Anno 1968

kulle2

Vorwort

Es rauscht anno 2007 im dehländischen Medienwald in der Vorschau auf ein wahrhaft wenig spektakuläres Jubiläum, nämlich ein vierzigjähriges. Wir sprechen vom Jahr 1968.

Nun, Anlässe zum Erinnern gäbe es genug. Zum Beispiel wurde die Mehrwertsteuer im Januar in Dehland eingeführt, der Vietcong gab dem Vietnamkrieg durch die TET-Offensive eine entscheidende Wendung, in den USA wurden im April Martin Luther King und im Juni Robert F. Kennedy ermordet, und im August endete der sogenannte “Prager Frühling“ mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei.
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Eisbärenleben

Athabaska

Athabasca lag gemütlich inmitten einer blumenübersäten Frühsommerwiese in Bärenleben und ließ sich die Sonne auf den braunen Pelz brennen. Die überwältigenden Düfte um sie herum brachten sie zum Niesen.
„Hatschepüh!“ machte sie lautstark. Und noch einmal: „Hatschepüahhh!“
“Du hörst mir gar nicht zu!“ beklagte sich Kulle, der neben ihr hockte. ‚Stimmt‘, dachte Atti, aber laut sagte sie: „Welch ein Unsinn! Ich lausche jedem deiner Worte mit Hingabe!“
Kulle, blind und taub wie jeder, der verliebt ist, glaubte ihr natürlich jedes Wort und fuhr in seiner Suada fort.

Kulle
„Der Treibhauseffekt verstärkt sich, je weiter die Kohlendioxidkonzentration ansteigt. Es wird also immer wärmer.“
„Na und?“ fragte Athabasca und rollte sich genüsslich im Gras hin und her. Sie liebte es warm.
„Na und, na und! In Dehland werden vielleicht Palmen wachsen, die Sahara wird sich bis nach Spanien ausbreiten, und Grönland wird wieder  grün!“
Atti verstand Kulles Aufregung nicht. Sie hatte nichts gegen ein subtropisches oder zumindest warmgemäßigtes Dehland; sie liebte die Wüste, seit sie ein paar Monate im kargen Südwesten der USA zugebracht hatte, und dass Grönland wieder grün werden könnte, erschreckte sie überhaupt nicht: Der Name der Insel legte schließlich nahe, dass ihr Normalzustand eisfrei war.
„Na und?“ fragte sie zum zweiten Mal.
„Nuk!“
Atti sah Kulle an, Kulle sah Atti an. „Was war das?“ fragten beide gleichzeitig. Der merkwürdige Laut, den sie gehört hatten, war irgendwo aus dem hohen Gras gekommen, das sie umgab.
Atti gab sich schnell zufrieden. „Es klang wie eine schlecht geölte Tür, aber hier gibt es ja keine Türen, und schlecht geölte schon gar nicht. Wahrscheinlich eine Grille, die sich im Ton vergriffen hat. Also – was ist schlimm daran, wenn in Grönland Gras wächst?“
Kulle spähte weiter aufmerksam um sich. „Die Albedo der Erde verändert sich drastisch“. brummte er unkonzentriert. Er sah Athabasca noch immer nicht an. „Irgendwas ist da!“ knurrte er.
„Albedo? Habe ich noch nie gehört. Ist das wichtig?“ Kulle reagierte nicht. Ungeduldig fragte Atti: Na, und was….“
Nuk!“
Atti verstummte sofort. Kulle kratzte sich am Kopf. „Es gibt da ein Muster, da bin ich sicher. Das Geräusch, oder was immer es sein soll, wird durch ein Schlüsselwort aktiviert. Aber welches? Was hast du zuletzt gefragt?“ wollte er von Atti wissen.
„Ich habe die Sache mit der Albedo nicht verstanden, Na, und…“
„Nuk!“ machte es zum dritten Mal.
„Na und Nuk, das ist es. Na und Nuk. Naundnuk. Aber was bedeutet das?“
„Das heißt nicht Naundnuk, sondern Nanuk. Nanuk heißt Eisbär. Das ist Inuit. Und gemeint sind wir.“
Der Sprecher, der das sagte, hatte eine helle Stimme und sprach Deutsch mit einem fremden Akzent. Atti und Kulle brauchten nicht lange zu warten, bis er sich ihnen zeigte. Zwei kleine Eisbären tapsten aus dem hohen Gras auf sie zu.
„Knut!“ rief Atti entzückt. „Und gleich zweimal!“
Manchmal fragte Kulle sich, ob Frauen wirklich so blöd sein mussten, wie sie sich meistens gaben, aber er fragte sich das immer und auch jetzt nur ganz im Geheimen. „Nein, das ist nicht Knut!“ erklärte er. „Knut ist inzwischen so groß, dass sich noch nicht mal sein Wärter mehr allein in seinen Käfig traut. Diese beiden heißen Nanuk. Stimmt‘s?“ fragte er.
„Nicht ganz. Ich bin Na, und meine Schwester heißt Nuk. Nanuk heißen wir nur zusammen.“
„Danke für die Vorstellung, Das ist Athabasca, und ich bin Kulle. Wir wohnen hier in Bärenleben. Und woher kommt ihr?“
„Aus Kanada.“
„Ich auch!“ rief Atti begeistert. „Kennt ihr Sunwupta Falls? Kennt ihr einen großen Grizzly namens Otto?“
Die beiden Kleinen schüttelten die Köpfe.
Kulle hätte liebend gerne in Erfahrung gebracht, wer dieser vermaledeite Otto war, aber er hielt nichts von Multitasking, wie man neuerdings sagte, wenn man mehrere Dinge auf einmal machte, und keines davon richtig. Er bevorzugte es, eine Sache nach der anderen zu erledigen. Da kamen ihm die beiden Kleinen gerade recht, denn er musste Atti noch erklären, was Albedo bedeutete.
„Ihr habt ein wundervoll weißes Fell“, sagte er. „Darf Atti das mal anfassen?“
Die Eisbären hatten nichts dagegen, und Athabasca strich mit ihrer rechten Vorderpfote sanft über Haut, die nicht spürbar war, weil sie von daunenweichem weißem Haar bedeckt war.
„Fühlt sich gut an!“ brummte sie.
„Und jetzt leg deine linke Vorderpfote auf dein eigenes Fell!“ kommandierte Kulle. Atti hatte keine Ahnung, warum er das wollte, aber sie tat ihm den Gefallen.
„Oops!“, sagte sie. „Rechts ist es viel kühler als links.“ Sie tastete nach ihrer Stirn. „Habe ich vielleicht Fieber?“
„Du hast kein Fieber, aber dein Fell ist braun, und das Fell der Eisbären ist weiß. ‚Albedo‘ bedeutet Rückstrahlkraft. Die Sonnenstrahlen werden von dem weißen Fell unserer Überraschungsgäste fast vollständig reflektiert, das heißt, es bleibt kaum Wärme an ihnen hängen. Mir deinem braunen Fell ist das anders, es wird aufgeheizt. Und wenn Grönland grün wird und nicht mehr weiß ist, dann wird auch Grönland aufgeheizt, und das hat Auswirkungen auf die gesamte Erde, und….“
„Kulle?“
Ja?!“ Kulle hatte über seiner Erklärung, während deren er sich auf Attis heißes Fell konzentriert hatte, die beiden kleinen Eisbären fast vergessen.
„Dasselbe erzählt Mami uns auch immer!“
„“Mami?“
„Wer ist Mami?“ fragte Athabasca, während Kulle sprachlos blieb. Für Mütter hatte er nichts übrig.
„Mami ist auch hier. Mami hat uns hergebracht. Mamiiii!!!!“ Atti und Kulle hätten nie gedacht, dass Bären, auch wenn es Eisbären waren, so laut kreischen könnten.
Eisbärenfamilie

Eine Eisbärin tauchte aus den Büschen neben ihnen auf, eine Bärin, die so groß war, wie Atti und Kulle noch nie eine gesehen hatten. Sie war tropfnass.
„Hi there!“ grüßte sie. „Englisch versteht ihr doch, oder? Meine Kinder habe ich multilingual erzogen in Anbetracht des Klimawandels, aber, Entschuldigung, ich selbst kann als Fremdsprache nur Englisch. Ich habe gerade gebadet, um mich abzukühlen – es ist viel zu heiß bei euch. Aber euer See ist nett, und etwas zu essen hat er auch. Habt ihr Hunger?“ Sie spuckte eine große Forelle aus, die sie vorsichtig in ihren Fängen gehalten hatte.
„Ja! Na klar! Immer!“ riefen Na und Nuk durcheinander.
„Danke, nein!“ Atti und Kulle lehnten höflich ab, obwohl ihnen das Wasser im Maul zusammenlief.
Die Eisbärenmutter schleuderte den Fisch ihren Kindern vor die Füße, und die machten sich sofort an ihre Mahlzeit.
„Jetzt haben wir ein bisschen Ruhe vor den Beiden“, brummte sie zufrieden. „Ich heiße Oicy, und wir kommen aus Kanada. Ich bin froh, euch beide gefunden zu haben, denn wir sind schon lange unterwegs, aber in Europa scheint es kaum Bären zu geben. Oder versteckt ihr euch nur so gut?“
„Beides ist richtig“, antwortete Atti. „Es gibt kaum noch Bären, weil es zu viele Menschen gibt, und deshalb verstecken wir uns vor ihnen.“
„Also ist es hier auch gefährlich“, seufzte Oicy. Dann werde ich wohl weiterziehen und mein Glück in der Antarktis versuchen. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich durch die Tropen kommen soll, aber irgendwie…“
„Nein, gefährlich ist es nicht, jedenfalls nicht für uns“, unterbrach Kulle sie. Schaudernd dachte er daran, was für ein Massaker die drei Eisbärinnen unter der Pinguinpopulation rund um den Südpol anstellen würden. „Sag mal: Was hast du eigentlich vor?“
„Ich habe eben gerade den Klimawandel erwähnt. Wisst ihr, was das ist?“
Kulle wollte sich ob dieser Frage empören, aber Atti legte ihm beruhigend die Pfote auf den Arm. „Ich denke schon“, flötete sie und gönnte Kulle einen betörenden Augenaufschlag. „Die Kohlendioxidkonzentration steigt an, und es wird überall immer wärmer. Grönland wird wieder grün werden!“
„Ja, und auch Nordkanada, und der Nordpol wird eisfrei. Er ist im Sommer schon eisfrei!“ grollte Oicy. „Das heißt, dass wir Eisbären dort oben keine Lebensgrundlage mehr haben. Deshalb will ich die Kinder evakuieren. Sie sind noch jung genug, um sich an ein fremdes Habitat und eine andere Ernährung zu gewöhnen. Jedenfalls hoffe ich das. Darf ich meine Theorie gleich mal testen?“
Kulle war immer für die Entwicklung von Theorien und deren Erprobung. „Selbstverständlich!“ sagte er.
Oicy rief ihre Zwillinge, und da die beiden inzwischen aus der Forelle ein Grätenskelett gemacht hatten, kamen sie bereitwillig herbei. „Was isst man denn bei euch so?“ erkundigte sich ihre Mutter.
„Fisch mögen wir genau so gerne wie ihr auch, aber wir fressen auch Wurzeln und andere Pflanzenteile und Beeren und – na ja, und…“ erklärte Atti und verstumme unsicher, weil sie nicht wagte, die weniger appetitlichen Essgewohnheiten der dehländischen Bären zu verraten.
„Aas?“ fragte Oicy nach. „Das mögen wir auch, keine Sorge. Probleme haben wir dagegen mit pflanzlicher Nahrung. Könnt ihr mir mal so eine – wie heißt das – so eine Beere geben, bitte?“
Mit einem Sprung war Atti in einem nahe gelegenen Gebüsch verschwunden und schnell wieder zurück. Als sie ihre Pranke öffnete, lag darin unverletzt ein Häuflein reifer Himbeeren.
„Bitte!“ sagte sie höflich und bot Oicy davon an.
Zögernd langte die riesige Eisbärin zu, fasste mit überraschender Zartheit nach einer Beere und warf sie sich ins Maul. Sofort verwandelte sich ihr Gesicht in eine Grimasse des Ekels. „Pfui Inuit!“ brüllte sie. „So etwas esst ihr? Das werden meine Kinder bestimmt nicht mögen!“
Athabasca war der Meinung, dass Oicy nichts, aber auch gar nichts von Kindererziehung verstand: Wie konnte man seinen Abscheu gegen etwas zum Ausdruck bringen, wenn man erreichen wollte, dass Kinder diesen Abscheu eben nicht entwickelten! Aber sie behielt ihre Meinung höflich für sich. Anstatt etwas zu sagen, nahm sie selbst einige der Himbeeren, gab Kulle ebenfalls ein paar, und als sie sie mit der Zunge zerdrückte, zeigte ihr Gesicht den Ausdruck höchstmöglichen Entzückens. „Himbeeren!“ sagte sie schwärmerisch, „Himbeeren!“ Ich wollte, sie reiften das ganze Jahr lang! Wollt ihr auch mal probieren?“ fragte sie Na und Nuk. „Ich wette, ihr habt noch nie etwas so Köstliches gegessen! Ihr dürft übrigens Tante Atti zu mir sagen!“ Sie trat Kulle heftig gegen ein Bein, und er verstand, was sie von ihm wollte.
„Und ich bin Onkel Kulle“, ergänzte er. „Himbeeren sind wirklich etwas Wunderbares, esst nur!“
Na und Nuk sahen sich unsicher an, aber schnell ergriff Na die Initiative. „Ich bin die Erstgeborene“, erklärte sie selbstbewusst. „Ich probiere jetzt mal!“
„Pah, das sind nur anderthalb Minuten, die du mir voraus hast!“ protestierte Nuk. „Ich esse auch!“
Athabascas Pfote war auf einmal leer. Ängstlich beobachtete sie zusammen mit Kulle die Mienen der beiden Kleinen, aber sie konnte keine Veränderung des Gesichtsausdrucks erkennen, während die beiden kauten und schluckten.
„Hast du davon noch mehr, Tante Atti?“ fragten sie im Chor, als sie fertig waren. Athabasca wusste nicht, ob sie zuerst gelächelt oder zuerst zu einem weiteren Sprung in die Büsche angesetzt hatte. Die beiden Kleinen verputzen die zweite Beerenlieferung im Nu und sagen danach wie aus einer Kehle: „Mehr!“
„‘Mehr, bitte!‘ heißt das“, sagte Atti und schmunzelte. „Mehr ist da drüben in den Büschen. Bedient euch, aber seid vorsichtig: Beerensträucher haben Dornen!“
Sofort waren Na und Nuk verschwunden.
„Das scheint ja zu klappen!“ seufzte Oicy. „Ich muss gestehen, dass ich das gehofft habe. Ihr Vater war nämlich ein Grizzly, kein Eisbär, müsst ihr wissen.“ Tapfer fuhr sie fort: „Ich werde mich davonschleichen, solange sie beschäftigt sind. Ihr werdet ihnen bestimmt erklären können, warum ich nicht hiergeblieben bin. Und…“ Die Stimme versagte ihr. „Bitte, bitte, macht sie glücklich!“
„Na klar machen wir sie glücklich!“ brummte Kulle. „In Bärenleben ist jeder glücklich, sogar ich, nach Maßgabe der immer noch ausstehenden Revolution, natürlich. Gehst du weg“, fragte er plötzlich interessiert, „weil demnächst in Kanada eine Revolution zu erwarten ist?“
„Natürlich nicht. Es sei denn, du bezeichnest es als Revolution, dass alle Eisbären demnächst verhungern werden…“
„Psst“ machte Atti. „Lass das die Kinder nicht hören! Warum willst du überhaupt wieder weg, wenn du deine Kinder hierlassen willst?“
„Das ist doch klar, das liegt doch auf der Hand!“ sagte Kulle selbstbewusst und warf sich in die Brust. „Sie verträgt unsere Nahrung nicht. Sie würde hier sterben!“
„Ach ja?“ fragte Atti. „Ach ja?“ wiederholte sie zornig. „So, sie verträgt unsere Nahrung nicht? Sie würde hier sterben? Und in Kanada verträgt sie das gewechselte Klima nicht, das mit dem Kohlenirgendwas, und da würde sie auch sterben! Warum soll sie also nicht bei uns bleiben, zusammen mit ihren Kindern, und zu leben versuchen? Es wird uns schon was einfallen!“
Kulle gab ungern zu, dass er Unrecht hatte, noch nicht einmal vor sich selbst und schon gar nicht vor anderen. Aber allmählich dämmerte ihm, dass Athabasca Recht hatte. „Es gab da früher ein Verfahren“, sagte er langsam, „mit dem man im Winter Eis erntete. Man lagerte es an einem kühlen Ort, so dass der Vorrat für das ganze Jahr reichte. Wir könnten das System so auszubauen versuchen, dass es für Oicy und Nanuk als Wohnhöhle eingerichtet werden kann. Und wenn die Winter auch in den höheren Lagen von Dehland so warm werden, dass sich nicht mehr genug Eis bildet, dann fällt Manfred bestimmt eine technische Lösung ein. Die Verpflegung sollte kein Problem sein. Nanuk finden Gefallen an pflanzlicher Nahrung, wie es aussieht, und für Carnivoren findet sich in den dehländischen Wäldern und Gewässern immer genug Fleisch. Atti, du hast Recht! Sag mal“, wandte er sich an Oicy, „möchtest du denn bleiben?“
Zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben sah Kulle eine Eisbärin weinen.

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein

„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
„Du musst!“
„Kein Mensch muss müssen – und ein Frosch schon gar nicht!“
„Aber vielleicht eine Fröschin?“
„Wieso das?“
„Guck Dich doch um – Deine Art stirbt aus!“
„Weiß ich längst.“
„Und?“
„Was ‚und’?“
„Und was fühlst Du?“
„Was geht Dich das an?“
„Nichts. Aber…“
„Aber was?“
„Aber Du könntest das ändern.“
„Ach ja?“
„Ja. Du kannst alles.“
„Ich mische mich nicht mehr ein.“
„Sicher?“
„Ja.“
„Schade.“
— „Warum?“
„Du wirst dich einsam fühlen.“
„Ich fühle mich nur einsam, wenn Murkel nicht da ist.“
— „Ich wünsche mir, dass Du mir hilfst.“
„Viele Märchen fangen an mit der Floskel: ‚Zu der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat…’ Die Zeiten sind vorbei.“
„Warum willst Du mir nicht helfen?“
„Warum sollte ich?“
„Weil Du mich gemacht hast. Und die Märchen. Und weil, auch wenn Du behauptest, dass es Dich nicht interessiert, ein Drittel von den 6158 bekannten Amphibienarten vom Aussterben bedroht ist. Die erkrankten Frösche und Kröten leiden an einem Hautpilz und ersticken qualvoll, denn sie atmen durch die Haut. Du könntest das ändern.“
„Ich habe die Frösche und Kröten nicht gemacht und Dich nicht und Märchen schon gar nicht. Ich habe ein Universum geschaffen, richtig. Der Rest war und ist Chemie und Physik und Biologie.“
„Und Chemie und Physik und Biologie haben Leben und haben Bewusstsein hervorgebracht.“
„Stimmt. Damit habe ich übrigens nicht gerechnet.“
„ Und Intelligenz.“
„Falsch.“
„Darüber wollen wir jetzt nicht streiten. Intelligenz setzt jedenfalls Bewusstheit voraus, und die streitest Du ja nicht ab.  Ist denn seiner selbst bewusstes Leben nicht erhaltenswert?“
„Nö.“
„Nicht?“
„Nein – warum sollte es das sein?“
„Weil….“
„Weil?“
„Weil wir fühlen, die Frösche und die Bären und Murkel und Du auch. Weil es wehtut, wenn wir aufhören zu existieren.“
„Das ist kein Argument. Alles individuelle Leben ist dem Tod geweiht, der wiederum Lebensformen hervorbringt oder ernährt, welche auch immer. Jedes Lebewesen fühlt den Todesschmerz.“
„Tussi?“
„Ja?“
„Ich möchte Bärenleben retten.“
„Ach ja? Und Dich nicht?“
„Doch, zugegeben, mich auch. Aber ich bin doch verantwortlich…“
„Und weil Du verantwortlich zu sein glaubst für etwas, dessen Parameter du nicht beeinflussen kannst, unterstellst du mir, die Verantwortung zu tragen für das, was ich gemacht habe? Ein Seminar in formaler Logik hast Du nie besucht, oder?“
„Nein…Aber…“
„Schon gut. Was willst du?“
„Dass Du die Welt rettest.“
„Ich wiederhole mich ungern. Ich sagte bereits, dass ich mich nicht mehr einmische.“
„Dann möchte ich, dass irgendjemand sonst die Welt rettet.“
„Dann viel Spaß.“
„Bitte?“
„Ist doch ganz einfach: Ich will die Welt nicht retten, im Gegensatz zu Dir – also ist es Dein Job, das edle Werk zu tun.“
„Ich?“
„Wer sonst?“
„Ich soll – Gott spielen?“
„Nein – du sollst Gott sein.“
„Mit allen Konsequenzen?“
„Welche Konsequenzen bringt es mit sich, Gott zu sein?“
„Na ja, die Welt geht vielleicht unter, und man muss über seine Geschöpfe zu Gericht sitzen – so was alles.“
„Die Welt kann vielleicht untergehen, aber der Rest ist Bullshit.“
„Das ist immer noch ein ziemlich hohes Risiko. Bärenleben…“
„Ihr Bären seid entsetzlich sentimentale Wesen. Bärenleben geht vielleicht unter, wenn ich nichts mache oder wenn Du versuchst, es zu retten. Oder auch nicht. Ich weiß das nicht – ich kann nämlich nicht in die Zukunft gucken. Aber sag das bloß keinem weiter. Also – willst du nun oder nicht?“
„Ich weiß nicht.“
„Schisser!“
„Und wenn ich alles falsch mache?“
„Doppelschisser!“
„Ich habe fast den Eindruck, Du möchtest, dass ich es mal versuche.“
„Es wäre mal was anderes.“
„Und wenn ich es nicht kann?“
„Du kennst ja meine Telefonnummer.“
Vor der abendlichen Versammlung in Bärenleben ließ Bärdel sich nichts anmerken. Aber er schmiedete heimlich Pläne und stellte eine umfangreiche Tagesordnung zusammen, die ein wenig anspruchsvoller war als das, was sich die Bärenlebener normalerweise zu entscheiden vornahmen.
Wie gewohnt übernahm Bärdel den Vorsitz und nannte den ersten Punkt, über den zu reden sein würde. Bärenleben war längst darüber hinaus, regelmäßig eigene Probleme reflektieren zu müssen, denn es gab kaum mehr welche. Folgerichtig widmeten sich die Bären den brennenden Menschenproblemen, aber bisher hatten sie weise darauf verzichtet, Lösungsvorschläge zu formulieren – zu vertrackt erschien ihnen die Gemengelage. Deshalb war Unruhe spürbar, als Bärdel sagte: „Wir werden uns heute mit Aids beschäftigen, und ich denke, wir werden die damit zusammenhängenden Fragen beantworten.“
Die Bären rutschten auf ihren dicken Hintern hin und her.
„Wie ihr natürlich alle wisst,  ist HIV beziehungsweise Aids im südlichen Afrika besonders stark verbreitet. Etwa 26 Millionen Menschen sind dort infiziert, das sind mehr als 60 Prozent aller Erkrankungen weltweit. Besonders dramatisch ist die Todesrate unter den 15- bis 45-Jährigen gestiegen, was gravierende wirtschaftliche und demografische Folgen hat. Die Ursachen dafür…“
„Die Ursachen dafür,“ unterbrach Tumu hitzköpfig ihren Mann, „liegen hauptsächlich im Sexualverhalten der Männer begründet. Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung, Polygamie ist weit verbreitet, ebenso wie Prostitution.“
„Ich dachte immer, Prostitution sei überwiegend ein Angebot von Seiten der Frauen,“ brummte Kulle vor sich hin. Tumu wischte seinen Einwand mit einer ärgerlichen Armbewegung beiseite.
„Prostitution ist ein Angebot, das aufgrund von Nachfrage entsteht, du Ignorant!“ fauchte sie. „Aufgrund von männlicher Nachfrage! Insgesamt kann man in den Subsaharastaaten von verbreitetem promiskem Sexualverhalten sprechen, und das bedeutet, vor allem in einer armen Gesellschaft, überproportional häufig Geschlechtskrankheiten, was wiederum Infektionen mit HIV begünstigt, weil geschlechtskranke Menschen häufig offene Wunden im Genitalbereich haben. Noch irgendwelche Fragen?“
„Ja!“ Del meldete sich schüchtern. „Was heißt ‚promisk’?“
„Promisk bedeutet, dass jemand häufig seine Sexualpartner wechselt.“ Kulle war schneller als jeder andere Bär, wenn es darum ging,  etwas zu erklären.
Del bedankte sich, was Bärdel Gelegenheit gab, sich wieder einzuschalten.
„Trotz der emotionalen Kontroverse, die es gerade gegeben hat, sind die Ursachen der hohen Aids-Rate im südlichen Afrika insgesamt richtig dargestellt worden. Es bleibt die Frage, was zu tun ist. Eine Bekämpfung der Krankheit ist schwierig, weil die Menschen arm sind, denn Kondome und Tests sind teuer. Außerdem wird Aids gesellschaftlich nicht akzeptiert, und wo Kranke wegen ihrer HIV-Infektion ausgegrenzt werden, haben die Menschen kein Interesse an der Kenntnis ihres HIV-Status. Weil sie nicht wissen, dass sie ansteckend sind, stecken sie andere weiter an. Eine einzige Strategie scheint bisher Erfolg zu versprechen: Aufklärung. In Ost- und Zentralafrika sind Präventionskampagnen durchgeführt worden, und man hat die Krankheit tatsächlich zum Rückzug gezwungen.“
Bärdel holte tief Luft. Er hoffte, dass er nichts vergessen hatte. Er war gespannt auf die Antwort auf die entscheidende Frage. Er sagte: „Bären, wir können etwas tun. Also – was sollen wir tun?“
Die Antworten hagelten auf ihn nieder.
„Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika!“
„Monogamie verordnen!“
„Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten!“
„Frauenbeauftragte in jedem Dorf einsetzen!“
„Männer abschaffen!“
„Kondome verteilen!“
„Überall kostenlose Tests anbieten!“
„Schulungen anbieten, natürlich kostenlos, die die Empathie fördern, zum Beispiel: ‚Dein Freund könnte HIV-positiv sein…’“
„Den Menschen Geld geben!“
„Quatsch, den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“
„Die Chance nutzen und das südliche Afrika evakuieren, um endlich den Tieren mehr Lebensraum zu lassen!“
Bärdel hörte zu.
Bärdel nickte zu jedem Vorschlag.
Und bei jedem Vorschlag wurde ihm deutlicher klar: Wenn du ein Gott zu sein versuchst, dann bist du allein. ALLEIN!
Er ließ alle ausreden, und alle wollten etwas sagen. Er nickte weiter zu allem. Erst als niemand mehr sich zu Wort meldete, sagte er:“ Ich danke euch, Bärenlebener. Ihr habt mir geholfen wie immer, wenn auch anders als immer. Den Rest der Tagesordnung behandeln wir besser später.“
Bärdel war es gleichgültig, dass die Bärenlebener jetzt verwirrt sein mussten. Er hatte seine erste Lektion als Götterlehrling gelernt.

Nach einer schlaflosen Nacht war ihm klar, dass viele der Vorschläge, der er gestern gehört hatte, ihm plausibel erschienen, dass er aber keinerlei Vorstellung davon hatte, welche Auswirkungen sie hätten, wenn sie verwirklicht würden. Und schon gar nicht wusste er, welche Konsequenzen die Kombination von zwei oder mehr Maßnahmen nach sich zögen. Er kratzte sich ausgiebig den Kopf, seufzte und ging dann auf die Suche nach Papier und Stift, um sich ein paar Notizen zu machen. Noch lieber wäre er auf die Suche nach Kulle gegangen, aber das hätte über kurz oder lang bedeutet, dass Kulle über Bärdels neue Rolle Bescheid wüsste. Welche Konsequenzen das hätte, darüber mochte Bärdel lieber nicht nachdenken.
„Na, Stinker, wie schmeckt der neue Job? Am Anfang ist er ziemlich anstrengend, soweit ich mich erinnern kann. Ich dachte, ich schaue mal nach Dir. Das mit der Vernetzung aller möglichen Phänomene hast Du inzwischen kapiert, wie ich merke. Mit Papier und Stift wirst Du nicht weit kommen. Hier, das Spielzeug wird Dir helfen. Es zeigt Dir keinen kompletten Überblick, aber ein paar Strukturelemente werden doch deutlich. Ich habe die Aids-Geschichte eingegeben, damit Du siehst, wie es funktioniert. Du wirst schon damit zurechtkommen – die Bedienung funktioniert intuitiv.“ Tussi drückte ihm einen kleinen flachen Gegenstand in die Pfote und verschwand ebenso blitzartig und lautlos, wie sie erschienen war.
Bärdel sah sich das unerwartete Geschenk näher an. Er hatte eine Art Computer bekommen, der aber über keine Tastatur verfügte, sondern nur über ein Display. Auf dem Bildschirm stand: AIDS – Subsaharastaaten. Darunter pulsierte ein Icon: Optionen. Er legte seinen dicken Daumen darauf und las: Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika! Das war der erste Vorschlag, der gestern Abend gemacht worden war, daran erinnerte er sich gut. Noch einmal berührte er den Bildschirm, und der wurde lebendig. Ein Film wurde abgespielt, der überwiegend menschliche Aktivitäten zeigte. Männer zeigten Männern Kondome, Frauen zeigten Frauen Kondome. Männer und Frauen hatten Geschlechtsverkehr und benutzen dabei Kondome. Diese Sequenz lief über längere Zeit. Danach waren Friedhöfe zu sehen, auf denen sich immer weniger Menschen aufhielten: Die Zahl der Bestattungen nahm ab.
Die Projektionsfläche wurde dunkel, und als sie wieder hell wurde, hatte sich der Bildschirm geteilt. Auf beiden Hälften waren kopulierende Menschen zu sehen, die keine Kondome benutzten. Rechts tauchten nach einer Weile wieder Friedhöfe auf mit mehr und mehr Menschen. Links dagegen sah man Familien, kinderreiche Familien. Die Kinder hatten Hungerbäuche, der Gesichtsausdruck der Erwachsenen zeigte Hoffnungslosigkeit. Die bewegten Bilder wurden durch statistisches Material ergänzt. So beobachtete Bärdel, wie die Bevölkerungszahl in Südafrika sich in beiden Fällen stabilisierte, im ersten Fall danach wieder schrumpfte, während sie im zweiten stieg. Er sah Arbeitslosenzahlen, Zahlen über Hilfsprogramme, Zahlen, Zahlen, Zahlen.
Aufklärung allein fruchtet nichts, erkannte Bärdel. Wenn eine Bedrohung nicht mehr akut ist, denken die Menschen, es gäbe sie nicht mehr. Und wenn die Bedrohung tatsächlich verschwunden ist, weil zum Beispiel ein Impfstoff gegen eine schwere Krankheit entwickelt werden konnte, dann verelenden die Menschen, zumindest die im südlichen Afrika, weil sie sich wieder ungebremst vermehren können. Aber vielleicht hilft es, wenn ich Aufklärung mit einem zweiten Vorschlag kombiniere? Er erinnerte sich an den gestrigen Abend. „ Den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“ Das war’s. Das erste Szenario konnte er damit zwar nicht verhindern, aber das zweite würde sich gewiss zum Positiven verändern.
„Er suchte wieder unter ‚Optionen’, konnte den Vorschlag aber nicht finden. Intuitiv fragte er den Apparat in seiner Pfote: „Verstehst Du mich?“ Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm: „Ja.“ „ Gut, dann untersuche bitte die Auswirkungen der folgenden Maßnahme!“ Und Bärdel wiederholte den Vorschlag.
Er hatte erwartet, dass jetzt eine gewisse Zeit vergehen würde, aber er bekam sofort eine Antwort. „Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%.“
Bärdel war enttäuscht. Die Möglichkeiten, die er einem Gott oder einer Göttin unterstellt hatte, schrumpften immer mehr in sich zusammen. Nicht nur konnten Götter nicht in die Zukunft sehen, sie waren auch keineswegs allmächtig und hatten sich an bestehenden Realitäten zu orientieren. „Gibt es denn weitere realistische Optionen?“ wollte er wissen. „Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten,“ las er. „Na gut, dann machen wir das!“ sagte Bärdel forsch.
Der Bildschirm teilte sich zuerst in zwei, dann in vier, dann in neun, in sechzehn, fünfundzwanzig Teile und immer weiter, bis auch das Raubtierauge eines Bären nichts mehr darauf erkennen konnte. Aber solange die Bilder und Zahlen noch groß genug waren, hatte Bärdel genug gesehen. Die Konsequenz dieser Idee waren Diktaturen, häufig klerikaler Natur, die vor allem eines betrieben: Diskriminierung und Unterdrückung der Frauen.
„Hör auf!“ sagte er, und der Bildschirm wurde sofort schwarz. „Eigentlich wollte ich sowieso was anderes. Sagt dir Klimawandel etwas? Klimakatastrophe? Treibhauseffekt?“ „Ja.“ „Gibt es zu dessen Beeinflussung, also Minderung, Optionen, die du akzeptierst?“ „Ja.“ Bärdel war gereizt, aber ein Tussi-Computer war eben kein Bär, sondern ein logisch denkender Apparat, der wirklich nur auf die Frage antwortete, die ihm gestellt worden war. „Welche?“
„Atomkrieg; Ausbruch von H5N1 oder ähnlichem; Zusammenbruch der Weltwirtschaft…“
„Danke,“ brummte Bärdel in sich hinein, „Katastrophenszenarien kann ich mir alleine ausdenken.“ Laut sagte er: „Ich meinte Optionen, die auf dem vernünftigen Handeln der Menschen aufbauen.“
„Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%,“ sagte der Computer.
Bärdel holte aus und war gerade dabei, den Apparat möglichst weit in die Büsche zu schleudern, als er Tussis befehlsgewohnte Stimme hörte. „Stop!“ rief sie. „So billig sind die Dinger nun auch wieder nicht! Und inzwischen solltest Du begriffen haben, dass auch wir Götter uns dem Realitätsprinzip unterwerfen müssen. Also keine Verschwendung von Ressourcen, bitte!“
Bärdel spürte, wie der Computer aus seiner Pranke verschwand.
“Du kannst das Ding gerne wiederhaben, wenn Du möchtest. Aber vielleicht willst Du erst mal mit mir reden.“
Bärdel setzte sich. Aller Elan war aus ihm gewichen. „Nein, danke. Ja natürlich, gerne. Ich…“
Er wusste nicht mehr weiter.
Tussi patschte ihm mit der Pfote tröstend auf die Schulter. „Schon gut. Mir ist auch übel geworden, als ich der Brut eine Weile lang zugeguckt habe und allmählich begriff, was mit ihr los ist. Das einzige Mittel, diese Spezies halbwegs im Zaum zu halten, besteht darin, sie leiden zu lassen und zahlenmäßig zu begrenzen. Sonst richtet sie sich und ihre sogenannte ‚Umwelt’ zugrunde. Das tut sie jetzt tendenziell auch, wie wir wissen, aber nach Maßgabe der Möglichkeiten langsam. ‚Collateral Damage’ entsteht so weniger, glaub mir. – Willst Du weitermachen?“
Bärdel schüttelte stumm den Kopf.
„Ich dachte es mir. Schade – war mal eine Abwechslung. Ist aber okay mit mir. Wirf mir bloß nie wieder vor, dass ich mich nicht mehr einmische!“
Tussi warf ihm eine Kusshand zu. „Eigentlich mag ich Dich richtig gerne, Stinker!“

Kunst

Tumu, die sich mit Vorliebe mit Kunst beschäftigte, also mit Menschenkunst, denn die Bären übten die Kunst, Kunst zu produzieren, nicht, war schon seit geraumer Zeit der Meinung, dass es in Bärenleben ein diesbezügliches Defizit gab. Lange hatte sie überlegt, wie diesem Übel abzuhelfen sei. Schließlich hatte sie eine Idee. Am Ende einer der regelmäßigen abendlichen Versammlungen der Bärenlebener machte sie den Vorschlag, verschiedene Neigungsgruppen zu gründen: Einen Chor, einen Malzirkel, eine Literatenvereinigung. Gerne hätte sie mehr ins Leben gerufen, aber diese drei erschienen ihr zunächst zentral. Da sie alle Bären für talentiert hielt, lud sie alle ein mitzumachen. Die Frauen waren auch gleich begeistert, weil sie stets neugierig auf Neues waren, die Männer dagegen zeigten ihr ohne zu überlegen die Rückseiten ihrer Pranken – keine sehr höfliche Geste, denn es handelt sich dabei um die bärische Version des menschlichen Stinkefingers.
„Warum wollt ihr nicht dabeisein?“ fragte Tumu entrüstet.
„Wir machen nicht mit, weil das verlorenen Zeit wäre. Bären haben kein Potenzial für Kunstproduktion,“ antwortete Bärdel.
„Das werden wir ja sehen!“ erklärte Tumu siegessicher. „In ein paar Wochen werdet ihr die Ergebnisse unserer Arbeit bewundern dürfen und euch wegen eures Defätismus in Grund und Boden schämen!“
In der nächsten Zeit waren die Bärenfrauen noch bienenfleißiger als sonst. Sie sammelten und bereiteten Nahrung im Rekordtempo und nutzen die freie Zeit für kreative Tätigkeiten. Tumu selbst begriff sich als Koordinatorin und Beraterin und flitzte zwischen den drei Frauengruppen hin und her, um ihnen zu helfen und Tipps zu geben. Die Malgruppe mischte zunächst alle möglichen Farben aus Naturmaterialien zusammen und präparierte große Borkenstücke, die als „Leinwand“ dienen sollten. Die Choristinnen überlegten sich vielstimmige Melodien. Nur die Literatengruppe kam ohne Vorarbeiten aus: Hier konnte man gleich mit dem Dichten beginnen. Deshalb erschien Tumu diese Arbeitsgemeinschaft am Anfang auch am interessantesten, und sie hielt sich am häufigsten dort auf.
„Ich bin eine glückliche Bärin…“ hörte sie dort zum Beispiel. „Das finde ich schon ganz gut, der Rhythmus stimmt, glaube ich. Aber woher nehme ich den nächsten Vers? Ich dachte für den Anfang an einen Paarreim, das ist einfacher als alles  andere.“
„‚Allerdings fehlen mir die Ferien` – wie wär’s damit?“ schlug ihre beste Freundin vor.
Die Verfasserin des künftigen Meisterwerkes runzelte die Stirn: „Irgendwas stimmt da nicht!“
Tumu sprang ein: „Wie wär’s mit: ‘Trotzdem fehlen mir die Ferien‘?“
„Schon besser – aber längst noch nicht gut. Der Reim gefällt mir nicht, auf Ferien reimt sich Bärien, nicht Bärin. Und das Metrum…“ Sie begann laut zu skandieren.
„Ihr schafft das schon!“ machte Tumu sich und den anderen Mut. Weil sie auch nicht weiter wusste, flüchtete sie und besuchte die anderen Gruppen.
Was sie dort zu sehen und zu hören bekam, war keineswegs ermutigender. Der Chor übte ein Liedchen ein, das wie eine missgestimmte Version von „Alle meine Entchen“ klang. Tumu hielt sich die Ohren zu und suchte vorerst das Weite. Musik ist eben eine schwierige Kunst, tröstete sie sich, aber Übung macht den Meister!
Die Malerinnen bedeckten ihre Borkenstücke flächig mit jeweils einer Farbe: Wenn man es anders mache, sehe es unordentlich aus, erklärten sie.
„Ihr könntet wenigstens behaupten, dass ihr minimalistische Kunst produziert!“ schimpfte Tumu. „Das ließe sich mit ziemlich viel Chuzpe vielleicht verkaufen. Aber so….“
Sie raste los und raffte in der Bibliothek so viele Kunstbände zusammen, wie sie gerade noch tragen konnte.
„Hier!“ keuchte sie, als sie wieder zurück war, und zeigte einen Kunstdruck nach dem anderen. „Das ist Kunst! Seht euch nur an, wie Rembrandt mit den Farben spielt. Und Miró – ist das nicht ästhetisch?“
Aber die Malerinnen waren anderer Meinung: „Dieser Rembrandt ist viel zu pingelig mit den Einzelheiten. Außerdem malt er nur Menschen und tote Tiere. Und um bunte Rechtecke zu zeichnen, sind wir uns zu schade.“
Es dauerte noch einige Wochen, in denen sie ähnliche Erfahrungen machte, bis Tumu bereit war, ihre Niederlage zuzugeben. Bei dem Eingeständnis half ihr, dass niemand sie an ihr leichtfertig gegebenes Versprechen, die künstlerischen Ergebnisse in kurzer Zeit zu präsentieren, erinnerte. Endlich berichtete sie Bärdel ausführlich und schonungslos vom kläglichen Scheitern der Bärinnen.
„Du hast damals gesagt: ‘Bären haben kein Potenzial für Kunstproduktion‘, das weiß ich noch genau. Anscheinend hattest du recht. Aber – warum?“
„Zum Glück kommst du jetzt erst mit dieser Frage!“ seufzte Bärdel. „Ich denke seit deinem Vorstoß darüber nach, dennoch halte ich meine Erklärung nach wie vor für unzulänglich. Aber ich habe keine andere.“
„Versuch’s ganz einfach;“ sagte Tumu und kuschelte sich an ihn. Sie war glücklich, endlich keine schlechten Verse und misstönenden Lieder mehr hören zu müssen, sondern der beruhigenden Brummstimme ihres Mannes lauschen zu können.
„Ich habe mir überlegt, welche Wurzeln die Menschenkunst hat. Literatur, Malerei und Musik entstanden aus derselben Quelle: aus Zauber und Magie, die später zu Religion mutierten. Dahinter steckt als Hauptmotiv Angst, weil die Menschen die Welt, in der sie lebten, nicht verstehen. Muss ich das erklären?“
„Ich glaube nicht. Die ältesten Felsmalereien und Epen beweisen, dass du recht hast. Meistens spielen Götter eine Rolle. In Bezug auf die Musik bin ich nicht sicher.“
„Ich auch nicht, aber die ältesten Musikstücke oder besser Fragmente, die erhalten sind, haben einen ‘spirituellen‘ Inhalt, wie die Menschen sagen. Wenn meine Theorie stimmt, dann braucht man, um künstlerisch kreativ zu sein, als Erklärungsmuster für all das, was man sich nicht erklären kann, die Vorstellung von einer überirdischen Realität, der man sich nicht mit normalen, sondern besser mit ‘kunstvollen‘ Mitteln annähern sollte. Und eine solche Vorstellung ist uns Bären fremd.“
„Stimmt. Aber…“ wandte Tumu ein, „aber es gibt doch zahlreiche Menschenkünstler, die produktiv sind und in deren Schaffen Religion keine Rolle spielt. Wie erklärst du dir das?“
„Es handelt sich um ein historisch junges Phänomen, richtig?“
Tumu nickte.
„Ihr Glaube an Götter hat den Menschen nicht das Hauptgefühl nehmen können, das ihr Leben bestimmt: die Angst. Viele Literaten sagen selbst, dass sie sich etwas von der Seele geschrieben haben.“ Bärdel machte eine Pause und schmunzelte dann. „Ich muss zugeben, dass ich eure ‘künstlerische‘ Produktion ab und zu belauscht habe: ‘Ich bin eine glückliche Bärin…'“
„Erinnere mich bitte nicht daran!“ bat Tumu.
„Ich musste dich daran erinnern, um dir etwas anderes zu zeigen. Hör mal zu:
‘Nun ist der Lenz gekommen,
Nun blühen alle Wiesen,
Nun herrschen Glanz und Freude
Auf Erden weit und breit;
Nur meine böse Herrin,
Sie keift und zetert immer
Noch wie in der betrübten
Und kalten Winterzeit!
Wenn ich am frühen Morgen
Mit aufgewachtem Herzen
Im Garten grab‘ und singe,
Die Welt mir freundlich blickt.
Wirft sie mir aus dem Fenster
Die ungefügen Worte,
Dass rasch in meiner Kehle
Das kleine Lied erstickt.‘
Die letzte Strophe lautet:
‘Mag selber sie nur beten,
Dass ihre eignen Kinder
Nicht einmal dienen müssen,
Wenn ihr das Glück entschwand
Und sie als arme Mutter
Wird um die Häuser schleichen,
Wo jene sind geschlagen
Von böser Herrenhand!‘
Das Gedicht lebt vom Dualismus von Harmonie und Bosheit und der Angst vor dem menschlichen Bösen, dem das lyrische Ich ausgeliefert ist. In ihrer Verzweiflung wünscht die Magd indirekt ihrer Herrin selbst Böses und macht deutlich, dass das Schicksal der Menschen von Gott abhängt. In Bärenleben kann man solche Gefühle einfach nicht verspüren.“
Nach einer nachdenklichen Pause fragte Tumu unvermittelt: „Kennst du Rodins Skulptur ‘Der Kuss‘?“
„Ich war noch nicht in Paris, aber ich kenne Abbildungen. Zwei wunderschöne nackte Menschen umschlingen einander in einer perfekten Umarmung. Die Darstellung gefällt mir sehr gut.“
„Meinst du, diese Plastik ist durch religiöse Vorstellungen oder Angst motiviert?“
Erst jetzt merkte Bärdel, dass er in der Falle saß. „Natürlich nicht!“ brummelte er. „Rodin zeigt wahre Liebe oder wahre Leidenschaft und sonst gar nichts…“
„Und die gibt es bei Bären nicht?“
„Bei Tussi, Tumu, du musst auch immer das letzte Wort haben! Natürlich gibt es die.“ Er langte mit allen seinen Extremitäten nach seiner Frau und knuffte sie herzlich nach Bärenart, dass ihr die Luft wegblieb. Zwischen zwei Küssen sagte er: „Und weil es bei den Bären Liebe und Leidenschaft gibt, gibt es ja vielleicht sogar einen aktiven Kunstsinn, aber das probierst du bitte erst in ein paar Jahren noch einmal aus, falls überhaupt, und jetzt lass uns erst mal Liebe machen, denn wer liebt, ist glücklich, und wer glücklich ist, produziert keine Kunst, sondern genießt sie…“
„Und wer hat jetzt das letzte Wort gehabt?“ schmunzelte Tumu.

Kulle träumt

Kulle träumt.
Die Materie taumelt durch den Weltenraum.
Ein Raumschiff taumelt durch den Weltenraum. Es fliegt zur Erde.
Kulle ist in dem Raumschiff. Er hat keine Ahnung, wie er dahin gekommen ist oder was er dort soll. Er wandert herum, sieht unbekannte Apparaturen, versteht nichts. Linien und Zahlen rasen über Bildschirme. Plötzlich steht er vor einem Spiegel und sieht etwas Verständliches, nämlich sich. Aber das Objekt, vor dem er sich befindet, ist kein Spiegel, sondern ein Durchlass. Kulle steht nicht vor seinem Spiegelbild, sondern vor seinem Ebenbild. Der Pilot des Raumschiffes ist ein kleiner Bär. Er ähnelt Kulle aufs Haar, mit einem winzigen Unterschied: Rechts und links der Ohren wachsen ihm zwei borstendünne Sensoren aus dem Kopf. Daran erkennt Kulle selbstverständlich sofort den Extraterrestrier, aber weil der ein Bär ist, unterstellt er, dass er seine Sprache kann.
“Was willst du auf der Erde?” fragt Kulle.
“Der Kurs wurde einprogrammiert, weil von diesem Planeten Radiowellen emittiert werden. Sie konnten zum Teil entschlüsselt werden. Sie deuten auf die Existenz intelligenter Lebewesen hin. Deshalb wollen wir ihn erforschen.”Kulle lacht und sagt: “Da forsche ich mit!”
Der kleine Bär liest seine Instrumente ab und versteht natürlich alles: Die lokale Sonne umkreist das Zentrum der Galaxis in einem mittleren Abstand von 26.000 Lichtjahren und befindet sich damit in einem ihrer Seitenarme. Es ist ein Stern aus Wasserstoff und Helium wie die meisten im Universum, gehört allerdings zu den größeren. Sein dritter Planet in acht Lichtminuten Abstand ist die winzige “Erde”, die über eine Atmosphäre verfügt, die zu etwa 78% aus Stickstoff und zu ca. 21% aus Sauerstoff besteht.
“Wir landen gleich!” sagt der kleine Bär.
“Wo?” will Kulle wissen.
“Da, wo die meisten Informationen herkommen. Wir haben ihren geografischen Code geknackt. Demzufolge handelt es sich um ein kleines Gebiet auf etwa 37° nördlicher Breite und 77° westlicher Länge.”
“Oh Tussi!” stöhnt Kulle. “Das ist das Pentagon! Da können wir nicht…”
“Wir sind da!” sagt der kleine Bär ungerührt. “Wir empfangen und analysieren jetzt die wichtigsten Daten.”
“Aber…” jammert Kulle.
“Keine Sorge,” beruhigt der kleine Bär. “Es dauert nicht lange.”
Kulle wandert unruhig in dem Raumschiff umher. Er hört nur das Summen von Maschinen. Er kann nicht hinaussehen, denn es gibt keine Fenster. Das ist ihm auch lieber – er stellt sich vor, dass ein Bataillon von Marines längst von allen Seiten Mini-Nukes auf sie gerichtet hat.
“Möchtest du jetzt aussteigen?” erkundigt sich der kleine Bär. “Ich fliege nämlich gleich ab.”
Bevor Kulle antworten kann, spürt er die Flugbewegung. Er rüttelt an den Wänden, denn er kann keine Türen finden. Er kann sich nur im Zeitlupentempo bewegen. Seine Anstrengungen sind vergeblich.
Es gelingt ihm zu fragen: “Warum fliegst du ab?”
“Das liegt doch auf der Hand! Die dominierende Spezies auf diesem winzigen Planeten ist in Fraktionen zerfallen, die große Anstrengungen darein setzen, die jeweils anderen zu vernichten. Damit sind sie beschäftigt und merken nicht, dass sie zahlreiche andere Arten bereits ausgerottet haben und ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören drohen. Anstatt ihre Lebensbedingungen und ihre eigene Rolle angemessen zu analysieren, halten sie sich für die “Krone der Schöpfung” und glauben folgerichtig an ein höheres Wesen, nein, falsch, an verschiedene höhere Wesen, denn auch in Bezug auf diese absurde Idee können sie sich nicht einigen. Wie konnten wir nur hoffen, dass es sich bei diesen Wesen um Intelligente handelt! Willst du nun aussteigen oder nicht?”
Kulle zögert.
“Na dann tschüss!” sagt der kleine Bär.
Kulle wird hinauskatapultiert und landet unsanft auf der Erde.

Religion

Bärdel

Religion

“Du hast eine tolle Arbeit über das menschliche Zusammenleben geschrieben, denke ich!” begrüßte Bärdel Kulle, als sie einander auf ihrem Morgenspaziergang begegneten. “Ich finde es beeindruckend, wie du dich bei den Menschen auskennst. Du weißt über sie viel besser Bescheid als ich.”

“Danke!” erwiderte Kulle und rückte geschmeichelt an seiner Fliege. “Obwohl – über manches, was die Menschen ausmacht, weiß ich gar nichts. Über Religion zum Beispiel.”

Bärdel war überrascht. “Nanu? Krückstock, Opium des Volkes, Opium für das Volk…”

“Schön und gut”, brummte Kulle. “Die Funktion ist leicht zu beschreiben. Aber was ist mit der Ursache? Also: Warum haben die Menschen, präziser, die meisten Menschen, sogar die allermeisten, auch viele der wirklich intelligenten, eine Religion? Ist das genetisch bedingt? Und wenn es so wäre – warum ist uns Bären, die wir doch biologisch eng mit den Menschen verwandt sind, nicht nur der Gedanke eines mehr oder weniger persönlichen Gottes, sondern generell der Gedanke der Transzendenz so fremd?”

“Ich weiß nicht, woran man die Gründe für die menschliche Religiosität festmachen kann. Aber ich kenne mehrere.”

“Sogar mehrere?” Kulle hüpfte aufgeregt auf der Stelle. “Ich kenne noch nicht mal einen!” Und dann sagte Kulle etwas, was Bärdel noch nie von ihm gehört hatte: “Erklärst du es mir?”

“Gerne!” Bärdel schaute sich um. “Siehst du den Apfelbaum da? Es ist Frühling, die Knospen brechen auf, der Baum beginnt zu blühen. Wie erklärst du dir das?”

Kulle war irritiert. “Was soll ich da erklären? Es ist Frühling, die Säfte steigen nach der Winterruhe, Blütenpflanzen pflanzen sich geschlechtlich fort, also…”

“Du hast völlig recht”, unterbrach ihn Bärdel. “Du kennst die Gründe. Und wenn du sie nicht kenntest, würdest du einfach sagen: ‘Das weiß ich nicht’. Aber Menschen suchen immer nach Erklärungen, nach Begründungen. Und wenn sie keine rationalen wissen, erfinden sie irrationale. Wenn sie nicht wissen, dass der Baum blüht, weil es Frühling ist, dann behaupten sie, der Gott des Baumes sei erwacht. Oder ein Gott sei im Baum erwacht. Jedenfalls erfinden sie einen Gott anstelle der Ursachen, die ihnen unbekannt sind. Und so gibt es für sie einen Donnergott und einen Regengott und einen Wachstumsgott und immer so weiter, oft auch eine Göttin, denn was fruchtbringend und was vernichtend ist, das wissen die Menschen schon.”

“Na gut”, sagte Kulle, und es klang sehr nachsichtig. “Du beziehst dich auf die Phase der Naturreligion. Aber über die sind die Menschen inzwischen hinaus, denke ich.”

“Die Menschen nicht. Aber ich gebe dir recht: Die Menschen in den von ihnen so genannten industriell entwickelten Ländern glauben nicht mehr, dass in den Bäumen Götter leben, sonst würden sie die Bäume nicht brutal fällen. Aber ich beharre darauf, dass die Menschen auch heute an irrationale Erklärungen glauben, wenn ihnen rationale – noch – nicht zur Verfügung stehen. Darin sehe ich den ersten Grund für die menschliche Religiosität: den Erklärungswahn.”

“Bingo!” sagte Kulle. “Was noch?”

“Anders als wir Bären wollen die Menschen ständig etwas verändern. Dabei haben sie aber auch Angst vor ihrer eigenen Courage, denn sie wissen in den seltensten Fällen, wozu das, was sie anstellen, letztlich führt. Deshalb erfinden sie sozusagen einen Auftraggeber, und das ist Gott. Wie oft lassen die Menschen den in der Bibel sagen: “Macht euch die Erde untertan’? Ein halbes Dutzend Mal bestimmt. Sie brauchen eine legitimatorische Grundlage für all die Zerstörungen, die sie bewirken. So werden sogar Kriege zu notwendigen Aktionen im Namen einer höheren Macht.”

Kulle nickte. “Das leuchtet mir ebenfalls ein. Was hast du noch zu bieten?”

“Der dritte Grund liegt auf der Hand. Was sagt den Bären ihr Zukunftssinn?”

Kulle ließ sich auf das Spiel ein: “Dass morgen ein Tag ist, der auf heute folgt, so dass man sich heute so verhalten sollte, dass ein Morgen möglich ist. Und dass das Leben eines Individuums nach vielen Tagen vorbei ist, während das der Gattung länger währt.” Er schlug sich mit der flachen Hand vor sie Stirn: “Dass ich daran nicht gedacht habe! Natürlich, der Zukunftssinn der Menschen ist insofern fehlgeleitet, als sie den Tod nicht akzeptieren wollen! Und deshalb erfinden sie alles mögliche, um ihn wegzudenken: Seelenwanderung, das Nirwana, das Paradies…. Das Paradies – aber auch die Hölle. Warum eigentlich die Hölle?”

“Du machst es mir leicht”, grinste Bärdel. “Du führst uns direkt zu Grund Nummer vier. Bitte beantworte mir noch eine Frage: Wie viele Modalverben kennst du?”

“Dumme Frage, zwei natürlich!”

“Und die wären?”

Kulle warf Bärdel einen skeptischen Blick zu, das war nun tatsächlich unter seiner Würde. Aber er antwortete trotzdem, denn bisher hatten ihm Bärdels Erklärungen eingeleuchtet: “Wollen und können natürlich.”

“Natürlich!” bestätigte Bärdel. “Aber – wie viele Modalverben haben die Menschen?”

Wieder fiel bei Kulle ein Groschen. “Bei Tussi, bin ich dumm! Da wären noch ‘müssen’ und ‘sollen’ und ‘dürfen’; alles Ausdrucksformen des Über-Ichs, das sich natürlich hervorragend in religiöse Formen gießen lässt, weil es dann viel wirkmächtiger ist – und als ultimative Sanktion bei Verstößen droht die ewige Verdammnis.”

“Das”, erklärte Bärdel, “sind meiner Meinung nach die Gründe dafür, dass die meisten Menschen ohne Religion nicht auskommen können. Und jetzt habe ich noch eine Frage an dich, eine ernsthafte, keine rhetorisch-pädagogische. Beantwortest du sie mir?”

“Klar, wenn ich kann!”

“Du hast vorhin behauptet, uns Bären sei nicht nur der Gedanke eines mehr oder weniger persönlichen Gottes, sondern generell der Gedanke der Transzendenz fremd. Warum….” Bärdel machte eine Kunstpause. Er genoss es, dass Kulle sich erkennbar zu winden begann. “Warum glaubst du dann an Tussi?”

Kulle gab sich nach einer Sekunde der Schwäche wieder ganz souverän. “Nicht nur ich, sondern alle Bärenlebener glauben an Tussi. Tussi existiert nämlich wirklich!”

Kulle über Gruppensoziologie

PD Kulle

Bemerkungen zur Soziologie der menschlichen Gruppe

Einführung in den Forschungsgegenstand

Das Zusammenleben der Menschentiere ist geprägt durch einerseits Dominanz und andererseits Submission von Individuen oder Gruppen von Individuen, erstere durch Siege in Rangkämpfen erworben, letztere als Resultat von Niederlagen erzwungen hingenommen. 1

Menschliche Soziologen, die sich mit diesem Problemkomplex zu beschäftigen versuchen, was ihnen selbstredend nicht gelingen kann, da Selbst-Erkenntnis Kenntnis des Selbst voraussetzt, über die Menschen nicht verfügen, trennen zwischen Groß- und Kleingruppen. Wir folgen dieser Unterscheidung nicht, ist der Unterschied doch nur ein gradueller, kein qualitativer. Gruppenbeziehungen ändern sich nicht dadurch, dass sie codifiziert werden. 2

Aus dieser These lassen sich unter anderem die folgenden analytischen Fragen ableiten: Wie ist der Begriff der Gruppe 3 zu definieren? Welche Eigenschaften eines Individuums sind erforderlich, damit ein Gruppenmitglied von seinen “Peers” als Herrscher anerkannt wird? In welchen Formen kann sich Dominanz äußern? Wie lässt sich eine dominierende Stellung im sozialen Gefüge erringen und, was mindestens ebenso schwierig sein kann, auf Dauer festigen?

Merkmale archaischer Gruppenbeziehungen

Als Gruppe bezeichnen wir mindestens zwei 4 Individuen, deren Zusammenleben durch Aspekte wechselseitiger Abhängigkeit geprägt ist. Der Prototyp der Gruppe ist das heterosexuelle Paar im sexuell aktiven Alter, das nolens volens geschlechtliche Arbeitsteilung praktiziert. Bei größeren Gruppen verliert der sexuelle Aspekt in der Regel 5 an Bedeutung, während ökonomische Ziele 6 in den Vordergrund treten.

Welchem Partner in der heterosexuell organisierten Zweiergruppe 7der dominante Part zufällt, ist ex ante nicht generell entscheidbar. Es wird jedoch immer derjenige sein, der – nicht zwangsläufig objektiv, aber nach Maßgabe der Meinung der Beteiligten – mehr zur Erhaltung der Art beiträgt als der andere. Dieser Beitrag kann in einer überzeugenden Fortpflanzungsleistung gesehen werden, aber auch in herausragenden physischen Fähigkeiten wie Schnelligkeit oder Körperkraft, die effizient eingesetzt werden, um der eigenen Allesfressergruppe tierisches Eiweiß zu verschaffen, was wiederum indirekt fortpflanzungsrelevant ist. In Bezug auf diesen letztgenannten Aspekt gewinnen auch intellektuelle Kapazitäten an Bedeutung, sind sie doch eine wichtige Waffe des Raubtieres Mensch, wenn es gilt, andere Tiere 8 in die Falle zu locken. Nicht nur zur Manipulation anderer Spezies, auch zur Lenkung der eigenen Art, zur Lenkung der eigenen Gruppe, wird das Großhirn genutzt. 9 Wie wir sehen, neigt sich die Waagschale der Dominanz tendenziell dem männlichen Geschlecht zu. 10

Dominanz, wie hier beschrieben, bedarf keiner Legitimation durch andere. Sie legitimiert sich selbst gegen Herrschaftsansprüche anderer, indem sie vom Alpha-Tier ausgeübt und verteidigt wird. 11 Sie beruht auf dem Recht des Stärkeren, auf nichts sonst; auf Ungleichheit der Individuen, resultierend aus Stärke eines Individuums.

Merkmale moderner Gruppenbeziehungen

Man vergegenwärtige sich das folgende Szenario: In einer Gruppe, die vor einer Entscheidung steht, hat jedes Mitglied ungestörtes Rederecht, sofern es ein bestimmtes Ding in Händen hält, das dieses Recht symbolisiert. Die Entscheidung wird per Abstimmung herbeigeführt. 12

Vergleichen wir die hier skizzierten Mechanismen mit den im vorigen Kapitel dargestellten. Die Dominanz, bisher einem Alpha-Tier inhärent, ist ihm entäußert worden, ist strukturell entäußert worden, denn sie gehört gar keinem Individuum mehr quasi organisch an, sondern wird, in Form des ungestörten Rederechts, einem jeden Gruppenmitglied temporär zugestanden. Mehr noch: Nicht nur bei der Entscheidungsfindung, sondern auch bei der bindenden Beschlussfassung haben alle ein Mitwirkungsrecht, wobei jedes Votum das selbe Gewicht hat wie ein anderes. 13 Das hier herrschende Rechtsprinzip ist das der Gleichheit der Individuen, resultierend nicht aus einem Faktum wie dem der nachgewiesenen individuellen Stärke, sondern basierend auf dem Axiom der Gleichwertigkeit aller – bekannt unter dem Namen Demokratie. 14

Es versteht sich von selbst, dass dermaßen revolutionäre Veränderungen habitueller Strukturen nicht Ergebnis einer allmählichen Entwicklung, sondern allein Resultat einer revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse sein können und müssen. 15

Zur Bewertung moderner Gruppenbeziehungen

Ausnahmsweise interessiert an dieser Stelle nicht die Meinung des Verfassers, obwohl nicht unterschlagen werden soll, dass sich dessen Position von selbst versteht, sondern die Stellungnahme der in die Gruppenstruktur Involvierten, denn sie allein sind es, die Entscheidungsprozesse bewahrend oder verändernd gestalten können. Hier ist es notwendig, quantitative und qualitative Aspekte gesondert zu beleuchten.

Die Zahl der Alpha-Tiere in einer Gruppe ist allemal geringer als die der von ihnen Geführten, also erhöht sich unter den Bedingungen moderner Gruppenbeziehungen quantitativ der Zufriedenheitskoeffizient. Ein reziproker Prozess ist bei der Teilmenge der Alphas zu beobachten. Moderne Gruppenbeziehungen berauben sie ihres exklusiven Status und ihrer weitreichenden Handlungsfähigkeit.

Wie oben dargelegt, resultiert die dominante Stellung eines Führungstieres aus seiner “Stärke”. Diese “Stärke” verwandelt sich nicht in Schwäche, sie dissipiert nicht, weil sie gesellschaftlich nicht mehr erwünscht ist, sondern bleibt latent, potentiell vorhanden. Ihre Träger sinnen in Anbetracht der revolutionierten gesellschaftlichen Verhältnisse darauf, ihre alte gesellschaftliche Stellung wieder zu erlangen, wobei sie akzeptieren, dass dieses Ziel nur im Rahmen der neuen Gruppenbeziehungen erreicht werden kann 16.

Die Archaisierung moderner Gruppenbeziehungen

Wie wir gezeigt haben, bestehen die revolutionären Merkmale moderner Gruppenbeziehungen in gleichen Artikulations- und Mitbestimmungsrechten aller. Beides müssen die Alphatiere gemäß ihren Bedürfnissen modifizieren, wobei sie darauf zu achten haben, dass die Modifikation den anderen Gruppenmitgliedern verborgen bleibt. 17

Der erste und entscheidende Schritt besteht darin, der Gruppengefolgschaft die Überzeugung zu vermitteln, dass sie angesichts der Komplexität und Kompliziertheit der zu bewältigenden Probleme nicht nur nicht in der Lage ist, über diese zu befinden, sondern dass sie sich nicht angemessen artikulieren kann, ja, noch nicht einmal “Ja” oder “Nein” zu sagen im Stande ist. Auch wird suggeriert, diese beschränkte Artikulationsfähigkeit bestehe nur an wenigen Tagen innerhalb mehrerer Jahre. Wird diese Behauptung akzeptiert, ist eine parlamentarische “Demokratie” institutionalisiert. 18

Mit diesem ersten Schritt, mit der Selbstentmündigung der meisten Gruppenmitglieder, ist das entscheidende Ziel der Alphas bereits erreicht. Wer sich noch nicht einmal angemessen artikulieren kann, wird neidlos und dankbar gegenüber denjenigen, die sich der Mühe des Denkhandelns unterziehen, anerkennen, dass er im Gegensatz zu ihnen zu sinnvollen Entscheidungen nicht fähig ist. 19

Um eventueller Unzufriedenheit der Gruppenmehrheit vorzubeugen, wird ihr von den Alphatieren suggeriert, dass jeder Gruppenangehörige die Chance habe, dem Kreis der Entscheidungsträger anzugehören, wenn er sich dafür qualifiziere. 20

Fazit

Moderne Gruppen sind ebenso hierarchisch organisiert wie archaische, obwohl die herrschende Ideologie das Gegenteil behauptet. In beiden Formen dominiert das Prinzip des “divide et impera”. Wir wagen allerdings die Behauptung, dass moderne Gruppen stabiler sein können als archaische, versprechen sie doch potentiell allen Gruppenmitgliedern, Alphatiere werden zu können, während in traditionellen Formen des Zusammenlebens dieses Privileg einer kleinen Zahl vorbehalten blieb. Wird dieses Versprechen nicht nur akzeptiert, sondern internalisiert, ist eine Kritik an der Gruppenstruktur verunmöglicht.

Im menschlichen Zusammenleben herrscht also nach wie vor das Recht des Stärkeren, obwohl eben dieses Prinzip als menschenunwürdig verdammt wird, was den wenigsten menschlichen Akteuren als Ironie erscheinen dürfte 21. Der Mensch lebt in Gruppen und ist insofern ein gesellschaftliches Tier, ein “zoon politikon”, ein politisch, also selbst-bewusst agierendes Tier ist er dagegen nicht 22 – q.e.d.

Endnoten

1 Wir gehen bei unseren Betrachtungen vom Normalfall aus, vom Normalfall des menschlichen Zusammenlebens nämlich; wobei wir keineswegs die Meinung vertreten, dass der Mensch als solcher als Normalfall zu betrachten ist. Da jedoch, wo er auftritt, und er tritt häufig und immer häufiger auf, und wo er auftritt, wächst kein Gras mehr, wo er also auftritt, tritt er gehäuft auf, nicht allein. “Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei”, wird bereits in den älteren Menschenmythen wie dem Pentateuch in verblüffender Selbsterkenntnis postuliert, und dabei handelt es sich um eine der wenigen von Menschen für Menschen aufgestellten Regeln, an die Menschen sich zu halten pflegen. Am Rande sei bemerkt, dass diese Maßregel auch für Bären gilt. Darin jedoch erschöpfen sich, soziologisch betrachtet, Parallelen zwischen Homo sapiens sapiens und Ursus ursus.

2 Was der Chef meint, ist Folgendes: Wichtig ist nicht, dass es Gesetze gibt, sondern dass alle sich daran halten, auch wenn es keine gibt. Jetzt klar? Die Sekretärin

3 “Gruppe” meint im Folgenden immer “Menschengruppe”.

4 Wir stellen uns dem zu erwartenden Vorwurf, die Zahl zwei sei inadäquat, unerschrocken. Das Merkmal der Arbeitsteilung, das das Zusammenleben in Gruppen prägt, lässt sich exemplarisch bereits in der Paarbeziehung nachweisen. Auch der oben zitierte Satz aus dem Pentateuch (vgl. Fußnote 1) untermauert diese These, drückt er doch die Erkenntnis des in diesem Text angenommenen Schöpfergottes aus, der von ihm aus Erde geschaffene Menschenmann bedürfe einer Frau.

5 Es sei denn, man hat es mit orientalischen Haremsbedingungen oder, was nur ein gradueller Unterschied ist, mit den verbotenen und offiziell nicht mehr praktizierten Familienstrukturen der Mitglieder der “Church of Jesus Christ of the Latter Day Saints”, vulgo Mormonen, zu tun.

6 Ökonomische Ziele werden zum Zwecke der Erhaltung der dominanten Stellung in der Gruppe von den Alpha-Tieren häufig als politische oder ideologische bezeichnet, wobei es sich jedoch stets um Verschleierungsmanöver handelt.

7 Die dargestellten Mechanismen gelten auch für größere Gruppen, die sich aus heterosexuellen Zweiergruppen rekrutieren, und – mit Schwerpunkt auf den intellektuellen Fähigkeiten – für Gruppen, die ökonomische Ziele verfolgen.

8 z. B. arglose Bären

9 Die Menschen selbst benutzen für die gewaltfreie Führung einer Gruppe den Begriff “Charisma”.

10 Dabei soll nicht vergessen werden, dass in der objektiv kurzen, aber aus der Bärenperspektive subjektiv viel zu langen Phase der Existenz der menschlichen Art matriarchalische Strukturen einen wesentlich größeren Zeitraum eingenommen haben als patriarchalische, was unter anderem der Tatsache geschuldet ist, dass den Menschen der (verglichen mit der Leistung der Frau geringe) Beitrag des Mannes zur Arterhaltung erst in historisch jüngerer Zeit bewusst wurde.

11 Dabei handelt das Alpha-Tier in größeren Gruppen in der Regel taktisch. Es versetzt einige Gruppenmitglieder tatsächlich oder scheinbar in Positionen, die sie über andere erheben, in der Hoffnung, dass diese Beta- oder Gammatiere es selbst in Gefahrensituationen verteidigen werden, um die eigene privilegierte Stellung nicht zu verlieren.

12 vgl. William Golding, Der Herr der Fliegen

13 Es ist für unsere Überlegungen nicht von Bedeutung, ob Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip oder einstimmig, also entsprechend der volonté générale, gefasst werden. In Bezug auf das Prosperieren einer Gruppe allerdings ist nur das Verfahren, das den Gemeinwillen zur Entscheidungsgrundlage macht, langfristig Erfolg versprechend. (Ich habe den Chef gebeten, das zu erläutern, aber er meint, das sei zu banal. Entschuldigung – die Sekretärin)

14 Eine noch modernere Gruppenstruktur würde auf das Aufstellen von Regeln jenseits physiologischer Gegebenheiten verzichten können, also nur noch die Mensis als Regel akzeptieren, und damit auch eine Struktur negieren; eine solche Gruppe würde sich je nach Problemlage neu konstituieren und autopoetisch regulieren. Vertreter der menschlichen Avantgarde haben dergleichen Anarchismus genannt.

15 Wir ersparen es an dieser Stelle dem Leser und uns, genauer auf die Mechanismen und historischen Emanationen der bürgerlichen Revolution, denn um diese handelt es sich, einzugehen.

16 Sie sind ja nicht doof.

17 Dieses Ziel ist insofern realistisch, als diese Gruppenangehörigen in der Tat häufig doof sind.

18 Glauben die Gruppenmitglieder dagegen weiterhin an ihre Fähigkeit, “Ja” oder “Nein” sagen zu können, halten sie an Volksentscheiden fest.

19 Was wiederum die Berechtigung der Fußnote 17 erhärtet.

20 Diese Qualifikationsmöglichkeit wird nicht nur auf politischem, sondern auch auf ökonomischem Gebiet behauptet und existiert graduell auch – in eben jenem Grade, der Beta-Tieren schon immer von Alphas zum Zweck der Stärkung ihrer eigenen Position eingeräumt worden ist.

21 Wir verweisen zum zweiten Mal auf die Fußnote 17.

22 Daran ändert auch nichts, dass Karl Marx anderer Meinung war.

Bärenabitur

Bärenabitur

Wenn in Bärenleben ein junger Mann oder eine junge Frau alt genug wurde, um künftig zum Kreis der Erwachsenen gezählt zu werden, musste er oder sie eine Prüfung bestehen – daran führte kein Weg vorbei, denn in dieser Beziehung war die Sippe traditionell. Allerdings bestand die Probe, anders als in früheren Zeiten, nicht mehr darin, körperliche Überlegenheit oder hauswirtschaftliche Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Stattdessen war Denken gefordert. Das konnte vielerlei bedeuten, und sich darauf vorzubereiten war deshalb nahezu unmöglich.

Heute war Dels großer Tag. Gestern noch hatten ihm alle viel Glück gewünscht, aber er hatte trotzdem herzlich schlecht geschlafen und trottete so nach seinem Honigwabenfrühstück ziemlich müde zu Bärdel, der dafür verantwortlich war, die Aufgaben zu stellen. Bärdel drückte ihm einen verschlossenen Umschlag, einen Stift und viel Papier in die Pranke.

“Viel Glück!“ sagte er. “Such dir ein ruhiges Plätzchen und lass dir Zeit!“

Unter Zeitdruck stehe ich also offenbar nicht, dachte Del. Er bekämpfte seine Neugier und suchte seinen Lieblingsplatz auf, von dem niemand außer ihm etwas wusste – eine winzige Lichtung inmitten von Haselbüschen. Dort ließ er sich auf seinen noch nicht sehr dicken Hintern plumpsen, seufzte tief und riss den Brief auf. Und las. Und las noch einmal. Und ein drittes Mal. Er wollte es einfach nicht glauben.

“Dialektischer Besinnungsaufsatz: Der Mann lebt für das Werk, die Frau wirkt für das Leben’“ stand da.

Er zwinkerte. Er rieb sich die Augen. Die Worte standen immer noch da, so oft er auch blinzeln mochte.

Die wollen mich verarschen! schoss es ihm durch den Kopf. Das war durchaus möglich. Manche Aufgaben waren so gestellt, dass der Proband erkennen sollte, dass sie nicht ernst gemeint waren. Trotzdem sollte er sie lösen – gefordert war dann eine kreative, unorthodoxe Bearbeitung. Aber war das hier auch der Fall? Wollte jemand vielleicht ernsthaft eine Verifizierung oder Falsifizierung der Aussage, oder möglicherweise eine Synthese?

Quatsch! schalt sich Del. Hier will niemand etwas Bestimmtes, ich bin schließlich nicht in der Menschenschule. Hier sind meine Denkfähigkeit und mein Humor gefragt, und die Inhalte sind nebensächlich, wenn ich sie nur intelligent und logisch verpacke. Also los!

Und er schrieb:

Der Mann lebt für das Werk, die Frau wirkt für das Leben

Der gegebene Aphorismus überzeugt formal durchaus, zeigt er doch rhetorische Meisterschaft. Der als Chiasmus angelegte Buchstabenreim (lebt – Werk; wirkt – Leben) betont die Antithetik der Geschlechter, weist aber auch auf ihr Zusammenwirken hin. Betrachtet man den Sinnspruch unter inhaltlichen Aspekten, ist dagegen Skepsis angebracht.

Mann und Frau in ihrer Heterosexualität sind zweifellos in ihrem Zueinander- Hingezogen-Sein unabdingbar für den Fortbestand der (menschlichen) Art und anderer Spezies, die sich sexuell vermehren, wobei mit dieser Aussage homosexuelle Lebensgemeinschaften keineswegs diskriminiert werden sollen. Beide wirken für das Leben in einem genau zu definierenden Moment: Der Mann schickt seine Spermien in die Genitalregion der Frau, in der sie ein Ei finden und es befruchten, wenn die Frau gerade empfängnisfähig ist, ein Ei, das die Frau dann austrägt, falls sie ihre Leibesfrucht nicht abtreibt. Treibt sie ab, wirkt sie nicht für das Leben. Benutzt der Mann ein Präservativ, tut er es ebenso wenig.

Nehmen wir eine Frau an, die ein oder mehrere Kinder geboren hat. Nehmen wir weiterhin an, sie sei eine “gute“ Mutter – in Dehland hieße das, auf Menschen bezogen, sie bringt ihre Tochter nachmittags mit dem Auto zum Reiten und den Sohn zum – nein, den Sohn braucht sie nirgendwohin zu bringen, er sitzt in seinem Zimmer vor dem Computer, und sie hat es längst aufgegeben, ihn davon wegzuholen. In, sagen wir, Angola, prostituiert sich die “gute“ Mutter und ist deshalb HIV-positiv – nur indem sie ihren Körper verkauft, kann sie ihre Kinder ernähren. Diese Frauen wirken für das Leben, indem sie für das Überleben und zum Teil den Spaß künftiger Spermienträger und Eiträgerinnen sorgen.

Nehmen wir einen Mann an, der ein “guter“ Vater ist – er kann in einem Pueblo in New Mexico seinen Sohn Körbe flechten lehren oder in Dehland ein Jahr oder länger aus seinem Beruf aussteigen, um sich der Erziehung des Nachwuchses zu widmen – auch er wirkt für das Überleben.

Quod erat demonstrandum: Das “Wirken für das Leben“ lässt sich letztlich nur am Zeugungsakt selbst festmachen, für den die Aufzucht der Nachkommen unabdingbar ist, und daran sind Mann wie Frau gleichermaßen beteiligt.

Kommen wir nun zum Leben für das Werk.‘

Zunächst muss definiert werden, welches Werk‘ gemeint ist. Übersetzt man den Begriff zum Beispiel mit VW-Werk‘, könnte der zu analysierende Satz bestenfalls auf Ferdinand Piech und außerdem einige Dutzend VW-Angestellte zutreffen, die seit Jahrzehnten dort malochen und immer noch nicht verstanden haben, dass sie nichts anderes als Verfügungsmasse im großen Spiel um den Shareholder-Value sind – sie haben bisher nur das Glück gehabt, nicht freigesetzt‘ worden zu sein, wie es im Wörterbuch des kapitalistischen Unmenschen so schön heißt. Da die Aussage jedoch allgemeiner Art ist, verbietet sich eine solche Interpretation.

Der Mann allgemein, der tätige, die Natur verändernde, der schaffende Mann ist gemeint, der, den die Lateiner homo faber‘ nennen. Dieser Menschenmann hat wahrhaft viele Werke vollbracht. In archaischer Zeit tobte er noch durch die Wildnis auf der Jagd nach Beute, mitleidig und zugleich nachsichtig belächelt von den Matriarchinnen, die ihnen den Spaß nicht verderben wollten, aber sehr wohl wussten, dass ihre Sammlertätigkeit die eigentlich verlässliche Grundlage einer halbwegs gesicherten Versorgung mit Nahrungsmitteln war. Seit der neolithischen Revolution jedoch entwickelte er sich aufgrund seiner veränderten ökonomischen Stellung zum Haus- und Staatstyrannen, der alles und alle seiner Machtwillkür unterwarf. Auch uns Bären hat er nahezu ausgerottet, aber das nur am Rande.

Dass der Mann Werke vollbringt, ist unbenommen. Aber – lebt er für das Werk? Nein, primär stirbt er dafür! Die Vorstellung, die Menschenmänner vom richtigen Leben haben, setzten und setzen sie gegen konkurrierende Vorstellungen primär mit kriegerischen Mitteln durch.

Lebt dagegen die Frau für das Werk? Was ist das Werk der Frau? Seit einigen Jahrzehnten gibt es auch Managerinnen, aber von deren Werk‘ auszugehen wäre ebenso wenig repräsentativ wie das des Ferdinand Piech. Menschenfrauen haben im Allgemeinen wesentlich weniger Interesse daran, die Welt zu verändern, als ihre männlichen Artgenossen. Das Werk‘ der Frau ist die Erhaltung des Status quo, also die Erhaltung der Art, also die Erhaltung des Lebens.

Fazit: Mann und Frau wirken für das Leben beim Zeugungsakt, wie oben erläutert. Mann und Frau definieren den Begriff Werk‘ als eine bestimmte Qualität des menschlichen Lebens, wobei der Menschenmann auf Veränderung aus ist, die er Fortschritt nennt, die Menschenfrau dagegen auf Lebenserhaltung. Zur Durchsetzung ihrer Ziele bedienen sich die Angehörigen der beiden Geschlechter unterschiedlicher Strategien: Gewaltanwendung bzw. Kooperation. Die Aussage des gegebenen Aphorismus ist folglich nicht haltbar.

“Uff!“ sagte Del, streckte sich, legte sich ein paar Minuten auf den Rücken und dachte gar nichts, bis er sich sein Werk ein zweites und ein drittes Mal durchlas. Hatte er zu viele Gedankensprünge eingebaut? Lag er völlig daneben? Er glaubte es nicht; eigentlich war er recht zufrieden.

“Na, endlich fertig?“ In die winzige Lichtung, von der Del angenommen hatte, dass sie nur ihm bekannt sei, brach ungestüm Kulle ein. “Ich bin dein Prüfer, das wusstest du doch, oder?“

Nein, das hatte Del nicht gewusst. Kulles Eröffnung beunruhigte ihn zutiefst, denn Kulle galt als sehr kleinlich und sehr belesen – er erkannte jeden sachlichen Fehler.

“Wenn dein Aufsatz nicht ausreichend sein sollte, machen wir beide noch eine mündliche Prüfung zusammen. Dann bestehst du bestimmt!“

Kulles Aussage war beruhigend gemeint, wirkte auf Del aber ganz anders.

“Nun reg dich bloß nicht auf!“ brummte Kulle. “Lass mich erst mal lesen!“

Und er las. Del saß währenddessen auf glühenden Kohlen, weil er beobachten musste, wie Kulle stockte, noch einmal las, die Stirn runzelte, den Kopf schüttelte. Aber schließlich nickte er.

Die Haselsträucher wurden lebendig. Bärinnen und Bären zwängten sich durch die eng stehenden Zweige, die ihnen nur mühsam Durchschlupf erlaubten, aber trotzdem schaffte es jede und jeder, einen Leckerbissen in der Pranke zu halten – und alle boten ihr Geschenk gleichzeitig Del dar.

“Unseren Glückwunsch!“ rief Kulle. “Unseren Glückwunsch für ein ausgezeichnetes Bärenabitur! Du hast den dummen Spruch gehörig abgestraft und dabei historische und politische Kenntnisse wie auch Humor bewiesen. Ab heute gehörst du zu den Erwachsenen!“

Dehlandkopfschmerzen

Als Bärdel an einem kühlen, aber sonnigen Maimorgen seinen üblichen Spaziergang zu Tagesbeginn unternahm, allein, ohne Kulle, seinen gewohnten Begleiter, denn der hatte schon am Abend zuvor über heftige Kopfschmerzen geklagt, Dehlandkopfschmerzen, wie er geheimnisvoll, aber nicht erhellend erklärte, als Bärdel also allein kontemplierend unterwegs war, hörte er auf einmal aus einem Busch am Wegesrand ein klägliches Schluchzen. Die Stimme kam ihm bekannt vor, er befürchtete eine Verwundung, er stürzte sich ins Gebüsch.

In der Tat: Wie er vermutet hatte war es Del, der weinte. Allerdings war der kleine Bär nicht verletzt, zumindest nicht äußerlich. Bärdel brummte beruhigend, nahm ihn in den Arm und streichelte ihn sanft. Allmählich verebbte der Krampf, wenn auch die Tränen weiter flossen. Nach einer Weile hatte Del genug Kraft gesammelt, um sich die Augen zu wischen und sich zu räuspern.

„Entschuldige!“ presste er mühsam hervor. „Ich weiß, dass Bären nicht weinen. Aber ich habe heute früh schon Zeitung gelesen, und da…“

Bärdel hörte nicht auf zu streicheln.

„Wer hat dir denn gesagt, dass Bären nicht weinen? Nein, du brauchst nicht zu antworten. Ich will es gar nicht wissen. Aber wer auch immer es war, er hat dir etwas Dummes gesagt. Wir haben Tränen, damit wir sie weinen. Weinen erleichtert uns. Also lass sie ruhig fließen. Was stand denn in der Zeitung?“

„Ein Bär ist in Dehland, ein wilder Bär, der erste seit 135 Jahren, und die Menschen wollen ihn erschießen, nur weil er bei einem Bienenvolk ein bisschen Honig gestohlen und ein paar Schafe von der Weide geholt hat.“

Ach ja, dachte Bärdel, Erkenntnis und Interesse. Aber Del war noch jung. Er brauchte zunächst viel Pädagogik, und vielleicht konnte er danach noch ein wenig Philosophie vertragen.

„Hm“, sagte er. „Ein paar Schafe hat der Bär von der Weide geholt, ja? Die Weide hat einem Menschen gehört, und die Schafe darauf auch, nicht wahr? Also hat der Bär gestohlen, vielleicht sogar geraubt, wenn er sich mit Gewalt Zugang zu der Weide verschafft hat. Und was hat er mit den Schafen gemacht? Er hat sie sich nicht nur geholt, wie du gesagt hast, er hat sie gefressen. Natürlich werden Schafe gefressen, vor allem von Menschen, aber die holen sich vorher die Erlaubnis dafür, indem sie für das Fleisch bezahlen. Das hat der Bär nicht getan.“

Um Tussis Willen, dachte Bärdel, dem der Satz Eigentum ist Diebstahl‘ durch den Kopf schoss, was rede ich da eigentlich? Aber da er nun einmal angefangen hatte, musste er die Sache auch zu Ende bringen.

„Der Bär hat also Gesetze verletzt“, fuhr er deshalb fort. „Das alleine stört die Menschen noch nicht, sie halten wilde Tiere für unintelligent und verzeihen ihnen viele Verstöße gegen ihre Regeln. Dieser Bär aber hat sich anscheinend angewöhnt, seine Nahrung mit Vorliebe dort zu suchen, wo die Menschen leben – und das nehmen sie ihm übel, denn sie haben Angst vor ihm. Deshalb bezeichnen sie ihn als Risikobären‘ und wollen ihn loswerden, und dazu sehen sie zwei Möglichkeiten, nicht nur eine, wie du behauptest: erschießen oder einsperren, also in einen Zoo bringen.“

Del hatte sich während seiner Ausführungen ein wenig beruhigt und schniefte nur noch leise.

„Bärdel, darf ich etwas fragen?“

„Selbstverständlich!“

“Eigentlich habe ich zwei Fragen.“

„Frag nur zu!“

„Sind wir auch wilde Bären?“

Au weia! Bärdel konnte sich gut vorstellen, diese gar nicht einfache Frage ausführlich mit Kulle zu erörtern und dabei in Hitze zu geraten, aber was sollte er Del antworten? Er beschloss, sich kurz zu fassen.

„Ja. Wir sind wilde Bären, aber wir halten uns an die Regeln der Menschen, weil wir mitten unter Menschen leben und sonst nicht überleben könnten.“

Wenn Del jetzt fragt, wie ich Wildheit definiere, behaupte ich auch wie Kulle, schreckliche Kopfschmerzen zu haben, dachte Bärdel, aber die Nachfrage blieb aus.

„Wie lautet die zweite Frage?“ wollte Bärdel wissen.

„Wieso interessieren sich die Menschen für das Schicksal eines einzelnen wilden Bären? Ich meine, sie müssen sich dafür interessieren, sonst stände nichts über ihn in der Zeitung!“

Der Kleine kann gut werden, schoss es Bärdel durch den Kopf, vielleicht spezialisiert er sich mal in Soziologie oder Psychologie, aber bis zur Stunde hat er von beidem keine Ahnung. Vielleicht ist er mit einer Schlichterklärung zufrieden…

„Menschen sind nun mal tierlieb. Besonders…“

Del wusste sehr genau, wie unhöflich es war, in der Bärengesellschaft, die das Senioritätsprinzip hoch hielt, einen Älteren zu unterbrechen. Er tat es trotzdem.

„Menschen sind überhaupt nicht tierlieb. Menschen betreiben Massentierhaltung. Menschen züchten also Tiere, um sie zu vernichten und zu verwerten. Gegenüber manchen Tieren entwickeln Menschen allerdings ein ungewöhnliches Maß an Empathie: dazu gehören Eisbären, Wale, vielleicht auch einzelne verirrte Braunbären. Mir ist nicht klar, warum das so ist!“

Bärdel beschloss, ehrlich zu sein.

„Menschen sind hoch entwickelte Tiere und haben entsprechende Bedürfnisse. Hast du dich schon einmal mit der Hierarchie von Bedürfnissen beschäftigt?“

Del schüttelte den Kopf und schaute beschämt zu Boden. In der gebildeten Bärengesellschaft war es eine Schande, etwas nicht zu wissen.

„Das macht doch nichts!“ tröstete Bärdel. „Du bist ja noch jung. Ich kann dir die Sache erklären. Jedes Tier hat Grundbedürfnisse, braucht Essen und Trinken, muss schlafen und Sex haben können. Solange diese unmittelbaren Bedürfnisse nicht befriedigt sind, können wir an nichts anderes denken. Erst danach entwickeln wir Wünsche, die auf die Zukunft und das Zusammenleben mit anderen Tieren gerichtet sind: Wir wollen zum Beispiel Gerechtigkeit, Zuwendung, Sicherheit und Freundschaft oder Liebe. Wir wollen, dass andere uns respektieren, und wollen Achtung vor uns selbst haben können. Der Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung bezieht sich primär auf die eigene Spezies. Hast du mich verstanden?“

„Ja“, sagte Del und schüttelte dabei den Kopf.

Er ist wirklich ein kluger kleiner Kerl, dachte Bärdel und wartete.

„Nein, doch nicht!“ murmelte Del betreten. „Denn – wenn Menschen Zuwendung von Menschen erhoffen und sich Menschen zuwenden, wenn aber andererseits Menschen Mitleid mit Bären und Walen empfinden, dann…“

„Genau!“ bestätigte Bärdel.

Del schwieg lange Zeit, und Bärdel störte ihn nicht in seinen Gedanken.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist“, sagte Del schließlich. „Dass die Menschen einander gar nicht mögen und ihre so genannte Liebe stattdessen Tieren schenken, die sie überhaupt nicht verstehen. Was ist los mit den Menschen, Bärdel?“

Schon wieder so eine Frage, dachte Bärdel. Laut sagte er:

„Plautus war ein römischer Komödiendichter im 3. und 2. Jahrhundert vor der menschlichen westlichen Zeitrechnung, aber manche Dinge meinte er bitterernst. So hat er gesagt: ‚Lupus est homo homini, non homo‚. Besser bekannt ist der Spruch in der Form ‚Homo homini lupus‚. Thomas Hobbes – den musst du unbedingt mal lesen – hat das Zitat aufgegriffen und benutzt, um den Naturzustand des Menschen zu beschreiben. Er dachte, dieser Naturzustand sei durch einen Gesellschaftsvertrag, in dem ein vernünftiges Zusammenleben festgeschrieben ist, zu überwinden…“

„Aber die Menschen haben es nicht geschafft?“

Graduell schon. Die Sicherheit davor, getötet zu werden, ist in Dehland zweifellos größer als zum Beispiel im Kongo. Aber es gibt auch hier keine Sicherheit vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, im Gegenteil, die Bedrohung, gekündigt zu werden und danach gar keinen oder nur einen prekären Arbeitsplatz zu finden, wächst ständig. Ebenso wächst die Angst vor der Zukunft.“

„Das verstehe ich alles. Nicht klar ist mir, warum die Menschen deshalb einen wilden Bären lieben, der sich nach Bayern verirrt hat.“

Bärdel seufzte, aber lautlos. Ganz so clever, wie er gedacht hatte, war der Kleine doch nicht.

„Weil es Menschen sind, die Menschen verletzen. Wir so genannten wilden Tiere können es ja nicht mehr – wir sind, wie es so schön heißt, ausgerottet. Irgendjemanden müssen hoch entwickelte Tiere, deren Grundbedürfnisse wenigstens weitgehend befriedigt sind, aber lieben oder zumindest mögen. Sich selbst können sie nicht lieben. Also?“

„Oh!“ machte Del. „Danke, Bärdel. Aber ich habe jetzt schreckliche Kopfschmerzen.“

„Ich auch“, sagte Bärdel.

Dehlandkopfschmerzen, dachte er. Aber das dachte er nur.

Kulle in „Tempus“ aktuell

Tempus aktuell: Herr Dr. Kulle…

Kulle

Kulle: Sagen Sie bitte einfach nur Kulle. Ich bin ein Bär, kein Mensch. Also lege ich auch keinen Wert auf menschliche Titel.

Tempus aktuell: Sie mögen Menschen nicht?

Kulle: Der Begriff “mögen” bezeichnet eine Emotion und ist deshalb nur in Grenzen geeignet, mein Verhältnis zu Menschen zu beschreiben. Ich bemühe mich, die Welt und damit auch die Menschen sachlich zu betrachten. Dabei bin ich zu dem Urteil gekommen, dass es eine bemerkenswerte Kluft zwischen dem Selbstverständnis der Menschen und ihrer tatsächlichen Rolle auf der Erde gibt.

Tempus aktuell: Können Sie das erläutern?

Kulle: Natürlich kann ich das – oder haben Sie mich zu einem Interview eingeladen in der Hoffnung, Ihren Lesern einen debilen Bären vorzuführen?

Tempus aktuell: Nein, natürlich nicht. Wir bitten um Entschuldigung. Wir haben Ihnen gerade einen Anlass dafür gegeben, uns nicht zu mögen, und Sie so in Ihrer sachlichen Betrachtung der Menschheit gestört. Wären Sie so freundlich, uns die Aussage zu erläutern, die Sie soeben knapp formuliert haben?

Kulle: Gerne. Die Menschen haben erkannt, dass sie erkennen können, und gelernt, Erkanntes durch Sprache mitzuteilen und zu tradieren – erst mündlich, wesentlich später schriftlich. Die Fähigkeit zu denken impliziert die Notwendigkeit, Fragen zu stellen, nicht nur danach, wo vermutlich der nächstgelegene Bienenstock zu finden ist, in dem man Honig findet, sondern nach der Vergangenheit, was zuerst leicht ist, wenn man über ein intaktes Gedächtnis verfügt, aber problematisch wird, wenn man zurückliegende Handlungen angesichts der Frage reflektiert, ob sie richtig oder falsch gewesen sein mögen. Hier zeigt sich die Wiege von Ethik und Moral. Dabei ist durchaus Brauchbares herausgekommen, wie zum Beispiel das Fünfte Gebot1.

Damals – und auch heute – leider nur bezogen auf Angehörige des eigenen Stammes oder Volkes, aber, wenn man von allen Beschränkungen absieht, durchaus ein Nucleus des heute bedauerlicherweise weitgehend in Vergessenheit geratenen Kategorischen Imperativs Immanuel Kants, den er 1788 formuliert hat: “Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit als Grundlage eines allgemeinen Gesetzes gelten könnte.“

Fragen zeigen sich auch in Bezug auf die Zukunft, denn wer denken kann, entwickelt eine Vorstellung davon, dass es, wenn es ein “Gestern” gab, auch ein “Morgen” geben wird oder zumindest geben könnte, von dem man im Gegensatz zum “Gestern” aber nicht angeben kann, wie es aussehen wird. Wo ein “Morgen” gedacht wird, ist auch ein Ende denkbar, ein Ende alles Seins, ganz sicher aber ein Ende der individuellen Existenz, sind denkende menschliche Wesen doch im Stande, das Altern der Haut, den Haarausfall und das Schwinden der Potenz zu beobachten. Eine realistische Antwort auf die Frage nach der Zukunft ließe sich in den lapidaren Satz fassen: “Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!”. Menschen allerdings weigern sich, diese simple Wahrheit zu erkennen, und konstruieren stattdessen endlose Lebenszyklen, die irgendwann im Nirwana enden, oder wie auch immer geartete Paradiese.

Tempus aktuell: Warum haben Sie etwas gegen religiöse Vorstellungen?

Kulle: Theoretisch betrachtet, habe ich nichts dagegen. Im Gegenteil: Es ist soziologisch äußerst interessant zu untersuchen, wer wann warum welche wenig wahrscheinliche Welterklärung zusammengebastelt hat. Praktisch allerdings sieht die Sache anders aus, denn die meisten Menschen mit religiösen Vorstellungen frönen dem Wahn, ihre Sicht der Dinge sei die richtige. Auch in diesem Zusammenhang muss ich leider darauf verweisen, dass die Ideen der europäischen Aufklärung in Vergessenheit geraten sind – man denke etwa an Lessings “Ringparabel”2.

Das kann ich mit Fug und Recht natürlich nur denjenigen vorwerfen, die qua kultureller Entwicklung mit diesen Ideen jemals in Berührung kommen konnten. Dazu gehören zum Beispiel US-amerikanische Präsidenten, und auch der gegenwärtige sollte als Absolvent von Harvard zumindest einmal davon gehört haben.

Tempus aktuell: Sie werfen George Walker Bush vor, der Welt seine Ideen oktroyieren zu wollen?

Kulle: Vorsicht, bitte! Ich hege begründete Zweifel daran, dass dieser Menschenmann eigene Ideen hat. Aber die Gedanken, die er für seine eigenen hält, will er der Welt oktroyieren, in der Tat. Als wiedergeborener Christ, als der er sich bezeichnet, strebt er eine Weltordnung an, die seinen Vorstellungen von Demokratie und Kapitalismus entspricht, und diese Vorstellungen sind nicht nur weltlicher, sondern auch transzendenter Natur. Warum sollte er nach praktisch jeder seiner offiziellen Ansprachen sagen: “So help me God”, wäre es anders?

Tempus aktuell: Nun ja, wir geben zu, Bush ist schon etwas merkwürdig. Aber man kann das doch als Einzelfall werten.

Kulle: Nein, das kann man nicht. Religion durchtränkt die amerikanische Gesellschaft immer stärker.

Nehmen Sie die Kontroverse um den Darwinismus. Da gibt es die dummen Christen, die meinen, die Daten, die im Alten Testament gegeben werden, wörtlich nehmen zu müssen. So kommen sie zu dem Schluss, ihr Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen, und seitdem seien noch nicht einmal 5000 Jahre vergangen. Diese Leute sind so dumm, dass sie selbst in den USA meist ausgelacht werden. Anders verhält es sich mit den Kreationisten, die die Evolutionstheorie deshalb ablehnen, weil das irdische Leben so komplex und folgerichtig sei, dass dieses Leben nur als Schöpfung, also als Werk eines Schöpfers, gedeutet werden könne. Die haben inzwischen in den halben USA die Schulbücher zumindest zum Teil erobert. Noch “cleverer” sind sogenannte Wissenschaftler, die paläontologische und biologische Forschungsergebnisse, die Darwins Theorien beweisen, schlankweg in Frage stellen.

Oder nehmen Sie die Templeton Foundation. 40 Millionen Dollar jährlich investiert diese Stiftung in sogenannte wissenschaftliche Projekte, unter anderem um die Heilkraft des Betens nachzuweisen, nota bene, wissenschaftlich nachzuweisen.

Tempus aktuell: Sie werden aber zugeben, dass die internationale Politik der USA, und damit meinen wir auch die Interventionspolitik, durchaus weltliche Züge trägt.

Kulle: Das gebe ich ohne weiteres zu. Wenn das, was zum Beispiel in Abu Ghraib passiert ist, 3 nicht weltlich war, dann weiß ich nicht, was weltlich ist.

Tempus aktuell: Kulle, Sie sind zynisch.

Kulle: Ich bin Realist. Aber ich gebe zu, dass Realismus zu Zynismus führen kann und manchmal muss.

Tempus aktuell: Kommen wir zu einem anderen Aspekt. Die Menschen in Südostasien und in der sogenannten islamischen Welt sind in der Regel nicht mit den von Ihnen zu Recht hoch geschätzten Ideen der europäischen Aufklärung in Berührung gekommen. Werfen Sie denen auch etwas vor?

Kulle: Vielen Menschen in diesen Gegenden der Welt könnte ich nichts weiter vorwerfen als ihre Existenz, und das wäre unsinnig, denn daran sind sie unschuldig. Sie haben keinen Zugang zu Bildung, leben häufig in Staaten, deren Regierungen ihnen die Beschaffung korrekter Informationen versagen, und haben oft keine Kraft, für die Beseitigung dieser Mängel zu kämpfen, weil es sie alle Energie kostet, ihr Leben zu fristen. Wenn ich also jemandem etwas vorwerfen soll, dann müssen Sie mir schon jemanden nennen, auf den die obige Charakterisierung nicht zutrifft.

Tempus aktuell: Wie wäre es mit Osama Bin Laden?

Kulle: Eine gute Wahl. Osama verfügt über Bildung, er hat Ingenieurwesen und Betriebswirtschaft studiert, und zwar in Saudi-Arabien und im Libanon, ist also ein Kind der islamischen Welt. An Geld mangelt es ihm ebenfalls nicht: Nach dem Tod seines Vaters erbte er etwa 80 Millionen Dollar. Bleibt die Frage nach dem Zugang zu korrekten Informationen.

Tempus aktuell: Und?

Kulle: Ich habe gezögert, weil ich weiter ausholen müsste, um dazu Stellung zu nehmen.

Tempus aktuell: Holen Sie ruhig aus!

Kulle: Nun gut.

Wir müssen zunächst definieren, was korrekt ist, korrekt im gesellschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Sinn, und damit sind wir bei der Problematik von Erkenntnis und Interesse. Das, was objektiv korrekt, also sachlich richtig ist, wie zum Beispiel die Aussage: “Zwei mal zwei ist vier”, muss sich nicht mit den Interessen eines Individuums decken. Ein Mensch kann zum Beispiel wollen, dass Zwei mal Zwei gleich Fünf ist und dass alle seine Meinung teilen. Wenn Sie wissen wollen, wie so etwas möglich ist, lesen Sie “1984” von George Orwell, das ist ein hervorragender und leider immer noch aktueller Roman, aber das nur am Rande; wir sind hier nicht im Literarischen Quartett.

Das falsche Interesse kann die richtige Erkenntnis dominieren, das ist schlimm genug. Schlimmer noch: Interessierte erkennen in der Regel nicht, wenn sie aufgrund ihres Interesses nicht in der Lage sind, Erkenntnis zu gewinnen. Sie setzen Erkenntnis und Interesse gleich. Demzufolge wollen sie nur das zur Kenntnis nehmen, was ihrem Interesse entspricht.

Aber es ist ebenfalls durchaus möglich, dass Erkenntnis und Interesse deckungsgleich sind. Was ist zum Beispiel falsch an der Erkenntnis, dass die Energiereserven im arabischen Raum, also primär das Rohöl, überwiegend nicht von den dort lebenden Muslimen kontrolliert und verwertet werden, sondern von westlichen Ölkonzernen? Was ist falsch an dem Interesse, dass diese Rohstoffe nicht von amerikanischen, französischen, britischen oder spanischen Multis ausgebeutet werden, sondern von dort ansässigen nationalen Unternehmen? Letzteres ist übrigens eine zentrale Forderung Bin Ladens.

Tempus aktuell: Moment mal – Sie verteidigen den Mann?

Kulle: Ich verteidige niemanden, und ich klage auch niemanden an. Ich analysiere. Das hätten Sie eigentlich inzwischen begreifen sollen.

Tempus aktuell: Entschuldigung.

Kulle: Bitte. Wenn Sie gestatten, würde ich meine Analyse gerne fortsetzen. Ich war noch nicht fertig.

Tempus aktuell: Wir bitten darum.

Kulle: Danke.

Es gibt andere Ziele Bin Ladens, bei denen ein Urteil schwerer fällt als bei dem obigen Beispiel. Ich will darauf nicht im einzelnen eingehen, weil ich annehme, dass Sie in der nächsten Ausgabe der Tempus aktuell noch anderes publizieren wollen als das Interview mit mir. Nur so viel: Die Forderung nach Beendigung der US-Militärpräsenz in islamischen Staaten wie Saudi-Arabien erscheint mir durchaus diskussionswürdig. Inakzeptabel ist dagegen die Zielsetzung, Staaten mit islamischer Bevölkerung in Theokratien umzuwandeln und das gesellschaftliche Leben an den Grundsätzen der Scharia auszurichten – das widerspräche den Forderungen der Aufklärung.

Kommen wir von den Zielen zu den Mitteln. Da Kants oben bereits erwähnter Kategorischer Imperativ zweifellos der sinnvollste Grundsatz ist, der jemals von Menschen über menschliches Zusammenleben geäußert worden ist, sind terroristische Methoden in jedem Fall abzulehnen, gleichgültig, ob sie sich gegen einzelne prominente politische Individuen oder gegen anonyme Massen richten.

Tempus aktuell: Wie stoppt man einen Osama Bin Laden?

Kulle: Gar nicht.

Tempus aktuell: Wie dürfen wir das verstehen?

Kulle: Wie ich es gesagt habe.

Tempus aktuell: Sie meinen also, der Kampf gegen al-Qaida sei hoffnungslos?

Kulle: Wieso? Eben noch sprachen wir über Bin Laden, und nun bringen Sie eine Organisation ins Spiel, deren Kopf Osama angeblich und vermutlich sogar tatsächlich ist. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Tempus aktuell: Inwiefern?

Kulle: Der Kampf gegen einen Menschen wie Osama Bin Laden, der den Fall orthodoxer Kalifate betrauert, der jeglichen westlichen Einfluss als Intrigen von “Kreuzzüglern” diffamiert und der gegen Sozialismus wettert, ist aussichtslos. Aussichtslos insofern, als es vermutlich nicht gelingen wird, ihn von seinen Ansichten abzubringen.

Der Kampf gegen eine Organisation wie al-Qaida ist dagegen sehr vielversprechend. al-Qaida ist eine Hydra mit vielen Köpfen: Die heißen Unwissenheit, Hoffnungslosigkeit, Verunsicherung, eschatologische Verheißung. Und es gibt einen kleinen Kopf mit Namen intellektueller Verblendung und Selbstgerechtigkeit. Den wird man nie abschlagen können – denken Sie zum Beispiel an Theodore John Kaczynski4, aber es ist leicht, die anderen zu dekapitieren.

Tempus aktuell: Wie wollen Sie die anderen Hydra-Köpfe abschlagen?

Kulle: Ich will das zwar, aber ich kann es nicht, denn ich bin ein Bär. Sie haben es mit einem menschlichen Problem zu tun. Sie als Menschen müssen das wollen und tun. Wenn Sie das wollen, ist es einfach: Sie brauchen nur eine gerechte Weltpolitik zu betreiben und dabei die Menschenrechte zu beachten. Sie brauchen nur die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und das Geld auf den Platz zu verweisen, den es einnehmen muss, wenn Sie als Menschen denn schon ohne Geld nicht auskommen, auf den Platz des allgemeinen Warenäquivalents und nicht auf den des Kapitals.

Tempus aktuell: Kulle, wir danken für das Gespräch.

Kulle: Das ist schön von Ihnen, aber ich bin mit Ihnen noch nicht fertig. Ich habe nämlich auch noch eine Frage, Wie stoppt man einen George Walker Bush?

Tempus aktuell: Ähhh – gar nicht…

Kulle: ich danke für das Gespräch.

Kulle

Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Du sollst nicht töten.
  2. Die “Ringparabel” gilt als Kernstück von Gotthold Ephraim Lessings Drama “Nathan der Weise”. Die Kernaussage der Parabel lautet, dass die drei monotheistischen Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam vor Gott gleichwertig sind. Sie fordert die Gläubigen indirekt auf, einander nicht zu bekämpfen, sondern den Geboten ihres Gottes, der ihrer aller Gott ist, mit Barmherzigkeit und (Nächsten-)liebe zu gehorchen.
  3. In dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib haben die Bewacher aus den Reihen der US-amerikanischen Besatzungstruppen Häftlinge gefoltert, unter anderem in Form sexueller Demütigung.
  4. Theodore J. Kaczynski, bekannt als “Unabomber”, wurde wegen Mordes in den USA verurteilt. weil er etwa 18 Jahre lang Briefbomben an verschiedene Personen geschickt hatte. Dadurch wurden drei Adressaten getötet und 29 verletzt. Als Motiv gab Kaczynski an, er habe gegen die negativen Auswirkungen des technischen Fortschritts kämpfen wollen.

 

Autotheater

Bärdels Geburtstag stand wieder einmal bevor und warf seine Schatten voraus. Wie alle Jahre wurde der Jubilar vor seinem Ehrentag für lange Abende aus der Höhle verbannt und musste allein draußen frieren, während die Sippe darüber beriet, welche Überraschung sie ihm dieses Mal bereiten wollte. Schließlich einigten sich die Bären, der Frosch und das Schwein auf das Motto: „Bärdel liebt Märchen und eine gute Show.“ Und eifrig begannen sie mit den Vorbereitungen.

Selbstverständlich war für den Festtagsabend ein Gelage geplant mit allem, was Bärenküche und -keller hergaben, aber vorher musste ein Festakt stattfinden, und für den übte man tagelang – was wieder bedeutete, dass der arme Bärdel, der ja überrascht werden sollte, für quälend lange Stunden ins Exil geschickt wurde.
„Wenn sie so lange proben müssen, wird es wohl eine tolle Überraschung geben!“ tröstete er sich und fügte sich in sein Schicksal.
Endlich war soweit.
Nach Bärenbrauch gaben sich alle am Morgen des großen Tages ganz normal und taten, als wäre nichts. Unter Bären gilt es nämlich als äußerst unhöflich, jemandem vor drei Uhr nachmittags zu gratulieren. Dann aber ging es los!
Bärdel lag, äußerlich gelassen, aber innerlich natürlich gespannt wie ein Flitzebogen, auf einer Sommerblumenwiese und nuckelte den Nektar aus ein paar Margeriten, als er von der gesamten Horde überfallen wurde. Man wünschte ihm alles Gute, insbesondere viel Honig, und umarmte ihn nach Bärenart, wobei es äußerst kräftig zuging. Als das allgemeine Durcheinander, das dabei entstanden war, vorüber war, zogen sich alle wieder zurück. Nur Tumu bliebt bei ihm und erklärte:
„Wir haben ein kleines Stückchen für dich eingeübt. Ein Stück aus der Menschenwelt, lebenswahr und echt. Du wirst schon sehen!“

Und schon ging es los. Ein Zug als Menschen verkleideter Bären näherte sich, die meisten im Blaumann, einige auch in Nadelstreifenanzügen. Sie schwenkten Fahnen mit Firmenlogos – da stand VW, Ford und Toyota, da prangte der Mercedesstern. Gruppen von Blaumännern sammelten sich jeweils um einen Nadelstreifenanzug und jubelten ihm zu. Die Nadelstreifen nahmen die Ehrung geschmeichelt entgegen und baten nach einer Weile um Ruhe. Im Chor erklärten sie dann:

„Liebe Belegschaft!
Ich freue mich, dass in unserem Unternehmen Harmonie herrscht. Ihr arbeitet gut, und wir Manager honorieren das, indem wir unserer sozialen Verantwortung gerecht werden. Wir verdienen gut, aber auch wenn das jemals anders sein sollte, werden wir keinen von euch entlassen. Eher verzichten wir selbst auf unser Gehalt. So lasst uns denn weiter schaffen, zum gemeinsamen Wohl und zur Beförderung der individuellen Mobilität der Menschheit, im ehrlichen Konkurrenzkampf mit den anderen Konzernen!“

Die „Belegschaften“ applaudierten frenetisch.

Jetzt trat Kulle auf, seine geliebte rote Fahne schwenkend. Als er die offensichtliche Harmonie von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bemerkte, ließ er sie sinken und lächelte glücklich.
„Es sieht so aus, als brauchte ich die nicht mehr!“ sagte er laut und deutlich.

Alle Schauspieler und auch Tumu sahen Bärdel erwartungsvoll an. Bärdel merkte das natürlich und lächelte, aber deutlich gequält.
„Das habt ihr schön gemacht,“ sagte er und gab sich Mühe, Begeisterung in seine Stimme zu legen. „Ihr wisst ja, dass ich Märchen liebe, das habt ihr deutlich gezeigt. Aber…“ Er machte eine lange Pause und suchte erkennbar nach Worten. „Aber,“ fuhr er schließlich fort, „jetzt ist es sicher Zeit, dass wir zu essen und zu trinken …“
Tumu fiel ihm ins Wort.
„Bärdel, mein lieber Mann, wir alle wissen, wie höflich du bist, und wir schätzen dich dafür. Aber dass dir die Aufführung nicht richtig gefallen hat, kann dir jeder von uns an der Bärennasenspitze ablesen. Du hast recht, wir haben dir ein Märchen gezeigt, aber das war nur der Auftakt. Jetzt kommt das wirkliche Theater!“
Wieder gruppierten sich die Bären neu. Die meisten setzten sich zusammen mit Bärdel und Tumu ins Publikum, andere verschwanden, um sich als Schauspieler zu kostümieren, ein paar bauten rasch eine Bühne  auf mit einem Vorhang davor.

Marionettentheater. Die Fäden, an denen die Spielfiguren hängen, sollen deutlich sichtbar sein.
Ein besserer Salon eines Hotels oder einer Villa, der Ort ist nicht genauer bestimmt. Kirk Kerkorian und Rick Wagoner Jr. treten auf. Wagoner führt Kerkorian und geleitet ihn zu einem Sitzplatz.
Wagoner: Sitzen Sie bequem?
Kerkorian faucht: Nein! Solange die Aktien von General Motors als Junkbonds gehandelt werden, werde ich nirgendwo bequem sitzen! Zufälligerweise besitze ich 44 Millionen Aktien dieses Schrotthaufens, falls Ihnen das entgangen sein sollte! Und was fällt Ihnen dazu ein?
Don Leclair erscheint in der offenen Tür und bleibt stehen. Da er kein Geräusch verursacht hat, bemerken ihn Kerkorian und Wagoner nicht. Leclair hört ihrem Gespräch zu.

30000 Arbeitsplätze wollen Sie abbauen – lächerlich! Das sind noch nicht einmal 10%! Außerdem haben Sie nichts davon – laut dem intelligenten Tarifvertrag, den Sie ausgehandelt haben, müssen Sie auch entlassenen Arbeitern weiterhin Bezüge zahlen. Ganz zu schweigen von den Krankenversicherungskosten für Zehntausende, für die Sie aufzukommen sich verpflichtet haben, als die Zeiten noch besser waren. Oder besser zu sein schienen. Ich sage Ihnen das, was ich schon seit langem sage: Melden Sie endlich Insolvenz an, um das Schlimmste zu verhüten! Aber Sie hören ja doch nicht auf mich. Also bringen Sie mir wenigstens einen Whisky.
Wagoner: Scotch oder Bourbon?
Kerkorian: Geschmacklose Frage – Scotch natürlich! Von dem amerikanischen Kram habe ich die Nase voll.
Wagoner geht zur Bar und bereitet Kerkorian und sich selbst einen Whisky mit Wasser. Als er sich wieder umdreht, bemerkt er Don Leclair.
Wagoner:  Hallo, Don! Wie geht’s? Auch einen Drink?
Leclair: Gerne, ja. Mineralwasser, wenn es dir nichts ausmacht.
Wagoner: Bescheiden, bescheiden. Du baust wohl auch nicht genug Arbeitsplatze ab und solltest demnächst Insolvenz anmelden, oder?
Wagoner serviert die Drinks, er und Leclair setzen sich.
Leclair: Danke. Ich hoffe, dass 30000 Freistellungen in Nordamerika ausreichen werden, um Ford wieder auf die Gewinnerschiene zu bringen. Wir haben uns ein bisschen verkalkuliert, weil wir hauptsächlich auf den Verkauf von Geländewagen gesetzt haben. Sind ja auch tolle Tools, befriedigen das männliche Ego total. Werden aber in letzter Zeit zunehmend weniger angenommen, wegen der Entwicklung der Spritpreise. An niedrigerem Verbrauch haben unsere Ingenieure nicht gearbeitet, warum auch, Autokonzerne haben ihre Interessen auch im Energiebereich.  lacht  Wem sage ich das eigentlich?
Wagoner: Ford geht es also auch nicht gut?
Leclair: Abwarten. Immerhin ist unsere Aktie kräftig gestiegen, als der Stellenabbau bekanntgegeben wurde. Und wir verkaufen ziemlich viel auf Kredit – das Bankgeschäft macht auch Mist, und zwar erstaunlich viel. Allen Mist im Moment, wenn ich ehrlich sein soll. Mit Autos kann man kein Geld mehr verdienen.
Kerkorian: Das klingt nicht so verlockend, das ich mein Portfolio umschichten möchte. Wo ist eigentlich der Dritte im US-Bund? Ich meine, wie geht es Chrysler?
In der offenen Tür erscheint Dieter Zetsche und bleibt stehen
Wagoner und Leclair im Chor: Mr. Kerkorian, Chrysler gibt es nicht mehr. Das heißt jetzt Daimler-Chrysler!
Kerkorian: Jeezus, ich werde alt. Natürlich – Daimler. Fucking Germans. Ich hasse sie. Ist der CEO von denen etwa auch hier?
Zetsche: Guten Abend. Darf ich mich setzen, obwohl ich nur ein fucking German bin? Und auch etwas trinken? Ich hätte gerne einen Apfelsaft,
Zetsche setzt sich unaufgefordert, bekommt aber nichts zu trinken, da niemand sich angesprochen fühlt.
Na gut, es geht auch ohne. Wir verfluchten Deutschen, oder genauer gesagt, ich, ich habe bei Chrysler bereits 26000 überflüssige Stellen gestrichen. In der deutschen Produktion werden demnächst 8500 Jobs in der Produktion abgebaut, in der Konzernverwaltung weltweit 6000.
Kerkorian: Sie verdanken es nur Chrysler, dass es Sie noch gibt!
Zetsche: Da ist was dran. Bei Mercedes haben wir uns verkalkuliert. Wir haben den Smart gebaut, den in den USA niemand fahren will – würde ich auch nicht tun, mich in der winzigen Autokabine auf dem Highway bewegen zwischen all den Riesentrucks. Außerdem haben die traditionellen Mercedes in der letzten Zeit mehr als ein peinliches technisches Problem gehabt. Aber wenn ich Don Leclair richtig verstanden habe, ist es nichts Außergewöhnliches, sich zu verkalkulieren. Und was GM angeht – unsere Aktien sind weit davon entfernt, als Junkbonds betrachtet zu werden.
Kerkorian: Sag ich doch – ohne Chrysler wären Sie nichts! Überhaupt die Germans – fucking Nazis! Wir haben die Reeducation gemacht, ohne uns hätten sie noch nicht einmal Democracy und wüssten überhaupt nichts von Marketing!
Bernd Pietschesrieder tritt auf und bleibt in der Tür stehen
: Bei allem Respekt, Mr. Kerkorian – die Nachkriegszeit ist eine Weile vorbei! Sie haben uns vielleicht Demokratie beigebracht, vielleicht, denn ob wir Demokratie praktizieren und Sie Demokratie beibringen können, ist bis heute fraglich. Aber darum geht es jetzt nicht. Mir als VW-Chef geht es um Marketing – erzählen Sie mir bloß nicht, das hätten die Deutschen von den Amerikanern gelernt! Hat es je ein US-Konzern geschafft, einen großen Teil der Bevölkerung zum Kauf von Optionsscheinen auf ein Produkt zu verführen, dessen Herstellung noch nicht einmal begonnen hatte, wie wir? Nein! Aber deutsches Marketing – man nannte das damals anders – hat es möglich gemacht. Es ging um den KdF-Wagen, den späteren Volkswagen.
Er geht zur Bar, sucht unter den Weinflaschen, entscheidet sich schließlich für ein Glas roten Württembergers, setzt sich nicht, sondern geht zurück zur Tür.
Zetsche: Und was nützt euch das Nazi-Marketing? Die VW-Werke sind heute nur zu 80% ausgelastet, der Absatz stagniert. Euch geht es ganz schön schlecht!
Pietschesrieder: Unsinn! Die Aktie hat in den letzten Tagen um 8% zugelegt! Denn wir werden die Arbeitszeit verlängern, natürlich ohne Lohnausgleich, parallel dazu den Tarif senken und bis zu 20000 Stellen abbauen – das ist das Erfolgsrezept.
Leclair: Ich weiß nicht recht – irgendwie kommt mir das widersinnig vor, Irgend jemand soll mal gesagt haben: „Autos kaufen keine Autos“ – wer das wohl gewesen sein mag? Und wie passt der Ausspruch logisch zu dem, was wir tun?
Kerkorian ist eingeschlafen und bekommt von dem folgenden Gespräch nichts mehr mit.
Wagoner, Zetsche und Pietschesrieder im Chor;  erst langsam, dann immer schneller, mehrfach wiederholt:
Entlassen ist logisch! Entlassen bringt Erfolg!
Entlassen ist logisch! Entlassen bringt Erfolg!
Entlassen ist logisch! Entlassen bringt Erfolg!…
Alle drei hören wie auf Kommando zusammen auf, schauen einander an, grinsen sich verschwörerisch zu, stehen auf, umarmen sich. Leclair ist überzeugt worden und gesellt sich zu ihnen.
Leclair: Ich sei, gestattet mir die Bitte,  in eurem Bund der Dritte – äh, Vierte.
Wagoner: Schon gut, schon gut. Jeder von uns hat ab und zu einen Schwächeanfall, das ist ganz normal.
Zetsche: Der Vierte im Bund – wer fehlt denn eigentlich noch?
Wagoner: Carlos Ghosn ist verhindert – es gibt eines der üblichen Probleme in den Renault-Werken in Frankreich. Ungerechtfertigte Forderungen der Arbeiter, Streikdrohungen und so weiter. Aber Takeshi Suzuki hat zugesagt.
Zetsche: Was – wir sind nur noch zu sechst?
Leclair, Pietschesrieder und Wagoner reden durcheinander.
Pietschesrieder: Gut so – wir sind wieder wer! Für sechs ist Platz auf der Welt, sagen die Analysten – wir werden dazugehören!
Wagoner: Und von den sechs hat GM die rote Laterne! Lange halten wir unsere Zahlungsverpflichtungen nicht mehr durch, wenn der Absatz weiterhin stagniert. Ob der alte Kerkorian doch recht hat?
Leclair: 25 Milliarden Dollar Barmittel sollten reichen, um Ford wieder flott zu machen, damit wir weiterhin dazugehören!
Takeshi Suzuki tritt auf.
Suzuki: Wozu dazugehören?
Alle außer Wagoner im Chor: Zum Klub der Automobilkonzerne der Welt!
Suzuki lacht schallend: IHR wollt dazugehören? IHR? Sehr ernst: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, in ein paar Jahren wird dieser „Klub“ nur noch ein Mitglied haben, und das wird Toyota sein!
Alle anderen lachen ihn aus.
Suzuki: Euch wird das Lachen schon vergehen! Sagen Sie mal, Herr Pietschesrieder – welche Investitionen plant VW in der nächsten Zeit?
Pietschesrieder flüstert: Wir werden die Investitionen um 19 Prozent reduzieren.
Suzuki: Schau, schau – und das kann sich VW nicht leisten! Unsere Investitionen werden gleich bleiben! Wie lange brauchen Sie für den Bau Ihres Golf?
Pietschesrieder flüstert noch leiser: 48 Stunden.
Suzuki: Und Toyota baut den Corolla in 20 Stunden! Wer von Ihnen hat eine Gewinnsteigerung im letzten Jahr von über 30 Prozent? Keiner – ich weiß! Bei Toyota sind es 34 Prozent! Bei wem steigt die Nachfrage? Bei keinem – aber bei Toyota!
Wagoner springt auf und verheddert sich dabei in den Marionettenfäden: Aber wir sind immer noch die Nummer Eins!
Suzuki: Auf dem Papier! Nach Umsatz haben wir General Motors längst überholt. Und unsere Aktien sind keine Junkbonds!
Kerkorian wacht wieder auf.
Wagoner: Verdammt, was sind das eigentlich für blöde Fäden? Wer macht mich hier zur Marionette?
Suzuki: Das ist die unsichtbare Hand des Marktes. Sie wird an euch bald kein Interesse mehr haben und euch fallen lassen. Das wird, wie man weiß, zum Nutzen aller sein. Denn das eigennützige Streben der wirtschaftenden und wirtschaftlich erfolgreichen Menschen trägt im System der natürlichen Freiheit zum Wohl der gesamten Gesellschaft bei. Das wissen wir doch alle seit Adam Smith. Künftig wird es weltweit nur einen Autoproduzenten geben: Toyota!
Kerkorian: Und wo bleibt dann der Markt?
Das Licht geht aus.

Jetzt klatschte Bärdel wirklich begeistert, und alle andren fielen ein.
„Das war zwar kein Märchen, aber prima zeitkritisches Theater! Schade nur, dass wir uns geschworen haben, uns nicht mehr in diese menschlichen Schweinereien einzumischen – oh, entschuldige bitte, Piggy! Und jetzt habe ich wirklich Hunger und Durst! Darf ich euch einladen?“
Muss noch erwähnt werden, dass in Bärenleben an diesem Abend ein rauschendes Fest gefeiert wurde?

Alles Theater

Es kommt niemals vor, dass es Bären langweilig wird – zu viel ist zu tun, zu viel gibt es zu lernen. Aber es kann durchaus sein, dass den Bären die Menschenwelt, die sie umgibt, als so merkwürdig erscheint, dass sie ihr nicht mehr mit den Mitteln der wissenschaftlichen Analyse, sondern nur noch mit Satire begegnen zu können glauben. Dann fangen sie an, Theater zu spielen. Besonders engagiert bei solchen Aktivitäten sind Athabasca, Bärdel, Kulle, Ramses und Tumu.
Anfang Juli war es wieder einmal so weit. Es war Zeit für ein Sommertheater, befand die Fünferbande, spielten die Menschen ihnen doch die wichtigsten Rollen vor – sie brauchten sie nur zu imitieren. Kulle, belesen wie immer, wusste, dass es dafür den Begriff der Realsatire gab, aber selbst er konnte den Ursprung dieses Begriffs nicht benennen. Klar war nur, dass die ernst gemeinte Realität so satirisch geworden war, dass sie kaum übertrieben zu werden brauchte, um ihre Schwächen darzustellen.
Natürlich würden sie die dehländische Politik aufs Korn nehmen, da gab es gar keine Frage. Zu diskutieren war nur, welche Rollen unabdingbar waren und wer welche Rolle übernehmen sollte.
“Also“, sagte Bärdel und kraulte sich am Kopf, “ich finde, ich sollte den Müntefering geben. Ich bin doch auch sonst immer so integrativ und vertrauenswürdig…“ Er grinste unschuldig.
“Gute Idee!“ lobte Tumu. “Aber dass du mir jetzt bloß nicht anfängst, Zigarillos zu rauchen! Ich wäre übrigens gerne die Merkel!“
“Einspruch!“ sagte Bärdel energisch. “Dazu bist du nicht gemein genug!“
“Einspruch gegen den Einspruch!“ widersetzte sich Tumu. “Die ist zwar gemein, aber die tut nett. Und genau das werde ich prima hinkriegen, denke ich – nett, wie ich bin.“
Bärdel gab sich geschlagen.
“Und wer bin ich?“ beschwerte sich Athabasca. “Ich bin doch auch nett, oder?“ fragte sie mit kokettem Augenaufschlag.
“Du bist mehr als nett, aber wirklich nette Rollen gibt es in diesem Spielchen nicht. Was hältst du von der Roth? Die kann genauso gut mit den Wimpern klimpern wie du!“ schlug Kulle vor.
“Du wagst es, deren Basedow-Augen mit mir zu vergleichen? Aber – das ist nicht das eigentlich Schlimme. Die Frau hat doch nichts zu sagen!“
“Ich kann dir nur zustimmen. Das Problem ist aber, dass keine der wesentlichen Protagonistinnen in unserem Spiel etwas Wichtiges zu sagen hat – du wirst dich damit abfinden müssen!“
Athabasca fügte sich schmollend.
“Bekomme ich dann wenigstens meine Traumrolle?“ erkundigte sich Ramses bescheiden.
“Und die wäre?“ wollten alle wissen.
“Na, Fischer natürlich! Hauptsächlich bin ich grün, wie man sieht, aber mein gelber Bauch gibt mir auch einen Touch von Giudo, von Realo, von Markliberalismus, also sogenannter Modernität – Joschka, wie er leibt und lebt!“
Niemand widersprach, nur Kulle fragte, obwohl die Frage wegen der vorangegangenen Rollenverteilung deutlich rhetorische Züge hatte: “Und was bleibt mir?“
“Du wirst deine rote Fahne für eine Weile wegstellen müssen“, schmunzelte Bärdel. “Die bleibt die Heldenrolle – der Schröder.“
Kulle war geschmeichelt – er war und blieb eben eitel.
“Wollen wir das Stück proben?“ fragte er.
“Ich denke, das ist überflüssig. Wir alle wissen doch, was wir zu sagen haben. Anstatt überflüssige Zeit für Proben zu verschwenden, würde ich gerne noch ein wenig Kant lesen, und ihr wisst bestimmt auch Besseres zu tun. Ich denke, wir können die Bärenversammlung heute Abend mit unserem kleinen Kabinettstückchen überraschen!“ schlug Bärdel vor.
Niemand widersprach.
Am Abend kündigte Manfred zu Beginn der Vollversammlung einen kleinen Sketch an, ohne nähere Erläuterungen hinzuzufügen, und schon ging es los.


Zimmer des SPD-Fraktionsvorsitzenden. Übliche Möblierung. An der Wand Portraits von Kurt Schumacher und Willi Brandt.


Kulle-Gerhard: Franz, ich trete zurück!
Bärdel-Münte: (raucht) Gerd, das kannst du nicht tun. Die Genossinnen und Genossen…
Kulle-Gerhard: … sind mir scheißegal. Waren mir immer scheißegal. Einzig wichtig war nur Acker und ist Viktoria. Ich kann es nun nicht mehr.
Bärdel-Münte: Ich hätte gar nicht gedacht, dass einer mit deinem sozialen Hintergrund die Buddenbrooks gelesen hat. Christian Buddenbrook, der Versager der Familie, sagt ständig: Ich kann es nun nicht mehr.‘ Aber davon ab – du musst weitermachen!
Kulle-Gerhard: Und warum?
Bärdel-Münte: Weil du es versprochen hast. Mit Amtseid. Du bist nämlich gewählt. Das Wohl des deutschen Volkes mehren und so weiter. Und eine gute Politik machst du auch!
Kulle-Gerhard: Ach ja? Das sagst ausgerechnet du? Du bist mir doch in den Rücken meiner Agenda 2010 gefallen mit deinen Heuschrecken!
Bärdel-Münte: Das sind nicht meine Heuschrecken, sondern internationale. Außerdem wollte ich mit den Heuschrecken unsere katastrophalen Wahlergebnisse korrigieren, die du verschuldet hast!
Kulle-Gerhard: (kreischt) Ach ja? Eben hast du noch behauptet, ich mache gute Politik!
Bärdel-Münte: (bleibt ruhig, zündet sich den nächsten Zigarillo an) Machst du auch, denn wir leben in Zeiten der Globalisierung. Da braucht man eine Art von Reformen, zu denen wir Sozialdemokraten früher Restauration gesagt hätten. Leider aber ist das vielen Genossinnen und Genossen nicht bewusst. Und deshalb brauchte ich ein paar Heuschrecken – so einfach ist das.
Kulle-Gerhard: (schreit) Du konterkarierst mich! Du hast mich lächerlich gemacht! Was soll ich jetzt tun?
Bärdel-Münte: (zieht ruhig an seinem Zigarillo) Am besten zurücktreten.
Kulle-Gerhard: (kreischt) Eben hast du noch gesagt, das geht nicht!
Bärdel-Münte: (ruhig) Der Mensch verwickelt sich eben immer in Widersprüche.
Auftritt Claudia Roth und Joseph Fischer
Athabasca-Claudia: Guten Abend.
Ramses-Joschka: Guten Abend.
Kulle-Gerhard: Was wollt ihr denn hier?
Athabasca-Claudia und Ramses-Joschka: (im Chor) Wir sind zum Essen eingeladen. Von dir!
Bärdel-Münte: Nicht mehr.
Athabasca-Claudia und Ramses-Joschka: (im Chor) Wieso nicht?
Bärdel-Münte: Darum nicht. Wir sind euch keine Rechenschaft schuldig, schließlich sind wir der größere Koalitionspartner. (Pause) Vertraut ihr dem Gerd?
Athabasca-Claudia: Also, ich finde es aufrichtig und ehrlich, und es ist auch eine Notwendigkeit, und ich habe schon immer, weil es auch nicht anders geht, darauf vertraut, dass Menschen vertrauensvoll miteinander umgehen. Deshalb macht es mich zutiefst betroffen, wenn…
Ramses-Joschka: (unterbricht) Kannst du in deinem Leben einmal einen Satz zu Ende bringen? Einen vernünftigen Satz? (Pause) Nein, ich habe ihm nie vertraut, dem Gerd. Ich vertraue noch nicht einmal meinen wechselnden Frauen. In der Liebe sollte man vielleicht vertrauen, in der Politik niemals. Dem Gerd schon gar nicht. Der ist ein Machtmensch – und ich weiß, wie so einer denkt.
Bärdel-Münte: Ihr seid beide wegen mangelnden Vertrauens ausgeladen. Übrigens vertrauen wir in der Espehde einander auch nicht mehr. Es ist Zeit für eine Trennung von Tisch und Bett. Wir sollten einander das Misstrauen aussprechen.
Kulle-Gerhard: (steht erregt auf) He, Mann, was soll das, das war mein Part!
Bärdel-Münte: Gerd, setz sich! Du solltest nach außen hin immerhin noch so viel Anstand haben, mit dem Vorsitzenden der Espehde zusammen aufzutreten! Also – der Kanzler fordert euch zur Vertrauensfrage auf, nach Artikel 68 Grundgesetz!
Athabasca-Claudia: Schön! Wir werden ihm mit der notwendigen Kanzlermehrheit das Vertrauen aussprechen, und alles wird gut! Wie ich schon sagte, ich vertraue prinzipiell jedem….
Ramses-Joschka: Dumme Pute, halt endlich mal dein Maul! Seit Jahren kann ich dich schon nicht ertragen! (zu Kulle-Gerhard) Du willst die Vertrauensfrage stellen? Im Bundestag? Warum?
Kulle-Gerhard: Um zu verlieren! Und um dann die nächste Wahl zu gewinnen!
Ramses-Joschka: Warst du letztens beim Arzt? Hast du dich durchchecken lassen? Ist mental wirklich alles in Ordnung?
Kulle-Gerhard: Danke, ja! Was willst du denn? Noch 15 Monate weiterwursteln und zusehen, wie alle unsere Gesetzesvorhaben an der CDU-etc.- Mehrheit im Bundesrat scheitern?
Ramses-Joschka: Ja, genau das will ich! Weil vielleicht dann auch der blödeste Wahlberechtigte merkt, dass nicht unsere Gesetze falsch sind, sondern dass der Bundesrat falsch liegt!
Bärdel-Münte: Gerd, da könnte was dran sein.
Kulle-Gerhard: (schreit) Und wenn schon! Ich hab die Faxen dicke! Ich hab mich übernommen! Ich will nicht mehr! Ich halt das nicht mehr aus! Kapiert das denn keiner!
Athabasca-Claudia: Aber Gerd, du hast mein vollstes Vertrauen und das der grünen Fraktion!
Kulle-Gerhard: Ich will das aber nicht, verdammt noch mal!
Bärdel-Münte: Wir sollten hier differenzieren. Am 30. Juni stehen noch einige Entscheidungen an, bei denen der Kanzler euer uneingeschränktes Ja‘ für eine eigene Mehrheit benötigt. Da müsst ihr ihm zeigen, dass ihr ihm vertraut. Einen Tag später allerdings müsst ihr zeigen, dass ihr ihm vertraut, indem ihr so abstimmt, dass ihr ihm misstraut. Nach dem leicht abgewandelten Motto von Lenin: Vertrauen ist gut, Misstrauen ist besser‘.
alle gleichzeitig
Kulle-Gerhard: Der Franz spricht mir aus der Seele.
Athabasca-Claudia: Ich verstehe überhaupt nichts.
Ramses-Joschka: Der alte Fuchs.
Langes Schweigen
Auftritt Merkel
Tumu-Angie: Guten Abend.
Ramses-Joschka: (nach sehr langer Pause) Guten Abend.
Pause
Tumu-Angie: Ich komme ungelegen?
Bärdel-Münte: Ja, aber in gewisser Weise kommen Sie gelegen.
Tumu-Angie: Können Sie das erläutern?
Bärdel-Münte: Selbstverständlich. (Pause)
Tumu-Angie: (unbehaglich) Also?
Bärdel-Münte: Nun…
Tumu-Angie: (zunehmend unruhig) Was?
Bärdel-Münte: Es gilt, gewisse Dinge aufzuräumen.
Tumu-Angie: Das ist mir klar. Das ist mir schon lange klar. Welche Dinge?
Kulle-Gerhard: (explodiert) Das blöde Weib soll doch nicht so tun, als könnte es die Probleme besser lösen als ich. Es versteht sie ja noch nicht einmal. Frauen und Gedöns und Politik – das ich nicht lache! Und überhaupt, eine kinderlose Politikerin sollte gar nicht erst versuchen,…
Tumu-Angie: Herr Bundeskanzler, was Kinderlosigkeit angeht, so sollten gerade Sie ganz vorsichtig sein. Im Übrigen, denke ich, sollten wir sachlich bleiben. Sachlichkeit war schon immer eine Stärke der CDU. Sachlichkeit und Sachkompetenz. Wo die CDU regiert, da geht es den Menschen besser, wie ich immer sage.
Ramses-Joschka: Nun ja…
Kulle-Gerhard: (immer noch sehr aufgeregt) Sie sagen doch sowieso immer nur das Gleiche!
Tumu-Angie: (süffisant) Ws man von Ihnen nicht gerade sagen kann, Herr Bundeskanzler. Wenn mich nicht alles täuscht, wandeln Sie Ihre sprichwörtliche Forderung“ Ich will hier rein!“ gerade ab in: “Ich will hier raus!“
Kulle-Gerhard: (explodiert schon wieder) Woher wollen Sie das wissen?
Bärdel-Münte: (ruhig, raucht seinen dritten Zigarillo) Man muss kontinuierliche Politik eben den Gegebenheiten anpassen, Frau Merkel, das müssen Sie erst noch lernen.
Tumu-Angie: Falsch, Herr Müntefering, das habe ich längst gelernt. Als Physikerin an einem staatstragenden Institut des ehemaligen Unrechtsstaats DDR und jetzige CDU-Vorsitzende Deutschlands halte ich es seit der Wende stets mit dem großen Adenauer: “Was schert mich mein Geschwätz von gestern?!“
Ramses-Joschka: (kichert in sich hinein) CDU-Vorsitzende Deutschlands, das ist gut!
Athabasca-Claudia: Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was das hier alles soll. Ich bin so unheimlich betroffen von … von …
Tumu-Angie: (unterbricht das Gestammel) Wir von der CDU/CSU werden die rot-grüne Bundesregierung ablösen, und das ist gut so. Dieses Land braucht Politik aus einem Guss. Darum geht es …“
Bärdel-Münte: Und – wie wollen Sie das machen?
Tumu-Angie: Wir werden die rot-grüne Bundesregierung ablösen. Und dann werden wir … werden wir …
Bärdel-Münte: (drückt seinen Zigarillo aus) Gerd, ich freue mich auf angenehme Oppositionszeiten! Trinken wir ein Glas guten Rotspon?
Kulle-Gerhard: Ich hasse die Farbe Rot! Außerdem muss ich nach Hause – ich habe Viktoria versprochen, mit ihr zu spielen.
Athabasca-Chaudia: Joschka, was sollen wir jetzt bloß tun?
Ramses-Joschka: Wir gehen essen. Ich lade dich zum Vegetarier ein – für den kommenden Wahlkampf muss ich abspecken. Frau Merkel, möchten Sie sich vielleicht anschließen? Man kann ja nie wissen…
Tumu-Angie: Vielleicht nach der Wahl, Herr Fischer, vielleicht nach der Wahl. Jetzt habe ich eine Verabredung mit Herrn Westerwelle zu einem Arbeitsessen, übrigens in einem Drei-Sterne-Restaurant – das entspricht im Moment wohl nicht gerade Ihren Bedürfnissen. Die Bänke der Opposition sind hart, und Abgeordnetendiäten sind deutlich niedriger als Ministerbezüge. Guten Abend allerseits. (geht ab)
Die Versammlung löst sich auf. Bärdel-Münte bleibt allein zurück und zündet sich den vierten Zigarillo an.
Bärdel-Münte: (murmelt) Es gibt doch deutsche Heuschrecken….

Kulles Grußwort zum Jahr 2006

Liebe Mitlebewesen, insbesondere Menschen, ganz speziell Deutsche!

Der Autor

Natürlich weiß ich, dass ihr satt seid – satt von der Weihnachtsgans, dem Silvesterkarpfen und vielerlei Nuss- und Mandelkern, also den massenhaft unappetitlich gezüchteten Muskeln und Fettablagerungen von bedauernswerten Tieren und den saisonalen Produkten, die sich Schokolade nennen, wenngleich sie hauptsächlich aus Zucker bestehen. Satt vom Sekt, den mensch zur Jahreswendezeit hierzulande eben zu trinken hat und dessen Konsum ihm, dem Geiz Geilheit bedeutet, durch den Verkaufspreis unterhalb der Produktionskosten schmackhaft gemacht wird – der Profit an anderer Stelle wird es richten. Satt auch von offiziellen Grußworten Offizieller, die euch gesagt haben, dass ihr alle alles könnt, wenn ihr nur wollt, und dass ihr alle solltet, aber nicht müsst, nämlich Weltmeister werden. Papst seid ihr ja schon. Satt seid ihr natürlich auch deshalb, weil das Modalverb “dürfen“ in diesen Reden nicht vorkam.

Natürlich weiß ich, dass ihr satt seid, und das nicht erst seit ein paar Tagen. Schließlich hat das Menschenbashing schon vor Jahrhunderten angefangen. In drei Jahren feiern wir den fünfhundertsten Jahrestag der Vertreibung des Menschen aus dem Mittelpunkt des Kosmos – ich bin gespannt, wer dazu die Festrede halten wird. Niemand nahm damals, 1509, Nikolaus Kopernikus im abgelegenen ostpreußischen Thorn wirklich ernst, aber er hat bewiesen, dass die Erde samt ihrem Mond und den anderen seinerzeit bekannten Planeten um die Sonne rotiert, nicht andersherum. Seitdem torkelt die Menschheit betrunken durch das All, mal kopfüber, mal kopfunter, immerhin aber noch Menschheit, geschaffen am sechsten Tage, belebt mit Gottes Odem, beseelt von seinem Geist, von ihm auserwählt, seinen Garten Eden zu bestellen und zu bewahren oder sich gar die Erde untertan zu machen.

Das änderte sich allerdings 350 Jahre später. 1859 erschien die Kurzfassung eines Buches, das ein bisher auf sehr verschiedenen akademischen Feldern wie Theologie und Medizin nicht gerade erfolgreicher, dafür aber weit gereister Mann veröffentlichte und das binnen Stunden vergriffen war. Der Autor hieß Charles Darwin, und sein Werk trug den Titel “On the Origin of Species“. Darwin entkleidete euch Menschen eurer Gottähnlichkeit, ihr wurdet Tiere wie wir Bären, aber ihr wolltet es nicht wissen, nicht akzeptieren, ihr kämpft dagegen an bis zum heutigen Tage, denn ihr habt nicht begriffen, welch ungeheures Kompliment in der Darwinschen Erkenntnis steckt, dass das Geheimnis des Überlebens einer Spezies die Anpassung ist, das Fitsein. Anstatt stolz zu sein, rennt ihr in Fitnesstudios und versucht, den alten einzigartigen Status mit Hilfe eines als unabdingbar behaupteten intelligenten Designers wiederzuerlangen. Ihr solltet euch schämen!

Scham scheint ein in der Menschheit tief verwurzeltes Gefühl zu sein, Scham geht mit Erkenntnis einher, wie schon frühe menschliche Mythen lehren, denn erst als die erste Frau dem ersten Mann zu Erkenntnis verholfen hatte, schämte er sich. Aber wie sie funktionieren, die Scham und die Erkenntnis, das wisst ihr Menschen nicht – und ihr könnt es auch nicht wissen. Das immerhin wisst ihr seit Sigmund Freud, dem ihr die Erkenntnis verdankt, dass etwa 90 % eures Verhaltens nicht bewusst gesteuert werden, dass das, was ihr das Ich nennt, ein fragiler, ständig von Es und Über-Ich bedrohter, mühsam am Leben erhaltener Winzling ist, dessen Existenz aber notwendig ist, damit ihr den Begriff “Vernunft“ wenigstens ab und zu denken könnt. Freuds “Das Ich und das Es“ erschien zwar erst 1923, war aber bereits, wie unsere Forschungen ergeben haben, 1919 fertiggestellt – 60 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins bahnbrechenden Erkenntnissen, 410 Jahre nach der kopernikanischen Wende.

Also, liebe Mitlebewesen, liebe deutsche Menschen, das vor euch liegende Jahr 2006 ist, erkenntnistheoretisch betrachtet, völlig unbedeutend. Ihr dürft euch entspannen. Das entscheidende Jubiläumsjahr ist nicht 2006, allen anderen Behauptungen, die da Mozart, Heine, den armen B.B. und Dutzende andere Namen durch die Gebetsmühle der Medien drehen, zum Trotz. Das entscheidende Gedenkjahr ist 2009. DAS geht euch an.

Also, deutsche Menschen:

Macht ruhig weiter wie bisher, bleibt Exportweltmeister, werdet vielleicht sogar männlicher Fußballweltmeister, falls euch das freut.

Haltet euch weiterhin für etwas Besseres, falls ihr dieses Gefühl braucht. Lasst euch nicht dadurch stören, dass euch ein kleiner Bär schon heute die Leviten liest.

Ihr habt noch drei Jahre Zeit – genießt sie!

Heimkehr

Da waren sie nun wieder, und sie fühlten sich schneller heimisch in ihrer neuen Höhle, als sie es sich hätten träumen lassen.
Natürlich war es Bärdels unangenehme Aufgabe gewesen, Tussi schon wieder einmal um einen Gefallen bitten zu müssen, und natürlich hatte die Riesenfröschin, wie nicht anders zu erwarten war, ihn uncharmant als “Stinker“ tituliert und ziemlich unfreundlich auf seine Bitte reagiert. Das bedeutete aber wenig. Als der Morgen ihrer Abreise kam, trauten die Bären ihren Augen nicht: Vor ihnen materialisierte sich das riesigste Tussimobil, das sie je gesehen hatten. Da hinein passte bis auf das letzte Krümelchen alles, was sie ihr eigen nannten, und Tussi sorgte dafür, dass es auch hinein kam: Sie zwinkerte nur einmal mit ihren Riesenglubschaugen, und schon war alles verstaut, einschließlich aller Bären, die sich gerade in der Nähe aufhielten. Zur Transfergesellschaft gehörten auch Athabasca, die in den LaSals zu Hause war, und Ramses, den Tussi den Bären ursprünglich nur als Begleiter in der fremden Gegend zu Seite gestellt hatte; aber Tussi macht, wie man weiß, keine Fehler.
Beim “Einpacken“ wie auch beim “Auspacken“ herrschte eine erstaunliche Ordnung: Nichts purzelte durcheinander, kein Buch aus der Bibliothek verlor seinen Nachbarn, und bei der vielfältigen Technik, die Manfred zusammengestellt hatte, gab es nicht den geringsten Kabelsalat. Die Bären saßen während der Reise gemütlich in der Mitte des Mobils wie bei einer ihrer Vollversammlungen, und viele von ihnen begannen tatsächlich miteinander zu schwatzen, als sei die Situation ganz alltäglich – sie merkten noch nicht einmal, dass sie davonflogen.
Sie bekamen auch zunächst nicht mit, dass sie irgendwo angekommen waren. Alles in der Höhle kam ihnen vertraut vor, alles war wie gewohnt aufgebaut, und sie redeten ungestört weiter. Erst als ein alter Bär, dessen Blase nicht mehr viel Inhalt vertrug, nach draußen zum Pinkeln ging, machte er alle anderen auf die Ortsveränderung aufmerksam. Wo waren sie?
In Dehland waren sie wieder, sagte Bärdel ihnen, wie es dem gemeinsamen Beschluss entsprach. Er nannte ihnen auch den genauen Ort. Aber nur die Bären kennen ihn. Aus Gründen der Geheimhaltung werden wir ihn nicht erfahren, denn die Bären haben Angst vor Verrat. Selbst Kulles Sekretärin weiß nicht, wo sich ihr Chef befindet. Die beiden treffen sich nur noch in einem Chatroom im Internet.
Athabascas Anwesenheit wurde ohne großes Aufheben als Selbstverständlichkeit hingenommen. Atti erklärte nur, dass sie hatte mitkommen wollen. Damit gaben sich die diskreten Bären zufrieden. Schließlich hatten sich auch irgendwann Piggy, das Schwein, und Ramses, der Frosch, zu ihnen gesellt, dachten sie. Nur Kulle war Attis wegen erkennbar unruhig und rollte seine geliebte rote Fahne immer wieder auf und zu, aber auch er enthielt sich jeden Kommentars.
Dank Tussis Fürsorge stellte sich bei den Bären also schnell die alltägliche Routine ein. Es war aber auffällig, dass sie mehr als sonst vor den Computern saßen, Zeitungsseiten und politische Informationen aufriefen. Natürlich hatten sie das auch in den LaSals getan, aber dort hatten sie sich auf nordamerikanische Politik konzentriert. Jetzt galt es, europäische und vor allem dehländische Wissenslücken zu füllen.
Sie stellten fest, dass sie mitten in eine überraschend vom Kanzler wenn auch nicht angesetzte, denn das konnte nur der Bundespräsident, so doch von ihm beabsichtigte vorgezogene Neuwahlphase hineingerauscht waren, und weil diese Umstände alle beschäftigten, berief Bärdel eine Vollversammlung ein.
Wie immer übernahm er die Einleitung.
“Wir haben uns heute hier versammelt, um…“
Del konnte sich nicht beherrschen.
“Das wissen wir doch alle. Endlich machen wir hier Nägel mit Köpfen! Ich werde Angie wählen, wie mindesten 48% aller Dehländer auch, und dann werden endlich wieder Arbeitsplätze geschaffen!“
Del sah sich triumphierend um, aber angesichts der ausnahmslos abschätzigen Blicke, die ihn trafen, sah er rasch auf den Boden vor sich. Bärdel wollte zu einer sanften Kritik anheben, aber Tumu platzte der Kragen:
“Du wirst gar nichts und niemanden wählen, du Naseweis! In Dehland wählen die Bundestagsabgeordneten den Kanzler oder, was zum ersten Mal geschähe, die Kanzlerin, nicht die Wähler! Aber du bist noch nicht einmal ein Wähler, weil du nämlich ein Bär bist, also nach Definition der Menschentiere ein Tier, folglich nicht wahlberechtigt. Im Übrigen solltest du stolz darauf sein, es nicht zu sein, wahlberechtigt meine ich, denn was hättest du davon, irgendwelchen Menschen Entscheidungskompetenz zu überantworten, die im Bundestag gemäß ihren eigenen Interessen und denen ihrer Lobby votieren, nicht aber deinen entsprechend? Und was Angie und die Arbeitsplätze angeht – sie wird keinen einzigen mehr schaffen als der gegenwärtige Kanzler !“
Eine alte Bärin, die Del unter ihre Pranken genommen hatte, fand Tumus harsche Kritik zwar formal und inhaltlich gerechtfertigt, wollte aber den jungen Bären aus der Schusslinie nehmen. Deshalb fragte sie:
“Was ich aber nicht verstehe, ist, wie jemand überhaupt arbeitslos sein kann. Jeder hat doch immer etwas zu tun. Ich muss mir Nahrung suchen wie alle anderen auch, ich muss die Höhle sauber halten, mich informieren, an Versammlungen teilnehmen. Also arbeite ich, oder? Jeder Mensch macht bestimmt ähnliches. Wie also kann man arbeitslos sein?“
Das betraf Kulles Spezialgebiet, und er war kaum mehr zu bremsen.
“Dein Problem hat damit zu tun, dass die Menschen in kapitalistisch organisierten Wirtschaften Arbeit als Tätigkeit mit Marktrelevanz begreifen“, erklärte er und fuhr nachdenklich fort: “Vielleicht sollten wir das spielen, damit ihr versteht, worum es geht!“
Ein Proteststurm erhob sich.
“Bloß nicht!“
“Davon haben wir die Nase voll!“
“Das endet bestimmt genau so wie beim letzten Mal!“
“Das wissen wir doch alles schon!“
Bärdel verzog schmerzvoll das Gesicht und griff sich an die Stirn – er erinnerte sich an die schlimmste Migräne seines Lebens.
“Das wisst ihr nicht!“ widersprach Kulle. “‘Beim letzten Mal‚, wie ihr das nennt, habt ihr schmerzlich erfahren, wie eine Gesellschaft funktioniert, die nach dem Tauschprinzip organisiert ist. Bei unserem Problem heute aber geht es darüber hinaus um Besitz und Nichtbesitz von Produktionsmitteln bei Existenz eines allgemeinen Warenäquivalents.“
Die Versammlung schwieg verunsichert. Niemand hatte Kulle verstanden.
Tumu fasste sich als erste ein Herz: “Vielleicht sollten wir doch…“
“Nein!“ scholl es ihr kollektiv entgegen.
“Möglicherweise hilft es, wenn jemand ganz einfach mal meine Frage beantwortet!“ brummte die alte Bärin.
“Wieso kann man arbeitslos sein?“
“Hm,“ machte Kulle, “das ist gar nicht so einfach. Ich muss nachdenken.“
Die Versammlung wartete respektvoll. Kein Laut war zu hören.
“Also,“ begann er schließlich zögernd, “also stellt euch vor, wir haben eine Fabrik, in der Autos hergestellt werden…“
Alle Disziplin war auf einmal dahin.
“Welch ein Unsinn!“
“Woher sollten wir das Geld nehmen?“
“Warum sollten wir so etwas ökologisch Schädliches produzieren?“
“Was…“
“Gut, gut!“ Kulle verschaffte sich mühsam wieder Gehör. “Mein Beispiel war dumm. Ich habe versucht, euch menschliches Handeln verständlich zu machen, indem ich es auf Bären übertragen wollte, aber das war wohl…“
“…verfehlt“ und “…unmöglich“ murmelten mehrere Stimmen.
“Ihr habt Recht. Also bleibe ich bei den Menschen. Menschen produzieren Autos, richtig?“ Kulle ging jetzt auf Nummer sicher.
“Sehr richtig. Erst gestern hat eine solche Blechkiste beinahe mein Junges überfahren,“ grollte eine Bärin.
“Gut. Äh – schlecht. Also es gibt Autos, und die heißen VW oder Mercedes oder Fiat oder Toyota und so weiter. Autos werden in Fabriken montiert, richtig? Die erste wichtige Frage ist also: Wem gehören die Fabriken?“
Die Bären sahen einander kopfschüttelnd an – woher sollten sie das wissen? Endlich ermannte sich ein alter Bär und erklärte im Brustton der Überzeugung, es handele sich zwar um merkwürdige Namen, aber vermutlich gehörten die VW-Fabriken Herrn oder Frau VW und so weiter. Nach seinem Beitrag sah er sie triumphierend um und kassierte von der Versammlung deutlichen Beifall.
Während Manfred, Bärdel und auch Del tadelnd den Kopf schüttelten, sich aber verbal nicht äußerten, ging Kulle siedend heiß auf, dass er drauf und dran war, sich auch noch in eine Lektion über die Besonderheiten von Aktiengesellschaften zu verstricken. Er beschloss, das zu ignorieren.
“Gut,“ sagte er, “nehmen wir an, das stimmt. Herr oder Frau VW hat also Geld genug, das Werk zu bauen, die Rohstoffe und Maschinen zu bezahlen und die Arbeiter. Die Arbeiter arbeiten bei VW, weil sie kein Geld haben, aber Geld zum Leben verdienen müssen. Soweit klar?“
Alle nickten.
“Und jetzt kommen wir zu dem Fall, dass VW diese Arbeiter nicht mehr beschäftigen kann oder will. Dann werden sie entlassen und sind arbeitslos, so einfach ist das.“
“Das ist überhaupt nicht einfach,“ beschwerte sich eine andere alte Bärin. “Die Arbeiter gehen dann nach Hause und machen die Betten und kochen Essen und lesen und machen noch viele andere Dinge. Also arbeiten sie und sind nicht arbeitslos!“
Da waren wir eben schon mal, dachte Kulle. Wenn sie es nicht spielen wollen, muss ich es eben einfach sagen. Er erklärte: “Betten machen, Kochen und so weiter sind für die Menschen keine Arbeit, weil man damit kein Geld verdient. Ich habe eben schon versucht, das zu definieren: Für die Menschen gelten nur Tätigkeiten mit Marktrelevanz als Arbeit, also Tätigkeiten, für die die Menschen Geld bekommen.“
Über mangelnde Kommentare brauchte Kulle sich nicht zu beklagen.
“So blöd kann man doch nicht sein!“
“Noch nicht einmal als Mensch!“
“Finden die Menschen es etwa nicht wichtig, dass Frauen Kinder bekommen und erziehen? Das soll keine Arbeit sein?“
Er hob beschwichtigend die Pranken in die Luft.
“Natürlich habt ihr Recht! Aber die Menschen…“
“Nun gut!“ mischte sich Ramses ein. “Ich als Frosch nehme zur Kenntnis, dass es nach der Meinung der menschlichen Volkswirtschaftslehre keine Arbeit ist, wenn ich Fliegen fange, um mich zu ernähren. Ich möchte mich als höfliches Tier zu dieser Definition nicht weiter äußern. Interessant erscheint mir aber die Frage, die Del indirekt aufgeworfen hat: Wird denn Angie als Kanzlerin Arbeitsplätze schaffen, die der menschlichen Definition genügen?“
Del sah Ramses dankbar an. Seine Schultern sackten jedoch jäh nach unten, als er Kulles schneidendes “Nein!“ vernahm.
“Wieso nicht?“ beschwerte sich Athabasca. “Entschuldigung, ich bin erst seit kurzer Zeit hier in Dehland, wie ihr alle wisst, aber auch in den USA sagen alle Politiker ununterbrochen, dass sie Arbeitsplätze schaffen werden, und in Europa ist das nicht anders, wie ich aus den Medien gelernt habe. Behauptest du etwa, dass die lügen, Kulle?“
“Ja,“ antwortete Kulle schlicht. “Der dehländische Staat ist nämlich ziemlich pleite, was Gründe hat, die wir wohl besser auf einer gesonderten Versammlung klären sollten, wenn ihr wollt. Der Staat könnte Arbeitsplätze schaffen, zum Beispiel im öffentlichen Dienst oder in dem er Geld für Projekte zur Verfügung stellt, aber dafür fehlen die Mittel. Arbeitsplätze heutzutage werden überwiegend von privaten Unternehmen bereitgestellt – und die entlassen gerade eher Angestellte, anstatt sie einzustellen.“
“Warum?“ fragte ein Stimmenchor.
“Auch das,“ sagte Kulle resigniert, “ist ein so umfangreiches Problem, dass wir dafür eine Extrasitzung anberaumen sollten.“
Stille senkte sich über die Versammlung. Bärdel versuchte zu retten, was zu retten war.
“Ich habe nicht viel verstanden, aber doch einiges: Kulle sagt, nach menschlicher Definition arbeitet nur derjenige, der für seine Arbeit Geld bekommt. Kulle sagt, die Regierung kann letztlich keine Arbeitsplätze schaffen. Kulle sagt, die Unternehmen, die für Arbeitsplätze zuständig sind, verringern diese. Für die letzte Behauptung fehlen uns noch Begründungen. Ich habe auch verstanden, falls Kulle Recht hat, dass die Kanzlerkandidatin der CDU lügt, ebenso wie übrigens der Kanzler der SPD, wenn sie behaupten, Arbeitsplätze schaffen zu können. Richtig?“
“Richtig!“ antworteten die Versammelten im Chor.
“Aber…“ sagte Tumu zaghaft. “Aber… ich kenne die Zusammenhänge noch nicht, anders als Kulle, ich will bis zu nächsten Vollversammlung versuchen, mich zu bilden. Ich frage mich nur eins: Wenn das stimmt, was Kulle gesagt hat, wie können die Menschen in Dehland und auch in den USA so blöd sein, den Politikern zu glauben?“

Brummbär

Bärdel

Die klandestine Zeitung für alle europäischen Bären erscheint monatlich in französischer, baskischer, spanischer, serbischer, kroatischer, mazedonischer, litauischer, estnischer, lettischer, russischer, polnischer, ukrainischer und seit heute auch wieder in deutscher Sprache

Ausgabe März 2005

Interview mit Bärdel

Brummbär: Bärdel, seit wann bist du wieder in Dehland?
Bärdel: Seit ein paar Stunden.
Brummbär: Warum bist du zurückgekommen?
Bärdel: Es ist mir nicht leicht gefallen. Meine Familie ist noch drüben in den USA. Die ganze Sippe auch. Ich konnte sie noch nicht mitbringen. Es war Glück, dass ich mich als Bärenschinken getarnt in ein Frachtflugzeug einschmuggeln konnte. Eigentlich mehr als Glück, eher ein Wunder, wenn man bedenkt, wie die Sicherheitsvorkehrungen seit 9/11 verschärft worden sind.
Brummbär: Sehr interessant, Bärdel, aber du hast unsere Frage nicht beantwortet.
Bärdel: Entschuldigung. Was war die Frage?
Brummbär: Warum bist du zurückgekommen?
Bärdel: Wohin?
Brummbär: Nach Dehland natürlich.
Bärdel: Natürlich finde ich das keineswegs. Ich bin mir auch immer noch nicht sicher, ob ich das Richtige getan habe.
Brummbär: Bärdel, bist du müde?
Bärdel: Ja, schrecklich!
Brummbär: Dann musst du gleich schlafen. Aber erzähl uns doch bitte vorher die Geschichte der letzten Tage…
Bärdel: Gerne. Aber es geht nicht nur um die Geschichte der letzten Tage, sondern um die vergangenen Wochen und Monate. Es gelang uns nicht mehr, uns zu tarnen. Ihr habt doch bestimmt auch hier vom Patriot Act gehört, oder? Nein? Also, der so genannte Patriot Act ist eine hervorragende Idee der Bush-Regierung, die Bürger zu bespitzeln und die Meinungsfreiheit drastisch einzuschränken. Buchhandlungen müssen melden, wer welche Bücher gekauft hat, Bibliotheken müssen Auskunft darüber geben, wer sich was ausleiht. Das ist uns zum Verhängnis geworden. Kulle mit seinem Hang zu revolutionären politischen Theorien und Manfred, der vor allem technische Literatur liest, waren in der Public Library und im Buchladen im kleinen friedlichen Moab zu auffällig. Außerdem muss Manfred zu sorglos mit seinen zahllosen Kreditkarten umgegangen sein, die er sich auf Wegen besorgt, die ich nie recht durchschaut habe. Nein, das Letzte ist gestrichen. Das dürft ihr nicht drucken. Jedenfalls sind wir aufgefallen. Die Moab Times, das lokale Wochenblatt, munkelte von dunklen Umtrieben und einer Verschwörung von marxistisch motivierten Bombenbastlern. Darüber konnten wir noch lachen. Aber dann stand im Canyon Country Zephyr, die Attentäter oder Putschisten hätten sich bestimmt in den Bergen versteckt. Das Blatt ist eigentlich progressiv und dem Naturschutz verpflichtet, der Artikel war ironisch gemeint, aber die braven Mormonen und vor allem der Sheriff von Grand County haben alles für bare Münze genommen. Der Sheriff hat die Geheimdienste alarmiert. Ich weiß nicht, welche von den 15, wahrscheinlich alle, denn seit einiger Zeit wimmeln die LaSals von Menschen, die behaupten, Touristen zu sein, aber erkennbar keine sind. Wir sind nicht mehr sicher. Deshalb werden wir alle zurückkommen. Ich bin deshalb hier, weil ich ein neues Quartier für uns finden soll.
Brummbär: Das tut uns leid, Bärdel. Aber zwei Dinge haben wir nicht verstanden: Wie wollt ihr alle zurückkommen, wenn du allein es nur unter Lebensgefahr geschafft hast? Und warum geht ihr nicht nach Bärenleben zurück?
Bärdel: Was den Transport angeht, so haben wir in dieser Beziehung spezielle Kontakte, die ich gefährden würde, wenn ich hier darüber Auskunft gäbe. Entschuldigung, ich bin wirklich entsetzlich müde. Was war die zweite Frage?
Brummbär: Warum geht ihr nicht nach Bärenleben zurück?
Bärdel: Ja, warum eigentlich nicht? Nun – – – also, die Vollversammlung hat beschlossen, dass wir – – – das wir etwas Neues ausprobieren wollen. Eine Neuorientierung gewissermaßen – – nach Osten. Die Erweiterung der Europäischen Union im Mai 2004 war schließlich de facto eine Osterweiterung, und auch wir Bären sollten…
Brummbär: Bärdel, wir unterbrechen dich äußerst ungern und wir sind auch ungern unhöflich, aber wir haben das Gefühl, dass du uns nicht die Wahrheit sagst.
Bärdel: Ich bin auch nicht gerne unhöflich, aber Journalisten sollten sich auf ihren Verstand verlassen und nicht auf ihr Gefühl!
Brummbär: Nun ja, aber trotzdem…
Bärdel: Manchmal allerdings zeigen Gefühle den richtigen Weg… Ihr erinnert euch vielleicht, dass ich vor einigen Jahren vielen armen Menschen mit ziemlich viel Geld aus der Patsche geholfen habe. Die Aktion lief zwar anonym, aber das dehländische Finanzamt hat trotzdem einen sehr unangenehmen Steuerbescheid nach Bärenleben geschickt. Kurz und gut, wir müssen uns eine andere Bleibe suchen und werden das auch tun. Wir haben an Meckpomm gedacht.
Brummbär: Mac Pom?
Bärdel: Nein, nicht Mac Pom, Meckpomm! Mecklenburg-Vorpommern! Viele Wälder, Seen mit leckeren Fischen und immer weniger Menschen. Dort werden wir unsere Ruhe haben. Ich werde das entsprechende Fleckchen für uns finden, und dann sage ich Tussi – – – äh, unserem Transportkontakt Bescheid, und dann siedeln wir uns dort an. Und jetzt muss ich ins Bett. Ich habe schon genug unvorsichtige Bemerkungen gemacht.
Brummbär: Schlaf schön. Und vielen Dank für das Gespräch.

“Bärdel“, fragte der Journalist, autorisierst du das Interview, abgesehen von der Sache mit Manfreds Kreditkartenbeschaffung, versteht sich?“
Bärdel wackelte mit seinem dicken Kopf. Auf einmal war er hellwach. Er erinnerte sich an manche intensive Diskussion mit Kulle. Und weil er dessen Argumente zum Teil übernahm, formulierte er auch wie Kulle, ohne es zu merken.
“Nein“, sagte er. Ich muss erst mal nachdenken. Denken kann ich am besten laut, ich hoffe, du verzeihst mir das. Also – in welchem Zustand ist Dehland? Verglichen mit den Zuständen in den republikanischen Staaten der USA genießen die Dehländer die Freiheit einer großen persönlichen Lebensgestaltung. Aber falsch – sie genießen diese Freiheit nicht. Stattdessen verlangen sie nach gesetzlichen Regelungen für private Lebensentwürfe – ich sage nur Schwulenehe und Antidiskriminierungsgesetz. Wahrscheinlich vertragen die Dehländer die Freiheit nicht. So rufen sie wie früher nach Vater Staat, der es regeln soll – diesmal aber nicht die öffentlichen Angelegenheiten, sondern die privaten. Es gibt nur einen Bereich, in dem die meisten Zeter und Mordio schrien, würde er angetastet: die Freiheit des Habens. Der Staat, momentan in Gestalt des sozialdemokratischen Innenministers Schily, kommt diesem Verunsicherungs- und Sicherheitsbedürfnis zur zu gern nach und zuvor und bietet Hilfe an: Mit einer DNA-Analyse findet mach Verbrecher – warum also nicht gleich das Erbgut aller katalogisieren? Warum sollen die Banken nicht den Blick in die Konten ihrer Kunden ermöglichen, um Steuersünder zu fangen? Warum nicht alle Telefone überwachen, alle Emails überprüfen, alle öffentlichen Plätze mit Kameras überwachen? Biometrische Ausweise – Wunderdinge, die Sicherheit bieten. Sie bieten mehr als das – geschickt genutzt, produzieren sie ein lückenloses Bewegungsprofil.
Wenn ich mir das so genau überlege, ist Dehland auch nicht viel besser als die USA.“
“Heißt das“, fragte der Journalist enttäuscht, “dass wir das Interview noch zurückhalten müssen?“
“Ich fürchte, das heißt es!“ seufzte Bärdel. “Ich bin noch unentschlossen, was wir tun werden. Ich muss mich in Europa erst mal umsehen. Aber wenn du im “Brummbär“ jetzt eine unvorhergesehene Lücke füllen musst, dann habe ich etwas für dich.“
“Durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates leidet die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter. Wer oft und viel geleitet wird, kommt oft dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt (…) Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherheit gegen sich selber und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; und zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit.“
(Bärdel bittet „Die Zeit“ um Verzeihung, dass er sich ihrer Ausgabe 10/2005 schöpferisch bedient hat.)

“Das ist aber ein bisschen komisch und auch ein bisschen kurz“, meinte der Journalist enttäuscht.
“Ich hoffe, du meinst mit ‚komisch‘ nicht den Inhalt“, erwiderte Bärdel. “Vielleicht ist die Sprache ein wenig ungewöhnlich. Der Text ist schon älter, er stammt von Wilhelm von Humboldt aus dem Jahre 1851. Und was die Kürze angeht – nehmt einfach eine große Schrifttype. Diesen Text kann man gar nicht groß genug drucken!“

Bärdel

Der schon wieder

Der Kanzler war jetzt nicht mehr, wie schon lange, nur verzweifelt, er war superverzweifelt, ultraverzweifelt, hyperverzweifelt. Deshalb hatte er im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage gestellt und war wunschgemäß gescheitert. Nun war es am Bundespräsidenten, die Neuwahlen zu erlauben, die der Kanzler damit bezweckte. Aber was bezweckte er mit dem Zweck? Konnte er mit diesem Zweck-Mittel das Ziel erreichen, wiedergewählt zu werden, ja, wollte er überhaupt wieder gewählt werden, da er doch klar gemacht hatte, dass er jetzt weder weiter regieren konnte noch wollte? Schlaflos wälzte er ich nachts auf zerwühlten Bettlaken herum, bis er zumindest einen Entschluss fasste. Am nächsten Morgen suchte er seinen alten zerschlissenen Rucksack, der alle Umzüge überstanden hatte, aus einer Kellerecke hervor. „Der schon wieder“ weiterlesen

Das Gesellschaftsleben der Schabe unter besonderer Berücksichtigung von Attentaten und Terrorismus

P. D. Kulle

Ich finde, es ist an der Zeit, im Verhältnis Kakerlake – Mensch eine neue Offensive des Bewusstseins einzuläuten.(Don Pollock)

 

Inhalt:

PD Dr. Kulle

1. Vorwort
2. Schaben
3. Schaben und Attentate
a. Attentäter und Attentatsopfer
b. Die bevorzugten Waffen der Attentäter im historischen Wandel
Exkurs: Selbstverbrennungen
c. Die Ziele
4. Schaben und Terrorismus
a. Terror und Terroropfer
b. Die Ziele
5. Perspektiven
6. Nachwort

1.    Vorwort
Das Phänomen des Terrorismus beschäftigt und fasziniert mich seit
geraumer Zeit, ist es doch unter der Spezies, unter der die meine zu
leiden hat, nämlich unter der der Menschen, seit langer Zeit
verbreitet, und bei der Spezies, der ich das Glück habe angehören zu
dürfen, nämlich unter der der Bären, völlig unbekannt. Alle Vorarbeiten
für eine Untersuchung dieser merkwürdigen Art des gesellschaftlichen
Umgangs miteinander sind zum jetzigen Zeitpunkt abgeschlossen, es
bedürfte nur noch der Kompilation und des abschließenden Diktats –
allein, auch bärische Wissenschaftler wie ich können sich dem Mitleid
nicht entziehen.
Da die Gefühle meiner menschlichen Leser – und ich weiß, es gibt deren viele – geschont werden sollen, werde ich ihnen, die seit einigen Jahren und täglich
mehr verstärkt unter Terrorismus zu leiden haben, nicht zumuten, sich
hautnah mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie werden mir verzeihen,
dass ich mein Sujet dennoch nicht verlasse. Aber ich werde es am
Beispiel einer anderen Spezies illustrieren, nämlich an dem der
Blattariae, vulgo Schaben oder auch Kakerlaken genannt.

2. Schaben
Schaben sind Insekten, Geradflügler, deren Körperlänge zwischen zwei
und 100 Millimetern variiert; mindestens 3500 Arten sind bekannt. In
Mitteleuropa leben jedoch nur 15 Arten. Die dort bekanntesten sind die
Küchenschabe, Blatta orientalis, und die Deutsche Schabe, Blattella
germanica. Wie sich zeigen wird, ist für meine Untersuchung außerdem
die Amerikanische Großschabe, Periplaneta americana, von besonderem
Interesse. Alle  drei stammen, wie die meisten Arten, aus den
Tropen, was ihre Vorliebe für Wärme erklärt. Qua Schiffsreise fanden
und finden sie ihren Weg in die ganze Welt und genießen in menschlichen
Behausungen oft ideale Lebensbedingungen. Sie ernähren sich von
unterschiedlichen Stoffen pflanzlicher und tierischer Herkunft, sind
also, wie die Menschen(1), Allesfresser, auch wenn der menschliche und
der schabensische Geschmackssinn keineswegs deckungsgleich sind. Aus
menschlicher Sicht betrachtet, halten sich Schaben oft an
unhygienischen Orten auf, was sie als Krankheitsüberträger
prädisponiert.
Schaben sind ausgesprochen vermehrungsfreudig, die Weibchen sind bereits mit sechs Wochen geschlechtsreif. Beide Geschlechter locken einander mit Hilfe von Pheromonen an. Nach einem oft komplizierten Paarungsspiel werden die männlichen Geschlechtsorgane in die weiblichen Entsprechungen
eingeklinkt.
So weit die von allen Entomologen unbestrittenen Tatsachen.

Meine weiterführenden soziologischen Untersuchungen haben ergeben, dass
Schaben ein für Insekten nicht repräsentatives Gesellschaftsleben
praktizieren. Weder gehören sie zu den weit verbreiteten Einzelgängern,
die ihr in der Regel recht kurzes adultes Leben allein fristen und sich
nur zum Zweck der Fortpflanzung einen Partner bzw. eine Partnerin
suchen, noch bilden sie ein Volk, das arbeitsteilig organisiert ist und
in dem eine nicht in Frage gestellte Hierarchie existiert, in deren
Zentrum ein für die Fortpflanzung des gesamten Stammes verantwortliches
Weibchen, meist als Königin bezeichnet, steht. Stattdessen finden
zwischen den gesellig lebenden Schaben permanent individuelle, aber
auch in Gruppen organisierte Kämpfe um höherrangige gesellschaftliche
Stellungen statt, die eine Zeit lang akzeptiert werden können,
empirisch aber letztendlich immer in Frage gestellt werden. Diese
Auseinandersetzungen gilt es genauer zu untersuchen.

3.    Schaben und Attentate
Attentate definiere ich zunächst(2) als Angriffe eines oder mehrerer
Individuen auf eine oder mehrere Personen, wobei sich der oder die
Angreifer gegenüber dem, den oder der Angegriffenen in einer inferioren
Position befinden, mit dem Ziel, die übergeordente(n) Person(en) aus
eben dieser Position zu entfernen, in der Regel durch deren physische
Eliminierung.
Drei wesentliche Fragen gilt es zu untersuchen:

  1. Wer versucht wen zu eliminieren?
  2. Auf welche Weise?
  3. Und: Warum?

3a.    Attentäter und Attentatsopfer
Bei Betrachtung der überlieferten Frühgeschichte der schabischen
Attentate fällt ins Auge, dass Täter und Opfer in enger persönlicher
Beziehung zueinander stehen, oft sogar eng miteinander verwandt sind.
Eine besonders rege Täteraktivität lässt sich bei Blatta orientalis und
ein wenig später bei Blatella germanica beobachten, während Periplaneta
americana noch erstaunlich inaktiv ist. Wahrscheinlich ist dieses
Phänomen darauf zurückzuführen, dass Periplaneta sein
Aggressionspotential erst allmählich entwickelte, nachdem Blatta und
Blatella auf dem amerikanischen Kontinent Fuß gefasst hatten. Noch
ungeklärt ist die Frage, ob hierfür ein Gentransfer als Ergebnis
sexueller Kontakte verantwortlich zu machen ist oder ob die wachsende
Aggressivität als soziale Reaktion auf die Angriffslust der Einwanderer
zu werten ist.
Einige wenige Beispiele(3)
mögen das belegen. Dabei kommt uns in Hinblick auf die
Nachvollziehbarkeit unserer Ausführungen entgegen, dass der schabische
Kalender dem der Menschen aus noch immer ungeklärten Gründen kongruent
ist.
Bereits 681 v.u.Z.(4)  wird Sennacherib
von Asselanien von seinen beiden Söhnen ermordet. Aber nicht nur der
Vater-, auch der Sohnesmord ist verbürgt: Die Blatta Irene lässt ihren
Sohn Konstantin VI., Herrscher im östlichen Mittelmeerraum, 797
umbringen. Ebenfalls ist es mit der Bruderliebe nicht weit her, weder
bei Blatta noch bei Blattella: 1250 werden Erik IV. von Dänemark und
1369 Pedro der Grausame von Kasselanien und Leon Opfer ihrer eigenen
Geschwister. Wen wundert es noch, dass Morde auch von angeblich
Liebenden verübt werden: Commodus, mächtiger Beherrscher des
mittelmeerischen Weltreichs, putzt sich  am 31. Dezember 192
gerade nichtsahnend die sensiblen Fühler, als er von dem im Kampfsport
ausgebildeten Blatta Narcissus erwürgt wird, eine Gewalttat, die seine
Geliebte Marcia eingefädelt hat.
Es scheint
zunächst, als resultierten schabische Attentate aus tragischen
Familienzwistigkeiten und erotisch-sexuellen Unstimmigkeiten. Doch
gemach! Wenn wir weiter in die Gegenwart fortschreiten, ergibt sich ein
völlig anderes Bild. Vor allem ergeben sich zahlreiche Fragen.

Wie etwa lässt sich erklären, dass eine aggressionsarme Periplaneta
americana namens Atahualpa am 29. August 1533 von Blattae auf Befehl
ihres Anführers Francisco Pizarro erdrosselt wird und derselbe Pizarro
acht Jahre später – übrigens eine erstaunlich lange Lebensspanne für
eine Schabe – einem Mord durch Blattae zum Opfer fällt? Die Mörder
Pizarros werden es dabei nicht bewenden lassen; 1544 töten sie eine
weitere Periplaneta.
Auch erscheint es
verwirrend, dass Attentäter und Zielobjekt oft wenig oder gar nichts
miteinander zu tun haben, bevor sie einander als Täter bzw. Opfer
begegnen. Was verbindet die Kakerlake Schan Paul Marat, die bei der
Pariser Presse tätig ist, mit der jungen Schablotte Corday, die mit
aller Kraft ein Küchenmesser zwischen ihre Mandibeln klemmt und ihn am
17.Juli 1793 ersticht? Wo ist das einigende Band zwischen August von
Kotzebue, einem hochadeligen Blatellus, wie der Name deutlich verrät,
auch er ein Schriftsteller, und Schab Ludwig Sand, dessen Name
möglicherweise auf Obdachlosigkeit hinweist? Wir wissen zunächst nur,
dass Sand Kotzebue 1819 in Mannheim erstochen hat. Warum verübt die
orientalische Schabe Graf Felischab Orsini, Rudio und Pieri, ihrerseits
hochadelig, 1858 ein Attentat auf die französische Kakerlake Napoleon
III.?
Wagen wir einen Sprung ins 20. Jahrhundert.
Bei der Betrachtung von einigen für diesen Zeitraum typischen
Attentaten fällt auf, dass Schaben übereinander herfallen, die, im
Gegensatz zu den eben skizzierten Fällen, sehr viel miteinander zu tun
haben, ja, einander politisch verbunden sind. Wie ist es zu erklären,
dass die Deutsche Schabe Hitler ihren loyalen Gefolgsmann Erschab Röhm,
mit dem sie sogar dieselbe braune Flügelfärbung verbindet, am 10. Juni
1934 erschießen lässt? War das Motiv Eifersucht wegen der eigenen wenig
zureichenden Potenz, oder stecken dahinter andere Beweggründe? Warum
muss fünf Monate und einen Tag später Schabgei Kirow in Leningrad fast
dasselbe Schicksal erleiden, befohlen von Stalin(5), beide übrigens mit
auffallend roten Flügeloberflächen? Wieso lässt derselbe Stalin einen
langjährigen Kampfgefährten namens Trotzki(6)  – es wird nicht
überraschen, dass auch dieser tiefrote Deckflügel zeigt – am 21. August
1940 im fernen Mexiko mit einem Eispickel erschlagen, wozu er als
Mörder übrigens eine Blatta namens Ramon Kak Mercader beauftragt?
Ein letztes Attentatsmuster bleibt zu benennen. Es kann durch folgende Beispiele charakterisiert werden:

  • Malcom Sch, Führer der Black Muslims, einer aggressiven Variante der dunkel gefärbten Periplanetae, wird am 21. Februar 1965 in Amerika von einer sehr hell gefärbten Variante erschossen
  • Martin Luschab King, ebenfalls dunkel gefärbter Angehöriger derselben Art, aber explizit friedfertig, wird am 4. April 1968 in Amerika erschossen, ebenfalls von einem hell gefärbten Exemplar
  • Steve Bikoschab, südafrikanischer Studentenführer, stirbt im Polizeigewahrsam „an schweren Kopfverletzungen“ im September 1977; die Polizisten sind selbstverständlich extrem hell gefärbt.

Wir sehen,
dass schwarze Schaben von „weißen“ Schaben umgebracht werden, und
Kenner der schabischen Geschichte haben zweifellos erkannt, dass die
Attentatsopfer nicht zu den Machtträgern in ihrer jeweiligen
Gesellschaft gehörten, dass also diese Attentate nicht der Definition
entsprechen, die wir oben zu geben versucht haben (vgl. 3). Diese
scheinbare Unstimmigkeit wird erst weiter unten aufgelöst werden können.

3b.    Die bevorzugten Waffen der Attentäter im historischen Wandel
So intim wie die Beziehungen zwischen Attentäter und Opfer sind
zunächst auch die Mordmethoden – sie ermöglichen bzw. erzwingen es,
einander in die Augen zu sehen. Verhältnisse privater Natur wie auch
der Entwicklungsstand der Produktionsmittel(7)  lassen Gift, Dolch
oder die Garotte als probate Mordwerkzeuge erscheinen.

Erst als die Schaben entdeckt hatten, was sich mit einer fein
geriebenen Mischung von 75% Kalisalpeter (KNO3), 15% Kohlepulver (C)
und 10% Schwefel (S) anstellen lässt, wandelt sich die Mordmethode
drastisch: Das Erschießen wird zum probaten Mittel.
Bereits am Ende
des 18. Jahrhunderts, am 29. März 1792, ist der Tod von Gustav III. von
Schwebien dokumentiert, der von Jaschab Joschab Anckarström erschossen
wird – Resultat einer Kontroverse unter Blatellae germanicae.
Vermehrt
treten mit Schwarzpulver(8) verübte Attentate im 19. Jahrhundert
auf: Es trifft(9) mehr oder weniger erfolgreich(10) die bevorzugt
Teeblätter kauende Blattella Spencer Perceval (1812), die primär Oliven
vertilgende Blatta Ioannis Kapodistrias (1831), die Periplaneta
Abraschab Lincoln (1865), den deutschen Schabenkaiser Wilhelm I. (1878)
und die spanische Blatta Antonio Cánovas del Castillo(11) (1897) .
Das 20.Jahrhundert erlebt dann eine wahre Schießorgie, bei der vor allem drei(12) lokale Schwerpunkte zu beobachten sind:

  1. Russland. Opfer sind unter anderen Pjotr Arkadjewitsch Stolschabpin (1911), Grigori Raspuschabtin (1916), Moissej Markowitsch Wolodarski, eigentlich Schabenstein (1918), Moissej Schabomonowitsch Uritzki (1918) und Wladimir Iljitschschab Lenin (1918).
  2. Deutschland. Hier fallen Kugeln zum Opfer: Kakerlak Eisner (1919), Guschab Landauer (1919), Hugo Haase von der Unabhängigen Schabenpartei (1919), Walther Rathenau(13) (1922), Franz Birnecker, Betriebsratsmitglied der Firma Schaberit (1923), Theodor Lessing, ein kämpferischer linker Schabsteller (1933)(14), Wilhelm Germanloff (1936), Rudi Dutschkschab (1968), Siegfried Buschab (1977), Jürgen Kak. Ponto (1977), Wolfgang Schäublschab (1990) und Karstschab Rohwedder (1991).
  3. USA. Neben zahlreichen Präsidenten von Periplaneta sind hier auch andere Opfer vertreten: William SchcKinley (1901), Theodore Schoobevelt (1912), Anton Schermak (1933)(15), Schabby S. Truman (1950), Medgar Evers in Schabson, Mississippi (1953)(16), John Fitzschab Kennedy und dazu passend – oder auch nicht – Lee Harvey Schoswald (1963), Robert Franschab Kennedy (1968), George Wallace, Gouverneuer von Schablabama (1972), John Lennon, der sich zu Lebzeiten nicht scheute, sich öffentlich als „Beetle“ zu bekennen (1980), und Ronald Reagan (1981)(17).

Schüsse,
überwiegend aus Pistolen abgefeuert, sind insofern harmlos, als sie
anderen Schaben als den Zielobjekten keinen Schaden zufügen, es sei
denn, der Schütze verfehlt sein Ziel. Allerdings sind sie, eben wegen
dieses Unsicherheitsfaktors, weniger zielgenau als die archaischen
Mittel wie Vergiften, Erstechen, Erwürgen. Einen wesentlichen größeren
Streubereich als Pistolenschüsse haben jedoch Waffen, die ebenfalls
seit dem 19. Jahrhundert von schabischen Attentätern benutzt werden –
ich spreche von Bomben und Sprengstoff. Verwenden Attentäter diese
Waffen, kalkulieren sie entweder nolens volens oder auch sehr bewusst
ein, dass Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden – oder es gibt
in ihren Augen keine Unschuldigen.
Zur Untermauerung dieser These
beschränke ich mich auf nur wenige Beispiele. Die chinensische Schabe
Schang Tso-Lin, Gouverneuer der Mandschabei, wird bei einem
Bombenanschlag auf einen Zug von japanischen Kakerlaken getötet (1928),
die großgermanische Führerschabe Adolf Hitler überlebt zwar einen
Bombenanschlag durch Joschab Georg Elser, aber sieben zufällig
anwesende Kakerlaken werden getötet (1939), das Auto von Christopher
Eschab Biggs fliegt wegen einer von der Ischabisch Republikanischen
Armee gelegten Landmine in die Luft (1976), die selbe
Untergrundorganisation versenkt drei Jahre später das Segelschiff von
Louis Mountbatten vor der ischabischen Küste, und auch Afrika bleibt
von vergleichbaren Attacken nicht verschont: 1994 wird das Flugzeug von
Juvenal Habyarimana und Cyprien Ntaryamira bei Kigali von einer
Boden-Luft-Rakete abgeschossen. Auto, Schiff, Flugzeug – die Zielkäfer
waren da gewiss nicht allein an Bord.
In den achtziger Jahren des
20. Jahrhunderts entdecken schabische Attentäter zwar keine neue Waffe,
wohl aber eine neue Waffenkombination: Kakerlaken sind bereit, sich
selbst zusammen mit dem Sprengstoff, den sie für andere vorgesehen
haben, in die Luft zu sprengen, sind bereit, ihre sensiblen Fühler und
ihren wunderschönen Chitinpanzer zerreißen, in Flammen aufgehen, durch
die Luft wirbeln und in stinkenden, blutig-grünen Fetzen zur Erde
fallen zu lassen – wenn sie nur möglichst vielen anderen Schaben
dasselbe Schicksal bereiten. Solche Selbstmordattentate haben die
Insektenwelt am 11. September 2001 erschüttert, und täglich verbreitet
die Schabendschau neue schreckliche Meldungen.

Exkurs: Selbstverbrennungen
Legendär sind die Selbstverbrennungen von Thich Quang Duc in Schaigon
(1965) und von Jansch Palach in Kakprag (1969) – aber sie haben mit
Attentaten nichts zu tun und verdienen deshalb hier nur einen
Seitenblick. Denn Attentate zielen, wie wir gesehen haben, darauf,
anderen nach dem Leben zu trachten, wobei der Verlust des eigenen
Lebens ein billigend in Kauf genommener Preis sein mag, aber nicht
zwingend ist.  Bei Selbstverbrennungen liegt das Motiv klar auf
der Tatze: Es handelt sich um einen demonstrativen, anklagenden Akt,
der an das Bewusstsein anderer appelliert und diese durch den
rückhaltlosen Einsatz des Besten, das der Demonstrant hat, zu einer
Verhaltensänderung zu bewegen versucht. Mit den Motiven von Attentätern
ist es komplizierter bestellt.

3c.    Die Ziele
Ich kann mich zweifelsohne kurz fassen, lassen sich doch die Motive der
Attentäter mühelos aus den angeführten Beispielen herausfiltern. Es
geht – von wenigen, zu vernachlässigenden Ausnahmen abgesehen(18)
um Politik, also um die Wahrung von Interessen und die Sicherung bzw.
Gewinnung von Herrschaft, sei es in personalen Strukturen, bei der
Eroberung bzw. der Ausbeutung neuer Territorien, beim Kampf um als
falsch oder richtig betrachtete gesellschaftliche Visionen und
Strukturen, bei der Eliminierung von Rivalen, wobei es keine Rolle
spielt, ob diese Rivalität in der Realität oder lediglich als
Kopfgeburt existiert, und bei der Bekämpfung benachteiligter
Minderheiten, deren marginalisierter Status erhalten bleiben soll. Im
letzten Fall haben wir es gewissermaßen mit einem präventiven oder gar
präemptiven Gewaltverhalten zu tun, das bei der obigen vorläufigen
Definition von Attentaten noch nicht berücksichtigt werden konnte.

Diese Analyse erfasst jedoch die moderne Form der Attentate, die
Unschuldige ins Visier nimmt und häufig auch den Tod des Attentäters
voraussetzt, nicht hinreichend. Deshalb ist eine weitere
Differenzierung erforderlich.

4.    Schaben und Terrorismus

Der Terrorismus, ein Begriff, der vom französischen „terreur“, also
„Schrecken“, abgeleitet ist, ist durch andere Motive gekennzeichnet. Um
das zu erläutern, kann ich dem Leser einen kurzen Ausflug in die
schabische Geschichte nicht ersparen.
Bereits seit Beginn der
nachgewiesenen Existenz der Kakerlaken sind bei dieser Spezies
religiöse Praktiken unterschiedlichster Form belegt(19), die nebeneinander
koexistierten. In der neuesten Zeit treten vor allem zwei miteinander
konkurrierende Religionen hervor: Die eine, deren Anhänger sich
überwiegend aus Blattellae germanica rekrutiert, ist der Meinung, ihrem
Gott am besten dadurch dienen zu können, dass sie sich in den ihm
gewidmeten Gebäuden auf das hintere ihrer drei Beinpaare niederlässt,
während die Verfechter der anderen Richtung, überwiegend Blattae
orientalis, zu diesem Zweck auf dem Einknicken des vorderen Beinpaares
beharren. Aufgrund der explosionsartig gewachsenen Mobilität in der
Menschenwelt seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geraten
die Kakerlaken beider Glaubensströmungen zunehmend miteinander in
Kontakt, und beide versuchen, den jeweils anderen zu eliminieren.
Während die Vertreter der „Hinterbeinpaar-Religion“ diesen
Eliminierungsversuch mit erst auf den zweiten Blick erkennbaren
Mitteln, nämlich wirtschaftlichen und politischen(20), vorantreiben,
bedienen sich militante Verfechter der „Vorderbeinpaarreligion“ des
Terrorismus und sehen in sogenannten Selbstmord“attentaten“ keinen
Hinderungsgrund für ihr Tun, sondern eher einen Anreiz; glauben sie
doch, aufgrund ihres Handelns gegen die „Ungläubigen“ einen bevorzugten
Platz im Schabenparadies zu erlangen.

4a.    Terror und Terroropfer
Wir haben oben(21) bereits kurz auf den 11. September 2001 verwiesen,
und etliche Terroranschläge, die diesen spektakulären Flugkunststücken
von Blatta orientalis gefolgt sind, entsprechen dem selben Muster, sei
es in Madrid oder in London, um nur die prominentesten zu nennen. Über
diesem Muster wird jedoch allzu oft vergessen, dass sich Terrorismus
auch gegen Anhänger der eigenen Religion wendet, wobei der Vorwurf
erhoben wird, die Opfer knickten beim Gebet ihr vorderes Beinpaar nicht
weit genug oder zu weit ein.

4b.    Die Ziele
Das Endziel(22) des Terrorismus wurde oben bereits genannt(23), die
Strategie bedarf also keiner weiteren Erörterung. Wie aber sieht die
Taktik aus? Welche unmittelbaren Reaktionen auf ihr Handeln erhoffen
sich die Terroristen?
Einige meiner geschätzten
Kollegen Schabenforscher zitieren gerne aus dem sogenannten
„Terroristenhandbuch“(24): „Sie werden rennen wie die Hasen.“(25) Sie
sind damit allesamt einer falschen Übersetzung aufgesessen. Denn das
Wort „krrchdk“ bedeutet im Dialekt der vorderasiatischen Blatta nicht
„Hase“, sondern Lemming(26). „Sie werden rennen wie die Lemminge“ – das
also ist die Hoffnung. Sie werden sich, anders als der Hase, der klug
Haken schlägt, um dem Jäger zu entkommen, bewusstlos wie Lemminge in
großer Schar in eine Schlucht stürzen, in der sie umkommen müssen.

Schon bei flüchtiger Betrachtung der Reaktionen auf terroristische
Aktionen zeigt sich, dass diese Erwartung nicht verifiziert werden
konnte. Gleichgültig ob in New York, Madrid, London, in Ägypten, auf
Bali, in Tunesien oder anderswo – die Schaben bleiben, wo sie sind.
Selbst im Irak, einer Terrorismushochburg, ist keine nennenswerte
Fluchtbewegung zu beobachten.
Die Erklärung dafür
ist nicht unbedingt darin zu finden, dass Kakerlaken über größere
Intelligenz verfügen als Lemminge. Allerdings stehen entsprechende
Untersuchungen noch aus. Unbestritten ist dagegen, dass Schaben über
weniger Lebensraum verfügen als Lemminge, bezogen auf ein Individuum.
Schaben sind überall, und Schaben ernähren sich von Dreck(27), Dreck ist
nur begrenzt verfügbar und wird in anderen Regionen von anderen
Kakerlaken beansprucht – kurz, Schaben haben in der modernen
schabischen Massengesellschaft wenige Mobilitätsmöglichkeiten. Also
kann das taktische Kalkül der Terroristen nicht aufgehen.

5.    Perspektiven

Da selbst ich nicht in die Zukunft sehen kann(28), will ich nur einige Möglichkeiten knapp skizzieren.

  1. Die Terroristen erkennen die Vergeblichkeit ihres Tuns und geben auf, was vermutlich einen weltweiten Sieg der Hinterbeinpaar-Religion und ihrer Vorstellung von Politik und Wirtschaft zur Folge hätte.
  2. Die Terroristen machen weiter und verbreiten so viel Terror, dass die Anhänger der Hinterbeinpaar-Religion sich ihnen ergeben und Politik und Wirtschaft der Religion unterordnen, nachdem sie ihre Frauen ins Haus eingesperrt haben.
  3. Keine Seite gibt nach, und Chitinpanzer fliegen für unabsehbare Zeit zerfetzt durch die Luft.

6.    Nachwort

Als
Bär kann mir der gesamte Kakerlakenschmutz privat gleichgültig sein, er
erweckt lediglich mein wissenschaftliches Interesse. Wäre ich
allerdings ein Kerbtier, liefe mir ein permanentes Schaudern über die
Flügeldecken, laufen doch alle drei oben genannten Möglichkeiten immer
nur auf das eine hinaus:

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.


Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Der Vollständigkeit halber muss ich den Chef hier ergänzen: Das gilt auch für Bären. Die Sekretärin
  2. Man beachte die Vorläufigkeit.
  3. Eine vollständige Darstellung würde die Geduld der Leser, vor allem der menschlichen, mit Sicherheit überstrapazieren.
  4. v.u.Z.: vor unserer Zeitrechnung. Gemeint ist selbstverständlich nicht der bärische, sondern der an der christlichen Religion orientierte menschliche Kalender.
  5. eigentlich Jossip Wissarionoschab Dschugaschwili
  6. eigentlich Lew Davidoschab Bronstein
  7. Der Begriff „Destruktionsmittel“ ist hier eigentlich besser angebracht.
  8. Es gilt noch immer als ungeklärt, ob das sogenannte „Schwarzpulver“ eine Erfindung der Blatella germanica Berthold Schwarz ist oder bereits von den Blatellae sinisiensis entwickelt wurde, deren frühes Vorkommen bisher allerdings noch nicht befriedigend bewiesen werden konnte.
  9. im wahrsten Sinn des Wortes
  10. erfolgreich aus der Sicht der Attentäter, versteht sich
  11. Diese Aufzählung erhebt, wie auch die folgende, keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
  12. Da mir nur unvollständiges historisches Material zugänglich ist, vermute ich, dass es wesentlich mehr Schwerpunkte gibt. Aber auch diese rudimentären Quellen sind äußerst aufschlussreich.
  13. In einem bekannten zeitgenössischen Spottvers wird gefordert, den Walther Rathenau, die „gottverdammte Schabensau“ zu erschlagen – der Attentäter hat also einen Weg gewählt, der ihm größere Distanz ermöglichte.
  14. Vielleicht vermisst der eine oder andere historisch gebildete schabische Leser mit braunen Deckflügeln hier das Datum 1930 und den Namen Kakerlak Wessel. Nun ja – wer meint, dass jemand, der aus Eifersucht vom Zuhälter seiner Verlobten angeschossen wird und einigen Wochen später seinen Verletzungen erliegt, ein Attentatsopfer ist, nur weil der Angeschossene SA-Führer und der Täter Mitglied des Rotfrontkämpfer-Bundes war, der möge den entsprechenden Vermerk hier einfügen und nicht vergessen, die Notiz hinzuzufügen, dass keine geringere als die wortbegabte hinkende deutsche Schabe Joschab Goebbels Kakerlak Wessel zum „nationalen Märtyrer“ erklärte.
  15. Die Kugel, die ihn traf, galt eigentlich Franklin D. Schoobevelt.
  16. Das war schon wieder einmal eine weiße gegen eine dunkel geflügelte Schabe. Vielleicht braucht der von so viel Gewalt gestresste Leser eine kleine Erholungspause? Dann möge er Bob Dylan hören: „Only a Pawn in their Game“; oder Nina Simone: „Mississippi Goddamn“. Beides passt exakt zum Thema.
  17. Es wäre für Reagan vielleicht besser gewesen, dieses Attentat nicht zu überleben – er hätte in diesem Fall nicht an der Schabheimerschen Krankheit zu sterben brauchen.
  18. So wurde zum Beispiel am 14. Mai 1610 Henri IV., genannt Le Cafard, aus religiösen Gründen ermordet.
  19. Seit kurzen wird wissenschaftlich diskutiert, ob dergleichen Verhalten möglicherweise auf eine genetische Grundlage zurückzuführen ist.
  20. Eine genauere Erläuterung dieser Strategie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und bleibt einer künftigen Abhandlung vorbehalten.
  21. vgl. 3b
  22. Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass mir in diesem Fall wirklich nur ein faschistischer Begriff einfällt.
  23. vgl. 4.
  24. Das Buch wird der saudischen Blatta Bin Schabin zugeschrieben.
  25. vgl. S. 10024 (in Worten: zehntausendvierundzwanzig)
  26. vgl. dazu die umfassende Untersuchung von A. Blatter, Die Bezeichnung anderer Spezies durch Blatta und Blatella, Schmutzburg 2004, S. 45
  27. Ich habe den Chef zu überreden versucht, das wissenschaftlicher zu formulieren, aber er wollte einfach nicht. Die Sekretärin.
  28. Der Chef ist heute ungewöhnlich bescheiden. Die Sekretärin.

Beschluss

La Sals

 

Noch kämpfte der Frühling in den LaSals mit dem Winter, aber sein Sieg zeichnete sich bereits deutlich ab. Der Sturm wehte noch ab und zu Schneefahnen von den höchsten Bergen wie schon seit Monaten, aber weiter unten an den Hängen, wo die Bären ihre Höhle hatten, taute es schon gewaltig. Im Windschatten konnte es sogar gemütlich warm sein, und wenn man dort eine kleine Erhebung fand, konnte man sich sogar niederlassen, ohne einen nassen Hintern zu bekommen.
Genau das hatten Bärdel und Tumu getan.

Bärdel

Sie saßen in einer kleinen, von Büschen umgebenen Lichtung, die vor spätem Frost und Wind recht gut geschützt war. Lange Zeit sagten sie gar nichts und genossen die Sonne, die ihren Pelz wärmte, meist mit geschlossenen Augen. Nur ab und zu blinzelten sie und beobachteten die Knospen der winzigen Frühlingsblumen, die sich tapfer in die Höhe zu recken begannen. Endlich brach Tumu das Schweigen.
“Sag mal, mein lieber Mann – “
Bärdel brummte unwillig. Es stimmte doch, dass Frauen immer reden mussten. Dabei war er gerade sicher gewesen, dass sich ein ganz früher Kolibri in ihre Nähe verirrt hatte. Er hatte das tiefe Brummen einer riesigen fliegenden Hummel ganz deutlich gehört. Jetzt hatte Tumu ihn verscheucht. Aber er war ein höflicher Bär und besann sich schnell auf seine Manieren.
“Ja? Was soll ich sagen? Dass ich dich liebe? Aber das weißt du doch!“
Tumu knuffte ihn, halb scherzhaft und halb ungehalten, in die Seite.
“Das kannst du mir nicht oft genug sagen. Aber jetzt geht es mir um etwas anderes. Bleiben wir nun hier, oder gehen wir zurück?“
Bärdel brummte jetzt nicht mehr, er seufzte. Die Frage war ihm unangenehm, weil er noch immer keine Antwort darauf gefunden hatte. War es wirklich von Bedeutung, ob sie mit Tussis Hilfe nach Dehland zurückkehrten oder ob sie in den Bergen Utahs blieben? Hier wie dort lebten sie als versteckte Gruppe, aber einen Unterschied gab es doch: In Dehland hatten sie sich immer wieder in die Politik eingemischt, während sie hier passiv geblieben waren und sich nur vor den Menschen verborgen hatten. Das erste war ihm lieber gewesen. Aber hatte nicht gerade ihre Einmischung letztlich dazu geführt, dass sie fliehen mussten?
“Ich weiß…“ begann er sehr zögernd.
Tumu räusperte sich und brachte ihn so dazu, sie anzuschauen. Ohne den Kopf zu bewegen, gab sie ihm mit den Augen einen Wink. Er folgte der angedeuteten Blickrichtung und erspähte zwischen den zwar immergrünen, aber jetzt nur spärlich belaubten Eichenbüschen eine bekannte Schnauze. Das war ja wohl die Höhe! Kulle belauschte sie! Bärdel war wirklich nicht rachsüchtig, aber er fand, dass sein bester Freund jetzt eine gehörige Lektion verdient hatte.

Kulle

Alte Ehepaare, und Tumu und Bärdel waren ein altes Ehepaar, entwickeln oft eine überraschende geistige Symbiose. Bärdel brauchte nur zu lächeln, und Tumu verstand sofort, dass er etwas vorhatte. Sie wusste allerdings noch nicht, was.
Als wäre nichts geschehen, fing Bärdel seinen Satz von neuem an.
“Ich weiß nicht. Es ist doch letztlich egal, was wir machen. Die Welt funktioniert heutzutage nach dem Gesetz der Globalisierung. Die großen Konzerne bestimmen, wo es lang geht, und dagegen ist die Politik machtlos. Demokratie und Selbstbestimmung – alles Ideen von gestern. Die Wirtschaft ist unser Schicksal, und dagegen können weder Menschen noch Bären etwas tun.“
Es raschelte in den Büschen. Bärdel schmunzelte. Der erste Schuss hatte getroffen. Auch Tumu hatte das Geräusch gehört, aber noch war ihr nicht nach Lachen zumute. Sie wusste nicht, welche Rolle ihr Bärdel in diesem Disput zugewiesen hatte.
“Und?“ fragte sie deshalb.
“Man muss die Welt nehmen, wie sie ist. Das ist eben Schicksal. Gegen das Schicksal kann man nichts machen, außer sich heroisch anzupassen. Heroisch, verstehst du? Aber Heroismus kennt ihr Frauen ja nicht!“
Jetzt hatte Tumu begriffen.
“Mit dem Schicksal hast du sicher Recht. Aber was soll die Sache mit der Anpassung? Warum passen sich die Menschen denn heutzutage an? Sie arbeiten sich tot und haben doch keine Perspektive. Sie steigern den Umsatz, aber sie selbst sind voller Angst. Überhaupt – der ganze Fortschritt ist Unsinn!“
“Wieso?“ fragte Bärdel mit gespielter Unschuld.
“ Weil der Fortschritt nur Schaden anrichtet, deshalb! Was haben die Menschen denn zum Beispiel von der sogenannten Mobilität? Sie wohnen entfernt von ihrem Arbeitsplatz, wenn sie noch einen haben, und auf dem Weg dahin stehen sie im Stau!“
Bärdel lächelte milde.
“Eben hast du noch zugegeben, dass die Welt sich schicksalhaft entwickelt. Zum Schicksal gibt es keine Alternative. Wieso kannst du eine alternativlose Entwicklung kritisieren?“
Tumu fand es nicht fair, dass Bärdel sie in einem Schaukampf in die Enge trieb, aber sicher wollte er, dass ihr Scheingefecht möglichst echt aussah. Das sah sie auch ein – Kulle war alles andere als dumm. Sie wehrte sich tapfer.
“Ich versuche eben zu retten, was zu retten ist. Literatur und Kunst zum Beispiel. Traditionelle Literatur, nicht etwa diese Machwerke von der Streeruwitz. Und traditionelle Kunst, bei der im Theater Hamlet noch Prinz von Dänemark ist und nicht irgendein verzweifelter Jungmanager. Bei Jungmanagern geht es doch nur um Geld, bei Hamlet geht es um Höheres.“
Bärdel ahnte, dass er Tumu jetzt in heillose Verstrickungen treiben würde, wenn er nachfragte. Nach welchem “Höheren“ strebte Hamlet denn? Nach der Liebe? Der Familienehre? Der Macht? Der gekränkten Eitelkeit? Er ließ das Thema lieber fallen.
“Das ist doch Schnee von vorgestern. Wen interessiert das heute noch? Du musst auch das Positive sehen. Was war denn gestern und nicht vorgestern? Nicht dein Hamlet, sondern Hedonismus. Spaßgesellschaft nannte sich das und war doch nichts anderes als Oberflächlichkeit. Garantiert wurde alles durch den Sozialstaat. Übrigens, ich finde diesen sogenannten “Rheinischen Kapitalismus“ widerlich. Aller berechtigte Streit wurde “einvernehmlich“ beigelegt. Welcher Schwindel! Unvereinbare Widersprüche sind nicht “einvernehmlich“ lösbar. Und erst die soziale Hängematte! Die Sozialschmarotzer haben sich darin gesuhlt, anstatt die natürliche Härte des Daseins zu spüren zu bekommen. Du musst vernünftig denken, Tumu!“
In den Büschen ertönte ein lauter Seufzer, aber sowohl Bärdel als auch Tumu gaben vor, ihn zu ignorieren.
“Willst du etwa an die Vernunft appellieren? Die Vernunft des Kapitalismus? Die männliche Vernunft? Aufklärung und Vernunft – das sind doch nur Chimären. Technische “Vernunft“ hat 1912 erklärt, dass die Titanic unsinkbar sei. Eure sogenannte Vernunft hat das Schiff mit dem Eisberg kollidieren lassen. Vernunft ist der falsche Weg. Gefühl, Bärdel, ist alles, und alles andere ist Schall und Rauch!“
Tumu hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, aber es gelang ihr. Bärdel verzog leicht die Mundwinkel – seine Frau war wirklich überzeugend, gerade als Frau, wie es dem Klischee entsprach, fand er. In den Büschen war deutlich ein verhaltenes Zähneknirschen zu hören.
Bärdel nahm sich zusammen. Jetzt war er wieder dran.
“Wie melancholisch, wie anachronistisch! Weibliches Sentiment! Das Leben, meine Liebe, ist Kampf, und jetzt gerade erlebt die Menschheit das wahre, wirkliche Leben, tragisch wie in der Antike. Du lebst doch jetzt schon lange genug in den USA, um zu wissen, wie das aussieht. Wie das aussehen muss! Keine Kranken-, keine Sozialversicherung, Dumpinglöhne – so ist es richtig. Menschliches Leben ist Kampf ums Dasein! Und da es Schicksal ist, kann niemand etwas daran ändern!“
“Natürlich muss das sein, aber es muss nicht so sein. In der globalisierten Zukunft droht allen nur Zwang und Unfreiheit, daran können wir nichts andern. Aber…“
In den Büschen raschelte es, rauschte es, Zweige knackten, und Kulle brach ungestüm hervor. Er erklärte weder sein Erscheinen, noch entschuldigte er es. Er schien sich zur rechten Zeit am rechten Platz zu fühlen.

Kulle

“Unsinn, die Globalisierung ist kein Schicksal. Sie ist von Menschen gemacht.“ knurrte er. Und feierlich fuhr er fort:
“ In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse…“
Bärdel und Tumu fielen ein:
“…die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt…“
Kulle hatte den Chor mit einem Finger dirigiert und signalisierte jetzt den Abbruch.
“Im Text wird jetzt weiter erklärt, wann und warum die Revolution fällig ist, aber wem sage ich das. Ich gebe zu: Ihr habt mich ertappt. Eigentlich wollte ich euch nicht belauschen, aber ich war doch versucht herauszufinden, welche Tendenz ihr in Sachen Rückkehr oder Bleiben verfolgt. Darüber habe ich leider nichts erfahren. Euer Gespräch hat mich übrigens heftig auf die Bärenpalme gebracht. Das kann doch nicht euer Ernst sein…“
“Nein?“ fragte Tumu.
“Wirklich nicht?“ wollte Bärdel wissen.
“Nein, denn ich weiß doch, dass ihr Bären seid, die…“
“..dass wir Bären sind, die wenigstens wichtige Teile des Vorworts zur politischen Ökonomie von Karl Marx auswendig können, und das nicht, weil wir gerne auswendig lernen, sondern weil wir diese Aussagen für wichtig und richtig halten – richtig?“
“Ja.“
“Also – war das unser Ernst?“
“Nein. “ (Die skizzierten Positionen sind wirklich nicht die von Bärdel und Tumu, wohl aber die mancher europäischer Philosophen (und solcher, die es gern sein möchten))
Also – gehen wir zurück?“
Kulle dachte eine Moment lang nach. Dann sagte er:
“Selbstverständlich. Wir gehen dahin, wo wir uns einmischen können. Als selbstbewusste Bären können wir gar nicht anders. Ich gehe schon mal meine rote Fahne suchen.“
Kulle stapfte davon. Im Gehen murmelte er vor sich hin:
“Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“
Tumu und Bärdel lächelten einander an.
“Das war jetzt aber kein Scherz mehr, oder?“ fragte Tumu sicherheitshalber.
“Nein, meine Position ist klar. Ich gehe und berufe die Bärenversammlung ein. Ich denke, alle werden sich für die Rückreise aussprechen.“
Tumu blieb allein auf der Lichtung zurück und schaute wehmütig in die Ferne. Es war Zeit, Abschied zu nehmen.

LaSals

Manifest der Kommunisten und der Globalisierer

Kulle

Ich empfehle, diese zwei Manifeste im direkten Zeilenvergleich zu lesen -dies ist leichter mit der folgenden PDF-Datei, die browser- und betriebssystemunabhängig ist:

https://baerdel.de/baerdel/manif.pdf

Es folgen die Texte für die Suche:
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.
Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hätte?
Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor.
Der Kommunismus wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt.
Es ist hohe Zeit, daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen.
Zu diesem Zweck haben sich Kommunisten der verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest entworfen, das in englischer, französischer, deutscher, italienischer, flämischer und dänischer Sprache veröffentlicht wird.

Bourgeois und Proletarier
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.
Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.
Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Bourgeoisie.
Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.
Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst.
Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois.
Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.
Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist.
Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der Kommune, hier unabhängige städtische Republik, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft. Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.
Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
|466| Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.
An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.
Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.
Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.
Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.
Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.
Wir haben also gesehen: Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebensoviele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.
An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Herrschaft der Bourgeoisklasse.
Unter unsern Augen geht eine ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.
Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst.
Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.
In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d.h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird. Die Kosten, die der Arbeiter verursacht, beschränken sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedarf. Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit, ist aber gleich ihren Produktionskosten. In demselben Maße, in dem die Widerwärtigkeit der Arbeit wächst, nimmt daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Maße, wie Maschinerie und Teilung der Arbeit zunehmen, in demselben Maße nimmt auch die Masse der Arbeit zu, sei es durch Vermehrung der Arbeitsstunden, sei es durch Vermehrung der in einer gegebenen Zeit geforderten Arbeit, beschleunigten Lauf der Maschinen usw.
Die moderne Industrie hat die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt. Sie sind nicht nur Knechte der Bourgeoisie, des Bourgeoisstaates, sie sind täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, von dem Aufseher und vor allem von den einzelnen fabrizierenden Bourgeois selbst. Diese Despotie ist um so kleinlicher, gehässiger, erbitterter, je offener sie den Erwerb als ihren Zweck proklamiert.
Je weniger die Handarbeit Geschicklichkeit und Kraftäußerung erheischt, d.h. je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Männer durch die der Weiber verdrängt. Geschlechts- und Altersunterschiede haben keine gesellschaftliche Geltung mehr für die Arbeiterklasse. Es gibt nur noch Arbeitsinstrumente, die je nach Alter und Geschlecht verschiedene Kosten machen.
Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.
Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung.
Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz.
Im Anfang kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges an einem Ort gegen den einzelnen Bourgeois, der sie direkt ausbeutet. Sie richten ihre Angriffe nicht nur gegen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, sie richten sie gegen die Produktionsinstrumente selbst; sie vernichten die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand, die suchen die untergegangene Stellung des mittelalterlichen Arbeiters wiederzuerringen.
Auf dieser Stufe bilden die Arbeiter eine über das Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte Masse. Massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter ist noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie, die zur Erreichung ihrer eigenen politischen Zwecke das ganze Proletariat in Bewegung setzen muß und es einstweilen noch kann.
Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also noch nicht ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger. Die ganze geschichtliche Bewegung ist so in den Händen der Bourgeoisie konzentriert; jeder Sieg, der so errungen wird, ist ein Sieg der Bourgeoisie.
Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie immer mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois unter sich und die daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. Stellenweis bricht der Kampf in Emeuten aus.
Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf. Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande.
Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interesse der Arbeiter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt. So die Zehnstundenbill in England.
Die Kollisionen der alten Gesellschaft überhaupt fördern mannigfach den Entwicklungsgang des Proletariats. Die Bourgeoisie befindet sich in fortwährendem Kampfe: anfangs gegen die Aristokratie; später gegen die Teile der Bourgeoisie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten; stets gegen die Bourgeoisie aller auswärtigen Länder. In allen diesen Kämpfen sieht sie sich genötigt, an das Proletariat zu appellieren, seine Hülfe in Anspruch zu nehmen und es so in die politische Bewegung hineinzureißen. Sie selbst führt also dem Proletariat ihre eigenen Bildungselemente, d.h. Waffen gegen sich selbst, zu.
Es werden ferner, wie wir sahen, durch den Fortschritt der Industrie ganze Bestandteile der herrschenden Klasse ins Proletariat hinabgeworfen oder wenigstens in ihren Lebensbedingungen bedroht. Auch sie führen dem Proletariat eine Masse Bildungselemente zu.
In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil dieser Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.
Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.
Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen. –
Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.
Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. Der Proletarier ist eigentumslos; sein Verhältnis zu Weib und Kindern hat nichts mehr gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis; die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, dieselbe in England wie in Frankreich, in Amerika wie in Deutschland, hat ihm allen nationalen Charakter abgestreift. Die Gesetze, die Moral, die Religion sind für ihn ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.
Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen. Die Proletarier haben nichts von dem Ihrigen zu sichern, sie haben alle bisherigen Privatsicherheiten und Privatversicherungen zu zerstören.
Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.
Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.
Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet.
Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehen haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. Der Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herangearbeitet wie der Kleinbürger zum Bourgeois unter dem Joch des feudalistischen Absolutismus. Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.
Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft.
Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.

P.D. Kulle
155 Jahre sind genug – auch große Gedanken überholen sich. Es ist also an der Zeit, dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ eine aktuelle Fassung gegenüberzustellen, und zwar in der Hoffnung, dass diese baldmöglichst auf dem Müllhaufen der Geschichte landet.
Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst der Globalisierung. Alle Mächte der alten Welt haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und Lula, Bin Laden und Kim Il Sung, Attac und deutsche Gewerkschafter.
Wo ist die Regierungspartei, die nicht von ihren oppositionellen Gegnern als globalistisch verschrien worden wäre, wo die Regierungspartei, die den stehen gebliebenen Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf der Globalisierungsfeindlichkeit nicht zurückgeschleudert hätte?
Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor.
Die Globalisierung wird bereits von allen Weltmächten als eine Macht anerkannt.
Es ist hohe Zeit, dass die Globalisierer ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Märchen vom Gespenst der Globalisierung ein Manifest der Globalisierungspartei selbst entgegenstellen.
Zu diesem Zweck haben sich Globalisierer der verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest entworfen, das in englischer, französischer, spanischer, chinesischer und japanischer Sprache veröffentlicht wird.
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne globalisierte Gesellschaft hat die Klassengegensätze bisher noch nicht völlig aufgehoben. Sie hat aber neue Klassen an die Stelle der alten gesetzt.
Unsere Epoche, die Epoche der Globalisierung, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltete sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Globalisierer und Globalisierungsfeinde, deren eine große Fraktion zunächst die Proletarier darstellten.
Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Globalisierer.
Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen den aufkommenden Globalisierern ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schifffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.
Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst.
Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Globalisierer.
Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schifffahrt, der Kommunikation eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen, Auto- und Flugverkehr und Kommunikation sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Globalisierung, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.
Wir sehen also, wie die Globalisierung selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist.
Jede dieser Entwicklungsstufen der Globalisierung war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt: Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der Kommune, hier unabhängige städtische Republik, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft. Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Globalisiererklasse verwaltet.
Die Globalisierer haben in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.
Sie haben, wo sie zur Herrschaft gekommen, alle feudalen, patriarchalischen, ungerechten Verhältnisse zerstört. Sie haben die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen willkürlichen Vorgesetzten knüpften, barmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das Interesse, als die gerechte „bare Zahlung“. Sie haben die unheiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem klaren Wasser individueller Verwirklichung ertränkt. Sie haben an die Stelle der so genannten persönlichen Würde den jedem gegenüber gerechten Tauschwert und die Handelsfreiheit gesetzt. Sie haben, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die Chance zur Entfaltung einer jeden Persönlichkeit gesetzt.
Die Globalisierung hat alle bisher als ehrwürdig geltenden und mit Aberglauben betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre Dienste gestellt.
Die Globalisierung hat dem Familienverhältnis seinen falschen sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein Solidarverhältnis der Generationen zurückgeführt.
Die Globalisierung hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die ihre Gegner so sehr am Mittelalter bewundert, durch geschickte Verhandlungen, zum Beispiel im Rahmen der WTO, ersetzt werden kann. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Die Globalisierung kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Innovation und Bewegung zeichnet die Globalisierungsepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von überkommenen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neu gebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles so genannte Heilige wird entweiht, und die Menschen haben endlich die Chance, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.
Der Wunsch nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen, jagt die Globalisierer über die ganze Erdkugel. Überall müssen sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
Die Globalisierung hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre der Industrie den nationalen Boden unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.
Die Globalisierung reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Globalisierer sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Globalisierer zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.
Die Globalisierung hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Globalisierungsvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.
Die Globalisierung hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert.
Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Nationen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in einen Staatenverbund, eine Freihandelszone, ein supranationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.
Die Globalisierung hat in ihrer kaum zweihundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Atomkraft, Informationstechnologie, Nanotechnik, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.
Wir haben also gesehen: Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Globalisierung heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mussten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.
An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Herrschaft der Globalisierungsklasse.
Unter unsern Augen geht eine völlig andere Bewegung vor. Die globalisierten Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die globalisierten Eigentumsverhältnisse, die moderne globalisierte Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die Gewalten zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nicht mehr die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Globalisierer und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer wieder die Stärke der ganzen globalisierten Gesellschaft unter Beweis stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen wird eine gesellschaftliche Reinigung vollzogen, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Befreiung von der Überproduktion. Die ökonomisch ungebildete Masse der Gesellschaft glaubt sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt.
Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen eben durch ihre Vernichtung zur Beförderung der globalisierten Eigentumsverhältnisse; sie waren zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden. Die globalisierten Verhältnisse waren zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Globalisierung die Krisen? Einerseits durch die bewusste Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausnutzung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie die Bedürfnisse möglichst vieler Konsumenten zu befriedigen sucht und so die nächste Krise möglichst weit in die Zukunft verlagert.
Die Waffen, womit die Globalisierer den Feudalismus zu Boden geschlagen haben, richten sich auf diese Weise nicht gegen die Globalisierer selbst.
Aber die Globalisierer haben nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr das Leben sichern; sie haben auch die Männer gezeugt, die aufgrund ihrer Herrschaft den Tod finden werden – die einstmals modernen Arbeiter, die Proletarier.
In demselben Maße, worin sich die Globalisierung, d.h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelte sich zunächst das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen mussten, waren eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Die Arbeit der Proletarier verlor durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für den Arbeiter. Er wurde ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wurde. Die Kosten, die der Arbeiter verursachte, beschränkten sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedurfte. Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit, ist aber gleich ihren Produktionskosten. In demselben Maße, in dem die Widerwärtigkeit der Arbeit wuchs, nahm daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Maße, wie Maschinerie und Teilung der Arbeit zunehmen, in demselben Maße nimmt auch die Masse der gesellschaftlich notwendigen lebendigen Arbeit ab.
Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, gibt es nicht mehr. Je weniger die Handarbeit erheischt wird, d.h. je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Proletarier durch die der Maschinen und Computer verdrängt. Es gibt nur noch Arbeitsinstrumente, die verschiedene Kosten machen, wobei die Kosten der Maschinerie zunehmend geringer werden als die der Proletarier. Ist die historische Notwendigkeit proletarischer Lohnarbeit beendigt, so fallen die ehemaligen Proletarier der staatlichen Fürsorge anheim. Die anderen Teile der Gesellschaft, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw., die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen behalten ihre Stellung, teils dadurch, dass ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und für die Konkurrenz mit den größeren Globalisierern uninteressant ist, teils dadurch, dass ihre Geschicklichkeit in gewissen Nischen immer noch eine Nachfrage findet.
Das Proletariat macht also verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Globalisierer beginnt mit seiner Existenz.
Im Anfang kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges an einem Ort gegen den einzelnen Globalisierer. Sie richten ihre Angriffe nicht nur gegen die globalisierten Produktionsverhältnisse, sie richten sie gegen die Produktionsinstrumente selbst; sie vernichten die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand, die suchen die untergegangene Stellung des mittelalterlichen Arbeiters wieder zu erringen.
Auf dieser Stufe bilden die Arbeiter eine über das Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte destruktive Masse. Massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter ist noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Globalisierer, die zur Erreichung ihrer eigenen politischen Zwecke zunächst das ganze Proletariat in Bewegung setzen muss. Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier noch die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger. Die ganze geschichtliche Bewegung ist so in den Händen der Globalisierer konzentriert; jeder Sieg, der so errungen wird, ist ein Sieg der Globalisierung.
Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich zunächst nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft scheint zu wachsen, und es glaubt sie immer mehr zu fühlen. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Globalisierer zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren.
Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Denn die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Zersplitterung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt und gesteuert werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten gegeneinander ausspielen. Es bedarf also bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu isolierten Aktionen zu erklären. Die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Globalisierer mit privaten Rundfunk- und Fernsehsendern umgekehrt identisch in wenigen Jahren zustande.
Die Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wurde also wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst, und sie hat keine Chance, neu zu erstehen.
In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der Proletarierklasse einen so heftigen, so grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Globalisierungsklasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Umgekehrt wie früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil des intelligenteren Proletariats zu den Globalisierern über, und namentlich ein Teil dieser Proletarierideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.
Von allen Klassen, welche heutzutage dem Proletariat gegenüberstehen, sind nur die Globalisierer eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, die Globalisierung ist ihr eigenstes Produkt.
Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen, wenn sie kämpfen, die Globalisierung, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch systematische Medienverdummung ruhiggestellt.
Alle Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, so auch die Globalisierer, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier wollten sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen. Dieses Konzept ist gescheitert.
Es bleibt, wie es immer war: Alle Bewegungen sind Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung wäre nichts anderes gewesen. Aber das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, konnte sich nicht erheben, nicht aufrichten.
Obgleich nicht dem Inhalt, war der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Globalisierer zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes wollte natürlich zuerst mit seinen eigenen Globalisierern fertig werden. Schon diese isolierten Kämpfe waren zum Scheitern verurteilt.
Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er angesichts der zunehmenden Obsoletheit des Proletariats die endgültige Herrschaft der Globalisierer begründet.
Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehen haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. Sie muss benötigt werden. Der moderne Arbeiter, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, dass das Proletariat unfähig ist, jemals die herrschende Klasse der Gesellschaft zu werden und die Lebensbedingungen seiner Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Es ist unfähig zu herrschen, weil es unfähig ist, sich selbst zu erhalten, von anderen ganz zu schweigen.
Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Globalisiererklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung der Globalisierung ist die Nutzung der Arbeit anderer. Der Fortschritt der Industrie, dessen planende und lenkende Träger die Globalisierer sind, setzt an die Stelle des ohnmächtigen Revolutionsversuchs der Arbeiter den immer währenden Konsum. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen des Proletariats die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf es produziert. Sie produziert seinen Totengräber. Ihr Sieg und der Untergang des Proletariats sind gleich unvermeidlich.