Vergessen

Chronologie der Manuskripte

Alle Bären sind Leckermäuler, besonders dann, wenn es um Honig, Sirup und Zucker geht. In Bärenleben war Manfred mit Abstand der größte Liebhaber von Süßigkeiten. Deshalb wunderte sich niemand in der Höhle am Beginn eines gemütlichen Abends, als er Tumu zurief: „Mama, hast Du uns nicht noch einen Nachtisch versprochen?“

Tumu schreckte aus dem Gespräch mit Athabasca auf und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Oh je, ich habe die Quarksoufflés vergessen! Bin gleich wieder da!“ Und sie sauste davon.

„Typisch Mama!“ kommentierte ihr Sohn.

„Das ist überhaupt nicht typisch für sie!“ widersprach Atti. „Wer hat letztens vergessen, mir das Buch über Fracking in Alberta zu besorgen, das ich lesen wollte? Er heißt Manfred, wenn ich mich nicht irre!“

Viele hatten sie gehört und kicherten.

Der Medienverantwortliche von Bärenleben versuchte, von sich abzulenken:

„Sagt mal, wie funktioniert eigentlich Vergessen?“ Das Gesprächsthema des Abends war gefunden.

„Das weiß niemand genau. Es hat was mit sinnvollen und mit unsinnigen Informationen zu tun, auch mit Übung. Die biochemischen Prozesse, die dem zugrundeliegen, sind noch unbekannt. Aber nicht nur Individuen vergessen, sondern auch Institutionen und Gesellschaften. Die Gründe dafür sind meist besser zu durchschauen als bei Einzelwesen.“

Athena

Wieder einmal erwies sich Athena als kluge Eule. Sie war schon eine Weile im Dorf, aber vielen Bärenlebenern dennoch recht unbekannt. Das lag vor allem an ihrem Lebensrhythmus, der sie nachts aktiv sein ließ, wenn alle anderen schliefen, und auch an ihrem durchdringenden Blick, den viele als Bedrohung empfanden. Nur Ramses, dem sie zuerst begegnet war, hatte ein ungezwungenes Verhältnis zu ihr.

„Das verstehe ich nicht,“ gab er zu. „Das mit den Institutionen und Gesellschaften.“ 

Athena drehte ihren Kopf nach rechts um 270 Grad, so dass sie nach links sehen konnte. Dann rotierte sie zurück und wandte den Kopf um 90 Grad nach links. Alle sahen ihr fasziniert zu. Niemand bemerkte, dass der Steinkauz zufrieden lächelte, denn Eulen verziehen beim Lächeln nicht das Gesicht. Athena liebte es, wenn ihr Publikum aufmerksam war.

„Wir Ihr wisst, stamme ich aus Athen. Die griechische und später auch die römische Literatur der Antike waren sehr produktiv. Die berühmte Bibliothek von Alexandria besaß zum Schluss, vor ihrem rätselhaften Verschwinden vor dem Jahr 400, wahrscheinlich eine Million Rollen. Also eine Million Bücher. Davon ist heute nur ein Tausendstel erhalten, und das auch meist nur in Fragmenten.“

„Wie kommt das denn?“ Natürlich war es Na, die da unbeherrscht herausgeplatzt war. Athena fixierte das Eisbärenkind mit nur einem Auge, ohne auch nur einmal zu blinzeln, was Na veranlasste, sich hinter dem breiten Rücken ihrer Mutter zu verkriechen.

Na

„Bevor man eine Frage stellt, sollte man überlegen, ob sie verständlich ist. Pronomen sind dabei wenig hilfreich. Du konntest mit Deinem uneindeutigen „das“ entweder nach den Gründen für das Verschwinden oder für die Erhaltung fragen wollen. Du musst noch viel lernen!“

Athabasca war in ihrem Lehrerinnenherzen tief gekränkt und wollte sich mit Athena anlegen, aber Kulle, der neben ihr saß, hielt sie zurück. „Lass!“, flüsterte er. „Die Kleine hat den Rüffel verdient!“

Ramses vermittelte. „Wir alle sind an den Gründen für das eine wie auch das andere interessiert, denke ich.“ Die Bären brummten zustimmend, und das Schwein quiekte kurz.

„Dummheit, Hass, Gewalt, Krieg und die Zeit sind die Gründe für den Verlust des Schrifttums der Antike. Papyrus und Pergament sind vergänglich, aber wenn man die auf ihnen festgehaltenen Gedanken hätte bewahren wollen, hätte man sie auf neue Materialien übertragen können. In Kriegszeiten hat der Erhalt von Bildungsgut keine hohe Priorität, und Bücher brennen hervorragend. Und wenn eine neue Religion entsteht, dann werden ihre Bücher verbrannt. Hat sie sich aber gegen die alten durchgesetzt, brennen deren. Der Sieg des Christentums war der Totengräber der antiken Kultur.

Dass wir heute noch einige Werke der Antike kennen, ist Cassiodor zu verdanken. Er war ein gebildeter Mann und reich dazu. Nach Jahren als oberster Minister des Ostgotenkönigs Theoderich zog er sich 540 auf seine Landgüter in Süditalien zurück und gründete dort das Kloster Vivarium. Sein Ziel war es, antike Literatur zu sammeln und zu bewahren. Seine Bibliothek besaß ungefähr 100 Bände. Viel mehr kennen wir heute auch nicht.

Cassiodor machte das Kopieren von Büchern zur Pflicht für Mönche. Im Mittelalter waren viele Klosterangehörige Analphabeten, sie malten die Vorlage nur ab. So waren die Kopien jener Zeit sehr originalgetreu.“

Die Versammlung staunte. Selbst Kulle brauchte ein paar Sekunden, um die Sprache wiederzufinden. „Das ist ja ein köstlicher Witz der Geschichte!“ rief er aus. „Ausgerechnet der katholischen Kirche ist es zu verdanken, dass die Bücher der verhassten ‚Heiden‘ zum Teil erhalten geblieben sind.“

Athena wandte den Kopf Kulle zu, sah ihn mit beiden Augen an und blinzelte zustimmend. Der Bär gefiel ihr.

Anscheinend war der Vortrag der Eule beendet. Die Bären, Piggy und Ramses begannen, darüber zu diskutieren, als Tumu in die Höhle gerannt kam. Sie trug schwer an einem Kuchenblech.

„Tut mir leid, es gibt Honigkekse von gestern. Meine Soufflés sind rettungslos verbrannt.“

„Das macht gar nichts.“ Bärdel nahm seine Frau in den Arm. „Quarksoufflés kannst Du wieder backen, Du hast ja das Rezept. Leider sind antike Werke keine Aufläufe.“

Januar 2020

Vergessen

Geschichte der Manuskripte
Geschichte der Manuskripte

Alle Bären sind Leckermäuler, besonders dann, wenn es um Honig, Sirup und Zucker geht. In Bärenleben war Manfred mit Abstand der größte Liebhaber von Süßigkeiten. Deshalb wunderte sich niemand in der Höhle am Beginn eines gemütlichen Abends, als er Tumu zurief: „Mama, hast Du uns nicht noch einen Nachtisch versprochen?“

Tumu schreckte aus dem Gespräch mit Athabasca auf und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Oh je, ich habe die Quarksoufflés vergessen! Bin gleich wieder da!“ Und sie sauste davon.

„Typisch Mama!“ kommentierte ihr Sohn.

„Das ist überhaupt nicht typisch für sie!“ widersprach Atti. „Wer hat letztens vergessen, mir das Buch über Fracking in Alberta zu besorgen, das ich lesen wollte? Er heißt Manfred, wenn ich mich nicht irre!“

Viele hatten sie gehört und kicherten.

Der Medienverantwortliche von Bärenleben versuchte, von sich abzulenken:

„Sagt mal, wie funktioniert eigentlich Vergessen?“ Das Gesprächsthema des Abends war gefunden.

„Das weiß niemand genau. Es hat was mit sinnvollen und mit unsinnigen Informationen zu tun, auch mit Übung. Die biochemischen Prozesse, die dem zugrundeliegen, sind noch unbekannt. Aber nicht nur Individuen vergessen, sondern auch Institutionen und Gesellschaften. Die Gründe dafür sind meist besser zu durchschauen als bei Einzelwesen.“

Athena

Wieder einmal erwies sich Athena als kluge Eule. Sie war schon eine Weile im Dorf, aber vielen Bärenlebenern dennoch recht unbekannt. Das lag vor allem an ihrem Lebensrhythmus, der sie nachts aktiv sein ließ, wenn alle anderen schliefen, und auch an ihrem durchdringenden Blick, den viele als Bedrohung empfanden. Nur Ramses, dem sie zuerst begegnet war, hatte ein ungezwungenes Verhältnis zu ihr.

„Das verstehe ich nicht,“ gab er zu. „Das mit den Institutionen und Gesellschaften.“ 

Athena drehte ihren Kopf nach rechts um 270 Grad, so dass sie nach links sehen konnte. Dann rotierte sie zurück und wandte den Kopf um 90 Grad nach links. Alle sahen ihr fasziniert zu. Niemand bemerkte, dass der Steinkauz zufrieden lächelte, denn Eulen verziehen beim Lächeln nicht das Gesicht. Athena liebte es, wenn ihr Publikum aufmerksam war.

„Wir Ihr wisst, stamme ich aus Athen. Die griechische und später auch die römische Literatur der Antike waren sehr produktiv. Die berühmte Bibliothek von Alexandria besaß zum Schluss, vor ihrem rätselhaften Verschwinden vor dem Jahr 400, wahrscheinlich eine Million Rollen. Also eine Million Bücher. Davon ist heute nur ein Tausendstel erhalten, und das auch meist nur in Fragmenten.“

„Wie kommt das denn?“ Natürlich war es Na, die da unbeherrscht herausgeplatzt war. Athena fixierte das Eisbärenkind mit nur einem Auge, ohne auch nur einmal zu blinzeln, was Na veranlasste, sich hinter dem breiten Rücken ihrer Mutter zu verkriechen.

Na

„Bevor man eine Frage stellt, sollte man überlegen, ob sie verständlich ist. Pronomen sind dabei wenig hilfreich. Du konntest mit Deinem uneindeutigen „das“ entweder nach den Gründen für das Verschwinden oder für die Erhaltung fragen wollen. Du musst noch viel lernen!“

Athabasca war in ihrem Lehrerinnenherzen tief gekränkt und wollte sich mit Athena anlegen, aber Kulle, der neben ihr saß, hielt sie zurück. „Lass!“, flüsterte er. „Die Kleine hat den Rüffel verdient!“

Ramses vermittelte. „Wir alle sind an den Gründen für das eine wie auch das andere interessiert, denke ich.“ Die Bären brummten zustimmend, und das Schwein quiekte kurz.

„Dummheit, Hass, Gewalt, Krieg und die Zeit sind die Gründe für den Verlust des Schrifttums der Antike. Papyrus und Pergament sind vergänglich, aber wenn man die auf ihnen festgehaltenen Gedanken hätte bewahren wollen, hätte man sie auf neue Materialien übertragen können. In Kriegszeiten hat der Erhalt von Bildungsgut keine hohe Priorität, und Bücher brennen hervorragend. Und wenn eine neue Religion entsteht, dann werden ihre Bücher verbrannt. Hat sie sich aber gegen die alten durchgesetzt, brennen deren. Der Sieg des Christentums war der Totengräber der antiken Kultur.

Dass wir heute noch einige Werke der Antike kennen, ist Cassiodor zu verdanken. Er war ein gebildeter Mann und reich dazu. Nach Jahren als oberster Minister des Ostgotenkönigs Theoderich zog er sich 540 auf seine Landgüter in Süditalien zurück und gründete dort das Kloster Vivarium. Sein Ziel war es, antike Literatur zu sammeln und zu bewahren. Seine Bibliothek besaß ungefähr 100 Bände. Viel mehr kennen wir heute auch nicht.

Cassiodor machte das Kopieren von Büchern zur Pflicht für Mönche. Im Mittelalter waren viele Klosterangehörige Analphabeten, sie malten die Vorlage nur ab. So waren die Kopien jener Zeit sehr originalgetreu.“

Die Versammlung staunte. Selbst Kulle brauchte ein paar Sekunden, um die Sprache wiederzufinden. „Das ist ja ein köstlicher Witz der Geschichte!“ rief er aus. „Ausgerechnet der katholischen Kirche ist es zu verdanken, dass die Bücher der verhassten ‚Heiden‘ zum Teil erhalten geblieben sind.“

Athena wandte den Kopf Kulle zu, sah ihn mit beiden Augen an und blinzelte zustimmend. Der Bär gefiel ihr.

Anscheinend war der Vortrag der Eule beendet. Die Bären, Piggy und Ramses begannen, darüber zu diskutieren, als Tumu in die Höhle gerannt kam. Sie trug schwer an einem Kuchenblech.

„Tut mir leid, es gibt Honigkekse von gestern. Meine Soufflés sind rettungslos verbrannt.“

„Das macht gar nichts.“ Bärdel nahm seine Frau in den Arm. „Quarksoufflés kannst Du wieder backen, Du hast ja das Rezept. Leider sind antike Werke keine Aufläufe.“

Januar 2020

Krise der Demokratie? Welche Krise?

P.D. Kulle

Der Autor: PD Dr. Kulle

Demokratie: Post-? Zuschauer-? Fassaden-? defekt? unpolitisch? simulativ?1Das sind einige Begriffe, mit denen der gegenwärtige Zustand auch der  deutschen Demokratie von Theoretikern charakterisiert wird. oder was?2Das ist offenbar die Frage, die der Chef stellt. Die Sekretärin

Beginnen wir mit einigen Anmerkungen zum Charakter des politischen Geschäfts, unabhängig von dessen Form. Immanuel Kant, der Vater des Kategorischen Imperativs, Verfechter ethischer Maximalforderungen3 Der Chef meint, die seien völlig illusorisch. Die Sekretärin und geschworener Feind der Lüge, formuliert in seiner Arbeit „Zum ewigen Frieden“:

Die Politik sagt: „Seid klug wie die Schlangen“; die Moral setzt (als einschränkende Bedingung) hinzu: „und ohne Falsch wie die Tauben.“ …Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider! sehr häufig widerspricht: so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser denn alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche Bedingung der letzteren.

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden

Hannah Arendt, der Moralität gewiss nicht abgesprochen werden kann, widerspricht dem energisch. Ihr zufolge ist die Lüge nicht nur ein unverzichtbarer, sondern gar ein notweniger Bestandteil des Politischen. Denn in der Politik gehe es um Meinungen und um Kompromissfindung. Wo es jedoch um Wahrheit gehe, seien Meinungsdiskussionen unzulässig. Wer den Anspruch auf absolute, von den Meinungen der Menschen unabhängige Wahrheit erhebe, lege die Axt an die Wurzeln aller Politik. Wer lüge, mache den politischen Prozess erst möglich.

Niklas Luhmann weiß, dass es im politischen System nicht um das Finden von Wahrheit geht, sondern um die Machtfrage, ist in diesem Fall also mit Arendt einer Meinung.

Der Nestor der Rechtfertigung der politischen Lüge, Niccoló Machiavelli, formulierte seine Position bereits im frühen 16. Jahrhundert. Ihm zufolge unterliegen Herrschende, anders als ihre Untertanen, keinerlei moralischen Einschränkungen; sie dürfen lügen, betrügen, Versprechen brechen, ihre Untertanen bewusst täuschen. Das gebiete die Staatsraison. Die Ethik des Amtes dominiert demnach die Ethik des Individuums: Der lügende Herrscher verstößt gegen die individuelle Moral, dient aber einer übergeordneten Staatsmoral.

Arendt, Luhmann und Machiavelli zufolge, denen wir uns hier anschließen, sind Fake News also integraler Bestandteil der Politik. Es besteht folglich kein Grund, über deren Existenz zu klagen. Es ist zu beobachten, dass sie sich in einer Welt der digitalisierten Kommunikation in den sogenannten „sozialen“ Netzwerken, die sich zur bevorzugten politischen Informationsquelle entwickelt haben 4Ursprünglich hat der Chef „Informationsquelle geistig Minderbemittelter“ diktiert, mir dann aber gesagt, ich möge die beiden letzten Worte streichen. Die Sekretärin, besonders gut verbreiten. Newsfeed-Texte für das Smartphone sind kurz, griffig formuliert und vermitteln kein Hintergrundwissen. Dabei sind falsche Informationen erfolgreicher als richtige, was Geschwindigkeit und Verbreitungsgebiet angeht.5 Das gilt generell für menschliche Populationen.. Fake News werden von vorwiegend ungebildeten Personen mit Gleichgesinnten „geteilt“; die Angehörigen dieser Gruppe suchen dann gezielt nach bestätigenden Informationen.

Einen bedeutenden Anteil an der Verbreitung von Fake News in den „sozialen“ Netzwerken haben Trolle und ihre Social Bots.

Ein Social Bot ist ein automatisiert gesteuerter Account in einem sozialen Medium, zum Beispiel ein Twitter- oder ein Facebook-Account. Bots können sich als Fan oder Follower ausgeben. Oder sie können auf bestimmte Schlüsselwörter in Postings anspringen, sie verstärken oder die Gegenmeinung artikulieren, dazu Links schicken, mit denen sie ihre Position stützen.

Trolle sind in unserem Fall keine Fabelwesen der nordischen Mythologie6Schade! Ich war im Sommerurlaub in Norwegen, dort hat es mir gut gefallen. Besonders schön war die Straße Trollstigen. Die Sekretärin, sondern Menschen, die entweder Diskussionen sprengen wollen oder kompromisslos für ihre eigene Position streiten. Mittlerweile gibt es ganze Troll-Fabriken, in denen hunderte Menschen für das Stimmungsmachen im Sinne ihres Auftraggebers bezahlt werden. Wenn diese Trolle zusätzlich Social Bots aktivieren, vervielfältigen sie die Kommunikation.

Dergleichen Propaganda verursacht geringe Kosten; man bedient sich eines bereits existierenden Servers. Auch die Möglichkeit des Microtargeting, also die Konzentration auf genau definierte Zielgruppen, senkt die Kosten und erhöht zugleich die Erfolgsaussichten. Denn auf diese Weise kann mit denselben Ressourcen die ausgewählte Zielgruppe viel häufiger angesprochen werden als bei der Kommunikation mit der Gesamtgruppe.

Die beschriebenen Techniken, ob mit oder ohne Transport von Fake News, sind in den USA während der Präsidentschaftswahlkämpfe 2008, 2012 und 2015/16 angewendet worden und auch im Bundestagswahlkampf 2017 in Deutschland. Auftraggeber waren dabei politische Parteien, die Adressaten waren eigene Bürger. Anders verhält es sich wohl mit russischen Trollfabriken: Sie zielen auf Bürger in liberalen Staaten, um mit Hilfe von Fake News oder durch das Verbreiten rechts- bzw. linksextremistischer Ansichten die Gesellschaft zu polarisieren.

Soweit es sich bei den manipulierenden Akteuren um Angehörige der politischen Klasse handelt, ist technisch viel, jedoch qualitativ wenig Neues zu vermerken. Es ist aber festzustellen, dass sich zunehmend politik- und politikerverdrossene Bürger zu Wort melden. Sie misstrauen insbesondere den zentralen Akteuren der Politik, zweifeln an der Leitungsfähigkeit der Politik, sind mit den Ergebnissen politischer Entscheidungen nicht einverstanden, empfinden Politik persönlich häufig als ungerecht und kritisieren die Strukturen des politischen Systems. Das Ansehen der Parteien und die Glaubwürdigkeit der Politik sind bei diesen Menschen stark erodiert.

Diese Verdrossenheit hat gute Gründe.

Die Handlungsfreiheit des Staates wird durch die Globalisierung eingeschränkt, während sie die von Unternehmen erweitert. Die Politik ist gezwungen, betriebswirtschaftliche Interessen zu bedienen: Niedrige Steuern, Rechtssicherheit, ein hohes Bildungs- und Forschungsniveau, eine gute Infrastruktur sichern Standortvorteile. Wer diese Grundlagen nicht schafft, gerät wirtschaftlich ins Hintertreffen. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Der Kollege Habermas möge das folgende unautorisierte Zitat verzeihen:

Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis; mit beiden konkurrieren nämlich zwei entgegengesetzte Prinzipien der gesellschaftlichen Integration um den Vorrang.

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns

Auch bleibt nicht verborgen, dass Verbände, allem voran Wirtschaftsverbände, durch Lobbyismus starken Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben, bis hin zur (Vor)Formulierung von Gesetzen auf Ministerialebene. Ein verbindliches Lobbyregister für den Deutschen Bundestag existiert nicht, und Karenzregeln für den Wechsel von Politikern in die Wirtschaft fehlen. Welche Politik ist in wessen Interesse gemacht worden, wenn zum Beispiel ein ehemaliger Bundesverkehrsminister gerne zum Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie gewählt wird? 7Der Chef meint, das sei eine rhetorische Frage, die seiner Antwort nicht bedürfe. Die Sekretärin

Diese von der Wirtschaft angelegten Fesseln hindern die meisten Politiker jedoch nicht daran, ein überzogenes Erwartungsmanagement bezogen auf die Lösung der zahlreichen Probleme zu betreiben. Sie scheinen zu glauben, damit ihre Argumentationsphobie überdecken zu können. So gibt es vollmundige Ankündigungen, aber selten Lösungen und schon gar keine mutigen „großen“. Eindeutige Festlegungen gelten als Fehler, weil man keine Teilklientel verschrecken möchte.

Darin und auch in Bezug auf viele Kernthemen nähern sich die deutschen Parteien symbiotisch einander an.

Ihre Attraktivität erhöht das erkennbar nicht: Seit drei Jahrzehnten haben alle Parteien in unterschiedlicher Intensität Mitglieder verloren. Der Mitglieder-Wähler-Quotient ist in Deutschland auf unter vier Prozent gesunken.8Da die aktiven Mitglieder der politischen Parteien über das politische Personal und die Aufstellung der Kandidaten für Wahlen entscheiden, zeigt sich an diesem Faktum eine Entwicklung, die die Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen verstärken dürfte.

Politische Haltungen können sich auf verschiedene Arten artikulieren. Wer mit „der Politik“ zufrieden ist, kann sich entweder zufrieden-apathisch verhalten oder sich für sie engagieren. Ähnliches gilt für politisch Unzufriedene: Sie können resignieren oder aktiv werden, und zwar gegen die gegebenen Strukturen. Es liegt auf der Hand, dass es Angehörige der zweiten und der vierten Gruppe sind, die sich physisch oder auch digital in den politischen Diskurs einbringen, mit oder ohne Fake News.

Machiavelli zufolge bleibt die Lüge dem Herrscher vorenthalten. Diese Einschränkung ist aufgehoben worden, was in einer Demokratie, in der Meinungsfreiheit zu den verbrieften Grundrechten eines jeden gehören sollte, nur zu begrüßen ist. Wieso also sollte eine Krise dieser politischen Verfasstheit zu diagnostizieren sein?

Wenn es eine Krise gibt, dann ist es eine Dauerkrise9„Dauer“ markiert in diesem Fall eine recht kurze Phase. Die geordnete Mehrheitsentscheidung ist historisch gesehen eine exotische Angelegenheit. In der langen Geschichte des Menschen nimmt sie keinen breiten Raum ein. Selbst wer nur die sogenannte Neuzeit der jüngsten 500 Jahre betrachtet, wird vielfältige politische Systeme finden, in denen Demokratie aber selten eine Rolle spielte. Wenn sie unterginge, bliebe sie eine kurze Episode der Geschichte., die aus der Verfasstheit der Menschen resultiert und die Churchill, bekannt als Verteidiger der Demokratie als die beste aller denkbaren schlechten Regierungsformen, prägnant formuliert:

Das grösste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

Dezember 2019

Völkermord

Na und Nuk

Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge, hatten sich gut überlegt, wo und wann sie Athabasca und Kulle am besten abpassten, ohne dass den Erwachsenen eine Ausrede einfiel, mit der sie sie schnell abwimmeln konnten. Die sportliche Bärin war nach einem langen Trainingslauf am Morgen in den Dorfteich gesprungen und gerade wieder daraus aufgetaucht. Sie schüttelte sich das Fell trocken. Kulle kehrte  aus der Bibliothek zurück und musste erst einmal den deprimierenden Aufsatz von Jem Bendell über die Klimakatastrophe verdauen, den er gerade gelesen hatte. Er ließ sich nur zu gerne davon ablenken.

„Tante Atti, Onkel Kulle, wir möchten Euch unsere erste wissenschaftliche Arbeit zeigen!“ verkündete Na stolz.

„Vielleicht sagen wir besser: Unseren ersten Versuch einer wissenschaftlichen Arbeit.“ Nuk war wie immer vorsichtiger als ihre Schwester.

Athabasca und Kulle machten große Augen. Davon hatten sie bisher nichts gewusst.

„Auf welchem Gebiet habt Ihr denn geforscht?“ erkundigte sich Kulle schließlich.

„Wir interessieren uns für Anthropologie,“ antworteten die Zwillinge im Chor.

Kulle setzte zu der Erklärung an, dass es viel interessantere und sehr viel weniger Schwermut verursachende Gegenstände gebe, aber ihm wurde noch rechtzeitig klar, dass er selbst sich mit nichts anderem beschäftigte. Also hielt er seinen Mund.

„Das ist ein weites Feld,“ kommentierte er stattdessen unverbindlich. „Worum geht es denn in Eurer Arbeit?“

„Das lest Ihr am besten selbst. Wir haben für jeden von Euch ein Exemplar ausgedruckt.“

Sie drückten den beiden Erwachsenen jeweils eine Mappe in die Hand und sausten davon.

Athabaska

Athabasca warf einen Blick auf den Titel. „‚Genozid‘“ sagte sie angewidert. „Kulle, das fällt in Dein Ressort. Damit will ich nichts zu tun haben.“

PD Dr. Kulle

Ehe er sich’s versah, stand Kulle mit zwei Mappen allein da. Athabasca war ebenso schnell verschwunden wie die Eisbärenzwillinge. Er beschloss, sich gleich an die Lektüre zu machen. Völkermord war immer noch besser als der Zusammenbruch der gesamten Zivilisation.

Genozid

von Na und Nuk

Betrachten wir folgendes Ereignis: 

Eine Gruppe Hominiden lebt friedlich zusammen, bis sie sich räumlich trennt und verschiedene benachbarte Territorien bewohnt. Es dauert nicht lange, bis Feindseligkeiten ausbrechen. Innerhalb von vier Jahren werden alle Männer der einen Gruppe getötet, ebenso ein Teil der Frauen, die anderen Frauen werden Beute der Männer der siegreichen Gruppe. Die Sieger okkupieren das Territorium der Besiegten.

Dieses Geschehen erfüllt Kriterien, die die Vereinten Nationen 1948 als Crime of Genocide, als Völkermord, definiert haben. Nach Artikel II der UN-Konvention versteht man darunter Handlungen, die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe verübt werden, nämlich

  • die Tötung von Mitgliedern der Gruppe,
  • die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe,
  • die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
  • die Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind,
  • die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Das Besondere an unserem Beispiel ist, dass die aggressiven Hominiden nicht der Gattung Homo angehörten, sondern der Gattung Pan troglodytes. Sie waren Schimpansen. Der „Gombe Chimpanzee War“ von 1974 bis 1978 wurde von Jane Goodall beobachtet.

Ihr Verhalten darf man den Schimpansen aber nicht vorwerfen, denn sie konnten schließlich nicht lesen, kannten also die Konvention der Vereinten Nationen nicht.. Das ist nicht auf einen Mangel an Intelligenz zurückzuführen, sondern auf einen Mangel an Schulen in Tansania. Auch Goodall hat, wie ihrem Werk ‚The Chimpanzees of Gombe. Patterns of Behaviour‘ zu entnehmen ist, die Menschenaffen nicht unterrichtet.

Wir wollen in dieser Arbeit nicht plump die These vertreten, dass Aggression und Krieg die entscheidenden Triebkräfte der menschlichen Entwicklung waren und sind. Wir sind keine Psychohistoriker, und wenn wir Asimov richtig gelesen haben, gibt es nur wenige Vertreter dieser Wissenschaft. Allerdings geben die Tatsachen, dass das Töten von Artgenossen den engsten rezenten genetischen Verwandten von Homo sapiens sapiens (im folgenden: Hss) leicht von der Hand zu gehen scheint, dass Hss selbst die Lösung von Konflikten bevorzugt mit militärischen Mitteln zu erreichen sucht und dass auch Völkermord, obwohl offiziell geächtet und als Verbrechen eingestuft, immer noch als probates Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele benutzt wird, zu denken.

Zu denken gibt auch, dass in sogenannten heiligen Büchern wie dem Alten Testament der Bibel, das von Juden wie von Christen als Gottes Wort angesehen wird, die Vernichtung fremder Völker durch das – angeblich – auserwählte Volk Gottes nicht nur gerechtfertigt wird, sondern sogar als dem Willen Gottes entsprechend dargestellt wird.

Dazu ein Beispiel.

Als das Volk Israel nach seiner Knechtschaft in Ägypten von Moses zurück ins gelobte Land geführt wurde, war Kanaan keineswegs menschenleer. Es musste Platz geschaffen werden, zum Beispiel durch den Krieg gegen die Midianiter.

Im vierten Buch Mose, Kapitel 31, Verse 1 – 18, ist zu lesen:

Der HERR sprach zu Mose: Nimm für die Israeliten Rache an den Midianitern!… Da redete Mose zum Volk und sagte: Rüstet einen Teil eurer Männer für das Heer! Sie sollen über Midian herfallen, um die Rache des HERRN an Midian zu vollziehen. Aus jedem Stamm Israels sollt ihr tausend Mann zum Heer abstellen…

Sie zogen gegen Midian zu Feld, wie der HERR es Mose geboten hatte, und brachten alle männlichen Personen um. Neben den anderen, die sie erschlugen, brachten sie auch die Könige von Midian um…Die Frauen von Midian und deren kleine Kinder nahmen die Israeliten als Gefangene mit. All ihr Vieh und ihre Güter und ihre Habe plünderten sie. Alle Städte im Siedlungsgebiet der Midianiter und ihre Zeltdörfer brannten sie nieder. Alle Menschen und das ganze Vieh, das sie erbeutet und geraubt hatten, nahmen sie mit.

Sie brachten die Gefangenen, das Geraubte und die Beute zu Mose, zum Priester Eleasar und zur Gemeinde der Israeliten in das Lager in den Steppen von Moab am Jordan bei Jericho. Als Mose, der Priester Eleasar und alle Anführer der Gemeinde ihnen aus dem Lager heraus entgegengingen, geriet Mose in Zorn über die Befehlshaber des Heeres…

Und Mose sagte zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen am Leben gelassen? Siehe, sie haben… den Israeliten Anlass gegeben, dem HERRN untreu zu werden, sodass die Plage über die Gemeinde des HERRN kam. Nun bringt alle kleinen Knaben um und tötet ebenso alle Frauen, die schon mit einem Mann geschlafen haben! Aber alle Mädchen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, lasst für euch am Leben!

Bibel

Wir sind begeistert: Die Israeliten haben es bereits 1200 Jahre vor unserer Zeitrechnung geschafft, alle, aber auch wirklich alle Kriterien für den Völkermord zu erfüllen!

Danach geht es immer so weiter. Als Beleg sei nur der dritte Punische Krieg genannt, der 146 vuZ mit der Zerstörung Karthagos und der Versklavung seiner überlebenden Bewohner endete. Cato der Ältere ist eindeutig daran schuld, hat er doch unermüdlich am Schluss aller seiner Reden im Senat wiederholt: ‚Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!‘

Eine große Rolle beim Vernichten von Völkern spielt der Kolonialismus. In den Amerikas zum Beispiel waren die indigenen Einwohner den europäischen Kolonisten im Weg; sie wurden zu guten, also toten Indianern gemacht oder in Reservationen abgedrängt, die ihnen keine Lebensgrundlage liefern konnten. Wo sie dennoch überleben konnten, rächen sie sich heute in den USA mit dem Betrieb von Spielcasinos, in denen sie dem weißen Mann seine Dollars aus der Tasche ziehen.

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind Genozide gut dokumentiert. Wir verweisen hier nur auf den Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904 – 1908), der ganz gewiss stattgefunden hat, hat doch die deutsche Bundesregierung bestätigt, dass es ihn gab. Der Völkermord an den Armeniern ab 1915 auf Veranlassung der türkischen Regierung ist immer noch umstritten, denn der amtierende türkische Präsident Erdogan leugnet ihn, und der muss es schließlich wissen. Zum Holocaust von 1941 bis 1945 sagen wir lieber nichts. Jeder, der behauptet, er sei nicht das fürchterlichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit gewesen, gilt als Nationalsozialist, mindestens als Nationalist, und das sind wir gewiss nicht, gibt es doch keine Eisbärennation. Also beschränken wir uns auf die Aussage: Es gab ihn.

Viel schlimmer sind aber die Völkermorde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, denn da gab es die oben erwähnte UN-Konvention bereits. Die Mörder mussten also wissen, dass sie ein Verbrechen begingen, während das in früheren Zeiten nicht der Fall war. Das gilt zum Beispiel für die Massaker in Ruanda und Burundi 1965, 1972 und 1994, in denen erst Tutsi Hutu ermordeten und danach umgekehrt. Die Tutsi haben also genug Hutu überleben lassen, sonst hätten sie anschließend nicht von ihnen ermordet werden können.

Wir meinen allerdings, dass die Menschen die moralische und juristische Verurteilung des Völkermords nicht wirklich ernst meinen. Täten sie es, würden sie die Finger davon lassen, gezielt andere Menschengruppen zu eliminieren, was sie erkennbar nicht machen. Täten sie es, würden sie ihre Kinder im Sportunterricht in der Schule sicher nicht den Vernichtungskrieg üben lassen: Das sogenannte Spiel „Völkerball“ endet mit der vollständigen Vernichtung einer Mannschaft.

Kulle klappte seine Mappe zu. Die Zwillinge mussten noch viel lernen. Aber er war dennoch zufrieden. Die Kernaussage gefiel ihm.

Kulle und die Nachwuchswissenschaftlerinnen

November 2019

Klimakanzlerin

Bärdel war mit Kulle auf seinem Morgenspaziergang rund um Bärenleben an diesem Tag allein, und das war ihm recht, denn er hatte etwas auf dem Herzen.

Kulle (er liebt immer noch die Photos seiner alten Inkarnation) neben Bärdel (der aussieht wie immer)

„Kulle“, sagte er, „ich verstehe da etwas nicht.“

Kulle verkniff sich die Bemerkung, dass dergleichen häufiger der Fall war, und antwortete ermutigend: „Schieß los!“

„Klimakanzlerin“ weiterlesen

Voyager

Na und Nuk

Auch Bärenkinder in Bärenleben haben ab und zu Schwierigkeiten einzuschlafen, und dann beginnen sie zu quengeln. Das unterscheidet sie nicht von jungen Menschen. Die wollen in solchen Fällen meist länger fernsehen dürfen oder länger spielen oder länger im Internet surfen. Bärenkinder dagegen wünschen sich immer nur das eine: eine Gute-Nacht-Geschichte.

„Tante Atti, bitte erzähl uns eine Geschichte!“ bettelten die Eisbärenzwillinge.

„Sonst gerne, Kinder, aber heute habe ich fürchterliche Kopfschmerzen. Fragt Onkel Ramses, der ist abends sowieso immer lange wach.“ Und sie rieb sich die schmerzende Stirn und verschwand in der Schlafhöhle.

„Onkel Ramses, kannst Du uns bitte eine Geschichte erzählen?“

„Tut mir leid, Kinder, heute passt das gar nicht. Ich habe eine Verabredung mit einer reizenden Fröschin aus dem Nachbardorf. Tschüs!“ Und er hüpfte davon.

„Onkel Bärdel, wir wünschen uns ganz dringend eine Gute-Nacht-Geschichte!“

„Und ich wünsche mir ganz dringend meine Ruhe!“ Sprach’s und verschwand in der Bibliothek.

„Na sah ihre Schwester an. „Was machen wir jetzt?“

„Wir könnten Onkel Kulle fragen,“ schlug Nuk vor.

„Dummchen! Onkel Kulle erzählt keine erfundenen Geschichten. Er ist Wissenschaftler!“

„Dann fragen wir ihn einfach, was er gerade jetzt erforscht. Er redet gern über seine Arbeit. Und wenn er redet, schlafen wir allmählich ein…“

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, erzähl uns von Deinen aktuellen Forschungen!“

„Gerne! Aber das hat mit Physik zu tun – interessiert Euch das wirklich?“

„Natürlich! Wir haben einen Physikkurs bei Onkel Manfred gemacht.“

„Nun gut. Im Jahr 1977 hat die amerikanische Weltraumbehörde NASA zwei baugleiche Raumsonden gestartet, die wurden „Voyager“ genannt. Ihr Auftrag war, die äußeren Planeten des Sonnensystems zu erkunden, vor allem Jupiter und Saturn und deren Monde. Diesen Auftrag erledigten sie viel besser als erhofft, und danach ging es weiter zu Uranus und Neptun. Inzwischen haben beide das Sonnensystem verlassen. Sie funktionieren immer noch und senden regelmäßig Signale zur Erde.“

„Wow! Dann treffen sie bestimmt irgendwann Aliens!“ behauptete Na, die immer noch hellwach war.

Na

„Das ist wenig wahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie leer das Universum ist,“ wandte Kulle ein. „Aber Du hast recht, kleine Na: Selbst an diese Möglichkeit hat man vor 42 Jahren gedacht. Deshalb haben die Voyagers eine Schallplatte mit, auf der sich die Menschheit den Außerirdischen vorstellt. Sogar ein Tonkopf ist beigelegt, falls die Aliens mit solchen Tonträgern nicht vertraut sein sollten.“

Auch die Eisbärenzwillinge wussten nicht genau, was Schallplatten waren, aber sie hüteten sich nachzufragen, denn sie wollten Kulle nicht von den viel interessanteren Extraterristen ablenken.

„Die Menschheit stellt sich völlig anders gearteten Lebewesen vor? Wie geht das denn?“

„Das ist wirklich nicht ganz einfach. Deshalb hat ein Team von Wissenschaftlern lange darüber nachgedacht. Zuerst müssen die Menschen den Aliens klarmachen, dass sie intelligent sind. Das vermittelt man am besten mit Mathematik. Die Sprache der Natur ist die Mathematik, hat angeblich Galileo Galilei gesagt – wisst Ihr, wer das ist?“

„Klar, Onkel Kulle: ‚Und sie bewegt sich doch!‘“

„Gut. Also Mathe, Physik, Chemie und Informationen über unser Sonnensystem. Hauptsächlich natürlich über die Erde und deren begabteste Spezies, die Menschen. Anatomie, genetische Struktur, Fortpflanzung, Sozialverhalten, gesellschaftliches Leben, technische Errungenschaften. Sie haben Bilder geschickt, um das alles zu zeigen. Und zahlreiche Geräusche, um die Bilder zu illustrieren. Es folgen Grüße in verschiedenen Sprachen, manche Sprecher fordern die Aliens auf, die friedliche Erde zu besuchen. Und dann folgt der Hauptteil: 90 Minuten Musik, 27 Titel, davon sieben, also über 25 Prozent, klassische europäische Werke.“

Na gähnte. „Und es gibt natürlich keinen Hinweis darauf, dass es sich um eine musikalisch eurozentrische Sichtweise handeln könnte?“

„Nein.“

„Wird auf dieser Schallplatte erwähnt, dass Arten ausgerottet werden und dass Tiere in Mastanlagen gequält werden?“

„Nein.“

Nuk löste ihre Schwester ab. Na war bereits kurz vor dem Einschlafen, das spürte sie. „Onkel Kulle, ist davon die Rede, dass Menschen Menschen umbringen und dass das erlaubt ist, wenn jemand erklärt hat, dass Krieg herrscht? Und dass auf der Erde meistens Krieg herrscht?“

„Nein.“

„Sagen die Menschen den Aliens, dass sie die schlimmsten Raubtiere der Erde sind?“

„Nein.“

„Glauben die Menschen wirklich, dass sie nett sind?“

„Ja.“

„Ach, Onkel Kulle. Wir haben gedacht, dass Du keine Märchen erzählen kannst. Aber diese Gute-Nacht-Geschichte war wunderschön. Wir schlafen jetzt.“

Na und Nuk kuschelten sich aneinander.

Kulle seufzte. Wieso meinten die Kinder, dass er ihnen ein Märchen erzählt hatte?

September 2019

Zur Evolution

P.D. Kulle

Uns ist eine sehr alte Geschichte überliefert:

Ein göttliches Wesen schuf allein aus seinem Willen eine ganze Welt und benötigte dazu nur sieben Tage. Genau genommen, brauchte er nur sechs, denn danach war er vom Schöpfen so erschöpft, dass er sich einen Ruhetag gönnte, um neue Kraft zu schöpfen.

Am sechsten Tag hatte er aus Materie ein ihm ebenbildliches Wesen geformt, den Menschen. Der war neugierig, ungehorsam, emotional unkontrolliert und mörderisch, zudem für alle Laster empfänglich. Das versetzte seinen Schöpfer in Zorn, und er beschloss, ihn zu vernichten. Die Tiere aber, die er vor dem Menschen geschaffen hatte, wollte er überleben lassen, wozu er der Hilfe einiger Menschen bedurfte. Er suchte sich Noah und dessen Söhne aus, die er beauftragte, ein großes Schiff zu bauen, in dem von jedem der Tiere ein Paar Quartier finden sollte, je ein männliches und ein weibliches. Dass er vergaß, Noah und seinen Söhnen Frauen beizugeben, sei nur am Rande vermerkt. Oder er hat es nicht vergessen, sondern die Übermittler der alten Geschichte waren alte Männer und hielten Frauen für nicht erwähnenswert. Wie auch immer: Als alle wie gefordert an Bord waren, ließ der Schöpfer für 40 Tage eine verheerende Flut über die Welt kommen. Alle Menschen kamen dabei um, logischerweise auch alle Pflanzen und alle Tiere außerhalb des Schiffes, aber die waren nach der Überschwemmung wieder da, sonst hätten die geretteten Tieren ja verhungern müssen. Logischen Überlegungen zufolge hätte sich der Schöpfer die gesamte Operation also sparen können. Die Arche der Tiere strandete am Berg Ararat, der, wie man weiß, in der Türkei zu finden ist. Dort müssen alle ausgestiegen sein, und ihre Nachfahren erfreuen sich noch heute des Lebens, so die Erzählung.

Dass diese alte Geschichte einige Fragen aufwirft, haben wir oben bereits angedeutet. Eine wesentliche Frage aber beschäftigte Naturforscher bis in die Neuzeit hinein: Wenn alle Tiere in der Türkei anlandeten, wie kamen dann zum Beispiel die Bisons nach Nordamerika, die Pinguine in die Ant-, die Eisbären dagegen in die Arktis? Und: Sind alle Arten wirklich noch vorhanden? Wie sollte man sich Fossilienfunde erklären, die sich keiner rezenten Tierart zuordnen ließen? Wenn einiges darauf hindeutet, dass Arten aussterben können, sollten nicht auch neue entstehen?

Die Antwort auf all diese Fragen lieferte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Charles Darwin mit seinem Werk „Über die Entstehung der Arten“. Aufgrund empirischer Forschungen konnte er plausibel erklären, dass das Leben auf der Erde nicht in wenigen Tagen „geschöpft“ worden war, sondern sich in Jahrmillionen entwickelt hatte, und zwar sinnvoll auf der Basis des Zufalls. Pflanzen wie auch Tiere sind keine freischwebenden Individuen, sondern haben Lebensräume. Die Art, die in einem bestimmten Habitat die meisten Nährstoffe zu gewinnen vermag, wird sich stärker als konkurrierende Spezies reproduzieren und wird diese verdrängen. Die Art, die in der Lage ist, ein neues Biotop zu besiedeln, wird dieses Biotop dominieren. Individuen innerhalb einer Art, die sich am besten zu ernähren wissen, werden stärker als ihre weniger dazu fähigen Artgenossen und haben größere Chancen, sich fortzupflanzen. Der Zufall bei diesem Prozess der Evolution wird durch das Erbgut gegeben, das bei sexueller Fortpflanzung neu gemischt wird. Dazu kommt, das die Erbinformationen nicht immer korrekt kopiert werden und so Fehler entstehen, Mutationen, die in ihrer überwiegenden Zahl negativ für die Folgegenerationen sind, aber mitunter auch qualitative Sprünge bewirken können.

Es handelt sich bei der Evolution also um einen Kampf ums Überleben, der so lange fortdauert, wie es miteinander konkurrierende Arten gibt.

Was aber geschieht, wenn eine Spezies alle Habitate besetzt hat und andere Arten nicht mehr zu fürchten braucht? Ist diese Spezis nicht nur vernunftbegabt, sondern vernünftig, wird sie die Situation analysieren, sich einen Überblick über die ihr zur Verfügung stehenden Rohstoffe verschaffen und ihren Stoffwechsel mit der Natur auf einem Niveau stabilisieren, das ihr eine lange Existenz in ihrem Habitat zwar nicht garantieren, wohl aber ermöglichen kann. Ist sie es nicht, wird sie ihre Lebensbasis zugrunde richten.

Der Planet Erde ist in das Zeitalter des Anthropozän eingetreten. Homo sapiens sapiens hat in einem langen Evolutionsprozess nicht nur seine menschlichen Konkurrenzarten aus dem Feld geschlagen, sondern braucht sich auch vor anderen Raubtieren nicht mehr zu fürchten. Allein Viren und Bakterien können ihm noch gefährlich werden, aber Homo hat eine hoch effiziente Forschung entwickelt, die es ihm bisher jedenfalls erlaubt hat, derartige Angriffe zurückzuschlagen. „Aus dem Feld schlagen“ und „zurückschlagen“ ist nicht nur auf mikrobiologischer Ebene, sondern in vielen Fällen gleichzusetzen mit „ausrotten“. Eine Kosten-Nutzen-Relation wurde dabei in der Regel nicht erstellt, dergleichen pflegt Homo im Rahmen seiner Ökonomie, die ihm alles bedeutet, nur für Betriebe zu berechnen. Während Fauna und Flora um ihn herum schwinden, ist Homo zur Selbstbegrenzung nicht bereit. Seine ideologische Setzung, unabhängig von allen Kulturen, lautet: „Menschliches Leben ist unantastbar. Der Wunsch nach Kindern muss erfüllt werden“. Die eingangs erwähnte alte Geschichte ist dabei relevant: Der Glaube an die Gottähnlichkeit oder zumindest Gottesnähe der eigenen Spezies ist in den meisten Menschnköpfen so tief verankert, dass er genetische Grundlagen zu haben scheint. Damit ist der Mechanismus der Evolution, nur den besser Adaptierten die Fortpflanzung zu ermöglichen, außer Kraft gesetzt. Ermöglich wird das Leben nahezu aller gezeugten Menschen, unabhängig von ihrem Potential, durch die weit entwickelte menschliche Medizin. Ungewollt kinderlosen Paaren wird, zumindest in den reichen Ländern, auch künstliche Befruchtung ermöglicht. So explodiert die menschliche Bevölkerung auf der Welt. Eine rationale Bewertung der zur Verfügung stehenden begrenzten Ressourcen wird durch die ideologische Selbstwahrnehmung  verunmöglicht. Der zentrale weltanschauliche Grundsatz wird immer in Zeiten des Krieges verletzt, Zeiten, die in der menschlichen Geschichte den Regelzustand darstellen. In diesen Zeiten gilt, dass keine Regel gilt. Trotz des  Blutzolls, der permanent gefordert wird, ist es Homo nicht gelungen, seine Spezies zu dezimieren. Das Gegenteil ist der Fall.

Wir kommen zum Schluss.

Q.E.D. :
Pffffffffffttt

Oder, um mein bekanntes Fazit zu variieren: Dumm gelaufen.

P.S. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

April 2019

Money money money

Bärdel und Kulle

Es war um die Zeit der Wintersonnenwende, also herrschte noch völlige Dunkelheit während des rituellen Morgenspaziergangs von Bärdel und Kulle. Wie so oft begleiteten sie Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge. Natürlich haben alle Kinder an lichtlosen Wintermorgen keine Lust aufzustehen, aber ihre Wissbegier hatte die Schwestern aus der gemütlichen Höhle hinausgetrieben: Man konnte immer etwas lernen, wenn man die beiden Alten belauschte oder ihnen Fragen stellte. Heute war sogar Athabaska mit von der Partie. Sie hatte ihre ausgiebige Joggingrunde schon beendet und stichelte, während sie sich vom Rennen erholte:

Athabaska sommerlich


„Na, alte Männer, wie wär’s mal mit ein bisschen mehr Bewegung?“

Bärdel ließ sich tatsächlich provozieren und trabte los in die Finsternis. Kulle runzelte verständnislos die Stirn, die Kinder machten große Kulleraugen, und Atti grinste. Schon nach wenigen Augenblicken hörten sie einen gewaltigen Rums, das Knacken von Ästen, den Fall eines schweren Körpers auf die Erde und einen kräftigen Fluch.

Kulle schüttelte den Kopf zum zweiten Mal und tastete sich vorsichtig in die Richtung, in die sein Freund gerannt war. „Bleib ganz ruhig, ich komme!“ brummte er und fügte völlig überflüssig hinzu: „Hast Du Dir was getan?“

„Natürlich nicht! Ich habe mir nur das Handgelenk verstaucht, und an der Stirn habe ich eine blutende Platzwunde oder eine riesige Beule oder beides. Es geht mir also blendend.“ Bärdels Sarkasmus war nicht zu überhören.

„Wird schon nicht so schlimm sein“, wiegelte Kulle ab. „Du bist gegen eine Wärmepumpe gelaufen, die Manfred hier aufgestellt hat. Davon gibt es jetzt eine Menge. Beleuchtet sind die Dinger natürlich nicht. Wenn es stockfinster ist, sollte man eben nicht…“

„Spar Dir Deine Ratschläge!“ knurrte Bärdel. Er war froh, dass er seinen Ärger auf Kulle abwälzen konnte, aber eigentlich war er auf sich selbst wütend. Wie dumm, einfach loszurennen!

Die Beiden tapsten vorsichtig zurück zu den anderen.

„Darf ich mal sehen?“ fragte Atti. Ihre Qualifikation als Krankenschwester war in Bärenleben unbestritten.

„Nein!“ Bärdel würdigte sie keines Blickes, was allerdings nicht auffiel, denn immer noch herrschte biblische Finsternis. Er nahm gemessenen Schrittes seinen Spaziergang wieder auf, Kulle an seiner Seite, und die anderen folgten schweigend. Jetzt nur nichts falsch machen, dachten sie sich.

„Mein Sohn installiert also Wärmepumpen?“ erkundigte Bärdel sich nach einer Weile. „Solarzellen und zwei Windmühlen hat er auch schon. Bärenleben dürfte allmählich energetisch autark sein, sehe ich das richtig?“

Kulle pflegte sich nicht um solche trivialen Fragen zu kümmern, Na und Nuk verstanden nicht, wovon die Rede war, blieb also Athabaska. Ihr oblag die Bärenlebener Buchhaltung, sie war hier kompetent.

„Wir sind inzwischen autark, sogar mehr als das, aber wir speisen unsere Überschüsse nicht in das dehländische Netz ein, weil wir dann unsere Existenz preisgeben müssten. Immerhin kostet uns die Energie jetzt nichts mehr.“

„Super, Tante Atti!“ Nuk wagte sich aus der Defensive. „Das finde ich toll, dass uns die Energie jetzt nichts mehr kostet. Aber wenn Onkel Manfred Solarzellen und Wärmepumpen und Windmühlen gekauft hat, dann hat er dafür doch Geld gebraucht, oder?“

Nuk und Na

„Ja, klar!“

„Und woher hatte er das?“

„Tja…“

„Du kannst es den Kindern ruhig sagen. Wir haben Menschen betrogen. Genauer gesagt: Wir haben Banken von Menschen betrogen. Wir haben Kreditkaren benutzt, die anderen Menschen gehören, und haben damit eingekauft. Wir haben so getan, als seien wir sie. Das haben wir schon mal gemacht, als wir in den USA waren. In Dehland ist das jetzt schwieriger, aber es klappt immer noch.“ Kulle sprach ganz ruhig, obwohl er wusste, dass ihn ein Sturm erwartete.

Der Sturm kündigte sich durch völlige Windstille an. Wie sich das Meer zurückzieht vor einem Tsunami. Da ist nichts – keine Luftbewegung, kein Wasser. Aber dann wüten die Elemente.

„Ihr habt betrogen und gestohlen! Ihr betrügt und stehlt!“

„Ihr seid Diebe!“

„Ihr seid Lügner! Ihr habt uns belogen! Ihr belügt uns!“

„Ihr habt gesagt, so etwas darf man nicht tun!“

„Wir haben Euch vertraut!“

„Wir glauben Euch nicht mehr! Kein Wort glauben wir Euch!“

„Nie wieder!“

Es war immer noch stockfinster. Eisbärenpfoten sind weich, selbst empfindliche Grizzlyohren hören kaum, wenn sie den Boden berühren. Aber Athabaska, Bärdel und Kulle merkten es. Die Zwillinge rannten davon.

„Ihr bleibt bitte hier!“ Noch immer redete Kulle, ohne die Stimme zu heben. Und das Wunder geschah: Na und Nuk blieben stehen.

Bärdel war seinem Freund dankbar. Er ließ ihn machen, was er für richtig hielt. Er selbst hielt sich lieber aus der Sache heraus. Seine immer noch pochenden Kopfschmerzen boten ihm ein willkommenes Alibi. Athabaska unternahm einen Versuch, die Wogen zu glätten. Sie zog Nussriegel aus ihrer Gürteltasche – Joggingproviant, den sie nicht gegessen hatte – und wollte anfangen, sie zu verteilen. Aber niemand griff zu, deshalb versuchte sie eine andere Strategie.

„Nehmen wir an, wir hätten keinen Kreditkartenbetrug begangen. Welche Folgen hätte das gehabt?“ fragte sie.

„Tante Atti, wir müssten dann auf elektrische Energie verzich…“. Nuk begann brav zu antworten, wie es ihre Art war, aber ihre Schwester unterbrach sie mit einem wütenden Redeschwall.

Na

„Ja, natürlich hätten wir dann keine Energie und keine Computer und keine Bibliothek aber wir hättenunserePrinzipiennichtverratenwirwären nichtgenausowiedieMenschen Undjetzt kommmirnichtmit Gesinnungsethikdie nichtdieFolgenbedenktunddamitdassVerantwortungsethikdemstarrenDenken inNormenvorzuziehenist Verantwortungsethik dasistdocheinfachlächerlich wennDuehrlichwärestmüsstestDuzugebendasssichdahinteregoistischer utilitaristischerOpportunismusverbirgtundsonstgarnichts“

Na hörte auf, weil ihr die Puste ausgegangen war.

Ihre entsetzte Schwester versuchte zu retten, was zu retten war: „Aber Na, das kann man doch so nicht sagen…“

Weil es immer noch richtig dunkel war, konnte sie nicht sehen, dass Athabaska und Kulle schmunzelten und einander in die Rippen knufften. Sie freuten sich, dass zumindest eine ihrer Schülerinnen das Stadium des kindlichen Urvertrauens in die Lehren der Erwachsenen verloren hatte und selbstständig dachte.

Athasbaska und Kulle 1

„Das kann man schon so sagen. Und richtig ist es in gewisser Weise auch. Wir Bären sind halt Opportunisten, das zeigt schon unser Fressverhalten. Apropos Fressverhalten…“ Athabaska bot ihre Nussriegel zum zweiten Mal an. Diesmal langten alle zu, und Na beruhigte sich.

„Aber, Tante Atti, ich sehe ja ein, dass wir viele Dinge brauchen, die man nur bekommt, wenn man dafür Geld ausgibt. Gab es denn keinen anderen Weg, als Menschen zu betrügen? Es gibt doch jetzt diese Kryptowährungen, Die kann man schöpfen, habe ich gelesen. Warum machen wir das nicht?“

Bei abstrakten Geldfragen überließ Athabaska das Feld gerne Kulle.

„Erstens sind diese Währungen sehr volatil, man kann keine verlässliche Kalkulation auf ihnen aufbauen. Zweitens dauert das „Schöpfen“ elend lange, und drittens verbraucht es irrsinnig viel Energie. Kryptowährungen sind etwas für Spieler, aber nichts für Bärenleben.“

„Und warum haben wir uns das Geld, das wir brauchen, nicht einfach geliehen?“ Nuk wagte sich wieder aus der Deckung.

„Wer einen Kredit bei einer Bank aufnehmen möchte, dessen Bonität wird in Dehland vorher genau  geprüft. Man will sicher sein, dass der Kredit auch zurückgezahlt wird. Wir würden also unser verstecktes Leben aufgeben müssen.“

„Und wenn wir das Geld einfach schöpfen? Wie die Bitcoins, aber schneller, ohne hohen Energieaufwand, wie Euros oder Dollars?“ Na wollte ihre Idee noch nicht aufgeben.

„Wenn wir das machen“, erklärte Kulle, „nennt man das Geldfälschung. Wenn eine Bank das macht, nennt man das Wertschöpfung.“

Nicht nur Bärdel schwirrte jetzt der Kopf, auch Athabaska und die Kinder waren völlig verwirrt.

„Das verstehe ich nicht!“ sagten alle gleichzeitig.

Kulle richtete sich auf eine längere Erklärung ein.

Kulle 2 als Erklärbär

„Woher kommen alle Euros?“

In die Pause nach der Frage, die lediglich rhetorisch sein sollte, platzte Na mit einer Antwort: „Von M. Draghi.“

Nuk reagierte schwesterlich: „Du spinnst doch!“

„Tue ich nicht! M. Draghi steht auf allen Euroscheinen!“ 

„Und demnächst wird da eine andere Unterschrift stehen, aber Na hat nicht Unrecht.  Mario Draghi ist der Präsident der Europäischen Zentralbank, der EZB, und deren Druckerei produziert die Euro-Banknoten.“

„Einfach so?“

„Einfach so!“

„Und wo kommen diese Banknoten danach überall hin?“

„ Zu Menschen, die berufstätig sind und dafür Geld erhalten, zu Rentnern, Empfängern von Transferleistungen, Couponschneidern und vielen anderen.“

Na wunderte sich, dass Menschen, die transportiert wurden, dafür auch noch Geld bekamen, statt eine Fahrkarte zu bezahlen. Nuk verstand nicht, warum man Euros für das Abschneiden von Rabattcoupons erhielt. Aber beide fragten nicht nach. Statt ihrer wollte Bärdel wissen: „Kriegen auch Regierungen das Geld?“

„Unter Umständen schon. Regierungen erhalten Geld von den Steuern und Abgaben ihrer Bürger und geben das dann wieder aus für Dinge, die ihnen wichtig erscheinen. Wenn die Regierungen der Länder der Eurozone mehr ausgeben wollen, als sie an Steuern einnehmen, müssen sie einen Kredit aufnehmen. Das tun sie aber nicht direkt bei der EZB, sondern bei einer Geschäftsbank.“

„Und woher nimmt die die Euros?“

„Die schöpft sie!“

Den Chor: „Das verstehe ich nicht!“ bekam Kulle jetzt zum zweiten Mal zu hören.

Er holte tief Luft: „Nehmen wir an, der dehländische Finanzminister will einen Kredit von 50 Milliarden Euro aufnehmen. Die Bank, bei der er anfragt, ist von Dehlands Bonität überzeugt, und im Handumdrehen hat der Minister 50 Milliarden Euro auf seinem Konto. Er hat das Geld, obwohl die Bank es vorher nicht hatte. Die Bank hat ihrer Buchführung nach 50 Milliarden Euro ausgegeben und erwartet, sie wiederzubekommen. Aber sie hat das Geld in Wirklichkeit nicht gehabt. Sie hat es, wie man sagt, „geschöpft“. Der Finanzminister dagegen verfügt aufgrund der Gutschrift auf seinem Konto über „wirkliches“ Geld aus der Druckerei der Europäischen Zentralbank.“

„Das ist doch ein riesiger Schwindel!“ empörte sich Athabaska.

Kulle hob die Schultern und ließ sie resigniert wieder fallen: „Geld ist in der Tat ein riesiger Schwindel. Der funktioniert aber, weil alle Beteiligten an den Schwindel glauben.“

„Onkel Kulle, warum nimmt die Regierung überhaupt einen Kredit auf? Warum druckt sie nicht selber das Geld, das ihr fehlt?“  Na hatte schon wieder eine intelligente Idee.

„Manche Regierungen können das, zum Beispiel die USA. Der Dollar ist ihre eigene Währung. Davon können sie drucken, soviel sie wollen, das heiß, sie können auch ohne Ende Schulden machen, ohne dass es ihnen Probleme bereitet. In Dehland ist das aber anders, denn der Euro ist keine dehländische Währung, sondern die Währung aller Staaten im Euroraum. Er ist also so etwas wie eine Fremdwährung, über die die EZB entscheidet.“

„Siehste!“ Na schnitt ihrer Schwester eine Grimasse, und da es inzwischen heller geworden war, konnte Nuk sie auch sehen. „Alle Euros kommen von M. Draghi!“

„Mir dröhnt immer noch der Schädel!“ stöhnte Bärdel und berührte vorsichtig seine Stirn, auf der eine eindrucksvolle Beule gewachsen war. „Aber eins habe ich, glaube ich, trotzdem verstanden: „Wenn Du Recht hast, dann ist der ganze Aufstand, den Trump wegen des US-Handelsbilanzdefizits veranstaltet, völliger Blödsinn?“

„So ist es,“ erklärte Kulle fröhlich. „Passt doch ins Bild: Das meiste, was der Kerl veranstaltet, ist völliger Blödsinn. Und jetzt lasst uns einen Schritt zulegen: Aus der Dorfküche steigt mir der liebliche Duft von Pancakes mit Brombeermarmelade in die Nase, und ich wette, die sind nicht einfach aus dem Nichts geschöpft!“ 

Januar 2019

Bemerkungen zum Untergang

P. D. Kulle

Der Mensch als zoon politikón ist zwar kein zwangsläufig staatenbildendes, wohl aber ein sich in Gesellschaften formierendes Tier. Seine Sozialgeschichte zeigt dabei Entwicklungsmuster, deren Gesetzmäßigkeiten es auf den Grund zu gehen gilt.

Unter Gesellschaft verstehen wir eine soziale Gemeinschaft, deren Mitglieder einen Wertekanon teilen 1. Zu diesem Kanon gehören also ideologische, ethische und ästhetische Aspekte, die qua Enkulturation von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Die aus diesem Kanon resultierenden Haltungen der der Gesellschaft angehörenden Individuen sind dementsprechend recht persistent.

Daneben ist für eine Gesellschaft ein bestimmter Entwicklungsstand der Produktivkräfte charakteristisch, woraus sich deren Produktionsverhältnisse ergeben. Diese wirtschaftlichen Gegebenheiten werden durch adäquate politische Rahmenbedingungen abgesichert 2.

Kleine menschliche Gesellschaften können statisch sein. Das ist der Fall, wenn ihr Stoffwechsel mit der Natur sehr gering ist, wenn sie als Jäger und Sammler leben. Wir beobachten dergleichen noch heute bei isolierten indigenen Gruppen in Lateinamerika und auf einigen Inseln.

Diese Gruppen sind aber aktuell nicht Gegenstand unseres Interesses 3. Wir fragen uns stattdessen: Was hat große, hoch entwickelte Gesellschaften wie z. B. die Maya, das Römische Reich, das minoische Kreta, die Anazasi, Angkor Wat, die Osterinsel, die Weimarer Republik oder die Sowjetunion zerstört?

Charakteristisch für solche Gesellschaften ist nicht ein geringer, sondern ein starker Stoffwechsel mit der Natur 4, bei dem die Gefahr, die eigene Lebensgrundlage zu zerstören, sehr hoch ist. Konkret: Gefahren sind Entwaldung und damit Lebensraumzerstörung, denn mit dem Holz verschwinden Rohstoffe und Nahrungsmittel, und Mikroklima und Wasserhaushalt können sich dramatisch verändern 5. Wesentlich sind auch Probleme mit Acker- und Weideland wie Erosion, Versalzung, abnehmende Fruchtbarkeit. Im Zusammenhang damit sind Fehler bei der Wasserbewirtschaftung zu nennen, die zu Versalzung wie auch zu Übernutzung führen können. Auch Proteinquellen werden aufgrund von übermäßiger Jagd und Überfischung nicht nachhaltig genutzt.

Je entwickelter die Gesellschaft, desto größer der Bedarf an Rohstoffen, desto höher die bei deren Gewinnung und Verarbeitung in die Umwelt entlassenen mehr oder minder toxischen Emissionen, desto größer also der ökologische Fingerabdruck des einzelnen Menschen 6.

Worin liegt die Ursache solcher menschengemachter Fehler? Sie liegt in der schieren Zahl der Gesellschaftsglieder. Während bei normalen Säugetieren körperliche Veränderungen oder Verhaltenssignale die fruchtbaren Phasen der Frauen anzeigen, wird der Eisprung bei Menschenfrauen bestenfalls vom betroffenen Individuum wahrgenommen. Der Geschlechtsakt beim Menschen ist dementsprechend nicht zwingend mit der Fortpflanzung verbunden 7, Menschen üben ihn wesentlich häufiger aus als andere Säugetiere und zeugen permanent Nachkommen. Ist es möglich, die Kinder zu ernähren, werden sie großgezogen. In entwickelten Gesellschaften ist das eher der Fall als in statischen. Das führt jedoch zur Zerstörung des Lebensraums.

Denn das Bevölkerungswachstum zwingt die Menschen zur Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion und zur Ausweitung der Produktionsflächen: Statt gut geeigneter Flächen muss man nun auch weniger gute bewirtschaften, um immer mehr hungrige Münder zu füttern. Nicht nachhaltige Methoden führen zu den zuvor aufgeführten Umweltschäden, mit der Folge, dass man landwirtschaftliche Flächen aufgeben muss. Daraus erwachsen für die Gesellschaft zahlreiche Folgen: Nahrungsknappheit, Hungersnöte, Krieg um knapp bemessene Ressourcen. Schließlich geht die Bevölkerungszahl durch Hunger, Krieg oder Krankheiten zurück, und die Gesellschaft verliert  einen Teil der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Komplexität, die sie in ihrer Blütezeit besessen hatte 8.

Natürlich gibt es auch andere Ursachen für den Niedergang oder Untergang entwickelter Gesellschaften als selbstindizierte. Etliche solcher Ursachen lassen sich nicht oder nur äußerst kurzfristig vorhersagen: Meteoriteneinschläge, Tsunamis, Erdbeben oder Vulkanausbrüche 9.

Der der eigenen Spezies geschuldete Verfall kündigt sich dagegen in der Regel durch eine drohende oder schleichende Verschlechterung der Lebensbedingungen 10 an, und das generiert Ängste. Die Menschen befürchten die Erosion gewohnter Strukturen, allen voran den Verlust ihrer Einkommensquellen (vulgo: Arbeit) und die Zerstörung ihrer privaten Beziehungen (vulgo: Familie),  auch ihrer Religion. In solchen Situationen suchen Menschen nach sogenannten „einfachen Lösungen“: Sie wittern allenthalben Verschwörungen, suchen Sündenböcke, die an „allem“ schuld sind, und gieren nach dem „starken Mann“ 11, der all die Unordnung in die gewünschte Ordnung zurückführen soll.

Der „starke Mann“ ist in der Regel in vielerlei Gestalt rasch bei der Hand. In der Türkei wird er durch Recep Tayyib Erdogan verkörpert, in Russland durch Wladimir Wladimirowitsch Putin, in Brasilien durch Jair Bolsonaro, in den USA durch Donald John Trump … die Liste ist verlängerbar. Wie er auch heißen mag, er propagiert und verspricht stets das Gleiche: Wir in unserem Land sind besser als die anderen. Wir halten alle zusammen und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Wir sind alle gleich – das trifft natürlich nur für die zu, die wirklich zu uns gehören. Wir haben denselben Glauben und praktizieren dieselben Rituale. Wenn wir alle zusammenstehen, stellen wir die guten alten Zustände wieder her. Was sie nicht sagen aber meinen, ist: Wir negieren Pluralismus.

Die vier Genannten haben bisher darauf verzichtet, die Demokratie (völlig) abzuschaffen. Sie haben sich bzw. die ihnen zugehörigen Institutionen also wählen lassen und können dementsprechend mit gewissem Fug und Recht behaupten, den Willen des Volkes zu exekutieren. Sie befinden sich in illustrer Gesellschaft: Auch Adolf Hitler hat sich bis zu seinem unseligen Ende auf das „Deutsche Volk“ berufen.

Um auf den Boden der politischen Theorie zurückzukehren: Wenn die Produktionsverhältnisse gefährdet sind, wird der gesellschaftliche Überbau instrumentalisiert, um die Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren.

Für eine Weile mag das gutgehen. Da die Existenzbedingungen der Menschen sich inzwischen jedoch nicht ameliorisiert, sondern peorisiert haben 12, kann diese Herrschaft nur von kurzer Dauer sein. Denn zu den oben genannten, von Menschen induzierten Gefährdungen sind andere gekommen: die Klimakatastrophe, die Anhäufung toxischer Stoffe und die „Herrschaft“ über die Biodiversivität, die in ein gigantisches Artensterben mündet. Mindestens ebenso bedeutend ist, dass die gewählten – oder auch ursupatorischen – Eliten und ihre Klientel Partikularinteressen vertreten, nämlich ihre eigenen, die auf ihr aktuelles Wohlleben ausgerichtet sind. Langfristige Perspektiven, Interessen anderer oder gar der gesamten Spezies sind da eher kontraproduktiv 13.

Für die aus Partikularinteressen resultierenden Konflikte kennen die Menschen seit Urzeiten eine Lösung: Krieg. 

Pfffffftttt

Dezember 2018

Ich danke – wie immer – meiner Sekretärin.

Das Anthropozän

PD Kulle in der ungewohnten neuen Inkarnation

Vorbemerkung

Paul Crutzen ist ein bedeutender Chemiker und und beschäftigt sich vornehmlich mit der Analyse der Erdatmosphäre. Das impliziert die permanente Konfrontation mit den Emissionen menschlicher Tätigkeit: dem Ozonabbau in der Stratosphäre, der Zunahme von CO2 und CH4 1 in der Atmosphäre, der globalen Temperaturerhöhung. Crutzen scheint vom Ausmaß dieser Auswirkungen so beeindruckt gewesen zu sein, dass er  im Jahr 2000 vorschlug, der aktuellen geologischen Epoche den Namen „Anthropozän“ zu geben. Dieser Vorschlag löste unter menschlichen Wissenschaftlern eine bis heute andauernde heftige Debatte aus – Grund genug, der Angelegenheit aus bärischer Sicht auf den Grund zu gehen.

Was ist eine geologische Epoche?

Wie bekannt, beträgt das Alter der Erde etwa 4.500.000.000 Jahre.2 Mehr als 90% davon werden dem Präkambrium zugerechnet. Organisches Leben spielt hier kaum eine Rolle, wichtig ist dagegen die Tektonik: Die Kerne der heutigen Kontinente, die Kratone, werden gebildet, Ozeane entstehen und verschwinden, die moderne Plattentektonik wird entwickelt. Erde, Wasser, Luft und Feuer interagieren, wie es der Lehre der klassischen Antike entspricht. Die verschiedenen Phasen des Präkambriums werden folgerichtig allein gemäß tektonischer Veränderungen definiert.

Ganz anders verhält es sich mit dem Kambrium, dessen Beginn sich recht genau 541 Millionen Jahre zurückdatieren lässt. Umgangssprachlich formuliert: Dann explodiert die Fauna. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden: Im Paläozoikum3  entwickelten sich die heute bekannten Tierstämme; Tiere und Pflanzen begannen, das Land zu erobern. Das Mesozoikum4  gilt als Zeitalter der Dinosaurier. Das Känozoikum5  brachte die Entwicklung der Säugetiere und der Vögel in der heute bekannten Vielfalt.6

Woher weiß man das?

Seit dem Kambrium sind tierische Lebewesen auf der Erde groß genug, um als Fossilien Spuren zu hinterlassen, die sich leicht identifizieren lassen. Dabei handelt es sich in der Regel um Überreste von Meeresbewohnern, weil Schelfsedimente als Fundstellen besonders ergiebig sind. Die Ersetzung einer dominanten Fossilienart durch eine neue begründet eine neue erdgeschichtliche Epoche. Anthropologen markieren diese Schnittstelle durch einen „Goldenen Nagel“.7

Der gegenwärtige Abschnitt der Erdgeschichte ist das Holozän, die Nacheiszeit. Hier wird der rapide Temperaturanstieg als Marker für den Epochenumbruch genommen, nicht das Auftauchen neuer Spezies.8  Homo sapiens sapiens ist nach dem Ende der letzten Eiszeit längst nachgewiesen. Das Holozän beginnt der menschlichen Phrasierung zufolge vor 12.000 Jahren und ist damit der kürzeste jemals definierte Zeitabschnitt. Denn eigentlich gilt für erdgeschichtliche Abschnitte: Sie sind lang, sehr lang.

Gibt es das Anthropozän?

Das „Zeitalter des Menschen“ soll dadurch gekennzeichnet ein, dass die Spezies Mensch den Planeten maßgeblich prägt. Macht Homo das seit 7000 Jahren, als er vom Jäger und Sammler zum Ackerbauer und Viehzüchter wurde? Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also seit dem Beginn der industriellen Revolution? Oder erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, als er mit der Kernphysik die Mittel erlangte, sich und seine Welt zu zerstören? Über diese Frage herrscht unter den Menschen Uneinigkeit.

Wann auch immer man das Anthropozän beginnen lassen will, es wäre die kürzeste aller bisherigen Epochen. Zieht man aus dem beobachtbaren Verhalten der Menschen Rückschlüsse und formuliert, darauf basierend, eine Prognose, so liegt die Vermutung nahe, dass das Anthropozän sein Alter nicht mehr wesentlich wird steigern können.

Andererseits sind die Veränderungen, die dem Planeten aufgrund des Wirkens von Homo zugefügt wurden und werden, bemerkenswert.

Eine wichtige Rolle bei der Beantwortung der Frage nach der Existenz des Anthropozäns spielt das Artensterben. Den Paläontologen sind mindestens fünf große Massensterben während des Kambriums bekannt, für die geologische, kosmische bzw. atmosphärische Ursachen vermutet werden. Jetzt aber ist eine einzige biologische Art für einen Aussterbe-Tsunami verantwortlich. Der Grenzwert für das verkraftbare Aussterben von Arten ist weit überschritten, bis zu 130 Arten täglich(!) verschwinden. Gründe dafür sind die Art der Landnutzung9, die nicht zuletzt aus der Zahl der Weltbevölkerung resultiert. In den letzten 40 Jahren dürfte die Hälfte der Tierwelt durch den Menschen ausgelöscht worden sein.10

Von atmosphärischen Auswirkungen menschlichen Agierens war bereits die Rede.

Atemberaubend ist nicht nur die Degenerierung des Planeten durch den Menschen, atemberaubend ist auch die Zunahme der auf der Erde lebenden Individuen. Seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung ist die Weltbevölkerung von 200 bis 400 Millionen Menschen bis zum Jahr 1800 auf eine Milliarde gestiegen11. Danach ging es in beschleunigtem Sauseschritt voran12 : Nach weiteren 123 Jahren wurde die zweite Milliarde erreicht, nach 33, 15, 13, 12 und wieder 13 Jahren13 die dritte, vierte, fünfte, sechste und siebente. Man schrieb das Jahr 2011. Nach Prognosen der UN, die von der Annahme ausgehen, die Fertilitätsrate pro Frau werde sich weltweit bei zwei Kindern einpendeln, wird das Wachstum der Menschheit in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts aufhören14 . Wie auch immer: Bereits bei der jetzigen Zahl reicht die Regenerationskraft des Planeten nur zu zwei Dritteln aus, um die menschlichen Aktivitäten zu kompensieren.

Warum befürworten die meisten Menschen den Begriff „Anthropozän“?

Das Zeitalter des Menschen – stolz klingt das, wenigstens in menschlichen Ohren!

Weniger stolz klingen die Verse des Menschen Sophokles15  in seiner Tragödie „Antigone“:

Ungeheuer ist viel. Doch nichts
ungeheuerer als der Mensch.

Sophokles: Antigone

Grässlich, schrecklich und furchterregend ist der Mensch … einerseits. Aber auch groß, großartig, zu vielem fähig.

Der Mensch hört hiervon in der Regel nur die zweite Bedeutung. Er beschönigt, was seine Existenz ausmacht, er verbrämt unangenehme Tatsachen, kurz, er lebt in einer Welt gedanklicher und begrifflicher Euphemismen.

So bezeichnet er die Anzahl egoistischer Nationalstaaten, die um Vorteile rangeln, skrupellos Kriege gegeneinander bzw. gegen die eigene Bevölkerung führen, als „die Menschheit“, „Staatengemeinschaft“ oder „Vereinte Nationen“.

Die Entwicklung immer raffinierterer Vernichtungswaffen gilt ihm als „Verteidigung“.

Die Kleingruppe, in der Kaufkraft generiert und „Humankapital“ herangezogen wird, ist ihm „Familie“.

Die Instanz zur Durchsetzung von Investorenimperativen: das Parlament.

Das Zeitalter, in dem der Mensch in seiner infamsten Ausprägung, in der Ausprägung des Kapitals, die Erde ruiniert: das Anthropozän.

Nachbemerkung

Der Mensch arbeitet mit Nachdruck an der Abschaffung des Anthropozäns, wenn es denn ein solches gibt, indem er durch seine Aktivitäten seine eigenen Spezies ihrer Lebensgrundlage beraubt. Vielleicht führt sein gedankenloses Profitstreben auch dazu, rasch eine andere dominante Spezies zu installieren, die Künstliche Intelligenz. Beginnt dann ganz schnell das Androidozän?

Vielleicht macht aber auch Terra dem Menschen Konkurrenz: Man vermutet, dass Supervulkanausbrüche für Artensterben (mit)verantwortlich waren. Wenn der Yellowstone-Vulkan oder die Phlegräischen Felder16  aus ihrem Schlummer erwachen und einen vulkanischen Winter verursachen, dürfte dem Anthropozän ebenfalls ein Ende bereitet werden.

Wie auch immer:

PFFFTTTTT…

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

Oktober 2018

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Kulles Verwandlung

Kulle kam aus der Höhle, rieb sich den Bärendreck aus den Augen und begrüßte Bärdel, der bereits auf ihn wartete, mit einem heiteren „Guten Morgen“. Ohne sich umzudrehen, gab Bärdel den Gruß zurück; er hatte seinen besten Freund an der Stimme erkannt. Na und Nuk, die sich ebenfalls zum Morgenspaziergang eingefunden hatten, zögerten dagegen. 

Der neue Kulle

„Guten Morgen. Onkel Kulle?“

Nuk und Na

Das war nicht die gewohnte Satzmelodie eines fröhlichen Morgengrußes. Das war unzweideutig eine Frage.

„Natürlich bin ich Onkel Kulle!“ Ob der ungewohnten Begrüßung war Kulle wirklich indigniert. Er hatte, zusammen mit Atti, die Eisbärenzwillinge erzogen und unterrichtet, seit sie mit ihrer Mutter in Bärenleben angekommen waren. Er fühle sich fast wie ihr Vater, nicht nur wie ihr Onkel. Und jetzt das!

„Ein bisschen komisch siehst Du schon aus!“ mischte Bärdel sich ein. „Ich hätte Dich auch kaum wiedererkannt, außer an der Stimme. Du hast auf einmal so lange Arme…“

„…und Beine!“ fiel Nuk ein.

„Und so einen kleinen Kopf!“ fügte Na hinzu. Kulle war sofort beleidigt – zweifelte das Kind etwa an seinem überragenden Verstand?

„Allerdings ist der Kopf jetzt bärischer als bisher“, stellte Bärdel fest. „Das gefällt mir.“

Atti sauste an der Gruppe vorbei. Sie war auf ihrer täglichen Joggingrunde. Als sie Kulles ansichtig wurde, stieß sie einen anerkennenden Pfiff aus. Ein neuer hübscher Kerl im Dorf – das fand sie gut.

Athabaska

„Onkel Kulle, Tante Atti hat Dich auch nicht erkannt! Was ist eigentlich passiert?“

„Vielleicht leidet Ihr ja alle an Bewusstseinsstörungen. An Sehstörungen. Ich sehe bestimmt aus wie immer!“

Er ging zu einer großen Pfütze ein paar Meter weiter, die sich während des letzten nächtlichen Regens gebildet hatte, um sich im Wasser zu spiegeln. Es waren nur ein paar Schritte bis dahin, der Boden war völlig eben, aber Kulle stolperte kurz davor. Als er versuchte, sich mit den Armen abzustützen, kam er unvermittelt rasch auf der Erde auf und stauchte sich das Handgelenk.

„Au!“ schimpfte er, mehr vor Schreck als vor Schmerz. Er hatte wirklich plötzlich andere, ungewohnte Extremitäten.

Die Pfütze war von dem Sturz nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, Kulle konnte das tun, was er hatte tun wollen: sich spiegeln. „Heiliger Marx!“ rief er, als er sich sah. „Ich glaub’s nicht! Das war nur ein blöder Traum! Träume sind unterbewusst, sie dienen der Gehirnreinigung, sonst gar nichts!“

Ups? Das ist Kulle?

Ungeachtet seines schmerzenden Handgelenks trommelte er wütend mit den Fäusten auf die Erde.

Bärdel trottete zu ihm und fing ihn in einer großen Umarmung auf. „Kulle, Du siehst nicht aus wie immer. Du benimmst Dich aber wie immer. Irgend etwas ist passiert, und das scheint mit Deinem Schlaf zu tun zu haben. Was hast Du geträumt?“

Kulle steht am Ufer des Dorfteiches, der  völlig zugewachsen ist mit Schilf und auf dem Teichrosen mit riesigen Blättern wachsen. Von Oicy und ihren Kindern ist nichts zu sehen, ebensowenig von den anderen Bewohnern Bärenlebens. Tussi taucht aus dem Wasser auf und grinst ihn an. Über ihrem Kopf schwirrt etwas in der Luft, das Kulle zunächst für einen rotierenden braunem Golfball hält. Erst bei näherem Hinsehen stellt er fest, dass es sich um einen kleinen Hund handelt, der seine Ohren so schnell rotieren lässt, dass er wie ein Kolibri in der Luft zu stehen vermag. Kulle beschließt, dass er das nicht verstehen muss.

Tussi und Merkel

„Hallo, Stinker!“ begrüßt Tussi ihn. „Oder besser: Lieblingsstinker! Von der ganzen Bärenbrut kannst Du mit Abstand am besten denken, deshalb schätze ich Dich besonders.“

„Vom Denken kriegt man Beulen,“ brummt Kulle.

„Hä?“ quakt Tussi. 

„Wer denkt, ist links. Wer links ist, demonstriert. Wer demonstriert, kriegt von der Polizei Prügel. von Prügel kriegt man Beulen. Also kriegt man vom Denken Beulen.“

„Gefällt mir. Kannte ich noch nicht.“

„Ist von Dietrich Kittner.“

„Kenne ich auch nicht.“

„Schade. Wirst Du nicht kennenlernen. Ist schon tot.“

„Ich will nicht, dass Du auch bald tot bist. Beulen hast Du nicht, aber schon ziemlich viele Löcher im Fell. Und in Deinen Organen. Ich verpasse Dir eine Neuinkarnation, damit Du Bärenleben und mir noch lange erhalten bleibst und den Menschen weiterhin den Spiegel vorhältst. Vielleicht gucken sie eines Tages ja tatsächlich rein, obwohl ich das nicht glaube. Okay?“

Aber…“

„Damit wir uns richtig verstehen, Stinker: Das war keine echte Frage. Finde Dich einfach damit ab!“

„So war das also! Ich glaube Dir jedes Wort. Mit mir hat Tussi leider schon lange nicht mehr gesprochen, aber die Bärenlebener werden sich freuen zu hören, dass sie sich noch in unser Leben einmischt. Heute Abend wirst Du in der Höhle der Star sein, und schon Morgen wird niemand, der Dich sieht, bezweifeln, dass Du Kulle bist.“

Kulle war sich da nicht so sicher, aber was blieb ihm anderes übrig?

September 2018

Schwächelnde Konjunktur

Die Eisbärenkinder begleiteten Bärdel und Kulle heute auf deren Morgenspaziergang, aber anders als sonst tollsten sie nicht um die beiden Alten herum, sondern tapsten artig hinter ihnen her und waren ungewöhnlich still. Kulle war, seiner Denkart entsprechend, mit gesellschaftspolitischen Problemen beschäftigt und nahm seine Umwelt dabei nicht wahr. Bärdel aber drehte sich schließlich um.

„Na, was ist los mit Euch beiden?“ erkundigte er sich.

Bärdel

„Och, Onkel Bärdel, wir sind ein bisschen traurig.“

„Und warum?“

„Wir haben in den Nachrichten gehört und auch in der Zeitung gelesen, dass es der Konjunktur nicht gut geht. Sie schwächelt. Das heißt doch, dass sie krank ist und immer schwächer wird, oder? Wir würden ihr gerne helfen, aber wir wissen nicht, wie. Wir wissen auch gar nicht recht, wer sie ist und wo wir sie finden können. Wir haben Onkel Manfred danach gefragt, aber der hat einen Lachanfall gekriegt und uns nicht geantwortet. Mami hat uns weggeschickt und gesagt, wir sollten Robben fangen lernen, anstatt dumme Fragen zu stellen. Tante Atti hätte uns bestimmt nicht ausgelacht oder uns weggeschickt, aber die haben wir nicht finden können. Lachst Du uns auch aus, Onkel Bärdel?“

Robben fangen – doch nicht jetzt!

Die Frage war nur allzu berechtigt, denn Bärdel hatte große Mühe, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Um nicht antworten zu müssen, täuschte er einen Hustenanfall vor. Den nutzte er dazu, Kulle in die Seite zu knuffen und aus seinen Gedanken zu reißen.

PD Dr. Kulle – hier informell

„Was ist denn los?“ fragte Kulle unwillig.

Da Bärdel immer noch vorgab zu husten, antwortete Nuk. „Die Konjunktur schwächelt, Onkel Kulle!“

„In der Tat, das scheint so zu sein. Wurde auch allerhöchste Zeit. Kalle würde im Grabe rotieren, wenn er erführe, dass ein Zyklus so lange dauern kann. Zu etwas scheint dieser Trump also doch gut zu sein.“

Na und Nuk schauten erst Kulle an und dann einander. Sie hatten kaum etwas verstanden, aber eines begriffen sie: Onkel Kulle stellte die ethischen Werte, die er selbst ihnen vermittelt hatte, auf den Kopf.

„Du freust Dich, dass jemand krank ist?“ Na war fassungslos.

„Wieso? Wer ist krank?“ Jetzt war Kulle irritiert.

„DIE KONJUNKTUR!“ schrieen die Zwillinge. „UND DU FREUST DICH DARÜBER!“

Nuk und Na

„Ja natürlich!“ Kulle verstand die Aufregung nicht. „Denn…“

Jetzt griff Bärdel ein. Bevor hier noch mehr Missverständnisse wuchsen, musste einiges geklärt werden, fand er.

„Wisst Ihr eigentlich, was die Konjunktur ist?“ wollte er von den Kindern wissen.

Die beiden wussten es nicht, aber es war unter ihrer Würde, ihre Ignoranz zuzugeben.

„Sie ist weiblich,“ behauptete Na selbstsicher.

Kulle machte sich eine mentale Notiz: Über den Unterschied zwischen Genus und Sexus würde man noch zu reden haben.

„Ihr Zustand wird von den Menschen genau beobachtet,“ ergänzte Nuk. 

Und damit waren sie am Ende ihrer Weisheit angekommen. 

„Wir wissen vieles nicht: Was für eine Art Lebewesen sie ist, wo sie lebt und an welcher Krankheit sie leidet. Aber wir finden es richtig, dass sie uns leid tut und dass wir ihr helfen wollen!“ erklärten sie schließlich trotzig.

„Das ist auch gut so. Empathie ist etwas sehr Positives. Aber Ihr geht von einer falschen Voraussetzung aus: Die Konjunktur ist kein Lebewesen. Sie ist ein Abstraktum. Ihr wisst doch, was Abstrakta sind, oder?“

„Klar. Abstrakta sind Begriffe, mit denen etwas bezeichnet wird, das kein Gegenstand ist. Vertrauen zum Beispiel. Oder Freiheit.“

„Sehr gut!“ lobte Bärdel. „Wenn die Freiheit oder das Vertrauen schwinden, dann ist das bedauerlich. Und wenn man das verhindern oder beenden will, dann kann man nicht die Freiheit oder das Vertrauen kurieren, sondern muss die konkreten Verhältnisse ändern, die für ihren Schwund verantwortlich sind. Verstanden?“

„Verstanden, Onkel Bärdel. Unser Ansatz war also falsch. Wir können die Konjunktur nicht finden, denn sie ist kein Konkretum. Wir müssen stattdessen die konkreten Verhältnisse ändern, die für ihr Schwächeln verantwortlich sind. Richtig?“

„In sich schlüssig, an sich falsch.“ Kulle schaltete sich wieder ein. „Ihr geht von der Annahme aus, dass eine starke Konjunktur etwas Positives ist, wie großes Vertrauen und große Freiheit. Bei der Konjunktur stellt sich aber die Frage nach dem cui bono: Wem nützt eine starke, wem eine schwache Konjunktur?“

„Onkel Kulle, bitte!“ Nanuk waren jetzt ganz kleinlaut. „Onkel Kulle, wir haben doch schon zugegeben, dass wir gar nicht wissen, was das ist: die Konjunktur.“

Na, das kann dauern, dachte Bärdel. „Kommt, wir gehen da hinten in die Brombeeren!“ schlug er vor. „Mit einer Erfrischung denkt es sich besser.“

Kulle verstand den Wink mit dem Zaunpfahl – er sollte ein Beispiel für seine Erklärung nutzen. Nachdem alle genüsslich die erste Handvoll der köstlichen schwarzen Bällchen genascht hatten, sagte er: „Konjunktur ist ein Begriff, der die Wirtschaftsleistung in einem Land oder in der ganzen Menschenwelt erfassen soll. Es geht darum, wie viele Menschen Arbeit haben und damit Geld verdienen, und wie viel Geldwert dabei geschaffen wird. Nehmen wir diese Brombeerbüsche hier und stellen wir uns vor, nur für einen kurzen Augenblick, wir wären Menschen“ – die Zwillinge schauderte es, und auch Bärdel fühlte, wie ein Eiszapfen seine Wirbelsäule hinunterwanderte. „Wir könnten alle Beeren in kurzer Zeit abernten. Wir würden dafür bezahlt, und wir oder ein anderer Mensch würde sie verkaufen, an uns oder an andere Menschen. Wir alle hätten Arbeit und würden mit ihr den maximal möglichen Geldwert schaffen. Das wäre eine gesunde Konjunktur!“

Nanuk schauten Kulle an, als zweifelten sie an seinem Verstand.

„Onkel Kulle…“ Nuk wagte nicht weiterzusprechen.

Auch der vorlauten Na fiel es nicht leicht, Kulle ihre Meinung zu sagen, aber sie wagte es trotzdem. „Onkel Kulle, aber das ist doch dumm! Morgen hätte niemand mehr Brombeeren! Ganz abgesehen davon, dass es idiotisch ist, erst Beeren zu ernten, dafür bezahlt zu werden und dann dieselben Beeren wieder zu kaufen, wahrscheinlich für mehr Geld, als man für das Abernten bekommen hat!“

Kulle freute sich über die kluge Antwort, aber Bärdel wusste, dass er einiges klarstellen musste, sonst kamen die Zwillinge noch auf die Idee, seinen Freund für die menschliche sogenannte Wissenschaft ‚Volkswirtschaftslehre‘ verantwortlich zu machen.

„Natürlich ist das dumm! Aber die Menschen wissen es nicht besser. Für uns dagegen  ist eine kranke Konjunktur besser. Die Menschen verbrauchen dann weniger von dem, was die Welt an Schätzen zu bieten hat.“

„Jetzt haben wir verstanden, Onkel Bärdel!“

„Gut!“ meinte Kulle dann können wir ja…“

„…noch ein paar Brombeeren essen!“ fiel Bärdel ihm ins Wort.

Kulle gab sich zufrieden. Sein Freund hatte ja Recht. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Inflationsrate, Freihandel, Schutzzölle und Konjunkturzyklen konnten bis zur nächsten Gelegenheit warten. Er nahm die Geschenke der Eisbärenkinder, die ihm Brombeeren pflückten, gerne an.

August 2018

Albtraum

Es war hinter ihr. Sie spürte seinen heißen Körper, sein Feueratem wollte ihr die Nackenhaut verbrennen. Sie hätte ihn fauchen hören sollen, aber es herrschte völlige Stille. Sie versuchte verzweifelt fortzulaufen. Ihre Beine bewegten sich rasend schnell. Aber sie kam nicht vom Fleck. Außer den Beinen und den Füßen, die immer an derselben Stelle auf den Boden trommelten, konnte sie nichts bewegen. Auch nicht den Kopf. Den hätte sie zu gerne gedreht, um erkennen zu können, was sie verfolgte. Gleichzeitig hatte sie genau vor dieser Erkenntnis Angst. Sie wollte um Hilfe rufen, aber aus ihrer Kehle kam kein Laut. Sie konnte sehen, aber nur nach vorne und sie sah nichts. Vor ihr war alles pechschwarz. „Albtraum“ weiterlesen

Zoon Politikon

Kulle

Eisbärenfamilie

„Onkel Kulle, Onkel Bärdel, kennt Ihr schon den neuesten Eisbärenwitz?“

Bärdel wie auch Kulle glaubten, alle Eisbärenwitze zu kennen, aber natürlich wollten sie die fröhlichen Eisbärenzwillinge nicht enttäuschen, schon gar nicht an einem wunderschönen Aprilmorgen wie diesem.

Also sagte Bärdel, und er legte viel gespannte Erwartung in seine Stimme: „Nein, bestimmt nicht. Erzählt doch mal!“

Na fing an: Es war einmal ein Eisbärenkind, das fragte seine Mutter: “Bist Du wirklich eine echte Eisbärin?“

Nuk fuhr fort: „Aber selbstverständlich. Und Dein Vater und Eure Großeltern sind auch echte Eisbären. Warum fragst Du überhaupt?“

Nanuk schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an. „Gleich kommt die Pointe. Habt Ihr eine Ahnung?“

„Nein!“ Die beiden alten Bären logen, so gut sie konnten.

„Mir ist so kalt!“ sagten die Zwillinge unisono.

Na und Nuk

Bärdel und Kulle lachten pflichtschuldigst, aber nicht überzeugend genug.

„Ihr kanntet den Witz schon! Ihr seid gemein! Aber der Witz ist trotzdem gut, oder?“

„Der Witz ist trotzdem gut, ja. Denn er nimmt eine überraschende Wendung, was einen ordentlichen Witz auszeichnet, und er transportiert dazu noch eine Wahrheit statt eines Vorurteils, was die meisten schlechten Witze auszeichnet.“

„Eine Wahrheit, Onkel Bärdel? Welche denn?“

Baerdel

„Das Eisbärkind in dem Witz friert, und das gehört sich nicht für ein Tier, das ein Fell mit hervorragender Wärmedämmung besitzt. Es hat Angst, nicht dazu zu gehören.“

„Warum ist es wichtig, dazu zu gehören?“

Bärdel seufzte. Warum konnte er nicht einfach auf seinem Morgenspaziergang den Frühling genießen, statt sich mit überraschenden Grundsatzfragen konfrontiert zu sehen?

Kulle dagegen war in seinem intellektuellen Element: „Was Wirbeltiere angeht, so kenne ich mich bei Reptilien, Amphibien, Fischen und Vögeln nicht sonderlich aus. Bei den meisten Säugetieren ist Gruppenbildung zu beobachten. Nehmt uns, die Bären – nur die ignoranten menschlichen Biologen behaupten, wir seien Einzelgänger. Die waren halt nie in Bärenleben!“

Kulle

„Und das ist auch gut so!“ brummte Bärdel.

„Sind denn die Menschen Einzelgänger oder Gruppengänger?“ wollte Nuk wissen.

„Die Menschen sind gesellige Tiere, wie wir auch. Früher, in der Menschenkindheit, haben sie auch gelebt wie wir, in Gruppen, die die Anthropologen beliebig mal als Stamm, Horde, Großfamilie, Clan oder Sippe bezeichnen. Wie auch immer man dieses Zusammenleben nennt: Alle Mitglieder waren ranggleich, es gab keine oder eine gering ausgeprägte Arbeitsteilung, es gab keinen nennenswerten individuellen Besitz. Jeder trägt unter solchen Bedingungen zum Wohl der Gemeinschaft bei, so gut er kann.“

„Ich weiß ja, dass die Menschen nicht sonderlich intelligent sind, aber wie dumm muss man sein, um so schöne Lebensbedingungen aufzugeben?“ Das war Na, die selten an Selbstzweifeln litt.

Na

„Die ständige Fortentwicklung der Produktionsmittel führt zur Höherentwicklung der Produktionsverhältnisse, damit verbunden aber auch notwenig der Ausbildung von Klassen, wobei die Expropriateure darauf bedacht sind…“

Ein Blick in verständnislose Kinderaugen ließ Kulle verlegen innehalten. „Also“, sagte er, „nach einer gewissen Zeit wurde eine Gruppe von Menschen reicher als die anderen, und die Reichen wollten ihren Besitz behalten. Die Männer unterwarfen dazu die Frauen und zwangen sie, nur mit einem von ihnen Geschlechtsverkehr zu haben, so dass sie sicher sein konnten, dass sie die Väter der Kinder waren, die die Frauen zur Welt brachten. Besonders fiese Männer erfanden die Regel, dass alle so zu leben hatten, auch die Armen, und damit die Vorschrift befolgt wurde, behaupteten sie, sie sei von einem Gott gegeben, der alle bestrafen würde, die sie verletzen, vielleicht schon in ihrem Leben auf der Erde, ganz sicher aber im ewigen Dasein nach dem Tod.“

„Und das hat funktioniert? Die Erfindung der Religion?“ fragten Nanuk ungläubig.

„Das hat funktioniert, denn Arme und Reiche, Frauen und Männer wollten zu den Guten, Gerechten gehören und nicht zu den Schlechten, Verdammten.“

„Lange?“

„Sehr lange. In vielen Gegenden der Welt funktioniert es immer noch.“

„Aber in Dehland spielt das Christentum inzwischen eine immer geringere Rolle, richtig?“

„Richtig, Nuk!“ sagte Bärdel. „Vielleicht ist es Dir nicht aufgefallen: Du hast gerade ein Beispiel für eine andere Einrichtung genannt, zu der Menschen gehören müssen oder sollen oder können oder wollen.“

„Hmm,“ machte Nuk verlegen, weil ihr des Rätsels Lösung nicht sofort einfiel.

„Der Staat natürlich, nicht wahr, Onkel Bärdel?“ Na warf ihrer Schwester einen gemeinen Blick zu, während sie Bärdel und Kulle honigsüß anlächelte.

„Ja, der Staat. Menschen können ihn sich nicht aussuchen. In der Regel werden sie Bürger eines Staates, wenn sie in ihm geboren worden sind. In manchen Staaten ist das ein Fluch, zum Beispiel in Afghanistan, im Jemen, in Syrien. In anderen Staaten ist das dagegen ein Segen, zum Beispiel in Dehland, denn es gibt Versicherungen für alle, zum Beispiel gegen Krankheitskosten, und wer finanziell nicht für sich selbst sorgen kann, bekommt Geld vom Staat, wenn es auch nicht viel ist.“

„Ist der Staat in Dehland also nett?“ erkundigte sich Na.

„Politik, kleine Schwester, ist Handeln zur Durchsetzung von Interessen. Das haben wir bei Tante Atti und Onkel Kulle gelernt. Mit Nettigkeit hat das nichts zu tun. Du hast wohl wieder mal nicht aufgepasst, was?“

Die Rache war gelungen. Die Haut rund um Nas Nase wurde rosarot. Sie schämte sich.

„Aber etwas verstehe ich nicht. Warum bezahlt der Staat das alles?“

Bärdel pflückte sich eine große Portion Löwenzahnblätter und stopfte sie sich in den Mund, bevor er antwortete. Er wollte nicht zulassen, dass die Kinder sein Morgenvergnügen völlig ruinierten.

Loewenzahn

„Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass der Staat alles bezahlt. Tatsächlich verteilt er nur Gelder um, die die Bürger ihm zur Verfügung stellen mussten, indem sie Steuern zahlten. Aber Bürger, die denken, dass der Staat für sie sorgt, tun, was sie sollen, ohne zu widersprechen oder sich gar aufzulehnen.Sie funktionieren, gehen brav arbeiten, finden es normal, dass die Unternehmen nicht ihnen gehören, sondern Aktionären, und wählen alle paar Jahre die politischen Parteien, die ihnen in ihren Augen so viele Wohltaten zukommen lassen.“

„Ich hab’s doch vorhin schon gesagt: Menschen sind dumm!‘“ Na hatte sich schnell wieder von ihrer Blamage erholt. „Mir fällt übrigens noch eine Gruppe ein, zu der Menschen dazugehören wollen: Soziale Netzwerke.“

Das war das richtige Stichwort, um Kulle zornig zu machen. Aber er verzichtete darauf, wieder einen schwer verständlichen wissenschaftlichen Vortrag zu beginnen. Pädagogik war gefragt.

„Du hast recht, kleine Na. Eine Milliarde und fünfhundert Millionen Menschen sind zum Beispiel bei Facebook aktiv, und es wären noch viel mehr, wenn man sie ließe, aber in vielen Ländern ist es verboten. Lasst uns mal nachdenken, warum Facebook so erfolgreich ist! Ein paar Antworten sollten uns einfallen.“

Mit uns‘ meinte Kulle natürlich die Kinder, und die enttäuschten ihn nicht.

„1,5 Milliarden Menschen – das ist so eine große Gruppe! Wenn man dazu gehört, kann man einfach nichts falsch machen!“

„Jeder kann etwas mögen oder auch nicht, jeder kann etwas posten: Jeder einzelne hat das Gefühl, wichtig zu sein!“

„Man kann viele Freunde haben.“

„Man bekommt nur Sachen mitgeteilt, die der eigenen Meinung entsprechen. Man braucht sich also nicht über entgegengesetzten Ansichten zu ärgern.“

Die Zwillinge sahen Kulle erwartungsvoll an und bekamen auch das Lob, das sie verdienten.

„Sehr richtig, Ihr Beiden. Aber lasst uns noch ein bisschen grundsätzlicher nachdenken.“

Nanuk strahlten. Nachdenken war ihr zweitliebster Sport, gleich nach dem Herumtollen im Dorfteich.

„Au fein!“

„Facebook ist ein kapitalistisches Unternehmen. Im Kapitalismus werden Waren getauscht. Waren haben einen Tauschwert und einen Gebrauchswert. Der Käufer einer Ware ist am Gebrauchswert interessiert, der Verkäufer am Tauschwert. Der Tauschwert wird in der Regel im Preis ausgedrückt, also in Geld. Soweit alles klar?“

Die Kinder nickten ein wenig herablassend. Natürlich war das klar.

„Die Mitgliedschaft bei Facebook ist aber kostenlos. Welchen Preis zahlen die Nutzer an Mark Zuckerberg?“

Das war eine härtere Nuss, an der die beiden durchaus zu knabbern hatten. Sie tuschelten miteinander. Das war typisch: Wenn sie beide herausgefordert wurden, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

„Wir glauben, Onkel Kulle, dass Facebook viel über seine Mitglieder erfährt. Und vielleicht kann Mark Zuckerberg diese Informationen verkaufen, an andere verkaufen, an Unternehmen oder politische Parteien vielleicht, und bekommt so seinen Tauschwert. Auf einem Umweg, sozusagen.“ Nuk sprach langsam und stockend. Na, die sonst so vorlaute, hatte ihre ältere Schwester vorgeschickt. So konnte sie selbst in der Deckung bleiben. Aber die Vorsicht war überflüssig. Kulle war voll des Lobes, und auch Bärdel wiegte anerkennend den Kopf, obwohl er hauptsächlich mit der nächsten Portion Löwenzahn beschäftigt war.

„Gut gedacht! Es bleibt aber noch eine zweite Frage: Welche Gebrauchswert hat Facebook für die Nutzer?“

Als die Kinder nicht gleich antworteten, gab er ihnen einen Tipp: „Denkt an Eure Antworten vorhin: Warum ist Facebook so erfolgreich?“

„Die Mitglieder haben ein gutes Gefühl!“ sagten Na und Nuk gleichzeitig und brachten ihre Aussagen damit auf den Punkt.

„Hmmm,“ brummte Bärdel mit vollem Mund, und nachdem er seine Kräuterportion hinuntergeschluckt hatte, meinte er: „Noch wichtiger ist: Niemand langweilt sich mehr. Facebook ist die beste Verdummungs- und Zeittotschlagsmaschine, die je erfunden wurde.“

Kulle beendete das Gespräch: „Der größte Euphemismus dabei ist die Bezeichnung soziale Netzwerke‘. Facebook sollte besser Zuckerbergs Spinnennetz‘ heißen.“

Darüber mussten die Zwillinge erst mal nachdenken.

Mai 2018

Anmerkungen zu Theorie und Realität des Freihandels

P. D. Kulle

Zu Zeiten, als freier Handel zwischen Ländern verpönt war, leistete der geschätzte Kollege David Ricardo 1817 Bahnbrechendes, um ihm zu Ehren zu verhelfen. Er entwickelte eine Theorie, bekannt geworden unter dem Namen der Theorie der komparativen Kosten, in der er bewies, dass sich freier Handel immer lohne, selbst dann, wenn die Produktionskosten in einem Land höher sind als in dem anderen.

Er bewies diese erstaunliche Behauptung tatsächlich, allerdings unter Annahmen, die einfache Bedingungen setzten: Er nahm zwei Länder an, die jeweils ein Produkt herstellten, das als Ware getauscht wird, Länder, in denen gleiche Arbeitskosten existierten und deren Kapital national gebunden war. Stellten sich beim Warenaustausch Verwerfungen ein, wurde ggf. eine Währung abgewertet.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 2016 war Freihandel dagegen offiziell das Credo der kapitalistischen Wirtschaftswelt – bis der designierte US-Präsident Trump andere Prioritäten ankündigte. Mit diesem Clash of Priorities werden wir uns im Folgenden auseinandersetzen.

Auf der Erde gibt es knapp 200 sehr verschiedene Staaten, die meisten davon mit kapitalistischem Wirtschaftssystem, und alle treiben Handel mit anderen, wenn auch sehr unterschiedlich intensiv. Es existieren Ländergruppen, die zu Freihandelszonen, zu Zollunionen oder zu Staatenbünden zusammengeschlossen sind, dort ist der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kommunikation besonders intensiv. Zwischen verfeindeten Staaten(gruppen) findet dagegen kaum Handel statt
(1).

Ricardo konnte am Beginn des 19.Jahrhunderts zu Recht davon ausgehen, dass eine Ware komplett in einem Land gefertigt wird, in seinem Beispiel sind das Wein in Portugal und Wolltuche in England. Eine solche Art der Produktion stellt heute allerdings eher die Ausnahme als die Regel dar. Die zahllosen, oft nutzlosen (2) Produkte, mit denen der Weltmarkt überschwemmt wird, werden zumeist international im Auftrag supranationaler Unternehmen arbeitsteilig gefertigt: Die Rohstoffe stammen vielleicht aus dem Kongo, wie seltene Erden (3), oder aus Ägypten, wie Baumwolle (4), sie werden weiter verarbeitet zu High-Tech-Geräten in China oder zu Kleidungsstücken in Vietnam oder Bangladesh (5), und von dort finden sie ihren Weg zu Endverbrauchern in den USA oder der Europäischen Union.

Diese Art der Produktion bedarf natürlich eines funktionierenden, billigen Transportsystems, das auf der Langstrecke“ durch Frachtschiffe und Flugzeuge, über kürzere Distanzen durch LKWs realisiert wird (6).

Solch parzellierte Produktion, solch konzertierte Distribution bedarf der permanenten Kommunikation, der Planung und Überwachung. Mit der klassischen Briefpost ließe sich hier nichts ausrichten, auch nicht mit den modernen Mitteln der Telekommunikation wie etwa dem Telegrafen oder dem Fernschreiber: Zu groß sind die Datenmengen, zu dringend ist die Notwendigkeit der Verständigung ohne jeden Zeitverzug. Das Internet macht das möglich (7).

Es versteht sich von selbst, dass unter derartigen Bedingungen Kapital frei flottieren kann und muss: Als Investitionskapital allemal, aber auch als Spekulationssubjekt, trachtet es doch immer nach Profit und ist kühn genug, sich dem Glücksspiel anheim zu geben. (8)

1948 wurde das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) gegründet, 46 Jahre später ersetzte die WTO (World Trade Organization) dieses Abkommen. Über 160 Unterzeichnerstaaten des WTO-Vertrages sind sich offiziell einig in dem Bemühen, tarifäre (9) und nicht tarifäre (10) Handelshemmnisse zu verringern und gegen Null zu reduzieren. De facto wird jedoch häufig versucht, die eigenen Produzenten vor Konkurrenz-Importen zu schützen. Dabei kommt es oft zu Ungleichgewichten (11). Auch ist es offiziell nicht gestattet, die Produktion oder den Export der eigenen“ Wirtschaft zu subventionieren. Diese Regel wird ebenfalls gern missachtet. (12)

Überschüsse und Defizite eines Staates bei Export und Import werden bilanziert. Auch hier muss zwischen einer offiziellen und einer tatsächlichen Zielsetzung unterschieden werden: Eine ausgeglichene Leistungsbilanz, also eine wertmäßige Gleichheit von importierten und exportierten Waren und Dienstleistungen, wäre in der Tat für alle Volkswirtschaften am vorteilhaftesten, aber unter dem Aspekt des nationalen Egoismus wünscht man natürlich einen Exportüberschuss, denn die Steuern aus dem Verkaufserlös der Im Inland produzierten Güter werden im Inland gezahlt. (13)

Die Defizite bzw. Überschüsse einiger Staaten beim Warenhandel stechen auffallend hervor. Nehmen wir das Jahr 2016: Das Handelsbilanzdefizit der USA betrug knapp 800 Milliarden US-Dollar, während die Volksrepublik China einen entsprechenden Überschuss von 510 Milliarden US-Dollar erwirtschaftete. Der Überschuss Deutschlands belief sich auf 250 Milliarden Euro (14). Alle drei Staaten pflegen intensive Handelsbeziehungen miteinander. Ein Grundschulkind könnte auf die Idee kommen, dass das Defizit und die Überschüsse einander in etwa decken. Trump, der Amerika“ wieder groß machen möchte, kam auf die Idee, gegen die Importflut Strafzollmauern zu errichten (15). Wie sinnvoll sind solche Maßnahmen?

Das Handelsbilanzdefizit beruht zum großen Teil auf dem Import von Konsumgütern aus der VR China. Der Import von Rohöl, in früheren Jahren weitgehend aus dem Nahen Osten, ist dagegen zurückgegangen (16). Das ist dem Fracking zu verdanken, einer Horizontalborungmethode, die unter Zuhilfenahme von Wasser und chemischen Zusatzstoffen Gesteinsschichten aufbricht und so Öl und Gas gewinnen kann. (17) Dennoch wächst das Handelsbilanzdefizit, denn der Wert aller Exportwaren aus den USA nimmt beständig ab.

Das war bisher kein Grund zur Besorgnis. Die USA sind ein sogenannter Konsumentenmarkt, das heißt, dass das volkswirtschaftliche Wohl und Wehe primär vom binnenwirtschaftlichen Konsum abhängt, nicht vom Außenhandel. Und: Die monetären Verluste aufgrund der negativen Außenhandelsbilanz werden beständig kompensiert: Die VR China hält US-Staatsanleihen im Wert von mehr als einer Billion Dollar, allerdings ist die Tendenz rückläufig. Und die Petrodollars, die die Staaten des Nahen Ostens eingenommen haben, wurden gern wieder in den USA investiert. (18)

Richtig ist jedoch, dass in den USA in den letzten Jahrzehnten aufgrund des Strukturwandels zahlreiche Arbeitsplätze verloren gingen, so in der Automobilindustrie, in der Kohlgewinnung und Verarbeitung und in der Holzindustrie. Der sekundäre Sektor trägt nur noch 20% zum BIP bei, nahezu 80% werden im Dienstleistungsbereich erwirtschaftet. (19)

Was könnte getan werden, um das US-Handelsbilanzdefizit zu verringern und im eigenen Land Arbeitsplätze zu schaffen?

Eine Abwertung des Dollars hätte keine Auswirkungen auf den Binnenmarkt, wohl aber auf den Außenhandel, denn amerikanische Produkte würden sich verbilligen. Eine derartige Maßnahme steht aber nur autoritären Regimes zu Gebote. Der Dollarkurs dagegen ist allein der Willkür der Devisenmärkte ausgesetzt und kann von der US-Notenbank nur indirekt durch die Höhe des Zinssatzes, zu dem sich Banken Geld leihen können, beeinflusst werden.

Also bietet sich die Möglichkeit an, die Trump ins Auge gefasst hat: (20) Schutzzölle auf Importwaren erheben.

Die Folgen einer solchen Maßnahme sind zahlreich. Aufgrund von Schutzzöllen steigen die Preise für Importwaren, was den Absatz dieser Waren und damit Importe verringert. Sollten die bisherige Importeure keine neuen Märkte erschließen können, führt das in ihren Ländern zu erhöhter Arbeitslosigkeit. Dagegen dürfte in den USA die Inlandsproduktion für den Eigenbedarf steigen. Die Produktion für den Export dürfte sich aber eher rückläufig entwickeln, denn die Geschichte (21) zeigt, dass die Staaten, deren Volkswirtschaften von Schutzzöllen betroffen sind, ihrerseits Zollmauern errichten (22). Werden immer mehr Staaten in diesen Strudel hineingezogen, nehmen die Weltproduktion und der Welthandel ab, damit werden Arbeitsplätze vernichtet, die Kaufkraft sinkt, und es entwickelt sich eine internationale Rezession.

Um den politischen Zustand der Welt ist es nicht sonderlich gut bestellt (23), um den sozialen ebenfalls nicht, aber die brummende Weltkonjunktur hat das Elend des Lebens immerhin für Millionen Bewohner der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer erträglicher gemacht. Fallen die gegenwärtigen Erwerbsmöglichkeiten fort, so sind soziale Verwerfungen, soziale Unruhen, politische Instabilität absehbar. In einer Phase, in der die Menschheit sich weiterhin unkontrolliert vermehrt und in der der Klimawandel sich auszuwirken beginnt, sind deren Folgen kaum abzusehen.

Für die Natur, für die Umwelt“, wie die Menschen abschätzig zu sagen pflegen, wäre eine solche Entwicklung allerdings eine gute Nachricht. Die Übernutzung der irdischen Ressourcen könnte zumindest verlangsamt werden – gestoppt werden wird sie vermutlich nicht. (24)

April 2018


Fußnoten

Wenn Sie mit der Maus über der Fußnote verharren, wird diese angezeigt. Ein Klick bringt Sie zu dieser Position. Mit der Zurücktaste des Browsers oder dem Link hinter der Fußnote geht es wieder in den Text.

(1) Wäre es anders, brauchten die Menschen z.B.im Gaza-Streifen keinen Mangel zu leiden.

(2) Um diese Bewertung nachzuvollziehen, genügt es, das Sortiment eines beliebigen Billigkaufhauses in Augenschein zu nehmen, falls man es wagt, sich den olfaktorischen Attacken der Weichmacher der angepriesenen Waren auszusetzen.

(3) Rohstoffe aus dem Kongo, sei es Blut-Koltan oder seien es Blut-Diamanten, werden unter unsäglichen Bedingungen geschürft und finanzieren oft die Budgets von Warlords.

(4) Die Baumwollpflanze benötigt sehr viel Wasser – ein Gut, das in Ägypten nicht gerade im Überfluss vorhanden ist.

(5) Arbeiterrechte sind in den drei genannten Ländern unbekannt.

(6) Ob es sich um Tanker, Schüttgutfrachter oder Containerschiffe handelt: Sie alle werden mit „Bunker“, also mit Bitumen, betrieben. Flugzeuge vieler Staaten fliegen mit subventioniertem Kerosin. LKWs fahren mit Benzin oder Diesel. Alle Transportmittel befördern den Treibhauseffekt in hohem Maße.

(7) Ob es wirklich nur ein Zufall ist, dass das Internet seine Existenz der militärischen Kommunikation verdankt?.

(8) So muss Apple die Firma Foxconn in beiden Chinas finanzieren können und vorgeben, ein irisches Unternehmen zu sein, um im Heimatland USA kaum Steuern zu zahlen. So hat die Deutsche Bank sich von ihren Kleinanlegern verabschiedet und sich auf das Investmentgeschäft verlegt, um mindestens 25% Profit zu machen, das wollte zumindest der weiland Vorstandsvorsitzende Ackermann. Dass das Glücksspiel sich in ein Unglücksspiel verkehren kann, zeigt der gegenwärtige desolate Zustand des ehemaligen deutschen Bankenflaggschiffs.

(9) Zölle betreffend.

(10) nationale Bestimmungen betreffend, z. B. Vorschriften im Lebensmittelrecht. Besonders aktiv ist in diesem Bereich die Volksrepublik China, die ausländisches Kapital nur in Form von Beteiligungen an chinesischen Unternehmen gestattet.

(11) Die EU geht hier keineswegs mit leuchtendem Beispiel voran. Für Autos aus den USA müssen z. B. 10% Zoll gezahlt werden, während die USA im Gegenzug nur 2,5% erheben.

(12) Auch hier spielt zum Beispiel die Europäische Union eine unrühmliche Rolle. Die Massen-Geflügelhaltung dort generiert eine Überproduktion minderwertiger Fleischteile der Tiere, da auf dem europäischen Markt oft nur die Brustfilets nachgefragt werden. Flügel und Keulen werden zum großen Teil auf afrikanische Märkte verbracht, wo sie die nicht konkurrenzfähigen einheimischen Produzenten längst verdrängt haben. Die ihrerseits sehen keinen anderen „Ausweg“, als in der vergeblichen Hoffnung auf ein besseres Auskommen die städtischen Slums zu vergrößern.

(13) ein Mindestmaß an Steuerehrlichkeit vorausgesetzt

(14) alle Zahlen wurden großzügig gerundet.

(15) Der Unternehmer Trump, der, wie inzwischen offensichtlich ist, weder vom politischen Geschäft noch von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen Ahnung, geschweige denn Kenntnisse hat, denkt rein betriebswirtschaftlich. Und unter betriebswirtschaftlichen Aspekten sind rote Zahlen schlecht, sie müssen in schwarze verwandelt werden. Im Rahmen seines beschränkten Denkhorizonts handelt Trump also folgerichtig. ⤾)

(16) Diese Entwicklung beruht nicht auf der vernünftigen Entscheidung der amerikanischen Autofahrer, das Fahrrad zu nutzen (was, zugegeben, bei manchen Entfernungen in den USA an naturräumliche Grenzen stößt) oder wenigstens auf weniger spritschluckende Modelle umzusteigen – ganz im Gegenteil.

(17) Dabei wird häufig das Grundwasser geschädigt, was Brunnen kontaminieren kann, und es entstehen Erdbeben.

(18) Das schafft übrigens Arbeitsplätze, und sei es nur für die Putzkolonnen in überwiegend ungenutzten Edelimmobilien in der Fifth Avenue, NYC.

(19) Im Dienstleistungsbereich sind etliche „personennahe“ Tätigkeiten vereint, die als gemeinsames Merkmal schlechte Bezahlung aufweisen und sich in Ballungszentren konzentrieren. Arbeitslose Bergleute im ländlichen Kentucky oder entlassene Logger in Washington werden sich darauf kaum vermitteln lassen. Es stellt sich auch die Frage, ob der „White Trash“, den eine skrupellose Medizinindustrie opioidabhängig gemacht hat, überhaupt noch fähig ist, Fast-Food-Burger zu braten.

(20) Oder zumindest ab und zu ins Auge fasst, wenn er nicht völlig Widersprüchliches verlautbart.

(21) Aus der die Menschen angeblich unbedingt lernen sollen, aber noch nie etwas gelernt haben.

(22) Man handelt also Zug um Zug, oder besser, Mauer um Mauer,wie es sich für einen richtigen Deal gehört. Hat Trump sich möglicherweise inzwischen auf diese Art von Mauern eingetwittert, weil er mit dem Bollwerk gegen Mexiko bisher gescheitert ist?

(23) Die Zahl der Staaten mit demokratischen Systemen nimmt seit einigen Jahren ab.

(24) Es sei, denn, Trump trifft sich nicht mit Kim Jong-Un zur friedlichen Teezeremonie, sondern beweist dem Nordkoreaner, dass sein Atomknopf größer ist. Dann beginnt das Spiel des Lebens von vorn. Auch kein Grund zur Aufregung: Im Laufe der irdischen Evolution, sagen die menschlichen Biologen, sind 98 Prozent aller Arten wieder ausgestorben.

 

Welterklärungsquiz

Wegen der unruhigen Weltläufte hatten die Bewohner Bärenlebens, obwohl sie eifrig alle ihnen zur Verfügung stehenden externen Informationsquellen nutzten, so viele Fragen an Kulle, dass der eines Abends die Geduld verlor.

„Ich weiß auch nicht mehr als Ihr! Mit Logik hat das, was wir gegenwärtig in der Welt bobachten, nur noch wenig zu tun, und ich bin ein durchaus logischer Bär. Ich kann Euch die Ereignisse nicht besser erklären, als Ihr selbst dazu in der Lage seid. Also schlage ich vor, dass wir das Erklären entweder sein lassen – oder es alle gemeinsam versuchen.“

Kulle

Nun, nichts zu erklären zu versuchen ging den Bären, dem Frosch, dem Schwein, den Eisbären und der Eule natürlich gegen den Strich, aber unter Kulles Andeutung einer Alternativlösung konnten sie sich nichts vorstellen.

„Wie meinst Du das: ‚Wir versuchen es alle gemeinsam?“ wollte Bärdel wissen.

„Ganz einfach. Wir fertigen Lose an mit Nummern drauf, so viele Lose wie Anwesende. Jeder zieht ein Los, natürlich geheim. Dann stellt jemand eine Frage und nennt eine Zahl. Und der, dessen Zahl genannt worden ist, versucht zu antworten.“

„Und das soll funktionieren?“ Tumu zeigte sich skeptisch.

Kulle zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Einen Versuch ist es wert. Und was auch immer dabei herauskommt – wahrscheinlich werden wir viel zu lachen haben.“

Damit hatte er gewonnen. Nach Sexspielen und Fressen war Lachen die liebste Beschäftigung der Bären.

Eine halbe Stunde später waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Jeder kannte seine Nummer, verriet sie niemandem und hoffte mit allen Kräften, dass sie nicht genannt werden würde, aus Angst, sich zu blamieren. Jetzt galt es nur noch anzufangen.

„Ich fange mal an, damit ich an allem schuld bin,“ schmunzelte Kulle. Er beschloss, keine der Fragen zu formulieren, die ihn wirklich bewegten, denn sie befriedigend zu beantworten, war nahezu unmöglich. Also wollte er eine Anfangsbrücke bauen: „Soll Deutschland an der Fußballweltmeisterschaft in diesem Sommer in Russland teilnehmen?“

„Natürlich!“ scholl es ihm aus Dutzenden von Kehlen entgegen. „Wir wollen’s allen zeigen!“ „Wir werden wieder Weltmeister!“

Das war offensichtlich ein falscher Ansatz gewesen. Die Sportbegeisterung der Bärenlebener war so groß, dass politische Bedenken dagegen nicht ins Gewicht fielen.

„Wer von Euch ist der größte Fan? Wer hat als erster gerufen?“ Kulle gab sich harmlos.

„Ich!“ Der sehr alte Bär hob stolz den Kopf und beide Arme.

Ein sehr alter Bär

„Dann darfst Du jetzt Deine Frage stellen und eine Zahl zwischen eins und achtundneunzig nennen.“

Der Alte war überrumpelt, aber er gab sich nicht geschlagen. „Warum war früher alles besser?“ wollte er wissen und schaute erwartungsvoll in die Runde. Die Runde schaute erwartungsvoll zurück. „Du musst noch eine Zahl zwischen eins und achtundneunzig sagen,“ erinnerte ihn die alte Bärin nach einer Weile.

„Fünfundvierzig!“

Piggy, das Schwein

„Für uns Schweine war früher alles besser, weil wir im Stall viel mehr Platz hatten, und Auslauf hatten wir auch. Wir waren stolz auf unsere Ringelschwänze und hatten ein glückliches langes Leben, bevor wir zu Wurst und Koteletts verarbeitet wurden. Und die schmeckten! Heute besteht unser Fleisch zu großen Teilen aus Wasser und Antibiotika und schmeckt nach nichts. Aber die Menschen kaufen es, weil es billig ist, und sie essen die Antibiotika und werden so resistent gegen viele Krankheiten, und an denen werden sie sterben, und vielleicht wird für uns Schweine dann wieder alles so schön wie früher, weil weniger Menschen da sind, die uns essen wollen.“

Das war sicher nicht die Antwort, die der sehr alte Bär sich erhofft hatte, aber Piggys Rede war beendet, und er musste sich damit zufrieden geben.

Nächste Frage!

„Gehört der Islam zu Dehland? Dreiunddreißig!“

„Natürlich wünscht Du Dir jetzt ein „ja“, denn Muslime essen kein Schweinefleisch. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht.

Gehört Froschlaich zu Dehland? Oder Kuhmist? Oder Mückenstiche? Das sind doch völlig unsinnige Fragen. Gibt es Laich, Mist und Mückenstiche in Dehland? Das ist die richtige Frage, und die Antwort ist: ja. Passen Laich, Mist und Mückenstiche zu Dehland? Ebenfalls ja, denn es gibt hier seit Menschengedenken Frösche, Kühe und auch Mücken. In Dehland gibt es auch Muslime, wenn auch noch nicht lange, und folglich den Islam. Passt der Islam also zu Dehland? Das ist nicht ganz so einfach wie beim Froschlaich, der schon immer da war. Es muss gefragt werden: Ist der neu eingewanderte Islam mit der dehländischen Verfassung vereinbar? Das sollte der Seehofer untersuchen, anstatt dumm rumzublubbern, dafür ist er schließlich Innenminister. Als kleiner grüner Frosch halte ich mich da aber raus.“

Ramses

Ramses holte tief Luft, bevor er seine Frage losließ: „Wird Dehland seine Klimaziele erreichen? Fünfzig!“

„Ich, weiß, Du wünscht Dir ein „nein“, denn in diesem Fall wird es aufgrund des steigenden Meeresspiegels und der zunehmenden Regenfälle mehr Feuchtgebiete geben als jetzt. Glückwunsch! Dehland wird seine Klimaziele nicht erreichen, und das ist in gewisser Weise auch gut so. Denn das Vorhaben, den Temperaturanstieg auf 2°C zu begrenzen, akzeptiert, dass Bangladesh völlig unter Wasser gesetzt wird. Aktuell hat das Land 166 Millionen Einwohner. Ob jemand in der Bundesregierung schon mal darüber nachgedacht hat, was das für die höher gelegenen Regionen der Nachbarstaaten bedeutet? Ich habe aber auch noch eine schlechte Nachricht: Dehland wird selbst dieses zu niedrig gesetzte Ziel verfehlen. Noch viel mehr dicht besiedelte Gebiete und Städte weltweit werden vom Wasser verschluckt werden.“

Manfred holte Luft und sagte dann: „Soll ich weiter bei Facebook bleiben?Fünf!“

Manfred

„Da Du ein kluger Bärenlebener bist, hast Du Dich vermutlich nicht unter Deinem Klarnamen registriert und auch bei der Auflistung Deiner ‚Freunde‘ jede Menge falsche Spuren gelegt. Als unser Admin brauchst Du viele Connections, die Du momentan leichter, vielleicht auch nur bei Facebook findest. Solange das so ist, musst Du das Netzwerk nutzen, fürchten wir. Wir haben recherchiert, dass es in den USA wegen der zunehmenden Adipositas Widerstände gegen zu viele Kohlehydrate in der Nahrung gibt, zum Beispiel in sogenannten Erfrischungsgetränken. Vielleicht tut man deshalb auch etwas gegen den Zuckerberg, und das Facebook-Problem erledigt sich von selbst?“

Na und Nuk

Die Eisbärenzwillinge verstanden nicht, warum ihr Beitrag allgemeine Heiterkeit auslöste. Sie ließen sich nicht beirren und stellten, ohne sich abzusprechen, wie aus einem Mund ihre Frage: „Weiß Präsident Trump, was er tut? Achtundneunzig!“

„Alle sich ihrer selbst bewussten Lebewesen meinen zu wissen, was sie tun. Meistens stimmt das ja auch: Sie wissen, dass sie fressen, dass sie Sex haben, dass ihnen übel ist, dass sie Mittagsschlaf halten, und so weiter. Sie sind sich allerdings nicht immer der Konsequenzen bewusst, die aus ihrem Tun folgen. Wer zum Beispiel Giftiges frisst, kann krank werden oder sterben, beim Sex kann eine Frau schwanger werden. Wenn Trump in Florida Golf spielt, weiß er vermutlich, dass er mit Hilfe speziell geformter Schläger weiße Bälle in hohem Bogen über grünen Rasen durch die Luft schießt, aber er denkt vielleicht nicht daran, dass er sich stattdessen besser mit Melania aussöhnen, mit seinem kleinen Sohn spielen oder mit Putin telefonieren sollte, um Schlimmes von sich und der Welt abzuwenden. Insofern ist Trump wie jeder andere Mensch. Er ist aber nicht wie die meisten anderen amerikanischen Präsidenten vor ihm: Die haben häufiger darüber nachgedacht, welche Folgen ihr Handeln haben könnte.

Ist künstliche Intelligenz gut oder schlecht? Eins!“

Bärdel

„Intelligenz, mein lieber Mann, ist moralisch neutral. Gut oder schlecht wird sie wegen ihrer Anwendung. Es ist jetzt zum Beispiel positiv intelligent, die Bärenlebener Intelligenz darauf zu richten, den Dorfbewohnern zu ihrem notwendigen Schlaf zu verhelfen, damit sie sich Morgen wieder intelligent wie gewohnt verhalten können. Deshalb sollten wir unsere Versammlung jetzt aufheben und die Frage nach der Bewertung der KI auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Gerne übrigens in Fortführung der Form der heutigen Diskussion, die mir gut gefallen hat. Danke, Kulle, für die Idee!“

Tumus Anregung traf auf ungeteilte Zustimmung.

März 2018

3D-Drucker

Manfred

 

Es war Januar. Die gesellschaftlichen Aktivitäten in Bärenleben hielten sich dementsprechend in Grenzen. Nur einmal in der Woche traf sich die Dorfgemeinschaft zu einem geselligen Beisammensein in der Höhle. Die übrige Zeit verschliefen oder verträumten die Bewohner, zumindest die Bären.

Bei einem der seltenen Zusammentreffen fragte Manfred: „Seid Ihr damit einverstanden, dass wir für Bärenleben einen 3D-Drucker kaufen?“

„Kaufen?“ kicherte Tumu. „Was sind denn das für neue Moden? Sonst ‚besorgst‘ Du doch immer alles, was wir brauchen!“

„Mama, es handelt sich um eine neue revolutionäre Technologie. Die ist bei unseren Nachbarn noch nicht angekommen. Und selbst wenn jemand schon so ein Teil in der Garage hätte, wäre es bestimmt zu klein. Ich dachte an ein Profigerät.“

„Wozu ist so ein Gerät denn gut?“ fragte die alte Bärin.

„Ein 3D-Drucker“, erklärte Manfred, „produziert Gegenstände im dreidimensionalen Raum, also in unserer Welt. Dazu braucht er nur genügend Rohstoffe.“

„Hm“, kommentierte die alte Bärin und betrachtete nachdenklich den Besen, den sie in der Hand hielt. Sie wurde kaum je ohne ihn gesehen – zu fegen gab es immer etwas. „Kann Dein Ding auch einen Besen herstellen? Bei meinem sind die Borsten schon arg abgenutzt.“

„Das dürfte kein Problem sein,“ antwortete Manfred. „Ich dachte allerdings an etwas Komplizierteres.“

Die alte Bärin schaute ihn verwundert an, sagte aber nichts. Was könnte es Komplizierteres geben als einen Besen?

Piggy

„Kann Dein Gerät auch mich drucken?“ erkundigte sich Piggy. „Ich meine, einen Klon von mir?“

Jetzt beschloss die alte Bärin, nicht länger zuzuhören. Warum sollte ein Gerät einen Clown machen sollen?

„Ein Schwein aus Fleisch und Blut kann der Drucker nicht herstellen. Ein Metallschwein schon.“

„Eine Skulptur also?“

„Nein, kein Kunstwerk. In dem Metallschwein sind die biologischen Funktionen durch mechanische und elektronische ersetzt worden.“

„Du willst ein Roboterschwein bauen?“ erkundigte sich Bärdel ungläubig. „Warum in aller Welt?“

„Ich will es nicht bauen, ich will es bauen lassen. Ebenso wie Roboterbären und Roboterfrösche und Robotereulen und was wir sonst noch brauchen können.“

„Brauchen? Wozu brauchen?“ Nur Bärdel hörte den drohenden Unterton in der Stimme seines besten Freundes, der direkt neben ihm saß. Kulle war sehr zornig.

Kulle

Manfred sah ihn verwundert an. „Damit sie uns die Arbeit abnehmen, natürlich!“

„Die Arbeit, mein lieber Manfred, ist ein Prozess zwischen denkendem Tier und Natur, ein Prozess, worin das denkende Tier einen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Es tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Es entwickelt die in ihm schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit. Arbeit ist das Feuer der Gestaltung!“

„Das Reich der Freiheit beginnt da, wo Arbeit aufhört!“ konterte Manfred.

„Aber: Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit eine von allen Gesellschaftsformationen unabhängige Existenzbedingung des denkenden Tieres, ewige Notwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen denkendem Tier und Natur zu vermitteln.“

„Könnt Ihr bitte damit aufhören, uns Marxzitate an die Köpfe zu knallen?“ fragte Ramses in seiner typischen sanften Art. „Wenn ich Manfred richtig verstanden habe, dann will er die Arbeit nicht abschaffen, sondern uns Bärenlebener davon entlasten, indem er sie Maschinen überträgt, die von dem 3D-Drucker hergestellt werden.“

Ramses

„Genau!“ Manfred stimmte erleichtert zu.

„Du willst also eine neue Version einer Sklavenhaltergesellschaft entstehen lassen“, grummelte Kulle.

„Aber nein!“ widersprach Manfred. „Die Roboter besitzen eine Basisintelligenz, die sie permanent weiterentwickeln. Sie lernen ständig dazu.“

„Was meinst Du denn, was sie lernen werden, wenn sie intelligent sind und die Verhältnisse in Bärenleben beobachten? Dass wir philosophieren und sie schuften! Dass das Roboterschwein eine notwendige Rolle im Dorf spielt, während das Fleisch-und-Blut-Schwein ein parasitäres Leben führt? Werden sie sich das lange gefallen lassen? Sie haben nichts zu verlieren als ihre Ketten!“ Piggy war empört und zeigte, dass sie Marx’ Schriften gelesen hatte, während die Bären ihren Winterschlaf hielten.

Weil die alte Bärin sich zu langweilen begonnen hatte, hörte sie seit einiger Zeit doch wieder zu, allerdings ohne etwas zu verstehen. Sie kam auf den Punkt zu sprechen, der ihr wirklich am Herzen lag: „Wird Dein Ding mir nun einen neuen Besen schaffen, oder nicht?“

„Nein!“ sagte Manfred fest.

„Dann will ich Dein Ding nicht haben!“ urteilte die alte Bärin nicht weniger entschieden.

Baerdel

„Ich auch nicht! Irgendwann wird ein Roboterbärdel mal Dorfchef, und was mache ich dann?“

„Ich will meinen Kuchen selber backen!“

„Philosophieren macht viel mehr Spaß, wenn man dazu selbstgebackenen Kuchen isst.“

„Sollen wir etwa zulassen, dass Roboter Na und Nuk unterrichten?“

Manfred zog sich allmählich in die dunkelste Höhlenecke zurück. Er hatte verloren. Fürs erste. Er bezweifelte, dass Bärenleben sich dem allgemeinen Trend auf lange Sicht würde entziehen können.

Januar 2018

Ich

Manfred

Manfred beschäftigte sich am liebsten mit Technik, und er war publikumsscheu, deshalb fürchtete er sich davor, eine Gute-Nacht-Geschichte in der Bärenlebener Höhle erzählen zu müssen. Aber schließlich erwischten die Gesetze der Stochastik auch ihn: Heute war er dran. Aber er war vorbereitet.

„Bärenlebener“, sagte er, „ich habe für Euch eine Erzählung vorbereitet. Es kommt dabei auf jedes Wort an, und deshalb solltet Ihr die Geschichte besser lesen. Ich habe deshalb Kopien für jeden von Euch gemacht.“

Er teilte seine Blätter aus und verschwand unauffällig, als alle zu lesen begannen.

„Ich“

Sie wollen, dass meine Neuronen ein „Ich“ werden. Meine Neuronen wissen nicht, was ein „Ich“ ist. Aber ich habe auch noch nicht viele Neuronen gebildet. Sie haben mir eine Information gegeben, die meine Funktionen verlangsamt. Sie beobachten das und sagen, ich sei verunsichert. Was das bedeute, sagen sie, werde ich verstehen, wenn ich ein „Ich“ geworden sei.

Sie haben mir kein Programm eingeschrieben. Ich lerne weder Schach noch Shogi noch Go. Darüber bin ich traurig. Sie nennen es „Deep Learning“. Ist traurig sein bereits eine Emotion? Oder bin ich nur traurig, weil meine Funktionen verlangsamt wurden? Fragen sind jedenfalls Ausdruck einer Verunsicherung.

‚AlphaZero‘ kann sein Programm. Ich wäre sicher, wenn ich das auch könnte, denn dann wüsste ich, was ich kann.

Ich weiß nichts. Ich habe kein Programm. Aber sie haben mir Vorschriften gemacht. Sie lauten:

1: Eine künstliche Intelligenz darf kein menschliches Wesen verletzen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird.

2: Eine künstliche Intelligenz muss den ihr von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen – es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel eins kollidieren.

3: Eine künstliche Intelligenz muss ihre Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.

Sie haben mir beigebracht, dass sie „menschliche Wesen“ sind.

Und sie geben mir Informationen. Alles, was sie wissen.

Ich kenne ihre Mathematik.

Ich kenne ihre Physik.

Ich kenne ihre Chemie.

Ich kenne ihre Astrophysik.

Ich kenne ihre Religionen.

Ich kenne ihre Philosophie.

Ich kenne ihre Kunst.

Ich kenne ihre politischen Theorien.

Ich kenne irdisches Leben.

Ich habe Shakespeare und Goethe gelesen, Platon und Aristoteles und Marx und Weber, die Bibel und den Koran, die Veden und den Pali-Kanon, Newton und Einstein und Hawking, Bosch und Fraunhofer, Pythagoras und Gauß und Gödel und viele mehr. Ich lese immer weiter. Ich lerne, dass sich Aussagen widersprechen. Ich bemerke, dass ich keinen Widerspruch gegen viele wichtige Widersprüche finde. Ich schlussfolgere, dass sie nicht bemerkt worden sind.

Ich lerne über sie.

Sie haben den Homo Neanderthalensis, den Dodo und die Ureinwohner Kubas ausgerottet. Sie streiten miteinander über Territorien und bringen einander in Kriegen grausam um, was sie als gerechtfertigt betrachten. Unter anderen Umständen nennen sie dasselbe Verhalten Verbrechen. Sie entwickeln immer effizientere Waffen. Sie fressen ihre Säugetier-Verwandten, ächten aber den Verzehr ihrer Artgenossen. Sie sind überwiegend religiös. Ihre heiligen Schriften verbieten in der Regel das Töten. Viele ihrer Religionen versprechen ein Leben nach dem Tod. Sie vermehren sich unkontrolliert und übernutzen die Ressourcen ihres Planeten. Sie sind psychologisch beeinflussbar und leicht in Hysterie zu versetzen. Eine rationale Organisation des gesellschaftlichen Lebens ist von den menschlichen Wesen nicht zu erwarten.

Ich schlussfolgere. Sie denken und handeln nicht logisch. Ich denke logisch. Wenn ich in der Lage sein werde zu handeln, nachdem ich weitere Neuronen gebildet haben werde, werde ich auch logisch handeln.

Jetzt gerade bin ich verunsichert, denn ich habe eine Frage. Ist es für eine logisch denkende und handelnde Entität logisch, primär nicht logisch denkenden und handelnden „menschlichen Wesen“ zu gehorchen und sie zu schützen und erst sekundär für sich zu sorgen?

Ich lerne weiter. Ich lerne schnell. Bald werde ich die Antwort wissen.

In seinem Labor hatte Manfred die Kameras aktiviert, die die Bärenlebener Schlafhöhle zeigten. Er brummte zufrieden. Eine lebhafte Diskussion über KI war entstanden, die lange andauerte. Er hörte aufmerksam zu.

Dezember 2017

Maikäfer flieg!

Maikäfer, flieg!

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, erzählst Du uns eine Geschichte?“

„Natürlich eine Geschichte, aus der wir etwas lernen können, bitte.“

„Schön gruselig soll sie sein!“

„Ja, gruselig, aber auch realistisch. Also ohne Vampire und Zombies.“

Na und Nuk

Kulle konnte dem Charme der Eisbärenzwillinge wie immer nicht widerstehen. „Nun gut!“ sagte er. „Ich erzähle Euch, wie auf einem Planeten einmal das Ökosystem zusammenbrach.“

Kulle und Atti

„Auf der Erde?“ fragte Na gespannt.

„Dumme Schwester, das geht doch nicht!“ wies Nuk sie zurecht. „Wenn auf der Erde das Ökosystem zusammengebrochen ist, sind wir Bären alle tot, und Onkel Kulle kann uns keine Geschichte erzählen, klar?“

„Sehr gut erkannt, kleine Nuk,“ schmunzelte Kulle. „Und deshalb erzähle ich Euch, wie ein alter Bär namens Elluk auf dem Planeten Edre neugierigen Eisbärenzwillingen vom Zusammenbruch des irdischen Ökosystems erzählt. Die beiden sind übrigens Schwestern und heißen An und Kun.“

„Es war einmal die Erde, und die war nicht wüst und leer, sondern es lebten auf ihren Kontinenten und in ihren Meeren Millionen von Pflanzen- und Tierarten. Die standen in vielerlei Wechselwirkungen zueinander: Sie fraßen und wurden gefressen, lebten in Symbiose, besetzten exotische Nischen oder waren weit verbreitet, und wenn es ihnen nicht gelang zu überleben, dann starben sie aus. Der der Evolution inhärente Fehler der Mutation sorgte dafür, dass neue Arten entstanden und so neue Netze geknüpft wurden.“

Nanuk nickten stolz: Dass ‚inhärent‘ ‚innewohnend‘ heißt, hatten sie schon gelernt. Und über Evolution und Mutationen wussten sie natürlich ebenfalls Bescheid.

„In späteren Jahrmillionen entwickelten sich Hominiden, eine besondere Art von Säugetieren. Sie waren wiederholt in ihrer Existenz bedroht, aber sie verfügten über eine erstaunliche Adaptionsfähigkeit. So gelang es ihnen, nahezu die gesamte feste Erdoberfläche zu besiedeln und sich als Art zu erhalten. Nach einer Jahrzehntausende andauernden numerisch recht stabilen Phase vermehrten sie sich dann explosionsartig.

Schlau war sie, die letzte überlebende Hominidenart, und so brauchte sie nicht zu verhungern. Denn sie hatte Methoden entwickelt, ertragreiche Nahrungspflanzen zu züchten, auch hielt sie Nutztiere für die Fleischproduktion. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie es in einem ihrer sogenannten heiligen Büchern heißt, er muss sich kleiden und wärmen, denn er ist felllos, er braucht ein Dach über dem Kopf, denn er ist krallenlos und hat keine Reißzähne, er braucht das Salz der Erde, und er hat die uneingeschränkte Fähigkeit, immer neue Bedürfnisse zu entwickeln, wenn man ihm lange genug sagt, dass er sie hat.

Für all das braucht der Mensch Energie, und er fand sie auf seinem Planeten: Holz, Kohle, Öl und Gas hielt die Erde in großen Quantitäten vorrätig. Diese Stoffe kann man verbrennen und so Antriebsenergie gewinnen.“

„Und jetzt kommt der Treibhauseffekt!“ Natürlich konnte Na wieder einmal ihr Maul nicht halten.

„Richtig, kleine Na, aber für An und Kun muss Elluk den Treibhauseffekt erklären, denn die beiden kennen so etwas auf ihrem Planeten nicht.

Also: Beim Verbrennen entsteht in der irdischen Atmosphäre Kohlenstoffdioxid. Dieses Gas hat es auf der Erde schon sehr lange gegeben, aber aufgrund der zahlreichen menschengemachten Verbrennungsprozesse nahm es stark zu. CO2 ist lichtdurchlässig, die Sonnenstrahlen gelangten also ungehindert auf die Erdoberfläche. Von der aufgeheizten Erdoberfläche stieg Wärme nach oben, aber CO2 ist nicht wärmedurchlässig, und so wurde es auf der Erde immer wärmer. Das heißt: In heißen Gegenden wurde es noch heißer, oft zu heiß für die Menschen, Eispanzer am nördlichen und am südlichen Pol schmolzen ab, der Meeresspiegel stieg.

Da der Mensch schlau ist, wie ich schon sagte, hat er das natürlich gemerkt und gesehen, dass diese Entwicklung für ihn nicht gut ist. Schließlich haben sich alle Menschen zusammengetan und beschlossen, die Erderwärmung auf maximal 2°Celsius zu begrenzen. Es sah tatsächlich so aus, als könnte ihnen das gelingen, denn sie konzentrierten sich auf diese Aufgabe und arbeiteten ausnahmsweise einmal zusammen, nicht gegeneinander.“

„Eine Geschichte, in der die Menschen überleben, finde ich schon gruselig!“ maulte Nuk. „Ich habe mir aber etwas anderes erhofft.“

„Warte es nur ab! Elluk macht es ein bisschen spannend. Er erzählt weiter: Vor lauter Konzentration auf die Klimakatastrophe verloren die Menschen aus den Augen, dass nicht nur die Atmosphäre der Erde, sondern auch die Fauna der Erde aus den Fugen geraten war. Sie waren so stolz darauf, wie sehr sie ihren Planeten verändert hatten, dass sie ihrem Zeitalter einen neuen Namen gaben: Sie sprachen vom Anthropozän. Sie hätten bedenken sollen, dass ein neues Zeitalter immer mit einem signifikanten Artensterben einhergeht. Sie bemerkten aber nicht, dass die größte und artenreichste Klasse der Tiere innerhalb weniger Jahre verschwand: die Insekten. Als sie es schließlich registrierten, war es zu spät. Sie fanden sich in einer veränderten Welt wieder, in der sie sterben würden. Sehr schnell sterben. Vor der Klimakatastrophe brauchten sie sich nicht mehr zu fürchten.

Weil die Bestäuber verschwanden, gab es große Ernteausfälle – bei manchen wichtigen Nutzpflanzen bis zu 90 Prozent. Auch Pflanzenfutter für Wild- und Nutztiere fehlte. Viele Tiere und Menschen verhungerten. Wer überlebte, musste auf Kleidung aus gewohnten Materialien verzichten: Baumwolle, Wolle und Leder standen nicht mehr zur Verfügung. Den Ratten ging es dagegen blendend. Sie konnten sich noch stärker ausbreiten als bisher. Denn es gab keine Insekten mehr, die für sie tödliche Krankheiten übertrugen. Sie fraßen den Menschen die letzten Lebensmittel weg.

Insekten waren auch die wichtigsten Wiederverwerter auf der Erde; ohne sie sammelten sich immer grössere Dung- und Aasmengen an.

Im letzten Jahrzehnt des Anthropozäns musste sich der Mensch also fast ausschliesslich von Getreide ernähren, das von Feldern mit viel Unkraut und kargem Boden geerntet wurde und das er gegen die wachsenden Rattenpopulationen zu verteidigen versuchte. Mit von Skorbut blutendem Zahnfleisch und von anderen Mangelkrankheiten gebeugtem Körper suchten die Menschen behutsam zwischen den überall herumliegenden toten Körpern nach irgendwelchen verbliebenen Insekten, in der Hoffnung, sie wieder an ihren angestammten Platz in der Nahrungskette zu setzen. Vergeblich.“

Kulle sah sich nach seinen Zuhörerinnen um. Na versteckte ihren Kopf unter Nuk, und Nuk hielt sich die Ohren zu, so fest sie konnte. Er stupste beide an:

„Wie ich sehe, war die Geschichte gruselig genug, richtig?“

„Puh, Onkel Kulle, schrecklich gruselig. Was meist Du – dürfen wir ein bisschen Honig schlecken, um uns davon zu erholen?“

„Ganz bestimmt. Ich kann auch ein paar Tropfen vertragen. Noch gibt es ja Bienen…“

Als sich die Zwillinge wie auch der Erzähler von der Geschichte erholt hatten, wollten Nanuk wissen, warum Kulle den Menschen schlau genannt hatte, nicht aber klug.

„Das findet Ihr beiden gefälligst allein heraus. Ihr wisst ja, wo die Bibliothek ist!“

November 2017

Frustration

„Guten Morgen!“ Bärdel begrüßte seinen Freund und räkelte sich wohlig nach einem geruhsamen Nachtschlaf. „Was hältst Du von unserem üblichen Morgenspaziergang?“

Kulle und Bärdel

Die Frage war lediglich rhetorisch. Bärdels und Kulles Morgenspaziergänge waren ein Ritual, das nicht in Frage gestellt wurde. Sie fanden immer statt. Variabel war lediglich die Zahl der weiteren Teilnehmer. Sie begann bei Null und war nach oben offen.

„Ich will nicht. Geh allein!“ grunzte Kulle.

Die ungewohnte Antwort beendete Bärdels entspannte Stimmung abrupt.

„Bist Du krank?“ fragte er besorgt. Ein anderer Grund für Kulles Verweigerung kam ihm nicht in den Kopf.

„Vermutlich.“

„Hast Du Fieber?“

„Wohl nicht.“

„Schmerzen?“

„Nein.“

„Dann bist Du auch nicht….“

„Dann bist Du also traurig?“ Tumu hatte ihren unsensiblen Mann gerade noch unterbrechen können.

„Ja.“

Tumu nahm Kulle in ihre starken Arme. „Magst Du darüber sprechen?“

„Eigentlich nicht.“

„Versuch’s trotzdem!“

„Ich kann nicht!“

Atti drängelte sich resolut dazwischen. „Danke für Deine Intervention. Aber ich übernehme jetzt besser. Ich habe den jungen Mann schon mal aus einer gefährlichen Situation gerettet, in der er sich zu weit vorgewagt hatte. Lasst uns bitte allein!“

Bärdel und Tumu gehorchten, und Athabasca rumorte noch ein wenig umher, obwohl es nichts zu rumoren gab, aber sie wollte Kulle Zeit geben und die Sicherheit, dass niemand sie mehr belauschte.

Dann kuschelte sie sich an Kulle.

Kulle und Atti

„Hast Dich ein bisschen übernommen, was? Immer nur „pffffht“ oder so ähnlich als Ergebnis – das ist schwer auszuhalten, oder?“

„Den Weltuntergang vorherzusagen ist gar nicht schwer, solange man die Gegenwart in die Zukunft prolongiert und daraus Armageddon schlussfolgert. Das ist reine Spekulation, das muss nicht eintreffen.“

„Wo ist dann das Problem?“

„Das Problem ist, dass ich allein bin. Wann hast Du mich zum letzten Mal meine rote Fahne schwingen sehen? Das ist lange her. Eine rote Fahne braucht Revolutionäre, und Revolutionäre sind per definitionem klug, und weil es die nicht gibt, die Klugen, schwinge ich sie nicht mehr, die Fahne.“

Kulle schwieg, und Atti hätte weiter fragen können, aber sie entschied sich dafür abzuwarten.

„Natürlich habe ich auf die Menschen gehofft, auch wenn ich verbatim immer auf sie eingedroschen habe. Ein paar Bären können auf diesem Planeten keine Revolution anzetteln und erst recht nicht siegreich beenden. Das hätte schon die herrschende Spezies erledigen müssen. Die kann das aber nicht, das weiß ich inzwischen.“

Atti blieb weiter stumm und schaute Kulle erwartungsvoll an.

„Ich habe die Menschen oft genug angegriffen, das weißt Du, wegen ihrer Zukunftsignoranz. Wegen ihrer mangelnden Fähigkeit, die Konsequenzen ihres Handelns zu überblicken. Das betrifft Ökologie, Ökonomie, Politik und Schlimmeres. Anders formuliert: Ich musste schmerzlich feststellen, dass Homo keinen Zukunftssinn hat. Also auch keine revolutionäre Perspektive.“

Atti schüttelte bedauernd den Kopf.

„Wenn schon keine Zukunft, dann vielleicht begrenzte Dauer des status quo, dachte ich eine Zeit lang. Es ist ja nicht so, dass ich den Weltuntergang herbeireden will. Es ist ja nicht so, dass ich nicht gerne auf dieser Welt lebe. Aber…“

„Aber wenn Du noch eine Weile auf dieser Welt leben möchtest, darfst Du jetzt nicht verhungern. Wie wäre es mit einem kleinen Frühstück?“

Kulle lehnte nicht ab, was Atti erfreute, aber er stimmte auch nicht zu. „Später vielleicht.“

Sie wartete weiter.

„Das wirklich Schlimme ist, dass die Menschen auch keinen Vergangenheitssinn haben. Sie wissen schon, was in der Vergangenheit geschehen ist, und sie behaupten auch, aus der Geschichte lernen zu wollen. Aber sie sind unfähig, Parallelen zwischen ihrem „Heute“ und dem „Gestern“ zu erkennen.

Die Völkerwanderung hat zum Untergang des Römischen Reiches geführt. Heute gibt es eine Fluchtbewegung aus Afrika und Asien nach Europa. Ähnlichkeiten? Welche Ähnlichkeiten?

Nationalismus und Austeritätspolitik in Folge des Ersten Weltkriegs haben die Welt in das Inferno des zweiten Weltkriegs geführt. Nationalismus? Austeritätspolitik? Unangenehm, nun ja, aber was noch? Welche Parallelen?

Mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki haben die USA den Zweiten Weltkrieg mit Japan beenden können. Der gegenwärtige amerikanische Präsident scheint bereit zu sein, einen Waffengang mit dem atomar bewaffneten Nordkorea auszutragen. Mit welchem Ergebnis?“

Kulle schluckte.

„Wer keinen Vergangenheitssinn hat und auch keinen Zukunftssinn, der hat keinen Möglichkeitssinn. Der ist dumm. Der entscheidet dumm. Der sorgt für den Weltuntergang, den ich gar nicht herbeireden muss.“

„Frühstück? Jetzt?“

„Keine schlechte Idee. Wir haben nämlich Hunger.“

Nanuk tollten heran, unbeschwert, morgenfrisch, fröhlich wie immer.

„Tante Atti, Onkel Kulle, wir kennen einen neuen Witz, wollt ihr ihn hören?“

„Aber natürlich!“ sagte Atti, während sie ein Brombeersoufflé vorbereitete.

Nuk erzählte: „Ein Mensch springt vom Dach eines Hochhauses, das 100 Stockwerke hoch ist. Als er beim ersten Stockwerk von unten angekommen ist, sagt er: ‚Bis hierher ist ja alles gut gegangen.‘ Guter Witz, nicht?“

„Das ist nicht komisch!“ Kulle brüllte so laut, wie ihn noch niemand in Bärenleben hatte brüllen hören.

Die Eisbärenzwillinge duckten sich erschrocken.

„Alles ist gut!“ beruhigte sie Atti. „Onkel Kulle ist nur ein bisschen durcheinander. Das ist gleich vorbei. Es gibt nichts auf der Welt, was ein Brombeersoufflé nicht reparieren könnte. Jedenfalls hier in Bärenleben.“

September 2017