Kulles Fakten über die NATO

Von P. D. Kulle1Nun ja. Da meine Sekretärin sich diesem Thema verweigert hat, habe ich mich bei den folgenden Ausführungen weitgehend der Copy-Paste-Technik bedient. Vroniplag et alii sind herzlich eingeladen, fündig zu werden. Ich erhebe keinen Anspruch auf die Autorenschaft, sondern danke stattdessen Wikipedia.

– Kalter Krieg
– Nach der Friedensdividende
– Versprechungen, Erwartungen und Befürchtungen

Kalter Krieg
Bereits in der Endphase des Zweiten Weltkriegs kam es zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion zu Spannungen über die Entwicklung einer europäischen Friedensordnung. Europa wurde zum geostrategischen Spielfeld.
Die Sowjetunion war bestrebt, eine Einflusssphäre sozialistischer Satellitenstaaten zu schaffen. So kam es zur Errichtung sozialistischer bzw. kommunistischer2will sagen: stalinistischer Regimes in den osteuropäischen Staaten Polen, Albanien, Bulgarien, Ungarn, Tschechoslowakei und Rumänien. Ihnen war de facto die Souveränität zugunsten der Sowjetunion entzogen. Außerdem musste Finnland im Waffenstillstand von Moskau 1944 große Gebiete an die Sowjetunion abtreten, seine Beziehungen zum Deutschen Reich abbrechen und 1948 mit der Sowjetunion ein „Freundschafts- und Kooperationsabkommen“ abschließen.
Die USA hielten dagegen: Am 12. März 1947 gab der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman vor dem US-Kongress eine Erklärung ab, die als Truman-Doktrin bekannt wurde. Nach dieser Doktrin sollte es zum außenpolitischen Grundsatz der Vereinigten Staaten von Amerika werden, „freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen“. Die Expansion der Sowjetunion sollte also aufgehalten werden. Im Fall von Bürgerkriegen wollte man die pro-westliche Seite unterstützen.3Unter Berufung auf die Truman-Doktrin unterstützten die USA die Royalisten im Griechischen Bürgerkrieg, Südkorea im Krieg gegen den kommunistischen Norden und Frankreich im Indochinakrieg.
Die Truman-Doktrin bedeutete das Ende der amerikanischen Kriegskoalition mit der Sowjetunion und markierte den Beginn des Kalten Krieges. Mit ihr begann das finanzielle Engagement der USA in der Containment-Politik.
Als wichtiger Bestandteil der Containment-Politik erwies sich der Marshallplan mit dem Ziel, die europäischen Länder mit der US-Wirtschaft zu vernetzen, ihr neue Märkte zu öffnen und somit eine Übernahme Westeuropas durch die Sowjetunion zu verhindern, also Westeuropa selbst zu übernehmen.

Die NATO (North Atlantic Treaty Organization)
Der Nordatlantikpakt wurde am 4. April 1949 im Zuge der Eindämmungspolitik der USA gegen die Sowjetunion geschlossen. Gründungsmitglieder waren Belgien, Dänemark (mit Grönland), Frankreich (mit den französischen Gebieten in Algerien), Vereinigtes Königreich (mit Malta), Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA. In der Präambel des Vertrages bekennen sich die Mitglieder zu Frieden, Demokratie4Mit der Aufnahme Portugals wurde das Postulat der Demokratie schon bei der Gründung verletzt. Weil eine Militärbasis auf den Azoren von geostrategischer Bedeutung war, wurde ein Land aufgenommen, das erst 1974 die Diktatur überwand., Freiheit und der Herrschaft des Rechts.
Die NATO ordnete sich den Vereinten Nationen unter. Der Nordatlatikvertrag beruht auf Artikel 51 der UN-Charta. Das heißt, im Falle eines Angriffskriegs gegen ein Mitgliedsland ist Selbstverteidigung erlaubt, solange der UN-Sicherheitsrat nicht tätig wurde.
Am 18. Februar 1952 wurden Griechenland und die Türkei in die NATO aufgenommen.
Im Zuge der Westintegration der Bundesrepublik Deutschland wurde diese zum Beitritt eingeladen, der am 9. Mai 1955 feierlich vollzogen wurde.
Fünf Tage später, am 14. Mai, wurde in der Folge dieses NATO-Beitritts der Warschauer Pakt gegründet.
Zur Außenpolitik der USA nach dem Ende des II. Weltkriegs hat sich der britische Dramatiker Harold Pinter in seiner Nobelpreisrede 2005 treffend geäußert:
„Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile5Die Liste der amerikanischen Staaten ist unvollständig.. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden. In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts. Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt.“
Die ordnende Politik der USA in ihrem Hinterhof und darüber hinaus wurden also, Pinter zufolge, kaum zur Kenntnis genommen6Jedenfalls nicht in der breiten Öffentlichkeit im Westen.. Anders verhielt es sich mit der Ordnungspolitik der Sowjetunion in ihrem Einflussbereich: Die Niederschlagung der Protestbewegung in der DDR 1953, die gewaltsame Beendigung des Volksaufstands in Ungarn 1956 und die Absetzung der reformsozialistischen Regierung der CSSR 1968 lösten in der westlichen veröffentlichten – und vielleicht auch öffentlichen – Meinung Entsetzen aus.
Ein Tabu zeigte sich 1962: Die USA ließen sich nicht zu nahe kommen. Als die Sowjetunion versuchte, Raketen, die in kürzester Zeit die USA hätten erreichen können, auf Kuba zu stationieren, drohte Präsident Kennedy mit allen denkbaren Konsequenzen, und der sowjetische Machthaber Chruschtschow sah sich gezwungen, nachzugeben.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 beziehungsweise der Auflösung des Ostblocks im Jahr 1991 änderte sich die geopolitische Lage grundlegend.
Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag, ein Staatsvertrag in Bezug auf Deutschland, von Vertretern beider deutscher Staaten und der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet. Er ebnete den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik.

Nach der Friedensdividende

Die Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace; PfP) ist eine 1994 von der NATO ins Leben gerufene Verbindung zur militärischen Zusammenarbeit mit zunächst 19 europäischen und asiatischen Staaten, die keine NATO-Mitglieder sind.
Zu den Staaten, die das Rahmendokument unterzeichnet haben, gehören die ehemaligen Sowjetrepubliken
Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Russland (unterzeichnet 2004, ratifiziert von der Duma im Mai 2007), Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan7Allesamt junge Staaten, überwiegend aus dem „Kernbestand“ der ehemaligen Sowjetunion, in denen Verteidigungsstrukturen nach westlichen Standards aufgebaut werden sollten., die ehemaligen jugoslawischen Republiken Bosnien und Herzegowina und Serbien, die Schweiz8Mit der Schweiz und auch mit Schweden gelang es, neutrale Staaten strukturell, wenn auch nicht offiziell organisatorisch einzubinden., die EU-Staaten Irland, Malta, Österreich und Schweden9Interessant ist, wer hier fehlt. Die Länder, die 1997 ff und 2002 ff NATO-Mitglieder wurden, sind nicht dabei. Mit Polen, Ungarn Tschechien (ab 1997) und Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien (ab 2002) rückt die NATO Russland deutlich näher..
Am 1. Januar 1995 wurden die in Ostdeutschland stationierten Einheiten der Bundeswehr (zu dem Zeitpunkt rund 50.000 Soldaten) in die Bündnisstruktur der NATO integriert.
Im Mai 1997 wurde in Paris die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen NATO und der Russischen Föderation vereinbart, die eine Voraussetzung für die NATO-Osterweiterung war. NATO und Russland bezeichneten sich darin nicht länger als Gegner.
Die russische Verfassungskrise (Machtkampf zwischen dem Präsidenten Jelzin und dem Parlament 1993) und russische Militäraktionen, die Separatismusbestrebungen gewaltsam unterbanden, darunter der Erste Tschetschenienkrieg (1994–1996), der Transnistrienkrieg (seit 1990) und der Krieg in Abchasien (1992/1993), veranlassten die mittel- und osteuropäischen Länder, insbesondere diejenigen mit eigenen Erinnerungen an ähnliche sowjetische Offensiven, auf eine NATO-Beitrittserklärung zu drängen, um ihre langfristige Sicherheit zu gewährleisten.
Ein Beitritt zur NATO geschieht auf Antrag des jeweiligen Staates, nach Prüfung des Antrags lädt die NATO zu Beitrittsverhandlungen ein. In der NATO besteht allerdings der Grundkonsens, kein Land als Mitglied in die Allianz aufzunehmen, das sich in einer Konfliktsituation befindet.
Auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurde Polen, Ungarn und Tschechien ein NATO-Beitritt angeboten. Nach der Ratifizierung der Beitrittsurkunden wurde ihr Beitritt am 12. März 1999 wirksam. Die Slowakei folgte 2004.
Ebenfalls 1997 wurde mit der Ukraine eine NATO-Ukraine-Charta über eine „besondere Partnerschaft“ vereinbart.
Beim Gipfeltreffen in Prag im November 2002 lud die NATO Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zu Beitrittsgesprächen ein. Auf dem Istanbuler Gipfel im März 2004 traten diese sieben Länder der NATO bei. Insbesondere die drei baltischen Staaten trieben ihre NATO-Ambitionen mit hoher Intensität voran, da sie davon ausgingen, das historische Fenster für einen Beitritt könnte sich schnell wieder schließen.
Im April 2004, wenige Tage nach dem Beitritt der baltischen Staaten, erklärte Putin während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“ Bei einem Besuch des NATO-Generalsekretärs sechs Tage später sagte Putin, jedes Land habe das Recht, seine eigene Form der Sicherheit zu wählen.
Die NATO stufte Serbien 2007 als möglichen Beitrittskandidaten ein.
Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wurde der Beitritt Albaniens und Kroatiens offiziell beschlossen.
Bei ihrem Treffen in Brüssel am 3. Dezember 2009 erklärten die Außenminister der 28 NATO-Mitgliedstaaten Montenegro zum Beitrittskandidaten. Der Beitritt als 29. Mitgliedsland wurde schließlich 2017 vollzogen.
2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim und beanspruchte Gebiete im Donbass im Südosten der Ukraine. Mit Unterzeichnung durch Präsident Putin trat am 31. Dezember 2015 Ukas 683 und damit eine neue Militärdoktrin in Kraft, welche erstmals die USA sowie deren Alliierte, die NATO und die EU als Bedrohung für Russland und seine Nachbarn benannte.
Im Juli 2018 lud die NATO Nordmazedonien offiziell zu Beitrittsgesprächen ein. Nach der Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten trat Nordmazedonien 2020 der NATO als 30. Mitglied bei. Russland hatte zuvor versucht, den Beitritt zu verhindern.
Bosnien und Herzegowina ist ebenfalls an einer Mitgliedschaft interessiert.
Georgien möchte – wie die Ukraine – ebenfalls so bald wie möglich der NATO beitreten; Russland lehnt dies ab.
Am 7. Februar 2019 verankerte die Werchowna Rada in der Verfassung der Ukraine die strategische Orientierung des Staates zum vollständigen Beitritt zur NATO sowie zur Europäischen Union. Dies war für Russland einer der offiziell vertretenen Kriegsgründe für den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022.
Da die Ukraine (wie auch Georgien) sich in einer „Konfliktsituation“ befindet, ist ein NATO-Beitritt nach aktueller Rechtslage nicht möglich.

Versprechungen, Erwartungen und Befürchtungen

Im Nachhinein will es, wie immer, keiner gewesen sein. Offizielle Dokumente über Absichtserklärungen und Versprechen gibt es nicht. Wem will man glauben?

Am 31. Januar 1990 sagte der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Vortrag in der Akademie Tutzing:

„Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. (…) Der Westen muss auch der Einsicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen dürfen.“

Zwei Tage später gaben der deutsche und der US-amerikanische Außenminister, Genscher und Baker, in Washington nach einem zweistündigen Treffen kurze Statements und beantworteten Fragen der anwesenden Pressevertreter. Genscher bemerkte u. a.:

„Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.“

Ähnlich äußerten sich Helmut Kohl und der damalige NATO-Generalekretät Wörner. 

Die Sowjetunion lehnte Genschers Tutzinger Position ab. 

So erklärte der sowjetische Außenminister Schewardnadse im Gespräch mit dem Vorsitzenden der DDR-SPD, Ibrahim Böhme, am 2. März 1990, daß die Variante, das vereinigte Deutschland in die NATO aufzunehmen, oder auch das ‚Geschenk‘ Genschers, keine Truppen der NATO auf dem Territorium der DDR zu stationieren, nicht durchkommen wird. 

Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier alliierten Siegermächten unterzeichnet. Der deutsche Diplomat Jürgen Chrobog notierte dazu sechs Monate später: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe10Die Aussage in Bezug auf die Elbe ist umstritten. Möglicherweise hat Chrobog die Oder genannt. Das Fazit in Bezug auf Polen e.a. bleibt dasselbe. hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten.“

Beim Besuch des russischen parlamentarischen Sicherheitsausschusses bei der NATO vom 29. Juni bis zum 2. Juli 1991 betonte Wörner am 1. Juli 1991, der NATO-Rat und er seien gegen die Erweiterung der NATO, 13 von 16 NATO-Mitgliedern würden diesen Standpunkt unterstützen. „In naher Zukunft werde er sich bei seinem Treffen mit L. Walesa und dem rumänischen Staatschef A. Iliescu gegen einen NATO-Beitritt Polens und Rumäniens aussprechen, was er zuvor bereits gegenüber Ungarn und der Tschechoslowakei erklärt habe. „Wir sollten (…) nicht zulassen, dass die UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft isoliert wird.“

Im Mai 1992 erklärten Havel, Wałęsa and Antall für die Visegrad-Staaten das Ziel, in die NATO aufgenommen zu werden.

Russlands Präsident Boris Jelzin schrieb am 15. September 1993 – als Polen, Ungarn und Tschechien auf eine Aufnahme in die NATO drängten – an US-Präsident Clinton, dass der „Geist“ des Zwei-plus-Vier-Vertrages die Möglichkeit ausschließe, die NATO nach Osten auszudehnen. Jelzin erwähnt die Sicherheitsgarantien, die die russische Seite seiner Auffassung nach während der Verhandlungen über die deutsche Einheit erhalten hatte.

Am 5. Dezember 1994 kritisierte Jelzin die Pläne der Osterweiterung der NATO, diese Kritik wurde am 6. Dezember 1994 auf der Titelseite der New York Times veröffentlicht. Jelzin warf der „herrschsüchtigen“ USA vor, sie würde durch die NATO-Erweiterung versuchen, den Kontinent erneut zu spalten.

In einem offenen Brief an den Präsidenten der USA, Bill Clinton, vom 26. Juni 1997 äußerten mehr als 40 ehemalige Senatoren, Regierungsmitglieder, Botschafter, Abrüstungs- und Militärexperten ihre Bedenken gegenüber der von ihm geplanten Osterweiterung der NATO und forderten ihre Aussetzung11Zu den Unterzeichnern gehörte u. a. Paul Nitze, Reagans Abrüstungsdunterhändler, Robert McNamara, Verteidigungsminister a.D., und James D. Watkins, ehemaliger Direktor der CIA.. Der Brief bezeichnet die Beitrittsangebote der NATO 1997 als „politischen Irrtum von historischen Ausmaßen“.

Die Unterzeichner befürchteten, dass die Sicherheit und Stabilität Europas in Gefahr sei, und begründeten dies unter anderem mit dem Argument, in Russland werde die NATO-Osterweiterung, die von allen politischen Kräften abgelehnt wird, die undemokratische Opposition stärken und die Reformkräfte schwächen. Russland werde dazu gebracht, die Vereinbarungen nach dem Ende des Kalten Krieges infrage zu stellen und Widerstand gegen die Abrüstungsverträge zu mobilisieren.

Madeleine Albright vermerkt zum Jahr 1997 in ihrer Autobiografie ‚Madame Secretary‘: „Der russische Präsident Boris Jelzin und seine Landsleute lehnten die Erweiterung strikt ab, da sie darin eine Strategie sahen, die ihre Verwundbarkeit ausnutzen und die europäische Trennlinie nach Osten verschieben würde, wodurch sie isoliert blieben.“

Die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, wurde von dem Historiker und Diplomaten George F. Kennan 1997 als „verhängnisvollster Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ beurteilt, weil „diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“

Der US-Politiker Pat Buchanan schrieb 1999 in ‚A Republic, Not an Empire‘: „Indem wir die NATO in den Vorgarten Russlands verschieben, treten wir die Konfrontation des 21. Jahrhunderts los. […] Wenn der wachsende Unmut in Russland dazu führt, dass Jelzin durch einen antiamerikanischen Nationalisten ersetzt wird, dann liegt die volle Schuld bei einer hochmütigen US-Elite, die ihr Bestes getan hat, um Russland zu demütigen.“

Der ehemalige Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, Robert Gates, veröffentlichte 2014 in ‚Duty‘, seinen Memoiren, eine ähnliche Ansicht. Man habe Gorbatschow und andere nur „glauben lassen“, dass die NATO nicht nach Osten erweitert werde. Die Beziehungen zu Russland nach dem Ausscheiden von George Bush aus dem Amt im Jahr 1993 seien schlecht verwaltet worden. In einer impliziten Rüge an den jüngeren Bush behauptete Robert Gates, dass „der Versuch, Georgien und die Ukraine in die Nato zu holen, wirklich zu weit ging“. Dieser Schritt sei ein Fall von „rücksichtsloser Missachtung dessen, was die Russen als ihre eigenen vitalen nationalen Interessen betrachten“.

Und jetzt haben wir den Salat.

Ramses

Juni 2023

Wenn der Mensch der Würde würdig wäre

Kulle

Von P. D. Kulle

Inhalt:

Was ist der Mensch?

Der Mensch ist ein Tier. Er hat lange gebraucht, um die Vorstellung zu entwickeln, dass er auch ein ganz besonderes Tier ist.

Was den Menschen der Steinzeit in Südwesteuropa bewegte, lässt sich an seiner „Höhlenmalerei“, die nur partiell aus Malerei, sondern auch oft aus Piktogrammen besteht, wenigstens zum Teil erschließen. Es wimmelt an den Wänden und Decken der berühmten Kavernen in Frankreich und Spanien von Tieren: zum Beispiel Mammuts, Bisons, Kühen und Stieren, Hirschen und immer wieder Pferden. Aber nur eine Darstellung eines Menschen ist in der Grotte von Lascaux im Périgord bekannt.

An einem ihrer tiefsten Punkte1Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen finden sich rechts die Darstellung eines angreifenden, wiewohl bereits verwundeten Bisons. Nach links läuft, offenbar mit hoher Geschwindigkeit, ein Rhinozeros davon. Beide wilden Tiere sind sehr sorgfältig in mehreren Farben ausgeführt.

Zwischen ihnen liegt eine menschliche Gestalt auf dem Rücken, erkennbar ein Mann, denn der Penis ist erigiert. Die Figur ist nur als Strichzeichnung ausgeführt, der Körper ist ein Rechteck, die Beine sind gerade, die Arme lang ausgestreckt, an den Händen jeweils vier Finger. Nur vier. Der Kopf, ein Vogelkopf, ist zur Seite gewendet.

Vor der anscheinend leblosen Figur steht auf einem Stecken die stilisierte Figur eines Vogels.

Diese Szene in ihrer Uneindeutigkeit gibt Kulturanthropologen seit Jahrzehnten Anlass für unterschiedlichste Theorien.

Handelt es sich überhaupt um eine Szene, oder sind verschiedene Figuren zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, stehen in keinem Zusammenhang zueinander?

Ist die Darstellung des Toten eine Warnung? Die Zeichnungen sind im ‚Brunnen‘ der Grotte angebracht, in dem die CO2-Konzentration Werte von 5 oder 6% erreichen kann. Besagt die Information: Geh besser wieder weg, oder bleib nicht zu lange?

Ist der Tote Opfer eines Jagdunfalls? Hat er eines der Tiere angegriffen, oder hat er sich in den Tierkampf eingemischt? Aber: Haben Tote eine Erektion?

Stellt der Mann sich tot, um einem Angriff des wütenden Stiers auszuweichen? Stiere greifen nur an, was sich bewegt.

Das alles aber erklärt nicht die Vogelsymbolik.

Ist der Mann ein Schamane in Trance, dessen Geist die Erde verlassen hat? Der mit dem Vogel in den Himmel geflogen ist?

So viele offene Fragen. Eines aber ist sicher: Die Hauptakteure in dieser Darstellung sind Stier und Rhinozeros, sind die sorgfältig dargestellten Tiere auf vier Beinen. Der flüchtig skizzierte Zweibeiner ist zwar in den Mittelpunkt gerückt, verdient aber keine sorgfältige Ausführung. 

Es vergehen Jahrtausende, bis weitere, eindeutigere Aussagen über den Menschen gemacht werden. Dazu bedurfte es der Entwicklung der Schrift. Und auch der Einführung einer imaginären Größe: Gott.

Im Buch Genesis, dem ersten Buch des jüdischen Tanach, des samaritanischen Pentateuch wie auch des christlichen Alten Testaments, dessen Teile vermutlich zwischen 3000 und 600 v.u.Z. entstanden sind, wird die Menscherschaffung dargestellt.

Gott formt den Menschen aus Erde. Das neue Wesen ist also Teil seiner Umwelt. Aber damit der Mensch zum Menschen wird, geschieht noch ein Zweites. Das Geschöpf aus Erde wird erst richtig zum Menschen, indem ihm Gott seinen Atem, seinen Geist in die Nase bläst (Genesis 2,7). Der Mensch wird beseelt. Gott tritt also in den Menschen – seine Schöpfung – hinein. In ihm berühren sich Himmel und Erde. In dieser Sicht ist der Mensch etwas sehr Besonders, etwas Außerordentliches.

Wenden wir uns der griechischen Antike zu. Aristoteles von Stagira2384 – 322 v.u.Z. kommt ohne Gott aus. Er betrachtet den Menschen unter rein irdischen Aspekten. Ihm zufolge hat der Mensch eine Seele wie jedes Tier. Was ihn von anderen Tieren unterscheidet, ist seine Vernunft. Zudem wird der Mensch definiert als „Zoon politikon“3Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis. Löst man den Begriff aus seiner historischen Gebundenheit, gelangt man zur Definition des Menschen als eines sozialen und politischen Lebewesens.

Der Römer Cicero4106 – 43 v.u.Z. betrachtet den Menschen ähnlich wie Aristoteles: Er sei kein Einzelgänger, sondern darauf angelegt, in einem Staat zu leben. Gegenüber den Tieren hat er eine Vorrangstellung, der er aber nur dann gerecht wird, wenn er sein Leben entsprechend führt: indem er seinen Geist betätigt, anstatt sich niederen Trieben hinzugeben. Besonders die Sprachbegabung unterscheidet den Menschen von den Tieren.

Ausgehend von der Sprache als dem zentralen Wesenszug des Menschen erblickt Cicero im universal gebildeten „vollkommenen Redner“ (orator perfectus), der sein Wissen in den Dienst der Gemeinschaft stellt, den idealen Menschen und somit das höchste Erziehungsziel5Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Bisher sehen wir den Menschen als ein Wesen mit besonderen Merkmalen dargestellt, das aus dem Tierreich herausragt. Daraus werden aber keine besonderen Ansprüche an die Gesellschaft abgeleitet. Diese Ansprüche werden erst in der europäischen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert formuliert.

Samuel von Pufendorf61632 – 1694 erklärt: Der Mensch sei von höchster Würde, weil er eine Seele habe, die  sich durch Verstand auszeichnet, weil er Urteils- und Entscheidungsfähigkeit  besitze und sich in vielen ‚Künsten‘ auskenne.

Das klingt zunächst vertraut, ist aber doch völlig neu. Seele, Vernunft und Entscheidungsfreiheit werden erstmals verknüpft mit der Idee der Menschenwürde.

Damit verbindet Pufendorf die Idee der Menschenwürde mit der Idee der Seele, mit der Idee der Vernunft und mit der Idee der (Entscheidungs-)Freiheit.

Immanuel Kant71724 – 1804 hat diese Idee der Menschenwürde genauer bestimmt. Ihm zufolge ist der Mensch ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein. Das bedeutet, dass jeder Mensch ein Existenzrecht hat, woraus resultiert, dass alle Menschen prinzipiell gleichwertig sind und einander achten.

Kant geht davon aus, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf. Das heißt: Die Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt – etwa durch Sklaverei, Unterdrückung oder Betrug. Und da jeder Menschen ein Existenzrecht hat, darf kein Mensch getötet werden.

Diese Definition ist folgenschwer. Sie evoziert unter anderem die Frage: Wann beginnt menschliches Leben?

Wann beginnt menschliches Leben?

Der Abbruch einer Schwangerschaft ist natürlich keine Erfindung der Neuzeit, das zeigen Schriftzeugnisse aus frühen Hochkulturen, etwa aus Altägypten.8 Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.

Der altägyptische Papyrus Ebers, ca. 1600 v.u.Z., beschreibt Mittel dazu: Kräutertränke, Scheideneinspritzungen und Vaginalkugeln.

Im antiken Griechenland wurden kinderreiche Familien nicht immer als gesellschafts- und bevölkerungspolitisches Ideal betrachtet. Nach Aristoteles’ Ansicht sollte der Staat weder zu groß noch zu klein sein. Er sah in der frühen Abtreibung ein geeignetes Mittel, um eine gleich bleibende Bevölkerungszahl zu erhalten. Hippokrates9 Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva. empfiehlt verschiedene Mittel für einen Schwangerschaftsabbruch. Die griechische Polis sprach dem ungeborenen Kind weder Lebensrechte noch eine Seele zu.

Die Einstellung der Römer ähnelte der der Griechen: Nachwuchs war erwünscht, solange er das Erbe und die Altersvorsorge sicherte. Eine größere Kinderanzahl galt hingegen als Existenzgefährdung. Auch in Rom hatte ein Fötus weder Lebensrecht noch Seele, sondern wurde als Teil des Körpers der Mutter angesehen. Die römischen Ärzte verfügten bereits über ein sehr differenziertes und reichhaltiges Wissen, mit dem sie der großen Nachfrage nach Mitteln und Methoden zur Abtreibung nachkommen konnten. Vermutlich kannte man schon über zweihundert Abortiva, von denen ca. 90 Prozent recht wirksam waren.

Nach dem Zusammenbruch der römischen Zivilisation übernahmen religiöse Vorstellungen die Deutungshoheit über menschliches Leben. Wann beginnt es?

Am Anfang der menschlichen Reproduktion steht die Befruchtung – die Verschmelzung von Samen- und Eizelle. Dieser Akt ist nach heutiger Sicht der katholischen Kirche identisch mit der Menschwerdung.

Allerdings ist die sehr frühe Datierung menschlichen Lebens im Christentum noch nicht sehr alt.  Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt die Meinung, dass die Beseelung des Menschen eine Entwicklung darstelle. Mittelalterliche Theologen wie Thomas von Aquin beriefen sich auf Aristoteles, wohl deshalb, weil sie in den heiligen Schriften keine Antworten auf diese Frage fanden.

Der Stagirit geht von folgender Annahme  aus: Es dauert bei einem männlichem Embryo 40 Tage und bei einem weiblichen Embryo 80 Tage bis zur Menschwerdung. Denn die ganze Formkraft des neuen Lebewesens besteht allein im männlichen Samen, während die Frau nur das Menstruationsblut als materielle Voraussetzung bietet. Wenn es zur Geburt eines Mädchens kommt, ist das Ausdruck eines Versagens der Natur, weil der männliche Same unbedingt ein ihm Ähnliches hervorbringen möchte10 Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin. Aristoteles meint, dieser Prozess benötige 40 Tage beim Mann und 80 Tage bei der Frau.

Damit liegen Aristoteles und die alte christliche Vorstellung nicht weit entfernt von der Datierung des Lebensbeginns im Judentum – das allerdings keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Embryo macht.

Auch die islamischen Schriften datieren den Beginn des menschlichen Lebens sehr spät. Nach einer Aussage des Propheten Mohammed dauert die Menschwerdung nach der Befruchtung 120 Tage.

Schwangerschaftsabbruch

Wenn denn der Mensch eine unverletzliche Würde besitzt und wenn er diese Menschenwürde bereits im Mutterleib erwirbt, ob direkt nach der Befruchtung, nach 40, 80 oder 120 Tagen, so ergibt sich logisch: Der Embryo darf nicht getötet werden. Schwangerschaftsabbruch ist folglich verboten und wird mit Mord gleichgesetzt.

So sind auch Verbote für Hebammen die Regel:

„Die Hebammen sollen sich bey schwerer Strafe enthalten, abtreibende, oder gefährliche Mittel zu geben, oder einzurathen… Falls ihnen unschuldiger Weise ein dergleichen Ansinnen eröfnet würde, haben sie die Personen, … an die Medicos zu verweisen, welche schon wissen werden, wie in solchem Falle fürzugeben sey, wie dann gleichfalls den Apothekern bereits aufgetragen worden, bey empfindlicher Ahndung den Hebammen ohne Vorwissen eines approbierten Medici dergleichen bedenkliche Mittel keineswegs verfertigen, oder reichen zu lassen.“11 Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.

und natürlich auch Strafen für Schwangere:

§144. Eine Frauenperson, welche absichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibesfrucht verursacht, oder ihre Entbindung auf solche Art, daß das Kind tot zur Welt kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.

§145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen; die zustande gebrachte Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden.12 § 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)

Neben der sogenannten Menschenwürde gibt es aber durchaus praktische Gründe, aus denen Vertreter der herrschenden (politischen) Klasse sich gegen Geburtenkontrolle durch Frauen wenden.

Angesichts der großen Verluste an wertvollstem Menschenmaterial, die der Krieg mit sich bringt, muß die Heeresverwaltung pflichtgemäß allen Maßregeln ihr besonders Augenmerk zuwenden, die geeignet sind, den Ersatz der Verluste zu fördern, oder eine Schmälerung dieses Ersatzes hintanzuhalten. In der zweiten Richtung spielen der Gebrauch von Verhütungsmittel und die Abtreibung der Leibesfrucht eine bedeutende Rolle. Sie wirken dem natürlichen Ausgleich entgegen, der schon im Kriege, noch viel mehr aber nach seinem Ende, eintreten würde, da der geschlechtliche Verkehr sich stark steigern wird. … Sonach ergibt sich, daß dieses schädliche Verhalten in der Bevölkerung zunimmt u. noch mehr zunehmen wird, gerade in einer Zeit, in der das Interesse des Staates so sehr wie noch nie darauf gerichtet ist, es hintanzuhalten. …13  Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916

So unverblümt utilitaristisch wie während des Ersten Weltkriegs wird sich gegenwärtig in Mitteleuropa wohl kaum jemand zu äußern wagen. Stattdessen bemüht man sich vor allem in Dehland, wohl auch getrieben vom schlechten Gewissen wegen der Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten, darum, die Schutzwürdigkeit des menschlichen Fötus argumentativ zu beweisen, wobei die Qualität der Argumente durchaus zu wünschen übrig lässt.

Die SKIP-Argumente – Speziesargument, Kontinuumsargument, Identitätsargument und Potentialitätsargument – versuchen Gründe dafür anzuführen, dass das Leben des menschlichen Embryos unbedingt schützenswert sei.

Das Speziesargumentbesagt, dass alle Angehörigen der Spezies Homo sapiens Würde haben. Da auch Embryonen der Spezies Mensch angehören, müsse ihr Leben ebenfalls geschützt werden.

Es handelt sich hier um einen naturalistischen Fehlschluss14 vulgo: Zirkelschluß: Die bewertende Prämisse wird stillschweigend vorausgesetzt.

Laut dem Kontinuitätsargument entsprechen den entscheidenden Entwicklungsschritten eines Embryos (Imprägnation, Syngamie, erstmalige Transkription unabhängig von der mütterlichen RNA, Implantation, Primitivstreifen, Neurulation) keine moralisch begründbaren Wertunterschiede. Dies bedeutet, dass aufgrund seiner kontinuierlichen Entwicklung kein klarer Strich gezogen werden kann, ab wann ein Embryo als schutzbedürftig gilt. Deshalb habe ein Embryo schon zu Beginn seiner Entwicklung Würde.

Folgt man dieser ‚Logik’, dürfte es im menschlichen Leben keine abgestuften Rechte geben. Es handelt sich um eine unbegründete Behauptung, da sehr häufig Rechte nach Entwicklungsphasen abgestuft werden (vgl. die Einschränkung der Rechte von Kindern oder Pflegschaften).

Dem Identitätsargument zufolge besteht in moralischer Hinsicht eine Identitätsbeziehung zwischen dem Embryo und der Person, die sich aus ihm entwickeln kann. Hat die Person Würde, muss die Würde auch dem Embryo zugestanden werden.

Aber: Aus einer Eizelle können sich mehrere Embryonen bilden. Dies widerspricht der These, dass Lebewesen zu jedem Zeitpunkt miteinander identisch sind. Die Plazenta, die sich ebenfalls aus der befruchteten Eizelle entwickelt, müsste dann außerdem dieselbe Würde haben wie der Embryo bzw. der geborene Mensch.

Zuletzt besagt das Potentialitätsargument, dass Embryonen deshalb Würde haben, weil sie das Potential besitzen, sich zu einem Wesen zu entwickeln, das würdeverleihende Eigenschaften trägt.

Der Begriff ‚Potential‘ bezieht sich hier gewiss weder auf seine Definition in Mathematik und Physik, sondern auf den ‚Potentialis‘, einen Modus des Verbs, der Ereignisse als möglich kennzeichnet. In der deutschen Sprache wird dergleichen mit Hilfe des Konjunktiv II ausgedrückt. Den Embryo mit dem Menschen gleichzusetzen, der einmal aus ihm werden könnte, erscheint nicht plausibel.15 Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin

International tobt der Kampf um den Schwangerschaftsabbruch weiter. In mehr als 60 Ländern ist er verboten oder nur gestattet, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Wird das Gesetz liberalisiert oder abgeschafft, wie aktuell in Argentinien und Spanien, wird es andernorts verschärft, wie in den USA und Polen.  „Mein Bauch gehört mir!“, der trotzige Slogan westdeutscher Frauen vor 50 Jahren gegen den Paragraphen 218, ist noch immer nicht Realität. Abtreibung ist in Dehland eine Straftat, wird aber nicht bestraft – ein weiterer Puzzleteil, der eine durchweg verlogene Debatte kennzeichnet.

Wie heißt es doch bei Kant? Der Mensch ist ‚Zweck an sich‘ und darf nie nur ‚Mittel zum Zweck‘ sein.

In der Realität der menschlichen Gesellschaft bestimmen in der Regel alte Männer darüber, ob jungen Frauen ihre Würde genommen wird, indem sie als Mittel zum Zweck der Produktion von angeblich mit Würde ausgestattetem menschlichen Leben benutzt werden.

Der Wert des geborenen menschlichen Lebens

Nur wenige, sehr kleine Staaten der Erde unterhalten keine Streitkräfte. Viele von ihnen haben die Landesverteidigung an besser gerüstete Regional- oder Großmächte delegiert. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass in fast allen Ländern Menschen darauf trainiert werden, im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung  – eines Krieges, aber auch eines Bürgerkrieges – andere Menschen zu töten – oder von anderen Menschen getötet zu werden.

Natürlich wird der Tod für den eigenen Stamm, das eigene Volk, den eigenen Staat ideologisch überhöht.

‚Dulce et decorum est pro patria mori‘, dichtete Horaz. Was es mit dem Tod auf dem Schlachtfeld in Wahrheit auf sich hat, schildert ein schrecklich gelungenes Gedicht von Wilfred Owen aus dem Jahr 1917:

Dulce et Decorum est


Bent double, like old beggars under sacks,
Knock-kneed, coughing like hags, we cursed through sludge,
Till on the haunting flares we turned our backs
And towards our distant rest began to trudge.
Men marched asleep. Many had lost their boots
But limped on, blood-shod. All went lame; all blind;
Drunk with fatigue; deaf even to the hoots
Of disappointed shells that dropped behind.

Gas! GAS! Quick, boys!– An ecstasy of fumbling,
Fitting the clumsy helmets just in time;
But someone still was yelling out and stumbling
And floundering like a man in fire or lime.–
Dim, through the misty panes and thick green light
As under a green sea, I saw him drowning.

In all my dreams, before my helpless sight,
He plunges at me, guttering, choking, drowning.

If in some smothering dreams you too could pace
Behind the wagon that we flung him in,
And watch the white eyes writhing in his face,
His hanging face, like a devil’s sick of sin;
If you could hear, at every jolt, the blood
Come gargling from the froth-corrupted lungs,
Obscene as cancer, bitter as the cud
Of vile, incurable sores on innocent tongues,–
My friend, you would not tell with such high zest
To children ardent for some desperate glory,
The old Lie: Dulce et decorum est
Pro patria mori.

Wilfred Owen fiel im Alter von 25 Jahren am 4. November 1918, genau eine Woche vor Kriegsende, bei Kämpfen am Canal de la Sambre à l’Oise. Postum wurde ihm das Military Cross für Tapferkeit vor dem Feind verliehen.

Orden, also billiges Blech als Belohnung für Verwundung oder Tod, gehören natürlich auch zum militärischen Spiel.

Stellvertreterkriege

Eine besondere Form des Kriegs sind Stellvertreterkriege. Auch dazu braucht es Kombattanten, die einander aus persönlich wichtigen Motiven bekämpfen, zum Beispiel Mitglieder der Internationalen Brigaden auf der einen und der Falange auf der anderen Seite im Spanischen Bürgerkrieg. Die einen strebten Anarchie/Sozialismus/Kommunismus an, die anderen einen klerikal-faschistischen Staat. Aber hinter den tatsächlich Kämpfenden standen größere Mächte: die Sowjetunion auf der einen und das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland auf der anderen Seite. Die konnten ihre „Landeskinder“ schonen, andere in den Kugelhagel schicken und en passant ihre neu entwickelten Waffen für den nächsten Krieg testen. 

Der Spanische Bürgerkrieg von 1936-1939 war der letzte Stellvertreterkrieg auf europäischem Boden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichteten die ehemaligen Alliierten USA und UdSSR auf direkte Konfrontation in einem ‚heißen‘ Krieg und trugen ihren Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären in Asien und Afrika aus. Im Koreakrieg, Vietnamkrieg, Bürgerkrieg in Angola, Afghanistankrieg und im Syrienkrieg starben Menschen mit gelber, brauner und schwarzer Hautfarbe für die Interessen der weißen Machthaber in Washington und Moskau.

Wir erinnern: Der Mensch ist Zweck an sich und darf nie nur Mittel zum Zweck sein. 

Auf Menschenrechte und Menschenwürde beruft man sich in Nordamerika und in Europa gern, wenn es darum geht, unmenschliches16 Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem. Handeln und Kriegsverbrechen anzuprangern. Nicht alle Staaten des globalen Südens sind bereit, in den amerikanisch-europäischen Chor der Verurteilung Russlands wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine einzustimmen. Ist das wirklich verwunderlich?

Schlussbemerkungen

Mensch, Leben, Lüge, Krieg und Tod – viel ließe sich dazu noch sagen. Zu Kinderarbeit. Zu Kindersoldaten. Zu Flüchtlingen. Zu Grenzzäunen. Zu Schleppern. Zu Sklaven. Zu…17 Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin

Fußnoten: (Wenn Sie die Fußnote anklicken, erscheint der Text im Extrakasten)

  • 1
    Le puits – die Grube, der Schacht, der Brunnen
  • 2
    384 – 322 v.u.Z.
  • 3
    Lebewesen in der Gemeinschaft der Polis
  • 4
    106 – 43 v.u.Z.
  • 5
    Wie sich zeigt, ist Cicero eitel genug, die eigene Rolle als allgemeines menschliches Ideal zu propagieren.
  • 6
    1632 – 1694
  • 7
    1724 – 1804
  • 8
     Für die folgenden Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bedanken wir uns beim Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, Wien.
  • 9
     Entgegen einer häufigen Ansicht beinhaltet der Hippokratische Eid keineswegs ein absolutes Abtreibungsverbot. Er lautet: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich niemals einer Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben.“ Neuere Forschungen zeigen, dass hier vom Gebrauch eines spezifischen Wirkstoffes in einer bestimmten Applikationsform abgeraten wird. Es handelt sich um kein generelles Verbot der Verabreichung von Abortiva.
  • 10
     Solche Thesen sind keine gute Voraussetzung für feministische Ansichten! Die Sekretärin
  • 11
     Hofkammer Archiv Wien, Patent 38 vom 2. Januar 1770. Sanität Hauptnormativ vom 3. Januar 1770, Theresianische Gerichtsordnung.
  • 12
     § 144 von 1852 bis 1974 in Kraft (mit Ausnahme der NS-Ära)
  • 13
      Schreiben des k. und k. Kriegministeriums an das k.k. Ministerium des Inneren, Wien 16. Februar 1916
  • 14
     vulgo: Zirkelschluß
  • 15
     Der Chef sagt, hier sei die Lust am polemischen Streit mit ihm durchgegangen. Streichen soll ich die SKIP-Passage aber auch nicht. Die Sekretärin
  • 16
     Das ist ein völlig unzutreffendes Adjektiv. In Ermangelung eines besseren verwenden wir es trotzdem.
  • 17
     Hier hat der Chef abgebrochen. Er sagt, ihm sei übel. Die Sekretärin

März 2023

Vergewaltigung

Vergewaltigung

Bärdel und Kulle lagen entspannt in einer gemütliche Kuhle, nicht weit ab von ihren morgendlichen Spazierrouten, aber versteckt genug, um nicht vom Weg aus gesehen zu werden. Sie waren zufrieden, hatten sie doch heute die Chance, ohne Begleitung unterwegs zu sein – ohne Athabasca und ohne die Eisbärenzwillinge, die sich ihnen häufig anschlossen, und auch ohne andere Bewohner Bärenlebens, die sich nur allzu gerne früh am Tag einfanden, um in den Genuss der Gesellschaft der Beiden zu kommen. Sie ahnten nicht, dass Bärdel und Kulle oft viel lieber allein gewesen wären und den Morgen auf ihre Weise genossen hätten.

Jetzt erholten sich die beiden Männer voneinander und schmeckten ihr Beisammensein nach. Kulle war wie üblich der eiligere von ihnen, er wollte sich gerade aufrichten und davonmachen, als Bärdel ihn festhielt und wie beiläufig fragte:

„Sag mal, hast Du eigentlich schon mal jemanden vergewaltigt?“

Eine so intime Frage war trotz der Intimität zwischen ihnen noch nie gestellt worden. Kulle errötete, was wegen seines Fells nicht sichtbar wurde, wofür er dankbar war. Er sah Bärdel irritiert an, aber der guckte so harmlos zurück, als hätte er sich gerade danach erkundigt, ob Kulle lieber Himbeeren oder Brombeeren verspeiste.

Sollte er empört sein? Ausweichen? Oder den Spieß umdrehen? Das war Kulle zu billig. Er antwortete.

„Ja,“ knurrte er. „Aber nur, wenn sie einverstanden war.“

„Aus Deiner Aussage schließe ich, dass Du keinen Mann vergewaltigt hast, jedenfalls bisher nicht“, stellte Bärdel gemütlich fest. „Und dass Deine Partnerin oder Deine Partnerinnen es schon mal handgreiflich mögen.“

„Kann schon sein. Na und? Warum stellst Du eigentlich so komische Fragen?“ Kulle wurde mehr und mehr ungehalten.

„Es ist Krieg.“

„Es ist immer Krieg gewesen, seit Homo diesen Planeten mit seiner Anwesenheit beglückt. Falls Du da eine Beziehung herstellen willst: Homo hat Homo im Krieg schon immer vergewaltigt. Willst Du darauf hinaus?“

Bärdel nickte. „Eben das verstehe ich nicht. Sexualität ist Sexualität, und Krieg ist Krieg. Was har das eine mit dem anderen zu tun?“

Kulle seufzte. Er hatte gehofft, heute, da er mit Bärdel allein war, würde ihm eine Vorlesung erspart werden. Vergebens.

„Das hat eine Menge miteinander zu tun. Die Situation der Kämpfer in einem Krieg strotzt nicht gerade vor sexuellen Gelegenheiten. Das lässt aber den Sexualtrieb nicht verschwinden.

Ich habe vor kurzem von einem Vorfall in der Antarktis gelesen. Menschliche Wissenschaftler haben beobachtet, dass ein Seebär in eine Pinguinkolonie eingedrungen ist. Er hat sich einen Pinguin geschnappt, ihn festgehalten und brutal vergewaltigt.“

„Sind Seebären etwa mit uns verwandt?“ fragte Bärdel beunruhigt.

„Nein, keine Sorge, sie sind Robben. Aber wir Braunbärenmänner sind auch keine Heiligen, wie Du weißt. Mal fix einer Mutter ihre Jungen wegfressen, damit sie schnell wieder paarungsbereit wird, das ist bei uns nicht allzu selten.

Dieser Kannibalismus ist vom Verhalten des Seebären leider nicht weit entfernt. Der fette Kerl ‚musste‘ vielleicht einen hormonellen Überschuss abbauen oder wollte mit einem Trainingspartner für einen artgerechten Koitus üben. Oder er hat keine Seebärenfrau erobern können.

Nicht nur Säugetiere brauchen Gewalt, wenn ‚sie‘ nicht willig ist. Insekten, Vögel und Fische tun das auch.

Bei uns Säugetieren gibt es signifikante hormonelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Männer sind in der Regel das ganze Jahr über paarungsbereit, während die Frauen einen ausgeprägten Sexualzyklus zeigen. Auch bei Menschenfrauen gibt es diesen Zyklus, Menstruation genannt. Menschenfrauen sind also nur zu bestimmten Zeiten empfängnisbereit, können aber ständig paarungsbereit sein.“

„Gibt es eine Erklärung für diese sexuelle Daueraktivität?“ wollte Bärdel wissen.

„Das weiß man nicht. Zum ersten Mal ist dergleichen außer bei Homo bei Affen in Gefangenschaft beobachtet worden. Langeweile vielleicht? Jedenfalls ein hervorragendes Mittel, um die Überbevölkerung der Erde sicherzustellen.

Wo war ich?“

„Bei signifikanten hormonellen Unterschieden – bist Du damit fertig?“ half Bärdel.

„Noch nicht. Nicht nur das Sexualverhalten, auch das Sozialverhalten ist hormongesteuert. Männer und Frauen haben verschiedene Idealvorstellungen, was die Fortpflanzung betrifft. 

Männer wollen möglichst viele Nachkommen zeugen und haben deshalb mit möglichst vielen Partnerinnen Verkehr. Frauen dagegen kümmern sich um ihre Nachkommen, was logischerweise die Zahl ihrer Sexualpartner reduziert. Das hat Konsequenzen: Selbst bei gleicher Anzahl von Männern und Frauen im zeugungsfähigen Alter stehen mehr Männer zur Paarung zu Verfügung, Frauen werden zu einer begrenzten Ressource. Womit ich fast schon wieder bei unserem Seebären angekommen bin: Männer entwickeln unter diesen Bedingungen ein aggressives Paarungsverhalten, das ihnen helfen soll, Partner zu finden.“

„Und,“ sagte Bärdel, „Du bist schon fast wieder im Krieg angekommen. Dort mangelt es an sexuellen Gelegenheiten.“

„Stimmt.“ Kulle nickte. „Aber im Krieg kommt noch anderes dazu.

Krieg wird mit Waffen geführt. Bei Waffen denkt man zuerst an Geräte, mit denen man den Gegner töten oder zumindest kampfunfähig machen kann – von der Keule bis zur Atombombe.

Es gibt aber mehr Mittel, um ein Kriegsziel zu erreichen. Lüge, zum Beispiel. Mit Desinformation kann man versuchen, die eigenen Leute zum Durchhalten zu animieren und den Gegner in die Verzweiflung zu treiben. Das zielt auf die eigene und die gegnerische Moral, geschieht in der Regel über Medien und erreicht nicht jeden.

Wie erreicht man wenn nicht jeden, so doch genug Einzelne, um beim Feind die beabsichtigte Wirkung zu erzielen? Mit Vergewaltigung. Mit erzwungener Unterwerfung. Man dringt in die Menschen ein, in Kinder, Frauen und Männer, in den Mund, in den Anus oder die Scheide, mit einem Körperteil oder einem Objekt. Und das macht man öffentlich. Das heißt, es gibt Menschen, die zusehen. Wichtig sind dabei nicht die Kumpane des Vergewaltigers, die ihrer Freude an der Tortur haben und ungeduldig darauf warten, dass sie selbst zum Zuge kommen. Wichtig sind die Angehörigen des Opfers: der Mann, der den Missbrauch seiner Frau beobachten muss, die Mutter, vor deren Augen ihr Kind vergewaltigt wird. Brauchst Du noch mehr Beispiele? Ich könnte liefern!“

Bärdel schüttelte den Kopf. „Um Tussis Willen, hör bitte auf! Warum tun Menschen Menschen so etwas an?“

„Weil sie im Krieg sind. Und wer im Krieg ist, ist aggressiv. Viele drücken ihre Aggressivität auch sexuell aus. Dass die Opfer Menschen sind, ist ihnen nicht nur egal. Sie wollen ihre Opfer entmenschlichen.“

„Das verstehe ich nicht. Zu welchem Zweck?“

„Welches Selbstwertgefühl bleibt einem Mann, den man brutal tagelang anal vergewaltigt hat? Oder dem man die Hoden abgeschnitten hat? Er denkt: ‚Ich bin kein Mann mehr‘ – und genau das wollen seine Peiniger erreichen. Welches Selbstwertgefühl bleibt einer Frau, die von einem Vergewaltiger schwanger geworden ist oder von ihm ‚nur‘ eine Geschlechtskrankheit bekommen hat? Sie denkt: ‚Ich bin eine schlechte Frau‘.

Wer Individuen so zerstört, will Familien kaputt machen mit dem Ziel, die Moral des Feindes zu brechen.“

„Brrr!“ Bärdel schüttelte sich und stand auf. „Hat das – Erfolg?“

„Mir sind darüber keine Statistiken bekannt. Viele Opfer, vielleicht die meisten, schweigen aus Scham über das, was sie erlitten haben.

Ich lese, dass Russen seit einem Jahr Folter und Vergewaltigung gegenüber Ukrainern anwenden. Das Ziel, die Moral zu brechen, scheinen sie damit nicht zu erreichen.“

„Und andersherum?“

„Weiß ich nicht. Ich bin auf pro-ukrainische Quellen angewiesen. Auch die sogenannten Guten arbeiten mit Desinformation.“ 

„Bitte entschuldige,“ sagte Bärdel. „Ich habe unseren schönen Morgenspaziergang zu zweit gründlich verdorben. Dabei wollte ich eigentlich nur wissen, ob Du selbst es vielleicht nicht ab und zu auch mal etwas ruppiger magst?“

„Durchaus,“ antwortete Kulle. „Und wenn Du Fragen, die Du direkt beantwortet haben möchtest, künftig direkt stellst, ersparst Du uns vielleicht Umwege durch menschliche Abgründe, die wir eigentlich gar nicht ausloten möchten. So, und jetzt an die Arbeit. Ich will in die Bibliothek.“

Sprachs, stand auf, drückte Bärdel einen Kuss auf den Mund und fragte: „Gehen wir?“

24. Februar 2023

Krieg, Natur, Mensch

Kulle
PD. Kulle

Krieg liegt in der Natur des Menschen

Überlegungen von PD. Kulle

Jede Art hat ihre Eigenart. Jede Art ist stolz auf sich. Aber nicht jede Art ist stolz auf jede Eigenart.

Homo sapiens sapiens zum Beispiel unternimmt alles, um zu verbergen, dass Krieg zu seiner Natur gehört. Er versteckt diese destruktive Anlage nicht nur vor seinen Artgenossen, sondern auch vor sich selbst. Das gelingt mitunter sogar, obwohl der Mensch einen großen, wenn nicht den größten Teil seiner Intelligenz und seiner Gefühle auf die Beschäftigung mit kriegerischem Verhalten verwendet.

Was ist hier unter Krieg zu verstehen?

„Krieg, Natur, Mensch“ weiterlesen

Katharer, Kataris und Katharsis

Bären halten Winterruhe, das weiß sogar jedes Menschenkind. Winterruhe ist aber nicht gleichzusetzen mit Winterschlaf, und das ist längst nicht jedem Menschen bekannt.

Die Bärenlebener hatten sich angewöhnt, mitten im Winter alle gleichzeitig für ein paar Stunden wach zu sein. Dann feierten sie gemeinsam die Wintersonnenwende. Und einer von ihnen erzählte ein Märchen. Weil ihnen aber keine Wintersonnenwendemärchen bekannt waren, hatten sie sich darauf geeinigt, einem Weihnachtsmärchen zuzuhören1. Davon kannten sie auch nicht allzu viele, und die bekanntesten – Der Schneemann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Der Tannenbaum, Nussknacker und Mausekönig und so weiter – waren längst erzählt. Deshalb setzten die Bärenlebener ihren Ehrgeiz darein, sich selbst eine Geschichte auszudenken. Und man musste gut vorbereitet sein: Das Los bestimmte, wer dieses Jahr für die Unterhaltung der Versammlung zu sorgen hatte.

Nur einer machte sich keine Gedanken über winterliches Märchenerzählen. Fabulieren war seine Sache nicht, er hielt es mit wissenschaftlichen Fakten. Und weil das allen Dorfbewohnern bekannt war, erwarteten sie von ihm keine fantasievolle Geschichte. Und er erwartete, in Ruhe gelassen zu werden, was die Produktion und Präsentation von Fabuliertem anging. Er war sich völlig sicher, dass kein Zettel mit seinem Namen im Lostopf lag.

Weit gefehlt!

„Heute erzählt Kulle uns ein Weihnachtsmärchen!“

Kulles Neuinkarnation mit Fliege

Am liebsten wäre Kulle in seiner Schlafnische verschwunden, um weiter zu träumen,  aber jetzt den Spielverderber geben – das ging wirklich nicht.

„Ein Weihnachtsmärchen ist was mit Religion, oder? Geht es vielleicht auch ohne?“ fragte er, allerdings mit wenig Hoffnung.

„Natürlich mit Religion!“ Alle antworteten im Chor.

„Mit christlicher Religion?“

„Natürlich mit christlicher Religion!“

Kulle schluckte den Fluch herunter, der ihm auf der Zunge lag.

„Na denn,“ sagte er, um wenigstens ein bisschen Zeit zu schinden. Natürlich konnte er der Dorfgemeinde viel aus der Kriminalgeschichte des Christentums erzählen, aber ein Märchen wurde das gewiss nicht. Obwohl – ja, so könnte es gehen.

„Wir alle wissen, dass das Christentum sich wie ein Flächenbrand im Römischen Reich ausbreitete und schließlich sogar zur Staatsreligion wurde. Das Reich zerfiel, das Christentum blieb und wurde immer weiter verbreitet. Die römisch-katholische Kirche organisierte sich hierarchisch mit dem Bischof von Rom an der Spitze, der den Titel ‚Papst‘ annahm.

Den Päpsten damals ging es nicht darum, möglichst fromm zu sein, sondern sie wollten möglichst viel Macht und möglichst viele Reichtümer an sich raffen. Der hohe Klerus protzte mit seinem Luxus. 1000 Jahre nach der Geburt von Jesus, nach der Behauptung der Kirche zu Weihnachten, war von der Lehre dieses Mannes, der als Begründer des Christentums gilt, in der katholischen Kirche nichts mehr übrig. Jesus hatte Armut gepredigt.

Es gab aber viele Menschen, die wirklich nach der christlichen Lehre leben wollten. Es gab sie vor allem auf dem Balkan, dort wurden sie Bogomilen genannt. Und in Okzitanien, heute besser bekannt als Südfrankreich. Dort hießen sie Katharer, die Reinen, oder auch Albigenser, nach der Stadt Albi. Sie waren bewusst arm, sie lebten keusch, sie wollten keine Kinder zeugen, denn ihrer Meinung nach war die Welt das Reich des Bösen. Sie lehnten das Alte Testament ab, weil darin ein böser, rachsüchtiger Gott regierte, und anerkannten nur das Neue Testament.

Sie verhielten sich so vorbildlich, dass sie immer mehr Anhänger gewannen. Die katholische Kirche betrachtete sie folglich als Gefahr.

Damals schickten die Päpste Menschen, die glaubten, dass der Papst Gottes Willen verkündet, in den Krieg gegen sogenannte Ungläubige. Sie versprachen ihnen dafür Reichtümer und nach dem Tod die ewige Seligkeit. Die ersten Ungläubigen, gegen die man vorging, waren Moslems im Nahen Osten. Die hatten nämlich das ‚Heilige Land‘ erobert, und die Christen wollten es ihnen wegnehmen. Sie nähten sich ein Kreuz auf die Kleidung und zogen los. Deshalb nannte man sie Kreuzfahrer. 

Jetzt schickte der Papst zum ersten Mal Kreuzfahrer gegen Christen. Die katharischen Städte wurden erobert, in Brand gesteckt und alle Bewohner wahllos getötet, sofern sie nicht entkommen konnten. Nach zwanzig Jahren waren die letzten Katharer zur Kapitulation gezwungen. Okzitanien wurde ins französische Königreich eingegliedert.“

Sehr alter Bär im Sommer

„Mein sehr junger Bär, nun ist es aber genug!“ Der sehr alte Bär reckte seinen fast kahlen Schädel empört in die Höhe. „Du weißt offenbar nicht, was ein Märchen ausmacht. Das mag an Deinem zarten Alter liegen. Deshalb sage ich Dir: Du hältst uns hier einen historischen Vortrag, in dem es von Abscheulichkeiten nur so wimmelt. Das entspricht nicht unseren Erwartungen!“

Die Versammlung hielt den Atem an. Alle fragten sich, wie Kulle reagieren würde.

„Mein sehr verehrter sehr alter Bär, ich bitte um Verzeihung, dass ich Dir widersprechen muss.“ Kulle bemühte sich um einen höflichen Ton, aber seine Stimme war eine Terz höher als gewöhnlich. Daran konnte man bemerken, dass er sich ärgerte.

„Ich darf Dich daran erinnern, dass auch die Weihnachtsgeschichte aus den Evangelien historische Fakten enthält – oder wenigstens so tut. Es steht dort geschrieben, dass König Herodes alle männliche Erstgeburt töten ließ, weil ihm die Weisen aus dem Morgenland erzählt hatten, es gäbe einen neuen König der Juden. 

Ich darf Dich daran erinnern, dass auch die Weihnachtsgeschichte aus den Evangelien von Abscheulichkeiten nur so wimmelt. Sie beginnt mit der Darstellung herzlos behandelter Reisender und deren Flucht in ein anderes Land und endet mit Folter und Tod des Hauptdarstellers. Sie beginnt also schlimm und endet ganz schlimm.2

Mein Märchen dagegen hat ein Happy End, Du wirst schon sehen!“

Kulle holte tief Luft. Als er weitererzählte, war seine Tonlage wieder normal.

„Die päpstlichen Kreuzfahrer hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, die Katharer umzubringen, aber alle hatten sie nicht erwischen können. Wer überlebte, floh und versuchte, aus dem Machtbereich der katholischen Kirche herauszukommen. Der Weg nach Osten bot sich an, derselbe Weg, den die ersten Kreuzfahrer genommen hatten: der Weg nach Palästina.

Wer heutzutage flüchtet, kommt nicht schnell voran. Früher waren Flüchtlinge noch viel langsamer. Jahre vergingen, bis sie über Griechenland und die Türkei nach Jerusalem gelangten. Die Moslems dort hatten die Kreuzfahrer längst wieder vertrieben und lebten in Frieden, aber die Katharer empfingen sie nicht mit offenen Armen: Christen, was auch immer für Christen, waren ihnen verdächtig. So zogen sie weiter südwärts, immer an der Küste Arabiens entlang, bis sie zu einer abgelegenen menschenleeren Halbinsel kamen. Sie nannten sie Katar und ließen sich dort nieder. Das heißt, eigentlich ließen sie sich nicht nieder, denn damit die Tiere, die sie züchteten, in der Wüste genug Nahrung fanden, mussten sie umherziehen. Sie lebten fast wie früher: in Armut und Bescheidenheit. Nur vergaßen sie im Lauf der Jahrhunderte ihre Religion und übernahmen den Glauben ihrer Beduinennachbarn: den Islam.

Aber als sich vor wenigen Jahrzehnten die Erde auftat, änderte sich alles. Öl schoss aus dem Wüstensand, und alle Welt wollte es kaufen. Auf einmal hatten die Kataris viel Geld, und da sie ihre Religion vergessen hatten, fanden sie daran nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Sie genossen ihren Reichtum und gaben auch viel Geld mit vollen Händen aus. In diesem Jahr haben sie die Welt zu Gast gehabt: Sie haben viele schöne Stadien gebaut, darin spielten die besten Nationalmannschaften um die Fußballweltmeisterschaft der Männer.

Und wenn sie nicht gestorben sind,  dann bauen sie in ihrer Stadt Doha weiter wunderbare künstliche Inseln und genießen das Leben.“

Kulle setzte sich. Die Dorfversammlung blieb eine Weile lang still, dann setzte zaghafter Beifall ein. Bärdel als Versammlungsleiter bedankte sich höflich für die gemeinsame Anwesenheit und das schöne Märchen. Danach wünschte er allen eine weiterhin angenehme Winterruhe.

Kulle und Bärdel blieben allein in der Höhle zurück. Athabasca war an ihnen vorbeigekommen und hatte Kulle en passant den Vogel gezeigt. Na und Nuk hatten ihn fragend angesehen, waren aber weiter gegangen, als er stur an ihnen vorbeigeschaut hatte. Manfred, Tumu, Ramses, Piggy und Minerva – alle hatten den Kopf geschüttelt, und die Eule hatte ihren Hals so sehr verdreht, dass es aussah, als wollte sie sich selbst erwürgen.

„Was um Tussis Willen ist in Dich gefahren? Du weißt doch, was die Menschen mit der Nutzung fossiler Energien dem Klima antun?“

„Natürlich weiß ich das. Ich weiß auch, was Menschen mit der Ausübung von Religion ihresgleichen antun. Den Katharern haben sie viel angetan. Natürlich haben die Kataris nichts mit den Katharern zu tun. Aber wenn sie deren Nachfahren wären, hätten sie die Reinigung von der früheren Furcht und den früheren Schrecken verdient.

Im Übrigen: Nicht die Länder mit den Erdöl- und Erdgaslagerstätten sind in erster Linie verantwortlich für den Anstieg der Treibhausgase, sondern die Gier der Industrieländer.

Und ich weiß auch: Das ‚Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‘ ist vielleicht wahr, aber es impliziert die Lüge, dass der Honeymoon ewig dauert. Wenn Romeo und Julia nicht gestorben wären, dann hätten sie vielleicht als frustriertes zänkisches Ehepaar geendet. Auch für die Kataris dürfte es ein böses Erwachen geben.

Eine Bitte noch: Nehmt meinen Namen für die nächsten Weihnachtsmärchenerzählabende besser aus dem Lostopf.

Und jetzt gehe ich ins Bett.“

Dezember 2022

Motiv

Die Morgenwanderung rund um Bärenleben glich heute dem Zug einer kleinen Karawane. Nicht nur Bärdel und Kulle gingen spazieren, nicht nur die Eisbärenzwillinge und Athabasca waren zusammen mit ihnen unterwegs, auch Anna und Otto hatten höflich gefragt, ob sie sich anschließen dürften. Bisher hatten sie von dem Ritual zu Tagesbeginn lediglich gehört, erlebt hatten sie es noch nicht.

Fünf braune und zwei weiße Bären trabten also auf einsamen Waldwegen dahin, manchmal bahnten sie sich auch ihren Weg durchs Unterholz. Niemand sprach. Atti  arbeitete an einem Szenario für ein Rendezvous mit Kulle in naher Zukunft, Kulle strukturierte im Geiste seine geplante Arbeit über ökologische Kipppunkte, Bärdel dachte über das Programm des Dorffestes zum Frühlingsbeginn nach, und Anna und Otto schwiegen, weil die anderen Erwachsenen stumm blieben. Das wurde den Eisbärenkindern natürlich schnell langweilig.

„Tante Anna, Tante Atti, Onkel Bärdel, Onkel Kulle, Onkel Otto“ – Na holte nach so vielen Anreden in korrekter alphabetischer Reihenfolge erst einmal tief Luft – „können wir bitte ein Spiel spielen?“

„Gerne!“ brummte Otto. „Ich kann aber nur Palindrome suchen.“

Anna knuffte ihn in die Seite. „Halt doch erst mal Deinen Mund!“ zischte sie. „Wir sind neu hier! Warte ab, was die anderen machen!“

Athabasca konnte Na und Nuk nur schwer etwas abschlagen, und auch Bärdel ließ sich schnell erweichen. „Was möchtet Ihr denn spielen?“ erkundigte er sich bei Na, denn die hatte den Vorschlag gemacht. Aber wie so oft: Na hatte geredet, ohne zu Ende zu denken.

Ihre Schwester kam ihr zu Hilfe. „Jeder nennt eine Eigenschaft, die für Menschen typisch ist, für Bären aber nicht. Wer etwas Falsches sagt, oder wem nichts mehr einfällt, der scheidet aus.“

Zustimmendes Gemurmel. Nur Kulle murmelte nicht: Er fand, dass er sich in seinen Arbeiten schon mehr als genug mit Menschen beschäftigte. Das musste er nicht auch noch in seiner freien Zeit machen. Aber er fügte sich in sein Schicksal.

„Und wer soll anfangen?“ fragte Bärdel.

„Wer erster im Alphabet ist,“ erklärte Na. „Also Tante Anna.“

Anna
Anna

Anna erschrak zutiefst. Sie hatte doch kaum Erfahrungen mit Menschen gemacht! Es gab nur die wenigen Kontakte in Bad Kösen. Aber sie hatte keine Wahl.

„Menschenfrauen tragen gerne Kittelschürzen,“ sagte sie tapfer1 „Bärinnen nicht.“

Athabasca brummte unwillig gegen das verhaltene Kichern an, in das alle außer Otto einfielen. „Seid nicht so albern!“ schimpfte sie. „Anna hat völlig Recht. Menschen tragen Kleider, wir tun das nicht. Und jetzt bin ich wohl dran.“ Sie dachte kurz nach und behauptete dann: „Menschen lernen nicht aus ihren Fehlern, Bären schon.“

„Kannst Du das begründen, Tante Atti?“ Natürlich war das Na. Während ihrer Erziehung hatte Athabasca sie dauernd nach Begründungen für ihre unreflektierten Spontanbemerkungen gefragt. Aber die Provokation lief ins Leere.

Athabasca
Athabasca

„Selbstverständlich kann ich das. Die dehländischen Politiker und Wirtschaftsbosse mussten gerade schmerzlich erfahren, dass man sich von unberechenbaren Partnern nicht abhängig machen darf. Konkret: von russischem Öl und Gas. Und was machen sie jetzt? Sie denken nicht daran, ihre Abhängigkeit von der Volksrepublik China zu verringern.

Für die Bärenlebener war es ein Fehler, in die USA auszuwandern. Sie haben den Fehler korrigiert und sind nach Dehland zurückgekommen. Sie haben auch erkannt, dass Bären sich in diesem Land nicht offen zeigen sollten. Dieser Fehler wurde ebenfalls korrigiert.“

Dem war nichts hinzuzufügen.

„Wenn Bären ein Versprechen geben, halten sie es auch. Wir alle wissen das. Bei Menschen ist das anders. Sie unterzeichnen feierlich Verträge und versprechen, sich daran zu halten, und dann machen sie auf einmal das Gegenteil. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich immer mehr Staaten in den Vereinten Nationen zusammengeschlossen und versprochen, die Souveränität und nationale Integrität aller anderen Staaten nicht anzutasten. Russland führt jetzt aber einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und deren Bevölkerung.“ Das war Bärdel.

Anna und Otto staunten und merkten, was sie alles noch lernen mussten. Sie staunten leise, und auch sonst sagte niemand etwas.

Kulle war an der Reihe. Seine Stimme klang müde, und das lag daran, dass er das, was er sagen wollte, schon zu oft sagen musste.

Kulle
Kulle

„Die Menschen, und damit meine ich die Menschen, die die Macht haben, die Verhältnisse zu gestalten, diese Menschen wollen nicht begreifen, dass sie durch ihr Handeln die Lebensgrundlage ihrer Spezies zerstören. Wir Bären machen so etwas nicht. Wir nehmen uns immer nur so viel von der Natur, wie die Natur ersetzen kann. Aber das wisst Ihr ja alles schon. So, und jetzt bist Du an der Reihe, kleine Na.“

Na war überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Schwester und sie auch mitspielen sollten, und hatte deshalb nicht überlegt, was sie sagen sollte. Aber  ihr fiel schnell etwas ein. „Menschen lernen nicht aus ihren Fehlern, Menschen brechen Versprechen, Menschen zerstören die Lebensgrundlage ihrer Spezies. Aber warum? Für dieses unmoralische und dumme Verhalten muss es doch einen Grund geben! Denken können die Menschen doch, intelligent sind sie doch, oder?“

Na hatte Kulle direkt angesprochen und sah ihn an. Alle sahen Kulle an. Kulle seufzte. „Die Menschen sind clever genug, einander übers Ohr zu hauen. Viele denken nur darüber nach, wie ihnen das am besten gelingt. Weiter denken sie nicht. Ich halte das nicht gerade für ein Zeichen von Intelligenz.“

„Onkel Kulle, das ist sicher richtig, aber es beantwortet nicht Nas Frage nach dem Grund,“ hakte Nuk nach.

„Gut, also machen wir es konkret. Warum hat sich Dehland von russischem Öl und Gas abhängig gemacht? Weil es billig war. So konnte man die Produktionskosten niedrig halten – die Kosten für Energie und die Kosten für die Arbeitskraft, denn billige Energie stand auch den abhängig Beschäftigten zur Verfügung. Warum China? Das Land liefert seltene Erden, steht als verlängerte Werkbank zur Verfügung, ist ein großer Absatzmarkt vor allem für dehländische Autos.

Warum will Putin die Ukraine als eigenständigen Staat vernichten? Weil die Ukraine mit ihren Bodenschätzen und ihrer Industrie bis 1990 Teil der Sowjetunion war, die damals zerbrochen ist. Putin will das sowjetische Imperium wiederherstellen und sein Land so wieder zu einer Großmacht machen. Er selbst will als großer Politiker und Stratege in die Geschichte eingehen.

Und die Zerstörung der Lebensgrundlage der menschlichen Spezis? Ein Unternehmen, dessen Geschäftsmodell die Förderung und Verarbeitung von Erdöl ist und das damit sehr viel Geld verdient, will dieses Geschäftsmodell nicht aufgeben. Es hängt sich bestenfalls ein Feigenblatt um und behauptet, neuerdings grüne Energie zu fördern.

Eine Regierung, deren Geschäftsmodell das Wohlwollen oder zumindest die Tolerierung der Bevölkerung ist, und dieses Geschäftsmodell gilt für Demokratien wie Diktaturen gleichermaßen, wenn auch nicht in gleichem Maße, eine solche Regierung kann den Wohlstand der Bevölkerung, so gering er auch sein mag, nicht durch drastische ökologische Maßnahmen gefährden. Und so läuft alles weiter wie bisher.“

„Und der Grund, Onkel Kulle?“

„Kleine Na, in all dem, was ich gerade erklärt habe, steckt der Grund. Er ist noch nicht einmal versteckt, er liegt offen zutage. Kommst Du wirklich nicht darauf?“

Na

Na wäre am liebsten im Boden versunken oder hätte irgendein Ablenkungsmanöver  begonnen, aber bevor sie nach einem Ausweg suchen konnte, wurde sie gerettet.

„REIG! ZIEG!“ brummte Otto. „Entschuldigt bitte, aber Ihr wisst ja, die Palindrome…

Otto

Ich kenne leider keine Sprache, in der diese Eigenschaft in ein schönes Kugelwort verwandelt werden kann. Auf Italienisch heißt sie ávidita. Atidivá ist eine ziemlich gute Annäherung, findet Ihr nicht? Türkisch geht auch: Tamah wird zu hamat. Auf deutsch ist die Sache ziemlich schlecht: Geiz und Gier, Reig und Zieg. Aber abgesehen von den mangelnden Palindromen: Ich habe doch Recht, oder?“

Kulle nickte anerkennend. „Und wie Du Recht hast!“ Mit einem Seitenblick zu Na bemerkte er: „Es ist schön, wenn in Bärenleben Bären leben, die logisch denken können, nicht wahr?“

Na schmollte, aber das würde schnell vorübergehen. Nuk tröstete sie. Otto strahlte. Anna blickte bewundernd. Athabasca und Bärdel verfielen in einen gemütlichen Bärentrott und riefen den anderen zu: „Nun kommt schon! Höchste Zeit fürs Frühstück!“

November 2022

Kein Kanzlerbesuch

„Immer noch keine Anfrage? kein Annäherungsversuch?“ fragte Bärdel seinen Sohn.

„Nö.“

Könntest Du Dein Überwachungssystem bitte noch einmal überprüfen?“

„Könnte ich.“

Bärdel wurde zornig. „Solche unhöflichen Antworten gehören sich nicht, das solltest Du wissen!“ wies er Manfred zurecht.

„Das finde ich auch, Papa,“ stimmte der zu. „Ich habe mir übrigens nur erlaubt zu zitieren. Was der Nummer Drei in Dehland recht ist, sollte einem kleinen Bären in einem klandestinen Dorf doch nur billig sein.“

„Na gut.“ Bärdel beruhigte sich. „Aber unhöflich bleibt unhöflich, auch wenn es der Kanzler ist. Schade, ich habe eigentlich auf seinen Besuch gehofft. Olaf Scholz kennt sich doch aus mit Finanzskandalen und verschwundenen Steuergeldern. Er hätte mir bestimmt einen Tipp geben können, wie ich meinen Ärger mit dem norddehländischen Finanzamt  endlich loswerden kann.“

„Mir tut es auch leid,“ mischte sich Tumu ein. „Ich wollte ihm gerne einen Bananenkuchen backen.“

Tumu

„Seit wann sind wir so nett zu Kanzlern? Bis auf den ersten waren das schließlich alle sehr unsympathische Wesen.“

„Das stimmt schon. Aber der Arme kriegt in Hamburg doch bestimmt immer nur Fisch zu essen. Und in Berlin gibt es zwar ausgezeichnete Restaurants, aber in die darf sich ein Politiker in diesem Land nicht hineinwagen. Die Wähler nähmen das übel und würden ihm Verschwendung vorwerfen, sagt jedenfalls der Bundespräsident. Deshalb der Kuchen. Das Rezept dafür habe ich in einem Gorillakochbuch gefunden. Man braucht dafür auch Erebereblätter, und ich weiß noch nicht, woher ich die bekomme. Ich habe schon bei Rungis angefragt, aber die haben nur verständnislos den Kopf geschüttelt.“

Auch Bärdel und Manfred schüttelten nur verständnislos den Kopf, aber so sanft, dass Tumu es nicht bemerkte. Sorgen hatten die Frauen!

„Also kommt niemand,“ fasste Tumu das bisherige Gespräch zusammen.

Kulle

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Kulle hatte gelauscht. „Der Kanzler ist wohl beratungsresistent. Aber in der Regierung gibt es ja auch Minister, wie man weiß, und ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass von denen jemand hier auftaucht.“

„Wen meinst Du denn?“ wollte Bärdel wissen. „Die Baerbock?“

„Die nun gerade nicht. Die ist auch beratungsresistent, wie der Name schon sagt. Und sie braucht auch keine Beratung. Tapfer ist sie – kämpft wie ein Bär oder kämpft tapfer gegen Bären – und starrsinnig. Bockig. Die wird sich von uns sicher nicht sagen lassen wollen, wie sie ihrem Kollegen Lawrow gegenübertreten soll.

„Und wer dann?“

Als Kulle gerade den Mund auftat, um zu antworten, brach ein Mensch durch die Brombeerbüsche am Dorfrand. Er war erkennbar erschöpft, desorientiert und am Ende seiner Kräfte. Als er erkannte, dass ihm Lebewesen gegenüberstanden, stieß er mit letzter Kraft hervor: „Sag Gas!“ 

Otto als Neubürger in Bärenleben war schüchtern und hatte sich im Hintergrund gehalten, als der Fremde auftauchte, aber als er dessen zwei Worte hörte, konnte er nicht mehr an sich halten, trat eilig vor und stupste aus Versehen Bärdel zur Seite.

Otto

„Du liebst Palindrome!“ strahlte er den Ankömmling an. „Willkommen in Bärenleben!“ Er schob Anna, die sich hinter seiner breiten Schulter versteckt hatte, denn sie hatte immer noch Angst vor Menschen, nach vorn: „Anna neben Otto!“

Otto und Anna

Kulle fasste sich als erster. „Unser Freund hier liebt Sprachspiele, lass Dich davon nicht irritieren. Was das Gas angeht: Bei uns findest Du weder den Emir von Katar noch den russischen Präsidenten. Du bist weder in Doha noch in Moskau.“

„Trollort!“ brummte Otto verächtlich.

 Kulle ließ sich dadurch nicht irritieren: „Wir hier sind Demokraten. Vielleicht keine lupenreinen, aber auf jeden Fall keine Sklavenschinder und Giftmörder. Und wir bedauern: Gas haben wir nicht im Angebot.“

„Schade.“ Der Mensch sank erschöpft ins Gras.

„Ich gase, also bin ich?“ Kulle hatte kein Mitleid mit dem Ankömmling.

Der Mann richtete sich gerade auf und war plötzlich hellwach. „Alles Gasende ist Gas. Und ohne Gas ist alles nichts. Ich meine: Nichts. Jedenfalls im nächsten Winter in Dehland. Tertium non datur.“

Kulle war begeistert. Endlich war da mal jemand, der ihm philosophisch-grundsätzlich gewachsen war. „Klären wir den Begriff!“, forderte er. „Existenz: Gas existiert.“

„Zweifellos. Aber notwendiges immer weniger in Dehland.“

Kulle ließ sich nicht vom Prinzip abbringen: „Identität: Gas ist Gas.“

„Falsch. ‚Gas‘ ist ein Aggregatzustand, sonst nichts. Du meinst wahrscheinlich Erdgas. Erdgas ist ein Gasgemisch. Erdgas ist ein fossiler Energieträger. Ich hasse fossile Energieträger, denn sie tragen wesentlich zur menschengemachten Klimaveränderung bei. Diese Klimaveränderung wird uns umbringen, wenn es schlecht läuft, auf jeden Fall wird sie uns einem Stresstest unterziehen, den wir uns kaum vorstellen können. Wir müssen den Klimakollaps so weit wie möglich abfedern. Deshalb bin ich in dieser Regierung. Aber stattdessen jage ich Gas. Erdgas.“ 

Kulle vermutete, dass der Ankömmling ihm in Sachen Naturwissenschaften über war, wenn auch wohl nicht in Philosophie und Ökonomie. Er gab sich naiv: „Warum konterkarierst Du Deine vernünftigen Ziele durch unvernünftiges Handeln?“

„Weil ich weiß, was Menschen tun, wenn sie ihre Lage als aussichtslos begreifen. Weil…“

Kulle fiel ein: „Weil Du das, was Menschen zivilisierte Verhältnisse nennen, aufrechterhalten willst, solange es möglich ist. Dazu muss alles weiterlaufen wie bisher, vielleicht ein wenig modifiziert, aber nur ein wenig, sonst wird die Unruhe zu groß.“

„Woher wusstest Du, was ich sagen wollte?“ fragte der Mensch verblüfft.

„Das war leicht, denn Du denkst wie die frühere Kanzlerin. Die hat als Physikerin genau gewusst, was auf uns zukommt, und hat trotzdem nichts Entscheidendes unternommen.“

„Ich muss ganz ehrlich sagen…“

Alle Bären verzogen so angewidert das Gesicht, dass der Mensch sich unterbrach.

„Jetzt werde ich Dir mal sagen, was Du sagen müsstest, wenn Du wirklich ehrlich wärst!“  fauchte Tumu ihn an. „Dass Putins Überfall auf die Ukraine zwar ein schreckliches Verbrechen ist, aber den Dehländern die Gelegenheit bietet, etwas zu tun, was schon lange überfällig ist: Fossilen Energieträgern den Rücken zuzukehren. Natürlich ist das brutal von heute auf morgen. Aber was machst Du? Du schaffst neue Infrastruktur dafür, dass Gas und Kohle weiter genutzt werden! Glaubst Du ernsthaft, dass die schönen neuen LNG-Terminals gleich wieder abgebaut werden, wenn es genug Windkraft und Solarthermie gibt? Falls es die gibt!

Und bei wem übst Du den Kotau? Bei wem gehst Du betteln? Bei Alleinherrschern, denen die Rechte anderer am Arsch vorbeigehen. Pardon my french!

Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß hat Churchill 1940 den Briten versprochen. Das war ehrlich! Das Blut könntest Du getrost weglassen, aber den Rest nicht.

Du solltest Dich schämen!“

Bärdel war beeindruckt: So kannte er seine sanftmütige Frau gar nicht.

Noch beeindruckter war der Mensch. Er schlug die Augen nieder und biss sich auf die Lippen. Er machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, und schloss ihn gleich wieder. Vor den Bären stand eine Personifikation schlechten Gewissens.

„Um es philosophisch zu formulieren: Du hast kein Sein gehabt. Kein Selbst-Bewusst-Sein.“ Kulle fand es an der Zeit, das Gespräch auf eine sachliche Ebene zurückzuführen.

„Ich wollte die Koalition nicht gefährden,“ murmelte der Mann.

„Und damit gefährdest Du viel Wichtigeres,“ kommentierte Bärdel. „Und jetzt geh und tue, was richtig ist. Und wenn Du das getan hast, darfst Du wiederkommen.“

„Dann backe ich Dir auch einen Bananenkuchen!“ Tumu hatte sie wieder beruhigt. „Nach Originalrezept! Die Erebereblätter dafür werde ich schon irgendwo auftreiben.“

„Nie solo sein!“ bekräftigte Otto.

Der Mensch nickte und bahnte sich seinen Weg zurück durch die Brombeerbüsche.

„Meint Ihr, dass der wiederkommt?“ fragte Manfred.

„Wir werden sehen,“ antwortete Bärdel. „Ich will das nicht ausschließen. Dann hatten wir vermutlich gerade so eine Art vorgezogenen Kanzlerbesuch.“

Nicht in Bärenleben

August 2022

Ukrainekrieg

Ukrainekrieg

„Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, entschuldige bitte! Wir wollten Dich nicht stören, Du bist doch immer so beschäftigt. Eigentlich haben wir eine Frage an Onkel Kulle, aber der ist so merkwürdig und hat uns gar nicht beachtet…“

Dass Kulle die Eisbärenzwillinge nicht beachtete, war in der Tat merkwürdig. Schließlich waren die beiden seine Lieblinge, er hatte sie zusammen mit Athabasca  erzogen und war stolz auf sie. Bärdel konnte sich nicht erinnern, dass Kulle sie auch nur einmal ignoriert hatte.

„Was ist denn so Ungewöhnliches an Kulle?“ wollte er wissen.

„Er ist durch die große Dorfhöhle gerannt und hat in allen Ecke nach seiner roten Fahne gesucht. Um die hat er sich schon lange nicht mehr gekümmert, aber jetzt wollte er sie unbedingt haben. Schließlich hat er sie in irgend einem dunklen Spalt gefunden. Sie war voller Spinnweben und Löcher, und die Farbe war auch völlig ausgeblichen.

Erst hat er versucht, sie sauber zu machen und zu reparieren. Aber dann hat der alle seine Krallen ausgefahren und sie so energisch zerfetzt, dass nur noch winzige Stoffstücke übrig sind.“

„Das ist alles richtig, was Na sagt, aber da fehlt noch einiges“, warf Nuk ein. „Onkel Kulle hat die ganze Zeit lang Selbstgespräche geführt. Wir haben davon nicht viel verstanden, jedenfalls nicht alles. Es ging um selbst verschuldete Aufklärung und um Krieg und ewigen Frieden. Um einen Levi-Nathan – oder so ähnlich. Um die Vereinten Nationen. Um Mittel, die den Zweck heiligen. Oder vielleicht auch andersrum. Und um Dummheit. Immer wieder um Dummheit.“

„Onkel Bärdel, wir machen uns Sorgen um Onkel Kulle!“ sagten beide im Chor.

Bärdel seufzte. „Das kann ich gut verstehen“, meinte er. „Ich verstehe, glaube ich, auch, warum Kulle so komisch ist. Er macht sich nämlich auch Sorgen.“

Nanuk machten große Augen. „Worüber denn, Onkel Bärdel?“

„Dass in der Ukraine seit mehr als drei Monaten Krieg ist, das habt Ihr schon mitbekommen, oder?“

„Klar, Onkel Bärdel!“ Na war wie so oft schneller mit der Antwort als ihre Schwester. „Russland hat die Ukraine angegriffen, weil das Land von Faschisten regiert wird, und eigentlich sollte das Land zu Russland gehören. Jedenfalls sagt das Putin.“

„Wir wissen, dass Krieg etwas Schreckliches ist.“ Nuk machte ihre Position klar. „Kriege sollten verboten werden. Werden sie aber nicht. Es gibt doch immer und in vielen Ländern Krieg. Was ist so schlimm an diesem Ukraine-Krieg, dass Onkel Kulle sich Sorgen macht?“

„Es ist nicht richtig, dass Kriege nicht verboten sind. Fast alle Staaten dieser Welt sind Mitglied der Vereinten Nationen, und zu deren Grundsätzen gehört ein allgemeines Gewaltverbot. Das verbietet den Mitgliedsstaaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Bärdel war froh, dass er nicht bei allen politischen Vorträgen, die Kulle hielt, geschlafen hatte.

„Wenn das so ist, Onkel Bärdel, dann dürfte es doch keine Kriege geben. Es gibt sie aber, wie Nuk richtig sagt!“ Na war sehr empört.

„Nicht jeder hält sich immer und überall an Regeln. Das tun nur die Guten.“

„Und wer sind die Guten, Onkel Bärdel?“

„Demokratisch regierte Staaten ganz bestimmt. Wie Dehland. Oder unser Nachbar Frankreich. Oder die USA.“

Na und Nuk tauschten einen kurzen Blick. Athabasca hatte ihnen immer wieder eingeprägt, dass Bären höflich zu bleiben hatten, auch bei Meinungsverschiedenheiten oder in einem Streit um Fakten. Das galt insbesondere für jüngere gegenüber älteren.

Sie hätten sich natürlich bei Bärdel bedanken und ihrer Wege gehen können. Aber auch Ehrlichkeit gehörte zu Attis Erziehungsprinzipien.

Nuk trat ihrer jüngeren Schwester auf eine Vorderpfote, um ihr klarzumachen, dass sie besser ihr für eine Weile das Wort überließ. Sie kannte Nas überschäumendes Temperament nur zu gut.

„In Bezug auf Dehland hast Du wohl recht, Onkel Bärdel. Die dehländische Rüstungsindustrie hat nur mit Erlaubnis der Regierung Waffen ins Ausland geliefert, mit denen dann Nicht-Dehländer getötet haben und getötet wurden.“

Bärdel schluckte, aber er sagte nichts. Also fuhr Nuk fort.

„Bei den USA liegt der Fall aber anders, denke ich. In Ländern, die sie verächtlich als ihren ‚Hinterhof‘ bezeichnen, haben sie oft gewaltsame Aktionen durchgeführt, obwohl sie Gründungsmitglied der Vereinten Nationen sind. Kuba, die Dominikanische Republik, El Salvador, Nicaragua, Grenada, Panama und Kolumbien – das sind die, die mir gerade einfallen. Ach ja, und Chile natürlich.“

Nuk holte tief Luft.

„Auch in anderen Teilen der Welt haben die USA ihre Interessen verteidigt, wie sie das nennen. Im Vietnamkrieg haben sie ein Kriegsverbrechen an das nächste gereiht, das bestreitet heute niemand mehr, noch nicht einmal die Amerikaner selbst. Sie wollten den Kommunismus zurückdrängen. Und um für den dritten Irakkrieg die Unterstützung des UN-Sicherheitsrates zu gewinnen, haben sie ihren Außenminister nach New York geschickt, der das Gremium schamlos belogen hat. Nein, falsch, hinterher hat er sich öffentlich geschämt, aber erst mal hat er gelogen, gelogen für das angeblich amerikanische Öl.“

Jetzt hatte sich auch Nuk gegen ihren Willen in Rage geredet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Bärdel war unter seinem Gesichtspelz ganz blass geworden.

„Onkel Bärdel“, fragte sie zaghaft. „Bist Du mir jetzt böse?“

Bärdel schüttelte den Kopf. „Nein, böse bin ich nicht. Aber erschüttert. Eigentlich weiß ich vieles, was Du genannt hast, aber so geballt…“ Mit ein wenig Hoffnung in der Stimme fragte er: „Kommt denn wenigstens Frankreich besser weg?“

„Ein bisschen. Frankreich schickt Soldaten in ehemalige Kolonien in Afrika, aber es nutzt auch andere Mittel als militärische. Französische Konzerne wie Total und Orange dominieren wichtige Wirtschaftszweige. Mit 15 afrikanischen Staaten hat Frankreich Währungsverbünde, die Reserven liegen bei der französischen Zentralbank. Frankreich kann also jederzeit den Geldhahn zudrehen.

Der wichtigste Grund für die Aktivitäten in Afrika, denke ich, ist Frankreichs Energiepolitik. 56 Atommeiler müssen gefüttert werden, und ein großer Teil des Urans dafür kommt aus Niger und anderen Subsaharastaaten.“

„Also schlimmer kann es ja kaum noch kommen,“ seufzte Bärdel.

Jetzt löste Na ihre Schwester ab. „Es tut uns leid, Onkel Bärdel, aber es kann noch viel schlimmer kommen. Vergiss nicht: Bisher haben wir von den Guten gesprochen.“

„Also kommt jetzt der russische Krieg gegen die Ukraine dran?“

Die Eisbärenkinder schüttelten in perfekter Choreographie die Köpfe, und Na redete weiter. „Russland kommt dran, richtig, aber dieser Krieg muss noch ein bisschen warten.

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die früheren Kriege, die Russland geführt hat, kaum jemanden interessiert haben? Zum Beispiel der mit Georgien im Kaukasus vor 14 Jahren? Die Annexion der Krim vor acht Jahren? Der Krieg in Syrien seit 2015, um Assad zu unterstützen, der seine eigene Bevölkerung massakriert?

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die politische Opposition in Russland gnadenlos verfolgt wird, ganz offen? Die Menschen wurden und werden eingesperrt, erschlagen, erschossen, verbannt, vergiftet oder verhöhnt, wie es dem Diktator gerade passt.

Ist niemand wirklich beunruhigt darüber, dass russische Troll-Armeen Wahlkämpfe in Demokratien beeinflusst haben, dass sie die öffentliche Meinung majorisieren wollen? Dass Russland Nazis in Europa und Amerika unterstützt?

Ist es nicht so gravierend, dass die Gruppe Wagner nicht nur Kriegsverbrechen begeht, sondern auch das russische System ökonomisch stützt, indem sie zum Beispiel im Sudan Gold fördert?“

Na holte tief Luft.

„Nimm es Dir nicht zu Herzen, Onkel Bärdel. Anscheinend ist dass alles niemandem aufgefallen. Dehland hat gute Geschäfte mit Russland gemacht. Russland hat Dehland Öl und Gas geliefert, und VW hat in Russland Autos gebaut und verkauft.

Erst der Krieg vor der eigenen Tür, an der Grenze zur NATO, hat Entsetzen ausgelöst. Dass Putin so böse sein kann, damit hat man nicht gerechnet. Und schon spricht der dehländische Kanzler von einer Zeitenwende.“

„Ist es denn nicht auch eine? Eine Zeitenwende?“

„Ja und nein, Onkel Bärdel. Die Zeiten, in denen skrupellose Machthaber in imperialistischer Manier sich genommen haben, was sie wollten, sind leider nie zu Ende gegangen. Das sollten unsere Beispiele gezeigt haben.“

Nanuk nickten synchron und sagten im Chor:

„Es ist Zeit für viele Fragen, die lange Zeit nicht ernsthaft gestellt wurden.“

Na: „Ist die Globalisierung am Ende?“

Nuk: „Sind die Vereinten Nationen gescheitert? Kann es einen Neustart geben?“

Na: „Wie kann eine neue europäische Politik aussehen?“

„Wir finden, dass der dehländische Kanzler die Zeitenwende völlig falsch interpretiert. Die Welt braucht nicht mehr Rüstung und mehr Waffen. Man muss nur an eine Highschool in den USA gehen, um zu sehen, was mehr Waffen anrichten!“

Das waren wieder die Zwillinge gemeinsam.

Bärdel war sprachlos. Nanuk wussten so viel, wovon er keine Ahnung hatte – und eigentlich auch nicht haben wollte. Wie sollte er seinen bärischen Seelenfrieden bewahren, wenn er sich dauernd um den Zustand der Welt sorgen musste?

Es schien, als könnten die jungen Eisbärinnen seine Gedanken lesen.

„Onkel Bärdel, das alles muss Dich auch interessieren! Es geht um unsere Zukunft! Guck mal, wir haben auch schon ein Plakat gemalt!“

Na hielt ein großes Blatt Zeichenkarton hoch, auf dem stand: POLAR BEARS FOR FUTURE.

Plötzlich stapfte Kulle heran, warf einen Blick auf das Poster und nickte anerkennend. Zu Bärdel sagte er: „Du musst umgehend eine Versammlung einberufen. Wir müssen reden.“

„Du machst Dir also auch Sorgen wegen des Ukrainekrieges?“

Kulle sah ihn an, als sei Bärdel nicht sein bester Freund, sondern ein Alien aus einer fremden Galaxie.

„Quatsch!“ fauchte er. „Heiße ich etwa Olaf Scholz oder Annalena Baerbock? Bin ich etwa ein ignoranter Mensch? Kann ich die Zeichen an der Wand nicht lesen? Es war doch klar, dass Putin über kurz oder lang zum Mittel des Krieges greifen würde.“

Na und Nuk schauten einander an und lächelten verschwörerisch. Sie hatten es doch gewusst! Sie waren genauso schlau wie Onkel Kulle.

„Worüber müssen wir dann reden, wenn nicht über den Krieg?“ fragte Bärdel verunsichert.

„Das können Dir Na und Nuk sicher sagen. Sie haben ja schon ein entsprechendes Plakat gemalt,“ bemerkte Kulle.

Es war den Zwillingen gar nicht recht, dass sie durch diese Äußerung in den Mittelpunkt gestellt wurden. Sie waren auf eine Antwort nicht vorbereitet. Die vorsichtige Nuk hielt lieber den Mund, während ihre Schwester ein paar Sätze murmelte, in denen wiederholt das Wort ‚Zukunft‘ vorkam.

Kulle erbarmte sich. „Natürlich geht es um Zukunft. Und was ist wichtig für unser aller Zukunft und am allerwichtigsten für Eisbären? Na? Der Klimawandel selbstverständlich. Und worum kümmern sich die Menschen gegenwärtig gar nicht, weil sie mit einem lokalen Krieg beschäftigt sind? Richtig: um den Klimawandel. Und worum werden sie sich wieder nicht kümmern, wenn sie mit dem nächsten angeblich völlig überraschenden Krieg konfrontiert werden?“

„Natürlich um den Klimawandel, Onkel Kulle.“ Na und Nuk waren heilfroh, dass Kulle ihnen die richtige Antwort in den Mund gelegt hatte.

Kulle nickte. „Bleibt nur noch zu klären, aus welcher Ecke dieser Krieg kommen könnte.“ Er sah die Zwillinge erwartungsvoll an, aber die wichen seinem Blick aus.

Bärdel verspürte Mitleid mit den Beiden. Er wollte helfen, aber wie? Am besten mit einer Antwort, die Kulle von ihnen ablenken würde. Mit einer falschen Antwort natürlich, aber das spielte keine Rolle. Er erinnerte sich an wiederholte Klagen von Manfred über Spy-software – was immer das auch sein mochte. Bärdel holte tief Luft.

„Aus China,“ sagte er gepresst.

Kulles Augenbrauen wanderten voller Anerkennung nach oben. „Donnerwetter, das hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Natürlich hast Du recht. Die chinesische Regierung in Gestalt der Führungsclique der sogenannten Kommunistischen Partei  hat konsequent und erfolgreich einen digital-totalitären Überwachungsstaat aufgebaut. Damit wurde die Demokratiebewegung in Hongkong zerschlagen, damit wurden die Menschen in der Volksrepublik zu ohnmächtigen Lockdown-Objekten. Die Internierungskampagne gegen die Uiguren in Xinjiang ist da vielleicht der Probelauf, das Tüpfelchen auf dem ‚i’.

Mit diesem Land unter totaler Kontrolle der Partei enthält der Westen wesentlich mehr und wesentlich wichtigere Wirtschaftsbeziehungen als mit Russland. Bei China geht es nicht um fossile Energien, die sowieso bald ersetzt werden sollen. Es geht zum Beispiel um Graphit, Kobalt, Platin, Iridium, Lithium, Titan und Tantal. Die braucht der Westen für die Energiewende, und die kauft er bisher hauptsächlich in China ein. Und deshalb brauchen wir möglichst schnell eine Versammlung.“

„Aha,“ sagte Bärdel ratlos. Er verstand die Zusammenhänge nicht.

„Wir brauchen eine Versammlung, um zu diskutieren, wie sich der Westen rechtzeitig aus der Abhängigkeit von China befreien kann. Wie wir die Menschen im Westen davon überzeugen können, dass blindes Kooperieren mit totalitären Staaten nicht nur gegen demokratische Prinzipien, sondern auch gegen rationale Interessen verstößt. Damit sie vorbereitet sind, wenn China Taiwan überfällt.“

„Aber wie sollen wir das schaffen? Und warum eigentlich?“

„Wie – das weiß ich auch noch nicht. Deshalb ja die Versammlung. Und warum? Das ist doch klar.“ Kulle zeigte auf Nanuk und ihr Plakat.

„Die Eisbären brauchen eine Zukunft.“ 

Juni 2022

Grizzys zweites Interview – 25 Jahre nach dem ersten

Das erste Interview findest ihr hier!

Zeitschrift:

Guten Tag, Grizzy. Es hat uns viel Mühe gekostet, Sie aufzuspüren. In den letzten Jahren konnten wir Sie auf keiner internationalen Konferenz ausfindig machen. Ihr Twitter-Account ist ebenso gelöscht wie Ihr Facebook-Konto. Sie sind abgetaucht, und wir fragen uns, warum. Umso mehr hat es uns überrascht, dass Sie sich zu diesem zweiten Interview mit unserer Zeitschrift bereit erklärt haben. Hoffentlich wird das unsere Frage beantworten.

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Zweierlei Maß

Nuk und Na

„Tante Atti, Onkel Kulle! Wir verstehen da was nicht!“

Athabasca und Kulle waren stolz darauf, die Eisbärenzwillinge erzogen und gebildet zu haben. Die Kinder waren groß geworden und hatten gelernt, Wissenslücken auch ohne die Hilfe ihrer Lehrer zu füllen. Aber die Alten genossen es, wenn Na und Nuk zu ihnen zurückkamen.

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Allegorie

„Onkel Manfred, Onkel Manfred!“

Na und Nuk preschten in die Bärenlebener Technikzentrale, natürlich ohne vorher angeklopft zu haben.

Nuk und Na

„Onkel Manfred, Du musst uns helfen. Du kannst doch alles!“

Manfred war zu geschmeichelt, um zu widersprechen. Deshalb fragte er nur: „Was kann ich für Euch tun, Ihr Süßen?“

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Kreuzfahrer

Bemerkungen zu einem nicht nur historischen Phänomen

PD Dr. Kulle

Heilige Kriege

Gab es in der Geschichte der Hominiden Kriege, die nicht als ‚heilig‘ bezeichnet worden sind? Wir wissen es nicht. Da Gehorsam Homo nicht sui generis eingeboren ist, empfahl es sich vermutlich von jeher, seine erwünschte Subordination unter Befehle auch sinnloser Natur mit dem Auftrag einer höheren Macht zu rechtfertigen.

In frühen Zivilisationen mit städtischen Zentren war diese ideologische Überhöhung gewiss die Norm, waren doch politische und religiöse Macht eng miteinander verwoben oder gar identisch. Man denke nur an die Gesetzgebung Hammurabis1

Explizit führte man Heilige Kriege im antiken Griechenland zum Schutz des Apollonheiligtums in Delphi gegen räuberische Nachbarn. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass neben dem Heiligtum Schatzhäuser errichtet worden waren, in denen zahlreiche kostbare Weihgeschenke aufbewahrt wurden. Schon hier zeigt sich: Kein Heiliger Krieg ohne ökonomisches Interesse.

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Neubürger!

„Anna und Otto kommen wohl doch nicht zu uns,“ sagt Bärdel enttäuscht zu Kulle. Auf ihrem Morgenspaziergang haben sie bei den üppigsten Brombeerbüschen am Rand von Bärenleben halt gemacht und sich vor dem Frühstück einen saftigen Imbiss gegönnt. „Es ist jetzt schon ein paar Monate her, dass wir sie eingeladen haben.“

„Abwarten!“ Kulle pflückt sich geruhsam weitere schwarzblaue Kugelhaufen und schiebt sie sich in den Mund. „In diesen Corona-Zeiten ist alles nicht so einfach. Als Plüschbär kann man natürlich per Anhalter reisen, wenn man geschickt genug ist, die richtigen Kinder zu finden, die einen in die richtige Richtung mitnehmen und dabei pfleglich behandeln. Das ist nicht ohne Risiko. Aber wir wissen nicht, ob Anna und Otto tatsächlich Plüschtiere sind. Sind sie Bären aus Fleisch und Blut, dann müssen sie sich vor den Menschen verstecken. Vielleicht haben sie sich gar infiziert?“

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Neues von der Sekretärin

Meine Sekretärin hat schon wieder zugeschlagen: Ihr neuestes Buch heißt: Pest, Jérôme und Corona und ist bei Amazon erschienen:

Ich weiß auch nicht, woher sie die Zeit dafür nimmt. Ich werde sie wohl etwas stärker beschäftigen müssen.

Neubürger?

Anna hat lange mit Otto diskutiert und Otto lange mit Anna. Ob sie versuchen sollen, in dem Dorf zu leben, in dem Bären leben. Versteckt in Dehland. In Bärenleben.

Aber eben da liegt das Problem: Wie sollen sie einen Ort finden, den sie nicht finden sollen?

Es gibt eine Spur, die die Bärenlebener gelegt haben. Sie verbergen zwar ihre Existenz, aber sie verstecken nicht ihre Gedanken. Sie veröffentlichen Texte. Und dabei sind sie am Dialog interessiert, und sie haben eine Email-Adresse angegeben: Baer add Baerdel Punkt de. Sie wollen Rückmeldungen.

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Schnick- Schnack- Schnuck

Bärdel und Kulle

Der Morgenspaziergang von Bärdel und Kulle hatte eine lange Tradition. Manchmal wurden sie von anderen Bärenlebenern begleitet. Manchmal kam auch Athabaska mit ihnen mit, aber dann herrschten besondere Bedingungen. Das gemächliche Daherschreiten der beiden Männer fand Atti viel zu langweilig, andererseits mochte sie deren Gesellschaft gern. Deshalb hatte sie ein Spiel eingeführt.

Athabaska

Jeder von ihnen legte sich ein Thema zurecht, ein nicht unstrittiges Thema, über das man argumentieren konnte. Dann spielten sie ‚Schere, Stein, Papier‘ und legten so Gewinner und Verlierer des Tages fest. Das Thema des Siegers wurde als das wichtigste definiert, das alle drei Spaziergänger als solches betrachten und verteidigen mussten. Danach kam der zweite Gegenstand an die Reihe, der als solcher zu bewerten war, und der Verlierer schließlich präsentierte seinen Komplex als den unwichtigsten.

Athabaska hatte das Scherenzeichen gemacht und damit das ‚Papier‘ von Bärdel und Kulle auf die Plätze verwiesen.

Atti

Kulle konnte noch nie gut verlieren und fragte dementsprechend missgelaunt: „Also was ist dein Thema?“

„Gendern,“ antwortete Atti und grinste breit. Sie wusste genau, dass die Männer sich über dieses Thema lustig zu machen pflegten und ihm keine große Bedeutung beimaßen.

„Oh Gott!“ Bärdel konnte sich nicht beherrschen.

„Mitten ins Herz der Diskussion! Bärdel, treffsicher wie immer! Die Vorstellung Gottes als eines männlichen Wesens trägt seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden zur Diskriminierung der Frau bei. Mutter unser, die du bist im Himmel, und diese Mutter hat keinen Sohn mit einer Jungfrau gezeugt, sondern eine Tochter mit einem unschuldigen Mann … das setzt völlig neue Akzente. Wir sollten das Gottesbild der monotheistischen Religionen überdenken.“ Atti stürzte sich sofort mit Feuereifer auf ihr Thema.

„Wenn wir jenes höhere Wesen, das manche Menschen verehren, einer Geschlechtsumwandlung unterziehen, müssen wir wohl auch etliche als heilig angesehene Schriften umschreiben. Oder ist es wahrscheinlich, dass eine Göttin von den männlichen Mitgliedern ihres auserwählten Volkes verlangt, sich die Vorhaut abschneiden zu lassen?“ Kulle hatte Einwände.

„Warum nicht?“ entgegnete Atti. „Ohne das Teil lässt sich der Schwanz viel besser sauberhalten.“

„Unter dem Aspekt der Körperhygiene lässt sich die Circumspektion zweifellos rechtfertigen“, sagte Bärdel. „Unter dem Aspekt der Gendergerechtigkeit ist das Konzept einer Frauengottheit aber als viel zu undifferenziert abzulehnen. Wo bleibt ‚divers‘? Ist ‚divers‘ nicht tatsächlich die Kategorie, in der wir derdiedasetwas Göttlichendes denken sollten?“

„Bärdel hat etwas ganz Entscheidendes in die Diskussion eingebracht.“ Kulle stimmte zu, um gleich darauf neue Schwierigkeiten zu benennen: „ Aber auch damit werden wir der Vielfalt der Emanationen lebender bewußter Wesen noch nicht gerecht. Wie können wir die zahllosen Hautschattierungen, die zahlreichen kulturellen Hintergründe und sexuellen Orientierungen erfassen und im Denken und in der Sprache widerspiegeln? Und wie lässt sich das in der Vorstellung von einem göttlichen Seienden erfassen?“

Atti schlug eine Lösung vor: „Wir sind uns doch einig, dass wir die auf dieser Erde lebenden bewussten Wesen nicht über einen Kamm scheren dürfen, noch dürfen einzelne Gruppen bevorzugt oder benachteiligt werden. Also sind generalisierende Gottesvorstellungen abzulehnen. Jederjedejedes hat ein Recht auf sein-ihr persönliches Gottseiendes.“

„Das“, sagte Kulle, und es war die erste Äußerung seit Beginn der Diskussion, die ihm aus dem Herzen kam, „das ist ein hervorragender Vorschlag. Wir schaffen die  großen Kirchen mit ihrer Geldgier und ihrem Bevormundungsdrang ab. Ein Problem weniger. Und was das Denken und die Sprache angeht: Die Denk- und Sprachgemeinschaft wird es schon richten. Wie auch immer!“

„Danke für das schöne Schlusswort, Kulle! Ich habe euch genug mit meinem Thema gequält. Lasst uns jetzt den zweiten Sieger ermitteln!“

Kulles ‚Stein‘ siegte über Bärdels ‚Schere‘.

„Wir sprechen jetzt über Corona!“ verkündete der Gewinner.

„Ach ja, Corona,“ seufzte Bärdel. „Zweifellos ein wichtiges Thema, wenn auch kein prioritäres. Ein neues Virus generiert eine neue Pandemie, das ist so neu nicht. Die Aufregung darüber ist entschieden übertrieben. Man vergleiche nur die Mortalität aufgrund von Ebola und von Corona. Ein sanftes Säuseln ist die neue Krankheit, mehr nicht.“

„Also jetzt untertreibst du aber,“ empörte sich Athabaska. „Immerhin ächzt die Weltwirtschaft seit einem Jahr wegen wiederholter Lockdowns und unterbrochener Lieferketten. Kulturelle Ereignisse und die Gastronomie sind de facto abgeschafft. Schule und Universitäten sind ein Trümmerfeld. Die Liste ist verlängerbar.“

„Ich weiß wirklich nicht, was du willst. Die Menschen besinnen sich wieder auf das Wesentliche wie die Familie. Home-Schooling und Home-Office sind wirksame Mittel gegen die von Staat und Wirtschaft verordnete Beziehungslosigkeit in zu großen Klassen und Großraumbüros. Das ist doch prima!“ wehrte sich Bärdel.

Auch Kulle versuchte, die Dinge zurechtzurücken: „Ich sage nur China, China, China! Von wegen ächzende Weltwirtschaft. Xi Jinping mit seiner festen Hand hat gezeigt, wie man mit so einem neuen Winzling umgehen sollte. Das BIP der Volksrepublik steigt schon wieder kräftig, nicht zuletzt wegen der Zwangsarbeit, zu der man die widerspenstigen Uiguren anleitet.“

„Auf jeden Fall ist Corona geeignet, wichtige Genderthemen zuzukleistern, zumindest in Dehland. Andernorts wird thematisiert, dass POCs, Indigene und Arme häufiger Opfer der Krankheit werden als – meist weiße – Wohlhabende. Hier schweigt man das tot.“ Diese Feststellung war Athabaska wichtig.

„Irgendwie lustig ist die Sache aber auch. Ohne Corona hätten wir nie efahren, welche Spiele Bodo Ramelow auf dem Handy daddelt und wie viele ‚Ä‘ er aneinanderreihen kann. Wir wüssten nicht, dass Michael Kretschmer eigenhändig vor seinem Haus Schnee schippt. Und dass Armin Laschet sich als Architekt gibt, der Lockdown-Brücken konstruiert, ohne das Ufer zu sehen, zu dem sie führen sollen. Einblicke über Einblicke!“ kicherte Kulle.

„Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Pandemie besiegbar sein, früher oder später. Die menschliche Weltbevölkerung wird trotz Corona weiter wachsen. Selbst die Pest und die spanische Grippe haben es ja nicht geschafft, sie langfristig zu dezimieren. Und auch die angeblich größte Bedrohung der Gegenwart, die Klimakatastrophe, wird vorübergehen.“ Bärdel, der Verlierer, zeigte sich bereit, sein Thema in die Kategorie „Peanuts“ einordnen zu lassen.

„Klimakatastrophen hat es schon immer gegeben. Diese Erkenntnis ist auch bei der AfD angekommen, und dort ist man bekanntlich recht langsam im Kopf.“ Kulle artikulierte seine Bosheit mit Genuss.

Bärdel arbeitete weiter an der Zerstörung seines Themas. „Es ist vollkommen unsinnnig, sich vor dem Anstieg des Meeresspiegels zu fürchten. Das Wasser steigt seit dem Ende der Eiszeit. Clevere Tourismusmanager machen daraus Attraktionen: Das Mittelmeer vor Alexandria zum Beispiel ist ein Taucherparadies für Hobbyarchäologen. Man kann dort Unmengen altägyptischer Artefakte finden.“

„Das klingt verlockend,“meinte Atti. „Darauf hätte ich auch Lust. Da wir gerade beim Wasser sind: Es wird oft behauptet, wegen der Klimaveränderung werde das Trinkwasser knapp. Aber wenn der Meeresspiegel steigt, ist es doch sehr einfach, Meerwasser-Entsalzungsanlagen dort zu bauen, wo heute noch Binnenland ist. Und schon gibt es keinen Trinkwassermangel mehr!“

„Das ist eine gute Idee,“ lobte Kulle. „Das Ganze wird auch nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Will sagen: Der Temperaturanstieg wird niedriger ausfallen, als die Pessimisten prophezeihen. Schließlich bauen die Menschen jetzt massenweise Elektroautos. Und die fahren nicht mit fossilen Energien, wie man weiß, sondern mit Strom.“

„Und der Strom wird überall zu hundert Prozent aus Wasserkraft gewonnen, jedenfalls in Norwegen. Dort hat der Staat seine ökologisch akzeptable Wirtschaft übrigens mit den Einnahmen aus seinen reichhaltigen Öl- und Gasvorkommen finanziert. Das Zeug muss schließlich zu irgend etwas gut sein.“

„Ach, Männer,“ seufzte Atti, als sie wieder kurz vor Bärenleben waren. „Wäre es nicht schön, wenn sich jetzt vor uns Königspalmen im Wind wiegten anstatt der hässlichen Kiefern da vorne?“

„Du vergisst, dass unser Bärenpelz nicht sonderlich gut für subtropische Temperaturen taugt. Aber wer sich vorzugsweise mit dem Gendern beschäftigt, hat vielleicht keine Zeit für biologische Kenntnisse…“

Na, Nuk und Kulle

Schon bei ‚vorzugsweise‘ hatte Kulle zu rennen begonnen und gut daran getan. Athabasca war deutlich schneller als er und holte ihn ein, als er sich gerade in den Dorfteich rettete. Sie sprang ihm nach. Die drei Eisbären waren begeistert und beteiligten sich mit Wonne an der Balgerei.

April 2021

Identität

Die Bärenlebener hatten lange beraten, ob sie sich gegen das Corona-Virus impfen lassen wollten. Ihre Kontakte mit Menschen waren auf das geringstmögliche Maß reduziert, lagen aber nicht bei Null. Da gab es die regelmäßigen Nahrungsmittellieferungen durch den Rungis-Express und die Einkäufe für die Dorfbibliothek und ihre anspruchsvolle Technik. Nicht alles davon ließ sich online erledigen, manchmal zog Manfred es vor, im Apple-Store vorbeizuschauen. Auch war nicht klar, ob man Umgang mit Menschen brauchte, um sich Covid einzufangen. Wenn Gorillas und Katzen daran erkranken konnten, warum nicht auch andere Tiere?

Heute Abend in der Höhle wollten sie darüber abstimmen, und alle waren der Meinung, es handele sich lediglich um eine Formalität.

Alle, bis auf einen.

Bärdel leitete wie üblich die Versammlung, denn einer musste sie ja leiten, obwohl es in Bärenleben keine Hierarchie gab. 

„Wird eine Aussprache gewünscht?“

Niemand wünschte eine Aussprache.

„Dann können wir also abstimmen. Wer ist dafür, dass sich alle Bärenlebener so bald wie möglich gegen Covid 19 impfen lassen?“

Alle wollten die Sache schnell hinter sich bringen und hoben flugs eine Extremität, damit man danach zum gemütlichen Teil des Abends übergehen konnte. 

Kulle aber unterbrach den Vorgang: „Halt! So geht das nicht!“

„Das haben wir aber immer so gemacht,“ wandte Ramses irritiert ein.

„Das ist kein zureichender Grund!“ wies Kulle ihn scharf zurecht. 

„Stimmt,“ gab Ramses klelnlaut zu. „Aber was ist denn falsch am bisherigen Verfahren?“

Kulle stand auf und stellte sich selbstsicher auf seine kurzen Beine. Er konnte eines aufmerksamen Publikums gewiss sein.

„Ich sehe mich in der Bärenlebener Vollversammlung um. Ich sehe Braunbären und Eisbären, alte und junge, Heterosexuelle, LGTBQs. Ich sehe ein Schwein, einen Frosch und eine Eule.

Ich bin ein männlicher heterosexueller Braunbär und kann mich in männliche heterosexuelle Braunbären einfühlen. Meine Empathie versagt schon gegenüber Eisbären. Vielleicht empfindet Oyci, die 30 Kilometer weit riechen kann, den temporären Verlust ihres Geruchssinns als Folge einer Covid-Infektion durchaus als entlastend? Vielleicht empfindet Piggy, wenn sie an Covid erkrankt, ein sehr angenehmes Gefühl in ihrem Ringelschwänzchen und will deshalb sicher nicht geimpft werden? Vielleicht kann Minerva besser fliegen, wenn…“

„Mich lässt du mal gefälligst aus dem Spiel!“ Die Eule hatte ein ausgeglichenes Gemüt, aber jetzt war sie sichtlich verärgert. „Ich weiß nicht, Kulle, womit du denkst. Deinen Aussagen nach mit deiner biologischen Veranlagung. Ich dagegen empfehle den Kopf. Nicht nur deshalb, weil der Sage nach meine hellenische Namensschwester dem Kopf ihres Vaters Zeus entsprungen ist, sondern weil der Schädel der Sitz des Verstandes ist und, wenn man sich seines Verstandes zu bedienen versteht, der Sitz der Vernunft.

Die Bärenlebener haben bisher immer vernünftig abgestimmt, das solltest du besser wissen als ich, denn du lebst wesentlich länger hier. Nach dem Abwägen aller Vor- und Nachteile für die Gemeinschaft und jeden Einzelnen haben sich die Dorfmitglieder für oder gegen eine Maßnahme ausgesprochen, und zwar einstimmig, nach dem Rousseauschen Prinzip des Allgemeinwillens. Nach Rousseau darf der gesellschaftliche Wille kein anderer sein als der des natürlich freien Individuums; es muss eine Identität von Einzelwillen und Gemeinwillen bestehen. Mich wundert, dass du das vergessen hast.

Als Vogel bin ich weiter in der Welt herumgekommen als du auf deinen unbeholfenen Beinen. Ich habe Rousseaus Grabmal im Pantheon in Paris besucht. Weißt du, was da in Stein gemeißelt aus der Tür kommt? Eine Hand mit einer Fackel, und beides symbolisiert Rousseau, der der Welt die Fackel der Vernunft bringt. Dass die Menschen damit nicht umzugehen verstanden haben, kann man ihm nicht vorwerfen. Aber ich werfe dir vor, dass du hier einen biologistisch- identitären Rassismus propagierst, der einfach nur widerlich ist.“

Kulle hatte Mühe, die Contenance zu wahren, ließ sich das aber möglichst wenig anmerken. „Ist noch jemand Minervas Meinung?“ fragte er streng.

Kulles Stellung im Dorf war unangefochten. Alle achteten ihn als belesenen Wissenschaftler, der zwar manchmal verschroben war, dessen Aussagen aber auf soliden Kenntnissen beruhten. Es gehörte Mut dazu, ihm vor aller Augen und Ohren zu widersprechen.

Lange herrschte Schweigen. Niemand bewegte sich. Kulle bekam ein flaues Gefühl im Magen. Hatte er den Bogen überspannt?

Schließlich bahnten sich zwei weiße Pelzknäuel den Weg durch die Versammlung. Na zog ihre widerstrebende Zwillingsschwester Nuk hinter sich her und richtete sich vor Kulle auf. Sie war nur halb so groß wie er.

„Wir denken, Onkel Kulle,“ sagte sie laut und mit fester Stimme, „dass Tante Minerva  recht hat. Wir glauben, du willst uns auf den Arm nehmen. Wir haben nämlich gelesen, dass es unter vielen Menschen, die sich selbst für kritisch und fortschrittlich und korrekt halten, jetzt Mode ist, so komisch zu sein, wie du es uns vorgemacht hast. Aber du meinst das bestimmt nicht ernst.“

Kulle war fast zu Tränen gerührt und nahm die Eisbärenkinder nicht auf den Arm, sondern in den Arm.

Die Versammlung erwachte aus ihrer Erstarrung und atmete erleichtert auf.

Bärdel leitete zum zweiten Mal eine Abstimmung ein, diesmal erfolgreich mit einstimmigem Ergebnis: Alle würden sich impfen lassen.

Gesprächsstoff für den Rest des Abends gab es genug. Manch Bärenlebener ging dabei selbstkritisch in sich: Wie leicht war es doch, sich an der Nase herumführen zu lassen!

März 2021

Kulles Corona-Ansprache

Kulle
PD Dr. Kulle

Sehr geehrte Damen, Herren und Diverse Politiker in Deutschland,

Ich bin als gelehrter Bär nicht von geringem Verstand, wohl aber von geringem Verständnis für menschliches Verhalten.

Die Demokratie, so sagt man, ist die Politik mehr oder minder direkt gewählter Vertreter für das Volk, und da der große Lümmel, wie Heinrich Heine ihn nennt, nur alle paar Jahre zu den Urnen gerufen wird, zwischendurch aber regiert werden muss, ist es dringend erforderlich, sich ihm gegenüber ins rechte Licht zu setzen, damit er

  • a) sich nicht gegen Gesetze empört und
  • b) von den Gesetzen so überzeugt ist, dass er die bisherigen Gesetzgeber bei der Wahl gleich wieder legitimiert.

Folglich gibt sich die Exekutive, die sich die Legislative untertan zu machen versucht, obwohl das nicht dem Sinn der Konstruktion der Gewaltenteilung entspricht, aber das nur am Rande, gibt sich also die Exekutive den Anschein, stets richtige Entscheidungen zu fällen, die auf objektiv richtigen Informationen beruhen. Trotz einer immer energischer in Entscheidungsprozesse eingreifenden Lobbyismusindustrie gelingt das unter „normalen“ Gegebenheiten halbwegs. Von Fiskal- und Föderalismuspolitik versteht der Normalmensch meist wenig, von internationalen Beziehungen ganz zu schweigen. Der Normalmensch äußert seine  Unmut in der Regel nur dann, wenn der Unterricht an den Schulen seiner Kinder nicht ordentlich erteilt wird oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Windräder installiert werden sollen – für Umweltschutz ist er aber schon.

Seit einem Jahr jedoch kann von „normalen“ Gegebenheiten keine Rede mehr sein.  „Die Welt ist aus den Fugen“ hat Kanzlerin Merkel schon 2016 gesagt, und da wusste sie noch gar nichts von Corona. Ein vorschnelles Zitat, gibt sich die Bundesregierung doch inzwischen den Anschein, alles unter Kontrolle zu haben.

Der Reihe nach.

Die Welt sieht sich seit mehr als zwölf Monaten mit dem Virus SARS-COV2 konfrontiert, von dem einiges klar ist:

  • Es wird von Mensch zu Mensch übertragen, hauptsächlich durch Aerosole.
  • Es gibt schwere und leichte Krankheitsverläufe, es kann tödlich sein. Besonders gefährdet sind alte Menschen.
  • Es befällt hauptsächlich die Lunge, aber auch andere Organe.
  • Es haben sich Mutationen entwickelt, die ansteckender sind als das ursprüngliche Virus.
  • In erstaunlich kurzer Zeit sind Impfstoffe gegen das Virus entwickelt worden.

Viel mehr ist aber nicht klar:

  • Woher stammt das Virus? Diese Frage ist allerdings eher akademischer Natur, weil sie bei der Pandemiebekämpfung nicht hilft.
  • Welche Maßnahmen sind geeignet, die Verbreitung des Virus einzudämmen? Hilft ein Lockdown? Und wenn ja, in welchen Bereichen?  
  • Welche Langzeitfolgen verursacht es?
  • Wie wirken die Impfstoffe langfristig? Gibt es Nebenwirkungen, die vielleicht noch nicht absehbar sind? In welchen Intervallen werden Nachimpfungen notwendig sein?
  • Gibt es bereits ein Medikament, das Heilung oder die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe verspricht? Wird daran gearbeitet?

Das sind die medizinischen Fragen, und diese Fragen sind vordringlich. Die Politik bleibt Antworten darauf schuldig, auch die Medizin schweigt bisher.

Stattdessen arbeitet man sich an Fragen ab, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand beantworten kann, und behauptet dennoch, die Antworten zu kennen:

„Ich verspreche, dass bis zum Ende des Sommers allen Menschen in Deutschland, die sich impfen lassen wollen, ein Impfangebot gemacht worden ist.“

Kanzlerin Angela Merkel

„Der Lockdown wird verlängert werden müssen.“

Karl Lauterbach

„Mitte Februar werden wir viel mehr Impfstoff haben.“

„Wir werden nach dem Winter zu einem normalen Leben zurückkehren.“

Alle

„Wir haben noch acht bis zehn harte Wochen vor uns.“

Minister Spahn

„Wir werden die Vulnerablen schützen.“

Alle

Sie mögen aus meinen Ausführungen herausgehört haben, dass ich Ihre Art, das Land zu regieren, prinzipiell nicht für das non plus ultra halte. In der gegenwärtigen Situation ist Ihr Verhalten letal. Letal für manchen Alten, den Corona erwischt hat und den Ihre Bürokratie und Ihr Gesundheitswesen nicht haben schützen können, letal aber auch für Sie. Sie alle, ob Sie nun im Bundeskanzleramt, in einer Landesregierung, in einem Landratsamt oder in einem ländlichen Bürgermeisterbüro sitzen.

HÖREN SIE AUF, SO ZU TUN, ALS HÄTTEN SIE EINE LÖSUNG!

Sie haben keine!

SAGEN SIE, DASS SIE NOCH KEINE HABEN!

Nur so machen Sie sich glaubwürdig.

Jetzt wollen Sie vermutlich wissen, warum ich Ihnen diese Ratschläge gebe, obwohl ich doch mit Ihnen und Ihrem Tun nicht einverstanden bin.

Wir Bären sind schon immer Opportunisten und vetraut mit dem kleineren Übel: Wenn es keine großen Lachse gibt, fressen wir eben kleinere. Wir Bären, die wir hier in Dehland leben, ziehen die Demokratie der großen völkischen Lüge vor. Haben Sie die neueste Umfrage in Bezug auf die französische „Sonntagsfrage“ zur Kenntnis genommen? Wenn am nächsten Sonntag Präsidentenwahl wäre, bekäme Marine LePen 48% der Stimmen und Macron 52%. Welch ein Graus!

So dumm, wie Sie glauben, ist der „große Lümmel“ gar nicht. Sagen Sie ihm die Wahrheit. Sagen Sie ihm, dass Sie (noch) keine Lösung haben. 

Januar 2021