Ich auch“, setzte Nuk hinzu.

Beide tranken einen herzhaften Schluck, rülpsten nach Bärenart. und danach fragte Nuk: „Sollen wir noch weitermachen?“

Athabasca sah Kulle an. Kulle sah Athabasca an. Beide schüttelten den Kopf.

„Ihr dürft gerne weitermachen, wenn ihr möchtet. Eure gewünschte Prüfung ist aber zu Ende. Ihr habt mit Auszeichnung bestanden und seid an jeder Bärenuniversität der Welt zugelassen. Wobei wir zugeben, dass es so viele Bärenuniversitäten nicht gibt.“

„Danke! Wir studieren gerne weiter in Bärenleben. Für heute Abend haben wir einen Vorschlag: Können wir alle gemeinsam darüber reden, warum die Menschen Aufklärung aufgegeben haben?“

Kulle war von dem Vorschlag angetan. „Gute Idee! Ich werde Bärdel sagen, dass er das Thema ansprechen soll.“

„Danke, Onkel Kulle!“

Zwei Minuten später lieferten sie einander eine erbitterte Wasserschlacht. Oicy freute sich, dass ihre Kinder ganz normale Eisbären waren, keine verkopften Grizzlys.

Arabellion

PD Kulle

Arabellion

US-Präsident Barak Obama hielt im Mai 2011 eine Grundsatzrede, in der er die Revolution des „Arabischen Frühlings“ als historische Gelegenheit für die USA bezeichnete:

„Wir haben die Chance zu zeigen, dass Amerika die Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien höher achtet als die rohe Macht des Diktators.“

Obama zog eine Parallele zwischen den Aufständen in arabischen Ländern und der Geburt der USA im Kampf gegen die britische Herrschaft. Amerika könne daher nicht anders(,)[1] als sich auf die Seite der arabischen Völker zu stellen.[2]

Vorwort:

Nun, wir werden sehen…

Die Behauptung, die Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien werde von den USA geachtet, erweckt Skepsis, hat sich Mohamed Bouazizi doch bereits am 17.Dezember 2010 cremiert, und erst fünf Monate später entdeckt Obama dessen Würde.

Auch wird die Würde von Straßenverkäufern, Kriegsveteranen, mittellosen Menschen jeder Provenienz im Mutterland des Manchesterkapitalismus keineswegs geachtet, sondern mit Füßen getreten.

Die Selbstverbrennung buddhistischer Mönche während des Vietnamkrieges, die erste 1963 durch Thích Qung Đức, hat die Regierung der USA nicht beeindruckt, soweit uns bekannt ist.

Mit Diktatoren haben die USA dagegen mehr als einen Pakt geschlossen. Das soll jetzt auf einmal vorbei sein?

Die Ereignisse

In der Tat sorgten in zwei nordafrikanischen Ländern am Ende des Jahres 2010 Unruhen dafür, dass für lange Zeit stabile politische Verhältnisse ins Wanken gerieten. Massenproteste bewirkten in Tunesien und in Ägypten die Absetzung von jahrzehntelang autokratisch regierenden Machthabern.

Die Blütenpollen des „Arabischen Frühlings“ schwärmten aus uns befruchteten mit ihrer umstürzlerischen Potenz auch mehr oder weniger eng benachbarte Länder:

Im Jemen trat der Präsident nach über 30jähriger Herrschaft zurück.

In Algerien behauptete sich die Regierung. Im April 2012 verbrannte sich auch hier ein Straßenhändler, ohne dass sich der Präsident der USA unseren Informationen nach dazu äußerte.

Nach mehrmonatigem Bürgerkrieg wird der libysche Machthaber – mit NATO-Unterstützung – gestürzt.

In Syrien herrscht seit dem Sommer 2011 Bürgerkrieg.

In Algerien, Bahrain, Dschibuti, Jordanien, Kuwait, Marokko, Mauretanien, Oman und Saudi-Arabien kam es zu mehr oder minder ausgeprägten Protesten, denen mehr oder minder brutal begegnet wurde, nicht aber zu grundlegenden politischen Veränderungen.[3]

Die Ergebnisse

In Tunesien hat die Regierung seit 2011 vier Mal gewechselt. Im Februar 2014 wurde mit überwältigender parlamentarischer Mehrheit eine demokratische Verfassung verabschiedet. Sie garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Gleichstellung von Mann und Frau. Das ist zu begrüßen, aber wie man weiß, ist Papier geduldig. Die Sicherheitslage in den Grenzgebieten zu Algerien und Libyen ist dramatisch. Im Land agiert die islamistische Gruppe Ansar-al-Scharia, die sich zur Ideologie der al-quaida bekennt. Im August 2013 wurde sie von der tunesischen Regierung als terroristische Organisation eingestuft.

In Ägypten kamen nach dem Sturz von Husni Mubarak für wenige Monate sogenannte Muslim-Brüder an die Macht, die durch einen Militärputsch, den man innerhalb des Ägyptischen Machtbereichs besser nicht als solchen bezeichnet, entmachtet wurden. (Ex-)General Sisi sorgte für eine Restauration der diktatorischen Verhältnisse. Die Kontrolle über den Sinai hat das ägyptische Militär indessen verloren, hier schaltet und waltet der maghrebinische Arm von al Kadja nach Gutdünken.

Der Jemen ist ein zerfallender, wenn nicht gar bereits ein zerfallener Staat. Seit Jahren führen drei Parteien Krieg gegeneinander und gegen die Bevölkerung: Die Regierung, die USA, die mit Drohnen Terroristen jagen und denen dabei nicht selten massive Kollateralschäden unterlaufen, und al Kaida, die nicht zuletzt wegen der US-Kriegsführung immer mehr Zulauf hat. Aktuell[4] wird die Hauptstadt Sanaa von Zehntausenden schiitischer Huthi-Rebellen überrannt, die Autonomie für ihre im Norden gelegenen Stammesgebiete fordern und der sunnitischen Regierung mit Segregation drohen, sollte ihrem Ansinnen nicht entsprochen werden.[5]

Libyen ist zweifellos ein zerfallener Staat. Zahlreiche marodierende Banden, bewaffnet mit effektiven Mitteln aus den Arsenalen des verblichenen Autokraten-Schauspielers Muammar-al-Ghaddafi, bekämpfen einander gegenseitig und finanzieren ihre Kämpfe durch Erträge aus eroberten Ölfeldern und Raffinerien. Der wichtigste Flughafen des Landes in Tripolis wurde von Marodeuren erobert[6] und samt den dort geparkten Flugzeugen zerstört.

In Syrien tobt seit 2011 ein Bürgerkrieg, bei dem ein Teilnehmer permanent mitmischt: die syrische Armee. Die Truppen des gelernten Augenarztes Assad setzten Giftgas und Fassbomben gegen dessen Untertanen ein, sie riegelten Stadtviertel ab, in denen sie Aufständische vermuteten oder vorgaben, das zu tun, und ließen die darin gefangenen Menschen mitleidlos verdursten und verhungern. Die anderen Kriegsteilnehmer unterliegen demgegenüber einem Wandel: Waren sie, zumindest nach westlicher Wunsch-Lesart, zuerst demokratisch orientiert, setzten sich in den letzten Monaten zunehmend die „Steinzeit-Islamisten“[7] der IS durch, die ein Kalifat errichten wollen und zu diesem Behuf sich bereits weite Teile des syrischen Staatsgebiets[8] unter die ungereinigten Nägel gerissen haben.

Die Interessen

Wie ist zu erklären, dass eine Vielzahl nordafrikanischer und vorderasiatischer Staaten, die jahrzehntelang wenn nicht prosperierend, so doch relativ stabil waren, in der irritierenden Unordnung „moderner“ Kriege, die mit den Regeln der Genfer Konventionen nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben, versinken können? Welche Kräfte haben die Menschen in diesen Ländern in diesen Strudel getrieben?

Wir wollen versuchen, verschiedene Triebfedern zu benennen, ohne den Anspruch zu erheben, ein befriedigendes Gesamtbild zu zeichnen.

Vor Politik, sogar vor Wirtschaft, muss hier Religion genannt werden.[9]

Sunniten und Schiiten, die beiden „Konfessionen“ des Islam, bekämpfen einander härter als Katholiken und Protestanten während des Dreißigjährigen Krieges[10]. Wie im Dreißigjährigen Krieg so auch heute ist den Machthabern die Religion an sich vermutlich gleichgültig, nicht gleichgültig ist ihnen ohne Zweifel aber ihre Machtposition, und die ist von der Konfession nicht zu trennen.

Wer also gegen wen?

„Ultra-Sunniten“ sind der Emir von Katar[11] und das wahabitische Königshaus Saudi Arabiens. Beide Herrscherhäuser schwimmen im Ölgeld und haben diese Ressource freigiebig benutzt, um alle Organisationen und Milizen zu finanzieren, die vorgeben, sunnitische Werte zu vertreten, also vor allem al Kaida und ISIS/IS. Beide scheinen indes eigene Ziele zu verfolgen, vor allem die IS könnte zu einer ernsthaften Bedrohung ihrer Geldgeber werden[12].

Der syrische Bomben-Herrscher Assad ist Alevit und damit Schiit. Folgerichtig wird er vom schiitischen Kernland Iran und auch von der lyrischen Hisbollah unterstützt.

Der Irak, unter Saddam Hussein noch mit dem Iran um die regionale und damit die religiöse Vorherrschaft kämpfend, ist nach dem Abzug der US-Truppen[13] wieder zum Kriegsschauplatz und zum Spielball von Interessen geworden; die IS hat große Teile des Staatsgebietes erobert.

Allen Kriegsparteien stehen Waffen nahezu nach Belieben zur Verfügung: Die USA wie auch Russland waren in der Vergangenheit nicht knauserig mit der Unterstützung ihrer „Verbündeten“, und geben (Öl-)Geld lässt sich alles kaufen.

Erklärungsversuche

Wäre die „westliche“ Welt wie noch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf das Öl aus dem Nahen Osten auf Gedeih und Verderb angewiesen, der US-Präsident Obama hätte einen Leibeswind auf die „Würde eines Straßenverkäufers in Tunesien“ gegeben.

Die ethisch verkleidete Äußerung lässt die Hoffnung auf Business anklingen, denn die Ablösung der amerikanischen Kolonien vom britischen Mutterland (No taxation without representation) lässt mehr Geld im Land.

Die „westliche Welt“ dachte/denkt, dass die weltweite Übernahme westlich-kapitalistischer Geschäftsmodelle auch die Übernahme westlicher Politikmodelle impliziert. Das erweist sich als Irrtum.

Orientierungslosigkeit, Verzweiflung, Abenteuerlust, Gier, Machtstreben, Fanatismus, vielleicht sogar Gottesfurcht junger Männer sind auch im 21.Jahrhundert stark genug, um mit Hilfe von hinreichend AK-47 und Toyota Hilux Imperien ins Wanken zu bringen.

Menschen denken zu kurz(fristig).

Ich weiß ja auch nicht[14].

Fazit

1529 und 1683 standen die Türken vor Wien.

  1. Das fehlende Komma wurde von der Sekretärin eingefügt. Die Sekretärin
  2. zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Frühling. Zugriff am 14.8.14, 23.46h
  3. Israel, die Westbank und der Gazastreifen werden hier nicht berücksichtigt. Die Materie ist auch ohne Betrachtung dieses speziellen Komplexes kompliziert genug.
  4. Stand: 21.8.2014
  5. Im Zweifelsfall werden sie sich aber mit einer Steuersenkung oder ähnlichem zufriedengeben; das Imponiergehabe jemenitischer Stammeskrieger ist sattsam bekannt.
  6. am 24.8.2014
  7. So bezeichnen selbst seriöse Pressorgane wie die „Süddeutsche Zeitung“ die weiland ISIS, jetzt IS = Islamischer Staat.
  8. Und auch des irakischen Staatsgebiets, aber auch dieses Problem lassen wir im mittleren Osten liegen, es würde uns zu weit führen.
  9. Selbstverständlich widerstrebt uns diese Reihenfolge zutiefst, aber rationale Bären denken anders als irrationale Menschen. Es gibt keine Göttin außer Tussi!
  10. Der Dreißigjährige Krieg dauerte von 1618 bis 1648 und wurde vor allem in Mitteleuropa ausgetragen. Da ich weiß, dass der Geschichtsunterricht in der Schule heutzutage in den Gehirnen der Schüler nur geringe Spuren hinterlässt, nehme ich mir die Freiheit, diese Information einzufügen. Die Sekretärin
  11. Pikanterweise soll im Emirat Katar 2022 die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen werden, was wegen des Klimas, aber auch aus politischen Gründen problematisch werden könnte.
  12. Schon Goethes Zauberlehrling muss zugeben:„die Geister, die ich rief,die werd’ ich nicht mehr los!“
  13. Von 2003 bis 2011 führten die USA unter anderem im Irak ihren „War against Terrorism“, nach acht Jahren zogen sie ihre erfolglosen Truppen ab.
  14. Das hat der Chef noch nie gesagt. Die Sekretärin

 

Kulles kurzer Krisen-Kurs

Kulles grundlegende, leicht verständliche Erklärung der gegenwärtigen menschlichen Wirtschaftskrise, nicht nur für Bären, sondern für alle Wesen von ein wenig geringem Verstand, in wenigen Paragraphen

PD Kulle

§1 Alle Lebewesen haben Bedürfnisse. Der Mensch gehört zu den Lebewesen, hat also ebenfalls Bedürfnisse. Die Grundbedürfnisse eines jeden Lebewesens müssen befriedigt werden, sonst stirbt es vor dem Ende seiner möglichen Lebenszeit.

§2 Die meisten Lebewesen sorgen selbst für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Auch der Mensch hat das einst getan. Dann aber begann er, sich kräftig zu vermehren, und er musste sich den Lebensraum mit anderen Menschen teilen. Er begann auch, sich die Arbeit zu teilen: Er spezialisierte sich auf bestimmte Fertigkeiten. Einer backte zum Beispiel Brot, während der andere Tontöpfe herstellte, in denen man Suppe kochen konnte.

§3 Der Mensch, der Hunger auf Suppe hatte, ging zum Töpfer, der Töpfer, der Brot wollte, verhandelte mit dem Bäcker: Wie viele Brote sind ein Topf?

§4 Oft fand der Töpfer keinen Bäcker und der Bäcker keinen Töpfer. Es war viel praktischer, sich auf ein Produkt zu einigen, das alle Hersteller als Gegenleistung für ihr Angebot akzeptierten und mit dem man selbst alles erwerben konnte, was man brauchte. Schafe zum Beispiel, oder Hühner, Ziegen, Schweine: Fast jeder hatte ein Tier in seinem Hof. Oder Salz: Salz war ein kostbares Gut, und es ließ sich leicht in kleine Einheiten teilen.

§5 Tiere müssen gefüttert werden, sonst sind sie nichts mehr wert, Salz löst sich auf, wenn es mit Wasser in Berührung kommt: Der Mensch suchte nach einem dauerhafteren Gegenstand, gegen den man alles tauschen konnte. Er fand ihn in Gestalt von Gold, Silber und Kupfer, die er in reiner Form oder als Erz aus der Erde holte. Edelmetalle wurden allgemeine Tauschmittel, man prägte Münzen daraus und nannte sie Geld, und wer das Geld mit billigem Blei fälschte, wurde mit dem Tode bestraft, denn das Geld hatte einen Wert, und auf den sollte sich jeder Mensch verlassen können. Nur die Könige betrogen nach Herzenslust und kamen mit dem Leben davon, aber das war bei Königen ja schon immer so.

Das Verfahren wurde Jahrtausende lang angewendet, und in diesen Jahrtausenden wurden Reiche gegründet und gingen Reiche unter, und die Menschen verwandelten die Erde in einen Menschenplaneten, und sie gewannen Kenntnisse, aber nicht viel an Erkenntnis, was sich daran festmachen lässt, dass sie immer brutalere Kriege gegeneinander führten.

§6 In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts führte der große Staat USA einen brutalen und teuren Krieg gegen das Volk des kleinen Staates Vietnam. Für diesen Krieg brauchten die USA mehr Geld, als sie Edelmetalle hatten. Die Regierung zog daraus aber nicht die logische Konsequenz, den Krieg zu beenden, sondern erklärte ihren eigenen Bürgern und allen anderen Menschen, dass der Wert des Geldes der USA ab 1971 nicht mehr durch Edelmetalle gesichert sei. Die Regierungen der anderen Staaten fanden das praktisch und machten es den USA nach. Mit dem wertlosen Geld der verschiedenen Staaten begann an neu eingerichteten Devisenbörsen ein lebhafter Handel.

§7 Eine wahre Geldexplosion setzte ein: Die Zentralbanken der Staaten druckten freudig immer mehr Geldscheine. Die Geschäftsbanken drängten ihren Kunden Kredite auf, um durch die Rückzahlung der Schulden selbst mehr Geld zur Verfügung zu haben. Die Investmentbanken, die eigentlich außer sich selbst keine Kunden haben und denen es nur darum geht, aus Geld sehr viel mehr Geld zu machen, erfanden dafür immer neue Glücksspiele, die sie als „Handel mit Derivaten“ bezeichneten.

§8 Nicht nur die Kunden der Geschäftsbanken gaben Geld aus, das sie nicht hatten. Die Regierungen der Staaten handelten ebenso und häuften im Lauf der Jahre einen gigantischen Schuldenberg auf die Schultern ihrer Bürger.

§9 Seit das Geld der Menschen keinen objektiven Wert mehr hat, hat es nur noch einen subjektiven. Wenn die Menschen glauben, dass es sich lohnt, viel davon zu besitzen, kaufen sie mehr davon: Die Nachfrage steigt, und mit der Nachfrage steigt der Preis. Wenn sie am Wert des Geldes zweifeln, verkaufen sie es: Die Nachfrage bricht ein, und ohne Nachfrage fällt der Preis in den Keller.

§10 Als deutlich wurde, dass die mittellosen Kunden der Geschäftsbanken ihre ihnen aufgedrängten Kredite nie würden zurückzahlen können und dass die Glücksspiele der Investmentbanken nichts anderes sein konnten als ein Nullsummenspiel, verkauften die Menschen ihre Beteiligungen an den Banken. Die Banken waren bankrott.

§11 Die Banken durften aber nicht bankrott sein, beschlossen die Regierungen. Wenn es die Banken nicht mehr gab, bei wem sollten sie selbst künftig Schulden machen, um ihre Bürger bei Laune zu halten und die nächsten Wahlen zu gewinnen? Außerdem wussten die Regierungen, dass viele Bürger ihr erspartes Geld den Banken anvertraut hatten. Diese Einlagen durften nicht verloren sein, wollte man den sozialen Frieden bewahren.

§12 Die Regierungen retteten also ihre Banken und andere Regierungen, die noch mehr Schulden gemacht hatten als sie selbst. Weil es an Geld mangelte, senkten sie die Zinsen und ließen neues Geld drucken.

Das Vertrauen der Menschen in den Wert des Geldes nahm wieder zu. Sie wollten mehr davon haben.

Das letzte Wort soll mein geschätzter Kollege Paul Sweezy haben:

„Wir sehen nun genau wieso, obwohl jeder die zunehmend abscheulicheren Exzesse der finanziellen Explosion bedauert, nichts passiert – oder gar ernsthaft vorgeschlagen wird – um sie unter Kontrolle zu bringen. Das Gegenteil ist der Fall: Jedes Mal, wenn eine Katastrophe droht, springen die Autoritäten bei, um das Feuer zu löschen – und verschütten während dessen noch mehr Benzin für das nächste Auflodern der Flammen. Der Grund hierfür ist einfach der, dass, wenn die Explosion unter Kontrolle gebracht würde… die gesamte Ökonomie ins Chaos stürzte. Die Metapher von dem Mann, der einen Tiger reitet, trifft diesen Prozess haargenau.“