Bärdel meets Smokey

Smokey

Seit die Bären in Dehland internationale Zeitungen
lasen, fühlten sie sich zwar besser informiert
als vorher, aber auch gleichzeitig unwohl. Sie wußten
jetzt täglich etwas über Ereignisse – fast
– überall in der Welt, aber sie konnten nicht
beurteilen, ob das Dargestellte auch stimmte. Vielleicht
logen die Journalisten ja?
Deshalb beschlossen sie, daß zumindest einer von
ihnen eine Auslandsreise machen sollte.
Natürlich drängelte Kulle sich vor: Er wies
auf seine Wandererfahrungen -vgl. „Die Lehre“
und seine wissenschaftlichen Verdienste – vgl. „Kulles
Doktorarbeit“
und „Kulles Habilitationsschrift“ – hin, aber
die Bären lehnten ihn höflich, wenn auch
deutlich ab. Sie wünschten sich jemanden, der
beobachtete und nicht gleich interpretierte. Ihre Wahl
fiel auf Bärdel.
Bärdel aber winkte ab.
„Vielen Dank für den Brombeerblätterkranz.
Aber so etwas ist viel zu teuer. Unser Geld brauchen
wir für andere Dinge.“
Bärdel verstand zunächst nicht, warum der
versammelte Stamm als Reaktion auf seine Ablehnung
freundlich grinste, aber eine alte Bärin löste
das Rätsel.
„Das Problem der Finanzierung ist gelöst.
Du hast nämlich gewonnen. Herzlichen Glückwunsch
zur Teilnahme an einer Marlboro-Erlebnisreise!“
Mit diesen Worten drückte sie Bärdel einen
Prospekt in die Hand.
„Ein junges Abenteurerteam – Raften – Mountanbiking
– Klettern – Trecking…“
Bärdel murmelte die wesentlichen Stichworte vor
sich hin, bevor er die Broschüre unmutig wegwarf.
„Ihr erwartet von mir doch nicht, daß ich
solchen Quatsch mitmache?“
„Natürlich nicht“, beruhigte ihn die
Bärin. „Aber der Gewinn dieser merkwürdigen
Erlebnisreise dürfte deine hauptsächlichen
Kosten decken, zum Beispiel den Flug nach Amerika und
zurück. Sobald du dort bist, kannst du dich auf
bärische Weise selbständig machen. Jedenfalls
dachten wir uns das so.“
„Und dann?“ fragte Bärdel.
„Dann nimmst du mit den amerikanischen Bären
Kontakt auf, und dann werden wir sehen, was wir lernen
können.“
Bärdel sah seiner Frau tief in die Augen.
„Tumu?“
„Geht schon in Ordnung“, sagte Tumu. „Die
Reise dauert ja nur drei Wochen.“
„Gut!“ nickte Bärdel. „Ich mach’s.“

Die zehn Tage, die ihm bis zum Antritt der Reise verblieben,
versuchte Bärdel zu nutzen: Er wollte sich über
die amerikanischen Bären informieren. Aber die
Literatur gab da wenig her; allerdings stolperte er
häufig über einen Namen: Smokey the bear.
THE bear? DER Bär?

Smokey

Das war offenbar eine bedeutende Persönlichkeit.
Er würde versuchen, diesen Bären zu treffen.

Das Marlboro-Abenteurerteam, in das Bärdel auf
diese Weise geriet, bestand aus zwanzig jungen Menschenleuten,
die ihrem Erlebnisdrang zunächst dadurch Ausdruck
verliehen, daß sie auf dem Flug nach Amerika
im Halbstundentakt Bierdosen leerten. Ein Flug von
Frankfurt nach Phoenix in Arizona dauert an die elf
Stunden. Die wachsende sogenannte Fröhlichkeit
der sogenannten Abenteurer zeigte sich darin, daß
Bärdel beständig jemand kräftig auf
die Schultern haute und ihm dabei erklärte, angesichts
seiner kräftigen Figur sei er bestimmt Freeclimber.
Schon nach drei Stunden hatte Bärdel die Nase voll,
aber es sollte noch schlimmer kommen.
Phoenix mitten im Juli entpuppte sich als feuchtheiße,
stinkende Monsteragglomeration. Bärdel hätte
sich am liebsten sein Fell ausgezogen, wenn er nur
gekonnt hätte. Was die äußeren Umstände
anging, wurde der Aufenthalt aber bald wenigstens ein
bißchen erträglicher: Marlboro hatte für
vermutlich teures Geld komfortable Hotelzimmer mit
Air condition vorgebucht. Leider aber gab es keine
Einzelzimmer. Bärdel mußte sich ein Doppelbett
mit einem jungen Mann teilen, der Bierdunst um sich
verbreitete, dauernd kicherte und ständig vor
sich hin lallte:“Mein Gott, hast du viele Haare!“
Das reichte. Bärdel machte sich selbständig.
Auf Futter konnte er eine Zeitlang verzichten, aber
etwas zu trinken würde er brauchen. Suchend schaute
er sich um. Wasser gab es am Waschbecken, aber wie
sollte er es transportieren? Zufällig fiel sein
Blick auf den Camelback seines Zimmergenossen – das
war genau das Richtige! Moralische Skrupel schob er
beiseite: Natürlich war das, was er vorhatte,
ein Eigentumsdelikt, aber jeder Bärenrichter hätte
geurteilt, daß es sich hierbei lediglich um Mundraub
handelte. Er füllte den Trinkrucksack und machte
sich davon.
Nach einem langen Marsch durch den schwülwarmen
Großstadtdschungel stand er in der Wüste.
Wüste mit allem, was dazugehört. Kein Wasser.
Dürre Büsche. Und Kakteen satt.
„Was soll ich bloß hier?“ fragte er
sich. „Ein Platz für Bären ist das nicht
gerade! Und ausgerechnet hier soll Smokey wohnen?“
Aber pflichtbewußt erinnerte Bärdel sich
an seinen Auftrag.
„Na gut, ich werde es wenigstens versuchen!“
Und er trottete los. Vorsichtshalber blieb er auf der
Straße, denn er hatte zu recht großen Respekt
vor Kakteenstacheln.
Schon nach 35 Minuten passierte das Aufregende: Er grüßte
ihn! Smokey the Bear! Zwar teilte er Bärdel nur
mit, daß er Waldbrände verhüten solle
und daß wegen der anhaltenden Dürre die
Feuergefahr heute extrem hoch sei, aber ihm war vollkommen
klar: Das war keine spezielle Botschaft an ihn, sondern
an die Masse der dummen Menschen: „Schmeißt
keine Kippen aus dem Auto!“ Eigentlich war die
Nachricht ja auch bescheuert: Waldbrände verhüten,
und das in der Wüste! Wo gab es hier denn Wald?
Hinter dieser vordergründigen Mitteilung aber
erkannte er den wahren Sinn: „Bär sucht Bär!“

Smokey

Bärdels Stimmung wandelte sich jäh, und in
ihm jubelte es: Amerika, Land der unbegrenzten Möglichkeiten!
Wie schön bist du! Sogar Kontaktanzeigen von Bär
zu Bär hast du in deinem Programm!
Augenscheinlich hatte er die Wüste völlig
falsch eingeschätzt. Hier gab es nicht nur Kakteen,
sondern auch Artgenossen, die zudem noch über
subtile Kommunikationsfähigkeiten verfügten.
Dieser Intelligenz mußte er sich gewachsen zeigen.
Aber wie?
Wie und wo sollte er Smokey treffen? Einfach stehenbleiben
und hoffen, daß er vorbeikam? Hier schien niemand
vorbeizukommen, jedenfalls nicht jetzt in der Nacht.
An der nächsten Tankstelle fragen: „Haben
Sie vielleicht Smokey gesehen?“ Das war vermutlich
zu gefährlich – in den USA gab es bestimmt auch
psychiatrische Kliniken für Bären, die sich
nach Bären erkundigten. Also mußte er auf
eigene Faust weitersuchen. warten und die Augen offenhalten.
Er wanderte den ganzen Tag lang und traf unterwegs nur
eine Klapperschlange und einen Skorpion. Beide wußten
nichts von Smokey. Sie schienen ihn überhaupt
nicht zu kennen. Abends landete er auf einem Rastplatz.

Die Amerikaner sind saubere Leute, und für die
Riesenmengen Müll, die sie produzieren, haben
sie überall Abfallkörbe aufgestellt. Normalerweise
jedenfalls. Hier allerdings hatten sie die Mülleimer
aufgehängt, und das auch noch schräg. Ein
schwerer Deckel verschloß jeden einzelnen. Bärdel
kombinierte und schloß messerscharf: Das war
eindeutig eine anti-bärische Maßnahme. Seine
Artgenossen sollten keine Chance haben, die süßen
Colareste aus den Dosen der Menschen zu schlürfen.
Die Chancen, Smokey oder zumindest irgendeinen Bären
hier zu treffen, standen gut.
Bärdel machte ich es sich nach Maßgabe der
Wüstenmöglichkeiten bequem und wartete auf
die Nacht.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit wurde der Rastplatz
lebendig. Krallen scharrten schrill auf dem Blech der
Müllcontainer, und Deckel rollten polternd herunter.
In Bärdel keimte Hoffnung. Als er sich das Ganze
von nahem besah, mußte er allerdings feststellen,
daß nicht Bären dafür verantwortlich
waren. Was er zu Gesicht bekam, war eine Horde von
Waschbären.
Natürlich hatte Bärdel noch nie Waschbären
zu Gesicht bekommen, aber er hatte einiges über
sie gelesen. Der Literatur zufolge sindWaschbären,
abgesehen von den meisten Menschen, die unangenehmsten
Zeitgenossen, die es gibt. Sie sind ja auch keine Bären.
Nie können sie ernst sein. Wenn man etwas von
ihnen will, wird man auf den Arm genommen. Und dauernd
denken sie nur ans Fressen.
Er hatte aber keine Wahl. Irgend jemand mußte
ihm helfen, und außer ihnen war niemand da.
Nach allen Regeln der Bärenhöflichkeit näherte
er sich dem lärmenden Haufen, stellte sich vor
und fragte, ob ihn jemand zu Smokey bringen könne
oder zumindest wisse, wo er zu finden sei.
Anscheinend hätte er nichts Dümmeres machen
können. Die Waschbären brachen in ein homerisches
Gelächter aus, kugelten kichernd durcheinander
und konnten sich schier nicht wieder fassen.
Bärdel nahm alle seine Geduld zusammen und wartete
– irgendwann mußte ihnen die Lachpuste doch ausgehen.
Nach einer halben Stunde hatten sie sich soweit organisiert,
daß sie im Kreis um ihn herumtanzten und einen
Rundtanz-Singsang anstimmten:
„Smokey ist überall…“
„…also auch hier…“
„…oder irgendwo…“
„…oder nirgendwo…“
„…oder nur im Kopf…“
„…von nem dummen Tropf.“

Sie wurden immer übermütiger und zogen ihren
Kreis immer enger. Der Singsang nahm an Tempo zu.
Bärdel wurde schwindlig, in ihm drehte sich alles,
und auf einmal stand Smokey vor ihm. Verblüffenderweise
war er noch nicht einmal überrascht, allerdings
ein wenig irritiert. Genauso wie auf dem Plakat trug
Smokey einen albernen Hut – der stand ihm gar nicht,
fand Bärdel. Warum setzte er ihn nicht ab, jetzt,
bei einem privaten Treffen?
Smokey grinste freundlich und macht eine einladende
Geste: „Jetzt zeige ich dir mein Reich!“
Bevor Bärdel fragen konnte, wie er das machen wollte,
merkte er, daß er flog. Erklären konnte
er sich das nicht. Beherrschte Smokey die Grundregeln
der Levitation? Träumte er nur? „…oder
irgendwo…oder nirgendwo…oder nur im Kopf…“
summte es in ihm. Egal. Den „dummen Tropf“
blendete er erstmal aus seinem Bewußtsein aus.
Er landete sanft. Noch leicht schwindlig von der Reise
schüttelte er sich, um nüchtern zu werden,
und sah eine Traumlandschaft.
Ein azurblauer See lag inmitten vielfarbiger Hügel.
Das Wasser war klar und durchsichtig, es lud zum Trinken
ein. Die Ausmaße des Gewässers waren von
dem Ort aus, an dem er stand, nicht erkennbar – es
gab zahlreiche Buchten und Wasserzungen. Wald und Buschbewuchs
zog sich die Hänge hinauf, das dunkle Grün
der Pflanzen sprenkelte und verdeckte die Rot- und
Brauntöne der Erde.
Der See selbst war belebt. Hausboote ankerten irgendwo
am Ufer oder tuckerten gemächlich über das
Wasser, und ab und zu zischte ein Motorboot vorbei.
Seine Heckwelle aus weißem, aufgewühltem
Wasser sah gut aus und blieb erhalten, als es schon
lange hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden
war.
„Whow!“ sagte Bärdel. Das schien ihm
amerikanisch angemessen, zumindest in den Grenzen seiner
englischen Sprachkenntnisse.
Smokey lächelte geschmeichelt. „Schön,
daß es dir gefällt“, sagte er. „Das
habe ich gemacht. Zusammen mit den Menschen.“

Während der Inhalt der Aussage allmählich
in Bärdels Hirn sickerte, ging ihm auf, daß
Smokey deutsch sprach.
Ein amerikanischer deutschsprechender Bär? Das
war fast so wahrscheinlich wie eine eierlegende Wollmilchsau.
Wieder erinnerte ich mich an den Vers:…“nur
im Kopf…“.
Was er allerdings augenblicklich im Kopf hatte, waren
hauptsächlich Fragezeichen. Er verdrängte
sie.
„Du hast das gemacht?“ Es gelang ihm, die
Frage im Ton höflichen Erstaunens zu formulieren.
„Wie hast du das geschafft?“
„Na ja.“ Smokey wand sich ein wenig. „Ganz
allein habe ich das nicht gemacht. Die Menschen wollten
es. Sie haben einen Damm gebaut, der den Fluß
aufgestaut hat. Das Ergebnis siehst du hier: diesen
wunderschönen See, der allen zur Erholung dient.
Aber ohne mich hätten sie es nicht geschafft.
Ich habe ihnen nämlich gesagt, wo die Canyonwände
so stabil sind, daß sie den Damm halten werden,
und ich habe sie darüber informiert, wer gegen
das Projekt sein wird.“
Allmählich wurde Bärdel wach im Kopf.
„Was war denn hier vorher? Und wer war gegen das
Projekt?“
„Na ja, vorher war hier eben ein Canyon. Eine Schlucht,
durch die der Fluß durchgerauscht ist. Im Frühjahr
mit viel Wasser, sonst eher mit wenig. Pflanzen und
Tiere haben hier gelebt, die damit fertigwurden, und
sonst niemand. Kurz gesagt: Hier war nutzlose Wüste.“
Bärdel fand es sehr sympathisch, daß hier
keine Wüste mehr war. Statt der trockenen Wüstenluft,
die aus allen Saunen der Welt zu stammen schien, strich
eine angenehm kühle Brise über das Wasser.
Aber Smokey hatte seine Frage nur zur Hälfte beantwortet.
„Und wer war gegen das Projekt?“
„Ein paar spinnerte Naturfreaks. Die wollten nicht,
daß hier die Zivilisation einzieht. Waren wohl
für die Verewigung der Steinzeit und gegen Städte
mit Klimaanlagen.“
Bärdel aus dem kühlen, nassen Dehland erinnerte
sich an seine Ankunft: Lärm und Gestank aus unzähligen
Auspuffrohren. Das Geratter von Klimaanlagen. Ein angenehm
gekühltes Hotelzimmer.
„So etwas wie Phoenix?“
Smokey haute ihm begeistert seine Pranke auf die Schulter.
„Volltreffer! Ohne diesen See gäbe es Phoenix
nicht! Er produziert die Elektrizität für
Hunderttausende von Menschen. Komm, ich zeig’s dir!“
Hinter der nächsten Bergflanke präsentierte
er Bärdel das Wunderwerk. Elegant schwang sich
ein Betondamm von Hang zu Hang. Auf einer Seite blaute
der See. Auf der anderen, viele Meter tiefer, wand
sich ein schmales Rinnsal durch eine steile Schlucht.
Bärdel mußte sich große Mühe geben,
seine nächste Frage ganz harmlos klingen zu lassen.
Sicher, der See war schön, auf den ersten Blick.
Aber was war er mehr als der Garant eines Krebsgeschwürs?
Daran sollte ein Bär mitgearbeitet haben? Und
auch noch stolz darauf sein?
„Dann gäb’s also ohne dich auch Phoenix nicht?
Weil du alles projektiert hast?“
Sie waren langsam auf dem Damm entlanggeschlendert und
jetzt am Ende angekommen. In der Sonne glitzerte ein
Schild: „Prevent bushfires!“ Smokey gab es
offenbar häufiger. Diesmal konnte es sich nicht
um eine geheime Botschaft für Bärdel handeln;
schließlich hatte er Smokey schon getroffen.
In ihm wuchs ein Verdacht.
Bärdel war ein durchaus normaler gemütlicher
Bär, aber wenn er wütend wure, wurde er richtig
cholerisch. Und jetzt war er wütend. Er baute
sich vor Smokey auf und brüllte:“Welche Rolle
spielst du hier eigentlich?“
Smokey wich zurück. Er stand vor seinem Portrait
auf dem Schild und ging rückwärts, die Fäuste
zur Verteidigung erhoben – Bärdel mußte
einen ziemlich bedrohlichen Eindruck machen.
„Tu mir nichts! Ich spiele überhaupt keine
Rolle. Jedenfalls keine aktive. Ich bin das Alibi.
Der Bär, das ist Natur. Ursprüngliche, unverfälschte
Natur. Dahinter verstecken die Menschen alles, was
sie machen. Ich sorge dafür, daß alles so
aussieht, als sei es in Ordnung.“
Während er sprach, wich er immer weiter zurück.
Bärdel folgte ihm in gleichbleibendem Abstand.
Plötzlich wurde Smokey durchsichtig, seine Konturen
verschwammen, er verschwand im Schild.
Zum ersten Mal in seinem Leben spuckte Bärdel einen
anderen Bären an. Er traf auch. Eine weiße,
blasenwerfende Flüssigkeit tropfte langsam vom
Blech. Vom Blech – nicht vom Bären.

Smokey

Die Anstrengung war sehr groß. Bärdel wurde
übel und schwindelig, er erbrach sich in den See,
und dann wurde er ohnmächtig.

Als er allmählich zu sich kam, hörte er nur
zwei dauernd wiederholte Worte: „Dummer Tropf,
dummer Tropf…“
Die Stimme kannte er gut; sie gehörte Tussi. Tussi, eine Froschgöttin, lebt am Gorillasee,
wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hat. (vgl. „Grimmis
Buch vom Gorillasee
„.)
„Na, wieder wach, Alter?“ begrüßte
sie ihn. „Wird auch höchste Zeit. Hab schließlich
noch was anderes zu tun – am Gorillasee und sonst überall
in der Welt und der Galaxis. War mir aber eine Freude,
dich zu retten. Hätte nicht gedacht, daß
du so blöd bist. Hättest mehr trinken müssen,
viel mehr trinken, und ein bißchen essen hätte
auch nicht geschadet.Typischer Fall von Dehydrierung.
Aber naja – bist eben kein Frosch. War ein Tussimobiltransport,
gerade rechtzeitig. Hier bist du in Bärenleben.
Laß dich gesundpflegen. Man sieht sich. Bis die
Tage!“
Und sie verschwand. Bärdel wurde gesund. Als er
sich genügend erholt hatte, machte er als erstes
einen Ausflug in die nahegelegene Kleinstadt und klaute
dort für Tussi eine Flasche ihres Lieblingsgetränks
– Champagner.
Danach erzählte er Tumu, was er erlebt hatte, und
ein paar Abende später berichtete er der gesamten
Sippe. Als sich die Unruhe nach seinem Report gelegt
hatte, sagte er:
„Ich weiß nicht, was ich auf dieser Reise
gelernt habe. Betrogen werden kann man jedenfalls überall.
Und eines weiß ich bestimmt: Eine Marlboro-Erlebnisreise
will ich nie wieder gewinnen!“

Die Lehre

 

Es war einmal ein Bär namens Kulle, der war sehr belesen. Er war nicht nur belesen, er war auch klug: Er verknüpfte die Elemente seines Wissens miteinander und zog aus allem die richtigen Schlußfolgerungen.

So etwas ist bei den Bären nicht verboten. Zwar schreiben und drucken sie selbst keine Bücher, das tun nur die Menschen. Aber manchmal, das wissen sie, faßt sogar ein Mensch ein paar vernünftige Gedanken. Warum sollten sie davon nicht profitieren? Sie schätzen es sehr, wenn ein lesender Bär an ihren abendlichen Gesprächsrunden teilnimmt, neue, ihnen bisher fremde Ideen einbringt und sie darüber nachdenken und diskutieren können.

Kulle aber war bei ihnen unbeliebt. Er beschränkte sich nämlich keineswegs auf die Rolle, die sie von ihm erwarteten. Auch tagsüber meinte er ihnen dauernd erzählen zu müssen, was er wieder Neues gelernt hatte. Das ärgerte sie, weil sie sich deshalb nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnten. Und abends gab er sich nicht damit zufrieden, einfach mitzureden, sondern wollte sie ständig belehren und behauptete, immer recht zu haben.

Lange erduldeten sie diesen Zustand, aber irgendwann fanden sie ihn unerträglich. Heimlich beratschlagten sie und teilten dem überraschten Kulle dann ihren Entschluß mit:

„Du solltest Lehrer werden!“

„Oh,“ sagte Kulle.

Es war klar, daß er damit nicht gerechnet haben konnte. Bei den Bären gab es nämlich keine Schulen – Schulen betrachteten sie als Entfremdung (übrigens eine Vokabel, die Kulle ihnen beigebracht hatte). Alles, was Jungbären lernen mußten, erfuhren sie im täglichen Leben mit der Sippe. Schulen gab es nur bei den Menschen.

Kulle fügte sich in sein Schicksal und machte sich auf die Wanderschaft. Er ging westwärts und stieg dabei bald über einen Gebirgszug, den die Menschen das Erzgebirge nannten. Auf der anderen Seite kam er in der Ebene in eine große Stadt. Sie hieß Chemnitz, behaupteten die Ortseingangsschilder, aber Kulle glaubte das nicht so recht: Diese Stadt entsprach den Bildern, die er von einem Ort namens Karl-Marx-Stadt aus Büchern kannte.

Schon in einem Vorort stieß er auf eine Anlage, die eine Schule sein mußte: flache Gebäude mit großen Fensterflächen in den Wänden, ein großer asphaltierter Hof, auf dem sich viele junge Menschen aufhielten. Hastig packte Kulle sein einziges Gepäck aus – ein langes, kariertes Stoffband. Geschickt legte er es sich um den Hals und knüpfte eine kunstvolle Schleife. Diese Krawatte mußte als Tarnung reichen – er hoffte, daß er jetzt wie ein Mensch aussah.

Mutig betrat er das größte Haus, fand schnell die Schulverwaltung und stand im Sekretariat.

„Guten Tag,“ sagte er, „ich bin Lehrer und suche eine Stelle.“

Mißtrauisch betrachtete ihn die Sekretärin.

„Russisch?“ fragte sie.

Kulle wußte nicht so recht, was sie meinte, da er aber sicher war, daß er kein russischer Bär war, antwortete er: „Nein.“

„Na, dann will ich’s mal wagen,“ sagte die Frau. „Ich melde Sie der Direktorin.“

Kulle durfte durch eine weitere Tür treten, wurde begrüßt und sollte sich setzen. Im letzten Moment reagierte er richtig: Er hockte sich nicht wie gewohnt auf den Boden, sondern brachte sich vorsichtig auf einem wacklig wirkenden Stuhl unter – ihm war schließlich klar, daß er nicht ganz leicht war.

„Sie suchen eine Stelle?“

„Ja, eine Stelle als Lehrer.“

„Welches Fach oder welche Fächer unterrichten Sie?“

Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Was konnte damit gemeint sein? In welcher Schublade er unterrichtete? Oder: Welche Schublade er unterrichtete? Das konnte es nicht sein. Er beschloß, „Fach“ mit „Gegenstand“ zu übersetzen. Welche Dummheit: Wußten die Menschen denn nicht, daß es keine „Gegenstände“ gab, sondern daß auf der Welt alles mit allem zusammenhing? Aber jetzt war keine Zeit für solche grundsätzlichen Überlegungen. Er wollte schließlich hier angestellt werden.

Was konnte er am besten? Was war sein „Fach“? Eigentlich war alles Naturwissenschaft oder Politik – aber auch das ließ sich nicht so richtig trennen. Er spielte Vabanque – etwas anderes blieb ihm auch gar nicht übrig.

„Politik,“ murmelte er.

„Politik?“ Die Direktorin schien ihm nicht zu glauben. Also hatte er bestimmt etwas falsch gemacht. Aber nun mußte er bei seiner Aussage bleiben.

„Ja, Politik,“ bestätigte er.

„Wundervoll!“ jubelte die Direktorin. „Wissen Sie, daß Sie der erste Politiklehrer in diesem Bezirk sind? Und das an meiner Schule! Sie können sofort anfangen – am besten gleich morgen!“

Kulle fiel ein Stein vom Herzen. Er wußte nicht warum, aber er hatte offenbar einen Volltreffer gelandet. Er bedankte sich und verabschiedete sich höflich, holte sich seinen „Stundenplan“ ab (Was das wohl wieder war?) und verschwand für eine Beerenmahlzeit in den Wäldern.

Die Direktorin war nicht minder erleichtert. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sie vor lauter Begeisterung nicht nach den Zeugnissen des neuen Kollegen gefragt hatte.

„Wir werden als einzige den Plan erfüllen,“ murmelte sie vor sich hin. Als ihr bewußt wurde, was sie gesagt hatte, korrigierte sie sich:

„Wir werden als einzige die Unterrichtsverpflichtung im Fach Politik abdecken!“

Seinem „Stundenplan“ hatte Kulle entnommen, daß er um 8.00 Uhr mit dem Unterricht anfangen sollte. Solche Zeitangaben scherten ihn wenig – Bären werden mit dem Aufgang der Sonne aktiv und ziehen sich spätestens bei Sonnenuntergang zum Plaudern zurück. Natürlich hatte er keine Uhr. Da es Sommer war, kam er zwei Stunden zu früh zur Schule. Um sich zu beschäftigen, las er obskure Dinge, die im Lehrerzimmer herumlagen – „Schulverwaltungsblatt“, „Terminplan“, „Mitteilungsbuch“ und dergleichen mehr. Er gewann den Eindruck, daß die Menschen perfekt darin waren, sich Korsetts anzulegen, ohne es zu bemerken.

Endlich war es soweit. Er fand seine „Klasse“ und sah sich zwanzig ungefähr achtzehnjährigen Menschen gegenüber. Er betrachtete sie, und sie schätzten ihn ab. An ihm konnten sie als hervorstechendes Merkmal nur seine Schleife registrieren, er aber sah viel mehr: Markenjeans, Markenschuhe, teure Jacken, die lässig über Stuhllehnen baumelten, T-Shirts, Sweatshirts und Pullover mit aufdringlich schreienden Markennamen. Hier lag ein Taschenrechner, dort wollte ein Walkmann wieder in Betrieb gesetzt werden.

Statt einer Begrüßung sagte er: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung'“.

Er erntete verblüfftes Schweigen.

„Stimmt!“ sagte schließlich eine kleine Dicke.

„Wieso?“ fragte ein langer Dünner.

„Na, ist doch klar!“ antwortete die Dicke. „Seit wir hier den Kapitalismus haben, gibt es jede Menge Waren. Und jeder, der viel von dem Zeug hat, das man kaufen kann, gilt als reich. Alles andere zählt nicht. Capito?“

„Aber das ist doch ungerecht!“ rief eine Dritte.

„Wieso?“ fragte ein Vierter.

„Ist doch klar!“ sagte die Dritte. „Mein Vater ist arbeitslos, meine Mutter schon lange, wovon sollen wir uns also all die Waren kaufen können, die uns reich machen?“

„Das verstehe ich,“ meinte der Vierte. „Warum können denn nicht alle reich sein?“

Ich wag’s,‘ sagte sich Kulle.Das scheinen ganz intelligente Menschen zu sein.‘

Und er zitierte aus dem Kopf:

„Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt, wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer also diese Reservearmeee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizille Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“

„Was soll das denn heißen?“ fragte der Dünne.

„Diesmal hab ich’s kapiert, glaube ich,“ sagte die Vierte. „Das Kapital will Profit, sonst nichts. Folglich steigert es die Arbeitsproduktivität, ersetzt also Menschen durch Maschinen. Die noch gebrauchten Menschen müssen immer mehr malochen, und alle anderen werden arbeitslos. Im Kapitalismus geht das gar nicht anders.“

Zum ersten (und auch zum letzten) Mal in seiner Lehrerrolle verhielt Kulle sich angemessen: Er gab der Vierten im Kopf eine „Eins“. Und nebenbei fragte er sich, warum der Autor, den er gerade zitiert hatte, sich nicht genau so einfach hatte ausdrücken können wie seine Schülerin.

„Und? Was können wir dagegen tun?“ wollte die Dicke wissen.

Kulle wartete und hoffte, daß jemand aus der Klasse die naheliegende Lösung fand. Aber es herrschte Schweigen.

Also mußte er ihnen helfen.

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein…“

Bei dem Wort „Revolution“ runzelten viele Schüler die Stirn. Verunsichert brach er ab. In der letzten Reihe meldete sich eine junge Frau.

„Ja?“ fragte Kulle.

„Sagen Sie mal, Herr…“

„Oh, Entschuldigung,“ sagte Kulle. „Kulle.“

„Sagen Sie mal, Herr Kulle, wen zitieren Sie da eigentlich dauernd?“

Kulle war verdattert. Diese Frage hatte er in dieser Stadt nicht erwartet. Tatsächlich schien es niemand zu wissen, alle Schüler schauten ihn neugierig an.

„Karl Marx natürlich,“ sagte er also schulterzuckend.

Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen. Dann brach ein Tumult los. Alle schrien durcheinander.

„Raus hier!“

„Wohl von der Stasi übriggeblieben, was?“

„Du liebst uns wohl alle?“

„Kommunistensau!“

„Hau ab!“

Kulle folgte der Aufforderung. Ihm war nicht ganz klar, was da schiefgelaufen war, aber hier war seines Bleibens nicht länger. Kopfschüttelnd lief er durch Karl-Chemnitz-Marx-Stadt und strandete an einem riesigen Marmorsockel. Als er den Kopf hob, sah er, daß der Kopf ihn ansah.

„Wieso sind die Menschen hier so blöd?“ fragte Kulle den Kopf.

Der Kopf antwortete nicht und starrte finster in visionäre Fernen.

Da machte Kulle sich auf die Wanderschaft. Er ging auf die Suche nach Menschen, die klug waren und verstanden, was in ihrer Welt vor sich ging.

Wir wollen hoffen, daß er noch lebt und inzwischen seßhaft werden konnte. Aber wahrscheinlich zieht er noch immer umher.

Menschenliebe


Außergewöhnliches Beispiel von Menschenliebe bei wilden Tieren
 

Erinnert ihr euch an Bärenleben? Richtig, das ist jenes kleine dehländische Dorf…

Einige Zeit nach dem Atomabenteuer hatten die Bewohner von Bärenleben wieder ein Problem. Diesmal litten sie nicht an Nahrungsüberfluß, sondern an Mangel. Wahrscheinlich denkt ihr jetzt, die Beeren wären jetzt kleiner gewachsen als normal, aber das ist falsch. Alle Früchte hatten die Größe, die sie haben sollten. Eigentlich gab es auch genug von ihnen. Nur: Sie wurden abgeerntet, bevor die Bären sich über sie hermachen konnten. Und nicht nur das: Auch das trockene Holz, unter dem im Herbst die Pilze so prächtig gediehen, verschwand wie von Geisterhand. Von den wenigen Pilzen, die trotzdem sprossen, ganz zu schweigen.

Bärdels Sohn – Tumu und er hatten ihn Manfred genannt – war inzwischen zu einem kräftigen Jungbären herangewachsen. So ein geheimnisvoller Vorgang – das war etwas für ihn! Gut im Unterholz verborgen, legte er sich auf die Lauer. Er brauchte nicht lange zu warten. Schon kurz nach Einbruch der Dämmerung näherten sich graue Schatten und begannen ihre Ernte. Sie sammelten alles, was der Wald zu bieten hatte, steckten die Beeren in mitgebrachte Beutel, luden das Holz auf kleine zweirädrige Wägelchen, ja, sogar Gras schnitten sie ab und stopften es in grobe Jutesäcke.

Eigentlich hatte Manfred vorgehabt, die Diebe gehörig zu erschrecken, so daß sie nicht den Mut haben würden, jemals wiederzukommen. Trotz des schlechten Lichtes erkannte er jetzt jedoch, daß die Störenfriede Menschen waren. Menschen – so dicht bei Bärenleben! Die durfte er nicht auf sich aufmerksam machen – er hätte damit alle verraten. Behutsam, ohnen einen Laut, schlich Manfred zurück.

Natürlich war es längst ordentliche Bären-Schlafenszeit, aber trotzdem weckte Manfred das gesamte Dorf. Er fand, die Angelegenheit sei dringlich genug. Und richtig: Nach dem ersten Gebrumm und Gemurr über die ungehörige Störung kam niemand auf den Gedanken, ihn zu schelten. Aufgeregt redeten alle durcheinander: “Menschen sollen auf einmal Beeren sammeln?“

„Und Holz?“

„Vielleicht wollen sie ein Haus bauen?“

„Ein Haus aus Abfallholz – das glaubst Du doch selbst nicht!“

„Kann es sein, daß sie die gesunde Ernährung entdeckt haben?“

„Für gesunde Kost gehen sie ins Reformhaus, nicht in den Wald!“

Sie kamen nicht recht voran. Bald breitete sich ratloses Schweigen aus.

Schließlich sagte eine Bärin: “Damals, als die Beeren zu groß waren und wir so viel Unglück hatten, sind die Männer Bücher holen gegangen und haben nachgelesen, woran alles lag.“

„Das ist eine hervorragende Idee,“ meinte Bärdel. „Aber vielleicht kann es diesmal weniger gefährlich werden. Ich glaube nicht, daß wir wie beim letzten Mal stehlen müssen. Wenn sich etwas bei den Menschen verändert hat, dann steht es bestimmt in den Zeitungen.“

„Ach, und die bekommst Du umsonst?“ wollte ihn sein Nachbar verspotten.

„In der Tat,“ brummte Bärdel gemütlich und grinste. „In jeder öffentlichen Menschenbibliothek. Darf ich gehen?“

Er durfte.

Bärenkenner wissen, daß Bären sich ohne Schwierigkeiten als Menschen tarnen können. Unerkannt wanderte er also in die nächste Kreisstadt und machte es sich im Lesesaal der Bibliothek bequem. Zeitungen gab es hier wirklich zur Genüge. „WILD“ schob er schnell wieder in den Ständer zurück: Daß der Kanzler am anderen Ende der Welt Milliardenaufträge für die heimische Industrie zu ergattern versuchte und daß die Gewerkschaften unverschämte Lohnforderungen stellten, hatte mit seinem Problem nichts zu tun. Oder doch? Jedenfalls versuchte er es erst einmal mit anderen Blättern und fand mehr:

Arbeitslosenzahl auf Rekordhöhe
Zahl der Sozialhilfeempfänger innerhalb von zehn Jahren vervierfacht

Minister kündigt Kürzung des Arbeitslosengeldes an

Wirtschaftswachstum geht am Arbeitsmarkt vorbei.
Das war es also! Bevor er wieder nach Hause marschierte, schlug er im Lexikon unter „Sozialhilfe“ und „Arbeitslosengeld“ nach. Vergnügt pfiff er auf dem Heimweg vor sich hin.

In Bärenleben wurde er gespannt erwartet.

„Was ist denn nun los?“ Alle bedrängten ihn.

„Kein Grund zur Panik!“ schmunzelte Bärdel. „Ich bringe gute Nachrichten. Die Menschen haben keine Arbeit mehr, und also auch kein Geld. Es ist Schluß mit dem Konsumterror und der Technik – das können sie sich nicht mehr leisten. Sie kehren zurück zur Natur – bald werden sie wieder leben wie wir, als Jäger und Sammler!“

Nach dem ersten überraschten Schweigen öffnete Manfred gerade den Mund, um einen Jubelschrei auszustoßen, da sagte Tumu ganz leise:

„Sammeln tun sie ja jetzt schon – unsere Beeren, unser Holz, unsere Pilze. Und wen werden sie morgen jagen? Uns!“

Während der absoluten Stille, die danach eintrat, wurde jedem Bewohner von Bärenleben klar, daß das Dorf wieder mal ein Problem hatte. Ein größeres, als bisher angenommen. Ein sehr großes.

An den geruhsamen täglichen Bärenrhythmus oder gar an Schlaf war nicht mehr zu denken. Alle Dorfbewohner beratschlagten in Permanenz.

Schon bald war ihnen klar, daß sie, um die Menschen von sich abzulenken, gerade das brauchten, was sie überhaupt nicht hatten: Geld. Pläne der Jungbären, Blüten zu drucken, wurden schnell verworfen: Solche Fälschungen flogen immer auf, und dann war Bärenleben erst recht preisgegeben. Aber was sonst tun? Sie diskutierten hin und her, kamen aber zu keinem Ergebnis.

Nach einigen Tagen, als alle schon vor Schlaflosigkeit rotgeränderte Augen hatten, sagte Bärdel mit Galgenhumor:

„Ich habe mal von Tieren gehört, denen es sehr schlecht ging. Ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn. Sie sagten sich: Laßt uns in die Welt ziehen; etwas Besseres als den Tod werden wir allemal finden. Sie fanden es tatsächlich – sie überwältigten eine Räuberbande und bedienten sich von deren Beute. Jetzt bitte ich euch: Laßt mich in die Welt ziehen! Ich will versuchen, etwas Besseres als den Tod für Bärenleben zu finden.“

Tumu weinte zwar bitterlich, aber natürlich ließen sie ihn gehen – sie wußten nicht, was sie sonst machen sollten.

Bärdel wanderte durch Dehland. Überall das gleiche Bild – Menschen ohne Arbeit. Untätig, mit der Bierdose in der Hand, oder auf Nahrungsmittelsuche. Einmal roch er an den Resten des Inhalts einer Konservendose, die ein Mensch gerade leergegessen und danach weggeworfen hatte. Ihm wurde übel. „Kittekat“ sagte das Etikett.

Er probierte verschiedene Türen aus. Beim Sozialamt kam er gar nicht dazu, das Elend der Menschen zu schildern – man warf ihn nach den ersten Sätzen hinaus. Pfarrer hörten ihm in der Regel geduldig zu, seufzten dann , wiesen auf Kollekten für caritative Zwecke hin und murmelten etwas von der schwierigen Finanzlage der Kirchen in der Gegenwart. Bürgermeister bekamen nach der Erwähnung des Wortes „Sozialhilfe“ hektische rote Flecken im Gesicht. Minister erläuterten ihm ausführlich das Budgetdefizit, und der Oppositionsführer sprach von der Notwendigkeit einer langfristigen Konsolidierung. Gewerkschafter hörten ihn geduldig an, wiesen dann auf den Mitgliederschwund hin und schoben ihm ein Beitrittsformular über den Tisch.

Erst zum Schluß traute er sich zum Arbeitgeberverband. Die Arbeitgeber waren an allem schuld, sagte ihm sein Gefühl. Warum also sollten gerade sie helfen?

Es war gar nicht so leicht, dort zu einem wichtigen Menschen zu gelangen. Da war der Pförtner, der ihn nicht hineinlassen wollte. Die Dame am Empfang in der imposanten Eingangshalle. Und schließlich die Sekretärin.

Alle hatten von ihm wissen wollen, „in welcher Angelegenheit“ er „vorstellig werde“. Er hatte etwas Undeutliches gemurmelt und dabei immer nur das Wort „Schutz“ deutlich ausgesprochen. Verblüffenderweise reichte das – er wurde überall durchgeschleust.

Endlich saß er einem Herrn gegenüber. Der Herr trug einen dezenten Anzug mit einer noch dezenteren Krawatte und einem ganz dezentem Hemd. Viel imposanter als der Herr war für Bärdel aber der Schreibtisch, der sich zwischen ihnen befand. Er war riesig groß und fast leer – fast. Auf ihm befanden sich lediglich eine lederne Schreibtischgarnitur, ein silbergerahmtes Foto und ein kleiner Plüschteddy. Der war Bärdel sofort sympathisch. Unwillkürlich nahm sein Äußeres ein wenig mehr von seiner Bärenidentität an.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte der dezente Herr.

„Ich bin vom Tierschutzverband,“ sagte Bärdel, ohne lange nachzudenken.

„Fast habe ich mir das gedacht!“ lächelte der Herr. „Verzeihen Sie, aber Sie sehen ja selbst beinahe aus wie ein Bär. Sicherlich geht es Ihnen um den Schutz bedrohter Tierarten? Wir von der chemischen Industrie sind jederzeit bereit, hierzu unseren Beitrag zu leisten.“

In Bärdels Kopf wirbelte es. Bedrohte Tierarten? Bären waren bedroht! Nur kein Hinweis auf Bärenleben! Chemische Industrie? Was machen die? Öl, Chlorchemie, Medikamente, Kosmetik…das war`s!

„Nein,“ sagte er und versuchte, ebenso dezent zu lächeln wie sein Gegenüber, „wir starten gerade eine Kampagne gegen den Mißbrauch von Labortieren. Sie wissen ja…“

„Natürlich weiß ich,“ sagte der dezente Herr und öffnete eine Schreibtischschublade. Ein Scheckbuch lag auf einmal in seiner Hand. „Wieviel?“

„Das liegt bei Ihnen,“ sagte Bärdel.

Der Herr verwechselte Bärdels Offenheit mit raffiniertem Verhandlungsgeschick.

„Gut.“ sagte er. „Ich mache Ihnen folgendes Angebot. Ich schreibe Ihnen einen Scheck über zehn Millionen DM. Der Verband der chemischen Industrie startet in allen überregionalen Tageszeitungen einen Anzeigenkampagne, die zu Spenden für bedrohte Tierarten aufruft. Sie stellen sich als Fotomodell für diese Kampagne zur Verfügung. Das kostet Sie nur einen Fototermin, den wir sofort arrangieren können. Sie verzichten im Gegenzug auf jegliche Angriffe gegen die chemische Industrie.“

„Gemacht!“ sagte Bärdel.

„Dann geben Sie mir Ihre Kontonummer, damit die eingehenden Gelder transferiert werden können.“

„Das mache ich morgen,“ stammelte Bärdel. „Ich rufe Sie an.“

Ungeduldig ertrug Bärdel es, daß zwei Fotografen um ihn herumwieselten und ihn aus allen nur denkbaren Perspektiven aufnahmen. Er mußte nämlich dringend nach Hause – also, eigentlich nicht nach Hause, aber in das Menschendorf, das am nächsten an Bärenleben lag. Dort gab es eine Bank. Dort mußte er ein Konto einrichten. Mindesteinlage: fünf Mark. In den nächsten Tagen würden Millionen auf dieses Konto fließen, aber ohne diese fünf Mark würde es kein Konto geben.

Im Vorzimmer erzählte er der Sekretärin etwas von Rosen, die er noch besorgen müßte, und einem Blumenladen, der keine Kreditkarten akzeptierte. Er bekam von ihr 50 DM und bat sie, diesen Betrag von seinem Guthaben abzuziehen. Morgen würde er eins haben.

So erschloß Bärdel eine Geldquelle. Nicht nur die versprochenen zehn Millionen DM der chemischen Industrie wurden auf das von ihm eingerichtete Konto eingezahlt, dazu kamen unzählige Spenden. Nicht immer wurden die Spenden einfach per Überweisung getätigt, oft erhielten die Bärenlebener Schecks, denen lange Briefe beigelegt waren. Daraus ließ sich ersehen, daß viele Menschen vor Mitleid mit den armen Labortieren überquollen und ihre letzten Pfennige opferten, um ihnen zu helfen.

Die Bären schüttelten ihre großen Köpfe. Sie verstanden das nicht. Mußte man nicht zuerst dem eigenen Volk helfen? Gab es nicht genug arme Menschen?

Aber letztlich konnte ihnen das egal sein. Sie halfen sich selbst. Den Armen, die Beeren lasen, Holz abfuhren und Pilze sammelten, gaben sie von ihrem Geldreichtum. So konnten die Menschen wieder einkaufen gehen. Und die Bären hatten wieder genug zu essen.

Sie plünderten ihr Spendenkonto bis auf die letzte Mark. Die aber blieb stehen. Für alle Fälle…

 

Die Sägebande

Die Sägebande
Kennt Ihr Dehland? Nein? Macht nichts. Ihr habt wenig verpaßt. Früher war Dehland einmal sehr schön, und ab und zu erinnern sich auch seine heutigen Bewohner daran. Sie werden dann wehmütig und singen ein Lied, das mit den Versen beginnt:
„Kein schöner Land in dieser Zeit,
als hier das unsre weit und breit…“

Ihr merkt, das ist ein schlechter Reim. Aber der Liedanfang verrät uns nicht nur etwas über die mangelnde Dichtkunst der Einwohner von Dehland, sondern auch etwas ber ihren Hochmut. Sie hielten sich und ihr Land schon immer für etwas Besseres, und das tun sie noch heute.

Natürlich leben in Dehland viele verschiedene Tiere, aber „die“ Bewohner sind Menschen. Sie glauben, ihr Land völlig unter Kontrolle zu haben. Ab und zu denkt der eine oder andere von ihnen zwar daran, daß es zum Beispiel viel mehr Ameisen als Menschen gibt – das fällt ihm vielleicht auf, wenn seine Zuckerdose in der Küche leergefressen ist, weil er vergessen hat, sie zuzumachen. Aber dann verwendet er Insektenspray und erinnert sich nicht weiter an diesen für ihn unappetitlichen Zwischenfall. An die sogenannten „Nutztiere“ verschwendet kaum ein Mensch jemals auch nur einen Gedanken. Er nimmt es als ganz selbstverständlich, daß er täglich Hähnchenschenkel, Schweineschnitzel oder Rindersteak essen kann. Dann gibt es noch die Haustiere, die absoluten Untertanen der Menschen: Apportiert der Hund nicht immer wieder den Zweig, den Herrchen oder Frauchen weggeworfen haben? Streicht die Katze nicht liebesuchend um die Füße der Menschen, die ihr Obdach gewähren? Schnurrt sie nicht dankbar, wenn ihr die Kehle gekrault wird? Weil sie so gehorsam sind, geben die Menschen in Dehland ihren Haustieren stets das leckerste Futter, und weil das so teuer ist, haben sie, wenn sie vom Einkaufen kommen, für den Bettler an der Ecke auch nicht einen Groschen mehr übrig.

An wildlebende Tiere, mit denen sie nicht in Berührung kommen, denken die Menschen überhaupt nicht. Sie glauben nämlich, es gäbe sie nicht. Das ist fast richtig – es gibt kaum noch welche.

Ganz Dehland ist von den Menschen besetzt. Ganz Dehland? Nein – in einem kleinen dehländischen Dorf…

In einem kleinen dehländischen Dorf namens Bärenleben wohnten sie seit Jahrhunderten, die Braunbären. Sie wußten, daß es die Menschen gab, aber die Menschen wußten nichts von ihnen. Das war auch gut so. Wäre es anders gewesen, hätten die Menschen bestimmt längst mit ihren tödlichen Waffen Jagd auf sie gemacht. Die Bären ihrerseits ließen die Menschen in Ruhe, solange sie genug zu fressen hatten – und das war eigentlich immer der Fall.

In diesem Sommer gab es überhaupt keinen Grund, sich mit den Menschen anzulegen. Es war ein wahres Wunder: Alle Beeren waren doppelt oder sogar dreimal so groß wie in den Jahren davor, und sie schmeckten süß und saftig. Die Sträucher schossen empor, daß es die reine Pracht war, und versprachen für das nächste Jahr eine noch bessere Ernte.

Die Dorfsippe schlemmte und mästete sich, so daß die Muskeln anschwollen und die Bäuche sich rundeten. Dabei hielt sich auch Bärdel, ein kräftiger Jungmann, nicht zurück. Er pflückte Handvoll um Handvoll, aber jede dritte Ernte reichte er weiter an Tumu, seine derzeitige Gespielin. Die war nämlich schwanger und kam mit ihrem eindrucksvoll dicken Bauch nicht mehr so gut in die Beerenhecken rein. So sorgte er dafür, daß sie kräftig wurde und hoffentlich ein gesundes Kind zur Welt bringen konnte.

Bären sind diskrete Leute, und deshalb sprach im Dorf niemand über Tumus Schwangerschaft. Dennoch wußte jeder: Da stimmte etwas nicht! Wann war jemals eine Bärin schwanger geworden, um ihre Jungen im Herbst zur Welt zu bringen? Kurz vor dem Winterschlaf, so daß sie keine Zeit mehr hatten, sich den notwendigen Speck für die lange Ruhephase anzufressen? Wer sollte für die Babys sorgen und sie säugen, wenn sie alle schliefen, weil sie schlafen mußten? Nein, das sah nicht gut aus…

Die Sorgen der Sippe waren nur allzu begründet. Tumu kam im November nieder. Ihre Zwillingskinder – ein Junge und ein Mädchen – waren mißgebildet. Eines hatte kein Gehirn, dem anderen fehlten Arme und Beine. Beide starben sofort nach der Geburt.

Tumu war unendlich traurig und weinte, bis ihr die Tränen ausgingen. Bärdel versuchte sie zu trösten, wenn er bei ihr war, und weinte nur heimlich, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Gut, daß es November war – der Schlaf nahm sie endlich in die Arme und half ihnen vergessen.—

Der Winter verging. Im März wurde der Schlaf der Bären flacher, sie begannen wieder, die Außenwelt wahrzunehmen. Immer öfter stieß Tumu Bärdel an, der neben ihr lag:

„Dreh Dich doch mal auf die Seite! Du schnarchst ja, als ob Du einen Wald zersägt hast! Hast wohl geträumt, Du wärst Holzfäller, was?“

Bärdel fühlte sich zwar im Schlaf gestört, aber zu seiner Freude bemerkte er auch, daß Tumu wieder in der Lage war, so etwas wie einen Scherz zu machen. Irgendwann, als er durch die dauernden Ermahnungen munter genug geworden war, begann er zu kuscheln, und sie liebten sich. Danach stand Tumu ganz selbstverständlich auf und fing an, nach frischen Märzbecherwurzeln zu graben. Die neue Saison begann.

Obwohl Bärenfrauen mindestens genauso klug sind wie Bärenmänner, sind sie nicht „emanzipiert“. Sie haben kein Interesse an endlosen Diskussionen, sie lieben das Leben und sorgen dafür, daß es weitergeht – das heißt, sie spielen mit ihren Kindern, bis die groß genug sind, um sich alleine zurechtzufinden, und setzen neue in die Welt. Im normalen Bärenleben ist das eine durchaus vernünftige Einstellung, aber auch in komplizierten Situationen?

Bärdel fand, daß sie sich jetzt in einer komplizierten Situation befanden. Man mußte nachdenken, und das ging allein weniger gut als in der Gemeinschaft. Warum waren die Beeren im letzten Sommer so unnatürlich groß gewesen? Würden sie es wieder werden? Warum hatte Tumu eine so außergewöhnliche Schwangerschaft gehabt? Hing das zusammen? Konnte sich das wiederholen?

Er traf sich also mit seinen Freunden, um über diese Probleme nachzudenken. Sie saßen im Kreis. Sie kauten auf den letzten zähen Schneebeeren herum, die der Winter übriggelassen hatte. Dabei dachten sie intensiv nach.

„Die Beeren waren viel zu groß.“

„Tumus Schwangerschaft war unnatürlich.“

Nur diese beiden Sätze fielen. Dann herrschte Stille. Wäre jetzt ein Mensch vorbeigekommen, so hätte er gewiß gedacht, daß sie schliefen, denn sie hatten die Augen geschlossen. Menschen halten das Schweigen nicht aus, es sei denn, sie schlafen. Sie nutzen jede Pause, um sie mit akustischem Müll zu füllen.Wenn es still ist, beginnen sie, hektisch auf ihren Stühlen hin und her zu rutschen oder mit den Augen den Himmel zu suchen, den sie schon längst nicht mehr sehen können, weil sie überall Betondecken eingezogen haben.

Bären dagegen lieben die Stille und nutzen sie. Für sie ist es selbstverständlich, einen Gedanken erst zu äußern, nachdem sie sich alle möglichen Konsequenzen überlegt haben, die daraus resultieren könnten. Das klappt meistens, aber nicht immer.

Schließlich begannen sie zu sprechen:

„Das hat es noch nie gegeben.“

„Wir waren nicht die Ursache, denn wir haben gelebt wie immer.“

„Also war es Gaia.“

„Oder die Menschen.“

Sie näherten sich dem Problem anaytisch. Gab es gehäufte Erdbeben? Klimaveränderungen? Schwankungen des Sonnenwinds?
Nicht, soweit sie es beurteilen konnten.

Was also dann?

„Seit sechs Jahren gibt es westlich von uns so ein großes Bauwerk in Eiform..“

„Fast direkt unter unserem Dorf liegt eine Kaverne, die wird seit Jahren heftig ausgebaut..“

„Sie bauen da auch eine riesige Lagerhalle…“

„Die Eisenbahngeleise sind verstärkt worden, als erwarteten sie Transporte mit großen Lasten…“

Wieder versanken sie in Schweigen. Sie mußten es nicht aussprechen: Natürlich waren die Menschen an den Veränderungen schuld. Aber wieso? Wie sollten sie das herausfinden?

Menschen hätten diese Frage in den Vordergrund gestellt, aber die Bären dachten pragmatisch. Den Grund für das Handeln der Menschen konnte man immer noch herauskriegen. Zuerst aber mußten sie gestoppt werden.

„Die Menschen“, sagte Bärdel nach einer weiteren langen Denkpause, „sind hoch entwickelt. Sie nennen das Technik. Sie können sich über weite Entfernungen miteinander verständigen. Und sie haben Hilfsmittel, um schwere Dinge zu bewegen. Da sollten wir ansetzen.“

„Gut, aber wie?“ fragte die Runde.

„Laßt mich nur machen“, antwortete Bärdel geheimnisvoll. „Ich schlafe heute nacht im Wald, das wird schon helfen.“

Er erinnerte sich an die Nächte im Vorfrühling. “ Du schnarchst ja, als ob Du einen Wald zersägt hast“, hatte Tumu ihm vorgeworfen. Er würde es den Menschen schon beweisen, daß er sägen konnte!

Abends ging er allein in den Wald. Er suchte sich zum Schlafen eine Stelle aus, an der es nur wenige Bäume gab. Stattdessen überragten ihn fünf Telegraphenmasten, zwei Hochspannungsmasten und drei Oberleitungsmasten einer Eisenbahnlinie. Er legte sich auf den Rücken und nahm sich ganz fest vor, auch so liegenzubleiben. Dann zählte er schrecklich viele Bäume, um besser einschlafen zu können. Dabei stellte er sich vor, er sei ein berühmter Holzfäller, und bald schon schnarchte er gleichmäßig und durchdringend.

Die Sonne ging gerade auf, als er erwachtete. Er blinzelte in den Himmel und sah zehn Silhouetten, die sich schwarz vor blau abzeichneten. Es hatte nicht geklappt. Woran konnte das liegen? Natürlich – allein war er zu schwach! Die Telegraphenmasten waren mächtig dick, und die anderen Träger waren nicht aus weichem Holz, sondern aus viel härterem Stahl! Er untersuchte alle sorgfältig und mußte enttäuscht feststellen, daß keiner auch nur den kleinsten Kratzer zeigte. Wer konnte da helfen? Nachdenklich ging er nach Hause und grübelte dort den ganzen Tag.

Bis zum Abend hatte er die Lösung gefunden. Gemeinsam würden sie stark sein. Er führte seine Freunde zu seiner einsamen Schlafstelle, ohne ihnen genau zu verraten, was er vorhatte. Er machte nur vage Andeutungen wie: „Alleine schaff ich´s nicht…“

Dann gab er ihnen genaue Instruktionen:

„Also, ihr legt euch alle hier hin, und zwar auf den Rücken. In jedes Nasenloch stopft ihr euch eine Schlehenbeere, so daß ihr durch den Mund atmen müßt. Und dann schlaft ihr. Ich bleibe wach und passe auf, daß auch alles klappt.“

In Wahrheit hatte Bärdel keine Zweifel daran, daß sein Plan funktionieren würde, aber er wollte unbedingt zusehen, wie all die stolzen, von Menschen gefertigten Masten in sich zusammenbrachen, zerstört vom Chorgeschnarche seiner Freunde. Die atmeten so laut, daß er sich selbst schließlich Schlehenbeeren in die Ohren stopfte, weil er das Getöse nicht mehr ertragen konnte. Immer wieder sah er hoffnungsvoll zu den Masten hinüber. Doch die rührten sich nicht.

Oder doch? Endlich begannen sie sich zu winden, sie rissen sich aus ihren Verankerungen, vollführten wilde Tanzsprünge, schwangen sich in die Luft und zerbröselten dort in Millionen von kleinsten Teilchen. Bärdel stimmte ein wildes Freudengeheul an – und erwachte. Seine Freunde umringten ihn und betatzten ihn beruhigend: „Alles in Ordnung, Du hast nur schlecht geträumt!“

Nichts war in Ordnung. Höhnisch blickten Telegraphen-, Hochspannungs- und Oberleitungsmasten auf ihn herunter. Ihm war zum Heulen zumute.

„Was hast Du denn eigentlich vorgehabt?“

Und er erzählte. Keiner konnte sich so recht erklären, warum sein Plan nicht geklappt hatte. Es klang alles ganz einleuchtend.

Schließlich sagte der Jüngste in der Runde: „Wiederhol doch noch mal genau, was Tumu damals gesagt hat!“

„Du schnarchst ja, als ob du einen Wald zersägt hast! Hast wohl geträumt, Du wärst Holzfäller, was?“

„Das ist es,“ jubelte der Kleine. „Als ob! Aber wir haben es nicht wirklich getan! Zum Sägen braucht man Sägen, nicht nur Schnarchen!“ und leise fügte er hinzu, was er in der Bärenschule gelernt hatte: „Das war nur ne Metapher von Tumu.“

Den letzten Satz hörten die anderen vor Aufregung schon nicht mehr. Sie brauchten Sägen! Sie würden Sägen haben! Sie würden ihre Sägen nehmen und alles Schlechte in Stücke schneiden, das die Menschen in die Welt gebracht hatten. Vor lauter Seligkeit begannen sie spontan zu singen:

„Kommt, laßt uns alle sägen,

das gibt nen großen Segen.“

Jetzt ist es also doch rausgekommen: Bären reimen manchmal genauso schlecht wie Menschen.

Nach dem Ende des Liedes brummten alle ganz unbärisch undiszipliniert durcheinander.

„Woher kriegen wir Sägen?“

„Wir bauen welche.“

„Im nächsten Ort ist ein Baumarkt, der hat alles, was wir brauchen.“

„Schön, und wir bezahlen mit Bärendreck, oder wie?“

„Den überfallen wir!“

„Wir drohen ihnen!“

„Wir bieten ihnen Honig zum Tausch.“

Nur mühsam beruhigten sie sich und begannen, ernsthaft Pläne zu schmieden. Natürlich brauchten sie Sägen und anderes Werkzeug, und selbstverständlich würden sie alles stehlen müssen. Die Menschen akzeptierten nur Geld, und das hatten sie nicht; alles, was sie besaßen, waren nahrhafte Dinge. Zuerst aber würden sie etwas anderes stehlen: Bücher. Das war Bärdels Idee:

„Wir wissen zu wenig über das, was die Menschen Technik nennen. Bestimmt ist etwas Gefährliches dabei. Denkt an Tumus Fehlgeburt!“

Schon an übernächsten Tag stand es groß in “

WILD. DIE ZEITUNG FÜR DEHLAND“:
TECHNISCHE UNIVERSITÄTSBILBIOTHEK AUSGERAUBT!
NEUE STUDENTENREVOLUTION WEGEN SCHLECHTER STUDIENBEDINGUNGEN?
Die Bären hätten sich schlappgelacht, wenn sie das gelesen hatten. Aber sie lasen ganz etwas anderes, sie quälten sich durch Stöße von Fachliteratur und wollten oft beinahe verzweifeln.

„Was für eine Formel ist das denn schon wieder?“

„Wer kann mit erklären, was der Unterschied zwischen Uran 235 und Uran 238 ist?“

Fragen über Fragen.

Allmählich aber nahmen die Fragen ab; stattdessen fanden sie Antworten.

„Das Ei müssen wir in Ruhe lassen, das strahlt. Am besten wäre es, es zu begraben.“

„In der Höhle unter uns liegen schon Abfälle aus dem Ei, die sind auch hochgefährlich.“

„Radioaktive Strahlung verursacht genetische Schäden.“

Nur mit Mühe konnte Bärdel seine Fassung bewahren. Tumu! Seine und ihre Kinder! Und die Menschen nannten das ganz kalt „genetische Schäden“. Ob die kein Herz hatten? Auf diese Frage fand er keine Antwort.

Sie wußten jetzt, wo sie ansetzen mußten, ohne sich selbst zu gefährden: bei den Transportwegen. Als hätten sie nie etwas anderes getan, räumten sie in einer mondlosen Nacht den Baumarkt in ihrer Nachbarschaft aus. Obwohl sie sehr wählerisch waren, keuchten sie schwer bepackt unter der Last von Drahtscheren, Bolzenschneidern, Wurfankern, Kettensägen und vielem mehr nach Hause. Und wieder hatten sie keine Chance, ihre Publicity zu genießen und über „WILD“ zu lachen:

IST DER YETI UNTER UNS?
 

RÄTSELHAFTE SPUREN BEI EINBRUCH IN BAUMARKT!

Sie schliefen nämlich vor, um bei ihren kommenden Aktionen frisch und fit zu sein.

„WILD“ hatte in den kommenden Wochen viel zu berichten.
ABGESÄGTER HOCHSPANNUNGSMAST LEGT ZUGVERKEHR LAHM!

BRÜCKENPFEILER ANGESÄGT – FERNSTRECKE AUF MONATE BLOCKIERT!

SÄGESPUREN AM ATOMKRAFTWERK!

HAT DER YETI EINE SÄGE?

IST ULRIKE MEINHOF EIN SÄGEZOMBIE?

NEUER ANSCHLAG DER SÄGEBANDE – WANN KÖNNEN WIR WIEDER RUHIG SCHLAFEN?

Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, verschwanden die Schlagzeilen. Hatten Bärdel und seine Freunde aufgegeben? War Winterschlafzeit? Natürlich nicht – Bären geben nicht auf, wenn sie sich einmal etwas vorgenommen haben, und es war Juni.

Vom ersten Anschlag an hatte die Polizei der Menschen fieberhaft nach den Attentätern gesucht – fieberhaft, aber zunächst vergeblich. Sie wußten eben nichts von Bärenleben, und sie fanden es auch jetzt nicht. Allmählich aber gingen ihnen Täter in ihr Fahndungsnetz, und es wurden von Tag zu Tag mehr. Die Polizisten verhafteten Menschen, und nach der Verhaftung verhörten sie sie. Alle diese Verhöre verliefen ähnlich.

„Zu welcher Gruppe gehören Sie? Wer ist Ihr Auftraggeber?“

„Ich gehöre zu keiner Gruppe. Ich habe keinen Auftraggeber.“

„Also gut: Warum verüben Sie Sabotage?“

„Ich zerstöre nur, was mich zerstört. Haben Sie im letzten Sommer nicht auch gemerkt, daß Obst und Gemüse viel zu groß gewachsen ist? Mir ist ganz schlecht davon geworden, und ich habe Ausschlag gekriegt. Meine Nichte ist an Leukämie gestorben. Meine Nachbarin hatte eine Frühgeburt.“

Keiner leugnete. Alle bekannten sich stolz zu ihren Aktionen und bedauerten nur, nicht früher damit angefangen zu haben – erst die Aktivitäten der Sägebande hatten sie ermuntert, selbst aktiv zu werden.

Zuerst verboten die Mächtigen den Zeitungen, über Anschläge zu berichten. Sie dachten: Das, was nicht in „WILD“ steht, geschieht auch nicht. Aber so dumm wie sie waren die einfachen Menschen nicht: Sie wollten leben, und also machten sie weiter. Bald stand in Dehland kein Mast mehr, es fuhr kein einziger Zug. Selbst die Autobahnen waren zersägt – kein Schwertransport konnte hier noch durchkommen. Da merkten die Mächtigen allmählich, daß sie nicht so mächtig waren, wie sie gern sein wollten. Endlich mußten sie sich entschließen zu handeln – sie wollten ja schließlich wiedergewählt werden.

ATOMKRAFT IST POLITISCH NICHT DURCHSETZBAR,
so stand es eines Tages in „WILD“. Und was heißt das? Ganz einfach: Die Kaverne unterhalb von Bärenleben wurde mit Kaliabfall verfüllt. Das Atomkraftwerk wurde mit einer tausend Meter dicken Erdschicht bedeckt, so daß ein riesiger Berg entstand, auf dem man im Winter auch in der dehländischen Tiefebene skifahren konnte.Am Südhang wurde ein Solarkraftwerk gebaut. Allmählich wurden Beeren, anderes Obst und Gemüse wieder kleiner, und die Krankheiten verschwanden.

Vier Jahre nach den Sägebanden-Abenteuer brachte Tumu ein gesundes Bärenkinderpaar zur Welt. Bärdel freute sich so bärisch, daß er fast schon wieder Telegraphenmasten zersägt hätte – aber das war jetzt ja nicht mehr nötig. Und die gesamte Bärensippe lachte sich in die Tatzen und feierte mit beim rauschenden Geburtsfest. Aber Menschen hatten sie dazu nicht eingeladen, dazu waren sie zu vorsichtig – man weiß nie, was denen so alles einfallen kann. Besser, wenn sie nicht wissen, wo Bärenleben liegt…


Wenn euch dieses Märchen gefallen hat, empfehle ich eines, das direkt an diese Geschichte anschließt. Es handelt sich um die Geschichte von dem

Außergewöhnlichen Beispiel von Menschenliebe bei wilden Tieren.

 

Die Konferenz


 

Die Konferenz
Es war einmal ein ganz normaler Tag auf der Erde. Überall überprüften hunderttausende Sekretärinnen und Sekretäre in zehntausenden von Büros am Morgen ihren Terminkalender. So auch Oso Ursa. Sie war Chefsekretärin bei der Berliner Vertretung der UAO und Streß gewohnt. Deshalb ließ sie sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als ihre Notizen sie daran erinnerten, daß in zwei Tagen der internationale Kongreß der UBO beginnen würde. Im Global Village waren solche Treffen Routine, aber dennoch gab es noch einiges zu organisieren.

Die Hauptarbeit war zum Glück schon getan. Zimmer in den ersten Hotels am Platze waren reserviert, Teilnehmer, die sich betrügerisch hatten einschmuggeln wollen, hatten höflich formulierte Absagen erhalten. Am Abschlußkommunique der Konferenz arbeitete eine Expertenkommission seit fünf Wochen. Was blieb, war die Sorge für die Bequemlichkeit und das leibliche Wohl der Delegierten.

„Ursa von der UAO Berlin, Guten Morgen. Ich brauche übermorgen zehn Ersatzbrillen in verschiedenen optischen Stärken, zwei mindestens sieben Meter hohe Bäume im Konferenzsaal, zwanzig Kilo gemischte Lebendinsekten, so viel lebende Robben, wie Sie in der kurzen Zeit auftreiben können, etliche Fäßchen Honig und eine Tonne Laub und Gras. Ach ja, und Bambus – die Konferenz soll drei Tage dauern, also dürften einhundertzwanzig Kilo genügen. Die Rechnung schicken Sie bitte wie üblich an die UAO-Verwaltung.“

„Danke für den Auftrag, Frau Ursa. Wird alles wie gewohnt prompt erledigt!“

Befriedigt legte der Juniorchef der Firma IWIUB (Ihr Wunsch ist uns Befehl) den Hörer auf und rieb sich die Hände. Es war eine richtige Entscheidung gewesen, ein Serviceunternehmen für die Erfüllung ausgefallener Wünsche zu gründen, als die UAO beschloß, Berlin zu ihren Hauptsitz in Europa zu machen. Diesmal schien eine merkwürdige Versammlung bevorzustehen – Robben vielleicht? Ob die Insekten fraßen? Aber das konnte ihm letztlich egal sein, er wollte nur genug Geld verdienen, um möglichst bald seine erste Filiale in Bern zu eröffnen. Jetzt aber an die Arbeit! Er wählte sich ins Netz ein und begann zu faxen.

„Meine Damen und Herren, liebe Freunde! Ich begrüße Euch zur dritten ordentlichen Konferenz der UBO und hoffe, daß wir erfolgreiche Arbeit leisten werden!“

Allmählich erstarb das Summen und Brummen der informellen Gespräche im Saal. So konnte die Präsidentin ungehindert weitersprechen.

„Wir alle wissen, welch hohes Ziel wir uns gesteckt haben: Die Zukunft soll von internationaler Zusammenarbeit und nicht von nationalen, ethischen oder weltanschaulichen Gegensätzen geprägt sein. Jedem von uns ist aber leider auch bewußt, daß unsere ersten beiden Zusammentreffen uns noch nicht zum erwünschten Ziel gebracht haben. Deshalb haben wir, wie Ihr Euch sicher erinnern werdet, zur Vorbereitung dieser Konferenz regionale Konsultationen vereinbart, um noch bestehende unterschiedliche Sichtweisen abzubauen. In diese Konsultationen sollten auch VertreterInnen der UIO und der UMmO einbezogen werden, da die Interessen von einigen von uns die ihren unmittelbar tangieren. Ich hoffe, daß diese Verständigungsversuche Erfolg gehabt haben, und bitte um Berichte.“

Als einziger meldete sich daraufhin ein Delegierter aus Nordkanada. Die Präsientin versuchte ihn zunächst zu ignorieren, aber da sonst niemand das Wort ergreifen wollte, mußte sie ihn schließlich doch offiziell wahrnehmen.

„Bitte, sprich!“

„Wir haben mit den Vertretern gesprochen, die uns die UMmO geschickt hat“, röhrte er.

Ein leises Raunen ging durch den Saal. Der riesige Delegierte benahm sich äußerst unhöflich: Er hatte die Versammlungsteilnehmer nicht angemessen angesprochen, er gestikulierte so ausgreifend, daß seine Nachbarn rechts und links erschrocken auszuweichen suchten, aber trotzdem noch kräftige Backpfeifen einstecken mußten, und er hatte ersichtlich kein Mundspray benutzt – sein schlechter Atem voller Verwesungsgestank erfüllte den gesamten Saal.

„Die UMmO war nicht verhandlungsbereit,“ fuhr er ungerührt fort. „Wir haben ihnen eine Lösung auf Kontingentbasis angeboten und vorgeschlagen, einen Teil unserer Bedürfnisse mit Pisces zu befriedigen – unser Angebot war 50%, also sehr großzügig, aber sie haben abgelehnt.“

Hinter seiner Glaswand auf der Pressetribüne machte sich der Korrespondent der UFO mit grimmiger Miene Notizen.

„Da sie sich uneinsichtig gezeigt haben und wir ziemlichen Hunger hatten, haben wir sie ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt.“

Krachend ließ der Abgeordnete sich auf seinen Sitz zurückplumpsen.

Der Präsidentin blieb keine andere Wahl – liebend gern hätte sie jetzt die Diskussion eröffnet, aber der erste Tagesordnungspunkt lautete nun einmal „Berichte“.

„Wird weiterhin das Wort gewünscht?“

Der Abgeordnete aus Sri Lanka hob die Hand. Als einziger. Oh Gott, dachte sie.

„Bitte, sprich!“ sagte sie.

Eine zierliche Gestalt erhob sich. Der Asiate hatte bestenfalls ein Viertel der Körpermasse des Kanadiers, aber er trat nicht weniger energisch auf.

„Ich kann den Worten des Kollegen – bei aller notwendigen Abstraktion – nur zustimmen. Wir haben VertreterInnen der UIO sowohl nach Colombo als auch nach Kalkutta eingeladen und ihnen klarzumachen versucht, daß wir gezwungenermaßen auf ihre Dienstleistungen angewiesen sind. Auch sie waren uneinsichtig, vor allem die Abgesandten der staatenbildenden Spezies.“

Der Ceylonese bemerkte nicht, daß der Korrespondent der UIO es auf der Pressetribüne nicht mehr ausgehalten hatte und jetzt direkt über seinem Kopf kreiste. Deshalb sprach er ruhig weiter: „So haben auch wir sie ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt.“

Äußerlich ruhig setzte er sich, lächelte und ließ sich nicht anmerken, daß ihn eine Biene ins Innenohr gestochen hatte.

Zwei Arme stachen in die Luft. Immerhin, dachte sie, jetzt kommen die Egoisten, nicht mehr die Imperialisten. Welch Fortschritt! Sie erteilte das Wort, obwohl nicht ganz korrekt, zuerst der Vertreterin Chinas. Schüchtern lächelte diese und begann zu lispeln.

„Liebe Freunde, wir konnten leider keine bilateralen oder multilateralen Verhandlungen führen, weil unsre Nahrungsgrundlage zu schmal ist. Ihr alle kennt das Bambusproblem…“

Während sie sprach, war die Delegierte immer leiser geworden und das Murmeln im Saal immer lauter. Natürlich kannten alle das Bambusproblem – sie versuchte jetzt zum dritten Mal, es darzulegen. Niemand wollte es mehr hören. Und währen sie verschüchtert in ihren Sessel zurücksank und weiter vor sich hin murmelte, erhielt der Chef der chilenischen Delegation das Wort. Er war kleiner als die Chinesin, aber deutlich energischer.

„Delegierte!“ sagte er. „Wir haben, wie Ihr alle wißt, keine Probleme mit der UIO oder der UMmO, auch nicht mit der UFO, die nach den Worten des kanadischen Kollegen durchaus ihre Interessen tangiert sehen könnte, aber wir haben optische Schwierigkeiten. Wir sind nun mal kurzsichtig und brauchen Sehhilfen, sonst sehen wir unsere Nahrungsblätter vor lauter Wald nicht. Deshalb konnten wir auch zwischen den Sitzungen nicht verhandeln oder zu vermitteln verhelfen – wir sind einfach zu blind! Deshalb appellieren wir, wie schon wiederholt, nochmals an diese Konferenz, uns…“

Wieder hörte niemand mehr zu. Der Chilene blieb unbeirrt stehen und redete weiter, obwohl die Präsidentin bereits einer anderen Delegierten das Wort erteilt hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht nur einen Seh-, sondern auch einen Hörfehler.

„Kolleginnen und Kollegen;“ zirpte eine glockenhelle Stimme. Ich danke Euch für die Einladung zu dieser Konferenz und für Eure Aufmerksamkeit! Wie Ihr sicher alle wißt, lebt mein Volk überall auf dieser Welt und hat deshalb keine regionalen Interessen zu berücksichtigen. Deshalb kann ich vielleicht zwischen Euch vermitteln. Ich möchte Euch sagen: Seht doch nicht alles so verkniffen! Lebensfreude ist die wahre Freude! Taumelt von Blume zu Blume, von Genuß zu Genuß! Trinkt Nektar, riecht, begattet Euch! Dann könnt Ihr ruhig sterben – und sicher sein, daß Euch im nächsten Jahr die Wiedergeburt erwartet! Denn die Philosophie…“

Ein Tumult brach los.

„Pfui, sexuelle Libertinage!“

„Olfaktorischer Absolutismus!“

„Das ist eine Verletzung meiner religiösen Überzeugungen!“

„Wer ist diese Frau überhaupt?“

„Woher kommt sie?“

„Die ist doch nicht echt!“

„Die ist doch nicht echt!“

„Die ist doch nicht echt!“

Vergebens läutete die Präsidentin ihre Glocke, aber sie konnte nicht verhindern, daß die Delegierten drohend auf die zierliche Sprecherin eindrangen und ihr die Maske vom Gesicht rissen. Mit Mühe und Not konnte die Spinnerin flüchten. Sie flatterte hoch und fand ein offenes Deckenlicht. Obwohl der Feind entkommen war, brach im Saal eine herzhafte Keilerei aus. Die Präsidentin mußte die Saaldiener rufen – kräftige Burschen aus Nordamerika, die die Ordnung mit Ohrfeigen, Knüffen und Püffen rasch wieder herstellten.

Als endlich Ruhe herrschte, sagte die Präsidentin tonlos: “Ich vertage die Sitzung auf morgen.“

Mühsam gelang es ihr, Haltung zu bewahren, bis sie die Tür ihres Büros erreicht hatte. Drinnen aber brach sie in Tränen aus. Diese Konferenz würde scheitern, sie mußte scheitern!

Und alle würden ihr vorwerfen, versagt zu haben. Schon meinte sie die höhnischen Stimmen zu hören: „Typisch Quotenfrau! Das kommt davon…Frauen sind dazu da, die Brut aufzuziehen, und nicht dafür, Diplomatie zu betreiben – das können wir Männer nun mal besser.“

Elend war ihr zumute, und sie fror entsetzlich – wie kalt war es in diesem Saal gewesen, zwar nicht physisch, wohl aber psychisch: klirrend kalt.

Es klopfte. Schnell wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Hoffentlich war das nicht der brutale Kanadier – oder die weinerliche Chinesin – oder…

„Herein!“

Oso Ursa trat ein.

„Guten Abend“, sagte sie geschäftsmäßig. „Ich dachte, Du hättest vielleicht noch etwas für mich zu…“ Ihr Blick fiel auf die Präsidentin. „Was ist denn mit Dir los? War es so schlimm?“

Der künstlich aufgebaute Panzer zerbrach.

„Es war noch schlimmer“, schluchzte sie. „Und ich friere schrecklich!“

Oso widerstand dem Impuls, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Gegenüber einer Präsidentin gehörte sich das einfach nicht.

Betont gleichgültig sagte sie:

„Dann koche ich Dir erst mal einen Bärentraubenblättertee – das fehlte gerade noch, daß Du mitten in der Konferenz eine Blasenentzündung kriegst. Und beim Tee kannst Du mir alles erzählen, wenn Du magst!“

Natürlich mochte die Präsidentin. Während sie berichtete und ihren Tee trank, beruhigte sie sich allmählich. Oso hörte aufmerksam zu.

„Gut, für die Spinnerin kannst Du nichts. Das ist ein altes Problem: Seit es unsere Konferenzen gibt, gibt es auch Entristen – wir hatten schon Raupen, Hunde, Halbaffen und sogar Krebse. Die tarnen sich häufig so gut, daß sie erst während der Konferenz entlarvt werden – oder gar nicht. Die Sehstörung der Lateinamerikaner kriegen wir in den Griff – ich habe bei IWIUB verschiedene Brillen bestellt, und Nachlieferungen sind in kürzester Zeit möglich. Morgen früh kannst Du da also einen Erfolg verkünden…Aber der Kanadier und der Typ aus Sri Lanka – dazu fällt mir erstmal nichts ein.“

Der Präsidentin ging es schon wieder so gut, daß sie analytisch denken konnte. Aber sie wollte das nicht allein tun, sie brauchte die Versicherung durch Worte. So begann sie ein eigentlich überflüssiges Frage- und Antwortspiel.

„Beide sind Carnivoren?“

„Ja.“

„Das heißt, ihre Physiologie ist auf tierische Nahrung angewiesen?“

„Ja. Ja und nein. Vor langer Zeit hat sich der Kanadier anders ernährt. Vegetarisch. Von unserem asiatischen Verwandten mit den langen Lippen und den Schlappohren wissen wir dagegen nichts.“

„Warum hat sich der Kanadier anders ernährt?“

„Klimawechsel.“

„Warum wissen wir nichts von den Lippenverwandten?“

„Das hängt zusammen mit der europäischen Kolonialpolitik. Als die Engländer in 18. Jahrhundert…“

„Schon gut, ich weiß Bescheid“, unterbrach sie die Präsidentin.
„Als die Engländer im 18. Jahrhundert nach Indien kamen, haben sie uns erschossen, anstatt mit uns zusammenzuleben. Wir waren also auf der Flucht, und sie haben keine wissenschaftlichen Untersuchungen angestellt. Das hilft uns aber auch nicht weiter…“

Eine lange Pause folgte.

„Danke!“ sagte die Präsidentin schließlich. „Du hast mir wirklich geholfen. Würdest Du jetzt bitte für mich eine Konferenzschaltung veranlassen? Ich glaube, ich sollte einige Leute trotz der späten Stunde aus dem Bett, aus dem Baum oder aus dem Bau holen.“

Oso Ursa ging, und nur wenige Minuten später erhellten sich zahlreiche Monitore im Büro der Präsidentin. Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und drückte dann auf den Einschaltknopf. Oh weh – ihre Gesprächspartner sahen weit weniger freundlich aus! Auf einem zweigeteilten Bildschirm summte rechts ein zorniger Bienenschwarm, während links ein nicht weniger wütendes Ameisenvolk durcheinanderwimmelte. Der Ceylonese lächelte arrogant und wischte sich lässig mit seiner langen Zunge eine Hornisse in den Mund, die sich verzweifelt zu wehren versuchte. Eine Robbenmutter schluchzte verzweifelt und streckte ihr anklagend ein Junges entgegen, dem die rechte Flosse fehlte. Und der Kanadier gähnte so hingebungsvoll, daß sein eindrucksvolles Gebiß den gesamten Schirm ausfüllte.

Am liebsten hätte die Präsidentin sofort wieder ausgeschaltet, aber sie nahm all ihren Mut zusammen. Zuerst das kleinere Problem, sagte sie sich. Ganz ruhig bleiben. Wenn es nicht klappt, kann ich mir immer noch einen Mann suchen und in aller Ruhe Junge aufziehen. Es gibt da ein paar wunderschöne Ecken in den Rocky Mountains, wo ich schon immer mal…

Sie verbot sich die Träumerei und konzentrierte sich.

„Guten Abend, liebe Freundinnen und Freunde“, sagte sie betont munter. „Ich bitte Euch, die späte Stunde zu entschuldigen. Aber es wäre doch schön, wenn wir unsere UBO-Konferenz morgen harmonisch weiterführen könnten und der internationalen Öffentlichkeit einig gegenübertreten. Deshalb habe ich zwei Konfliktparteien hier versammelt. Wir sollten darauf verzichten, nochmals unsere Standpunkte darzulegen – die Fronten sind allen klar. Ich will versuchen, zwischen Euch zu vermitteln.“

Bewußt überhörte sie das Gemurmel, das aus verschiedenen Lautsprechern quoll: „Vermitteln…unmöglich…fressen…gefressen werden“. Unbeirrt fuhr sie fort: „Zuerst habe ich eine Frage an unsere Insektenfreundinnen: Wie hoch ist Eure Vermehrungsrate?“

Aufgeregt begannen die Bienen zu tanzen, während die Ameisen sich zu zweit oder in größerem Kreis zu olfaktorischem Meinungsaustausch trafen. Wenig später kamen die ersten Rückmeldungen: „Ziemlich hoch…Unsere Königin hat letztes Jahr 29000 Eier gelegt…Unsere noch mehr…“ Majestätisch bewegte die Bienenkönigin ihren schweren Hinterleib, und sofort trat Ruhe ein. Gewichtig sagte sie: „Je nach Spezies verschieden. Die Mittelwerte dürften sich zwischen 50 und 50000 bewegen.“

Die Präsidentin holte tief Luft, bevor sie zu ihrer zweiten Frage ansetzte. Scheinbar beiläufig erkundigte sie sich: „Was würde wohl passieren, wenn Ihr keine natürlichen Feinde hättet?“

Wieder setzte aufgeregte Aktivität ein, bis alles schlagartig zum Stillstand kam und eine unnatürliche Stille eintrat. Eine vorwitzige Jungbiene wurde mit ihrer Erkenntnis nicht recht fertig und versuchte deshalb zu witzeln: „Wir wären endlich genug, um alle Lippenbären totzustechen.“ Aber niemand lachte. In das Schweigen hinein sprach wieder die Bienenkönigin:
„Ich verstehe.“ Jeder hörte, wie schwer ihr die folgenden Worte fielen: „Wir wären zu viele.“

Erleichtert atmete die Präsidentin aus. „Zu diesem Ergebnis bin ich auch gekommen“, sagte sie, als bedeutete diese Erkenntnis gar nichts. „Euer genetisches Programm setzt die Existenz von Freßfeinden voraus, und zur Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts müßt Ihr das akzeptieren, so schmerzvoll es für Euch auch sein mag. Aber natürlich können wir versuchen, zu Modalitäten zu kommen, die Euch übergroßen Schmerz ersparen. Es würde die Barentsburger Konvention über die unveräußerlichen Tierrechte verletzen, solltet Ihr weiterhin gezungen sein zuzusehen, wie geliebte Schwarm- oder Stammesmitglieder aus Eurer Mitte gerissen werden. Vermutlich wäre es das Beste, wenn Ihr künftig einen kleinen Prozentsatz Eurer Eier und Larven für die Alimentation der Lippenbären zur Verfügung stellen würdet.“

„Einverstanden, einverstanden“, grunzte der Ceylonese entzückt. Junges Fleisch – das war die Lieblingsspeise aller Lippenbären, aber bisher war es schwer gewesen daranzukommen, weil Eier und Larven so gut behütet waren.

„Gut“, sagte die Bienenkönigin zögernd und deutlich weniger begeistert. „Das könnte eine Basis für eine langfristige Einigung sein. Über Quoten muß natürlich noch verhandelt werden. Wir werden versuchen, das bilateral zwischen UIO und UBO zu regeln.“

„Geschafft“, dachte die Präsidentin. „Aber freu Dich nicht zu früh – die nächste Hürde ist nicht so leicht zu nehmen!“

Wie recht sie hatte!

Schon gröhlte der Kanadier los: „Jetzt reicht´s mir aber! Ich schwitze hier schon seit einer halben Stunde! Ameisen und Bienen interessieren mich überhaupt nicht! Was soll ich hier eigentlich?“

Gleichzeitig mit ihm greinte die Robbenmutter: „Wann wird endlich dieser Schlächter und Mörder verurteilt?“

Die Präsidentin dankte dem Himmel für ihr Stichwort.

„Du schwitzst?“ fragte sie freundlich. „Ja, warum denn?“

„Siehst Du blöde Kuh denn nicht…“, polterte er los, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig. „Frau Präsidentin“, fauchte er süffisant, wie vielleicht auch Baribals wie Du wissen, haben Eisbären ein dickes Fell.

„Ich muß meine Unkenntnis leider eingestehen“, erwiderte sie liebenswürdig. „Ich weiß recht wenig von Eisbären. Habt Ihr das dicke Fell schon immer?“

Der Kanadier ließ sich becircen. Es war äußerst selten, daß einmal jemand Interesse an Eisbären zeigte – die meisten Zeitgenossen, ob Bär oder nicht, suchten schleunigst das Weite, wenn sie einen auch nur von ferne sahen.

„Seit ich lebe jedenfalls“, brummte er. „Und meine Mutter hatte es auch. Aber es gibt Eisbärenmärchen, die sagen, daß es einmal anders war. Unser Fell war graubraun, nicht weiß, und es war viel dünner. Die Märchen sagen auch, daß unsere Welt damals nicht weiß war, sondern in den hellen Monaten grün.“

„Märchen sind schön“, murmelte die Präsidentin verträumt. Wenn jetzt nur nicht die Robbenmutter dazwischenfunkte! Zum Glück verhielt sie sich still. „Bären brauchen Märchen!“ Nein, erzähl ihm jetzt nichts von der Theorie von Charles Bärenheim! Sie wagte den Sprung: „Manchmal erzählen Märchen auch etwas, was wahr ist…“

„Blödsinn!“ knurrte der Eisbär gefährlich laut. „Märchen sind etwas für kleine Kinder und Grimmbären!“

„Aber nein“, schnurrte die Präsidentin verträumt. „Märchen erzählen von Veränderungen, und Veränderungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Soll ich Dir mal eine Veränderung zeigen, die wahrscheinlich iin den nächsten Jahrzehnten stattfinden wird?

Der Kanadier hielt zwar wirklich nichts von Märchen, aber wie alle Bären war er schrecklich neugierig. So winkte er mit seiner Riesenpranke gnädig Zustimmung: „Wenn´s denn sein muß…“

Sofort drückte die Präsidentin einen Knopf und ließ einen 45-Minuten-Film ablaufen. Man sah Wald, der abstarb, Berge, die ins Rutschen gerieten, Flüsse, die im Sommer trockenfielen und im Winter zu wenig Platz hatten für die Wassermassen, die sie transportieren sollten, und Inseln, die im Meer versanken. Es gab keine Bilder aus Grönland oder Nordkanada, aber trotzdem begriff der Eisbär die Botschaft.

„Das alles kann in den nächsten Jahren passieren?“

„Ja. Es muß nicht, aber es kann.“

„Warum?“

„Klimaveränderung.“

„Ursache?“

„Menschliche Mißwirtschaft.“

Lange Pause.

„Was bedeutet das für mich?“

„Es wird wärmer werden in Deinem Lebensraum – so warm, wie es früher schon einmal war, vielleicht auch noch wärmer. Du solltest versuchen, Dich anzupassen!“

„Das heißt – dünneres Fell?“

„Auch.“

„Was noch?“

„Es wird Pflanzennahrung für Dich geben – wie früher.“

Noch einmal lehnte sich der Eisbär auf. „Grünfutter? Nie!“

Jetzt aber war die Robbenmutter in ihrem Element. Sie hatte aufmerksam zugesehen und zugehört , außerdem wußte sie sich in sicherer Entfernung von ihrem Feind.

„Denk doch erst mal nach, Du Dummkopf! Ist doch arktisklar, daß Du eigentlich kein richtiger Fleischfresser bist. Darf ich Dich daran erinnern, wie oft Du Krämpfe und Dünnschiß – Verzeihung: Diarrhöe – hattest, nach einer fetten Robbenmahlzeit ? Gib`s doch zu: Immer dann hast Du Dich nach einem saftigen Grasbüschel gesehnt, zum Entspannen und zur Darmreinigung – es gab nur keins in all dem Schnee und Eis…“

Dumpfe Erinnerungen tauchten im Kopf des Kanadiers auf, aber er gab ihnen keinen Raum, sondern wehrte sich.

„Selbst wenn Ihr recht hättet – diese Veränderungen kommen nicht von heute auf morgen. Was sollen wir in der Übergangszeit fressen?“

Zufrieden schaltete sich die Präsidentin wieder ein. „Niemand will Euch verhungern lassen, und Euer Metabolismus braucht Zeit zur Umstellung. Auch hier wird verhandelt werden müssen, aber das kann nur Erfolg haben, wenn willkürliche Übergriffe Eurerseits in Zukunft unterbleiben. Wie ich heute von Dir in der Konferenz gehört habe, habt Ihr bereits einen potentiell erfolgversprechenden Versuch unternommen, nämlich die UFO in Eure Überlegungen einzubeziehen. Eure Herangehensweise war allerdings äußerst ungeschickt – in diesem kleinen Kreise darf ich das sagen, es bleibt alles unter uns. Trotz der exorbitanten Überfischung der Meere durch die Menschen haben einige Fischarten noch überproportionale Reproduktionsraten aufzuweisen – mittelfristig könnte sich Euer Problem so lösen lassen, bevor Ihr zu einer wirklich weltverträglichen Lebensweise zurückkehrt. Was hältst Du davon?“

„Na ja“, brummelte der Eisbär überrumpelt. „Ich muß mal darüber nachdenken.“

„Tu das“, sagte die Präsidentin zufrieden. Und allen sagte sie: „Die Videokonferenz ist beendet.“

Die Konferenz dauerte noch zwei wenig aufregende Tage lang und erschöpfte sich weitgehend in Geschäftsordnungs- und Antragsdebatten. Für die Leitung der nächsten turnnusmäßigen Sitzung wurde die Präsidentin nicht wiedergewählt – sie habe die Versammlung nicht souverän genug geleitet, war die Meinung der meisten Delegierten. An ihre Stelle trat ein Kragenbär aus dem Himalaya, der sein Halsfell eindrucksvoll bedrohlich aufplustern konnte.

Das Abschlußkommuniqué lautete:

Die 25. ordentliche Konferenz der United Bears Organisation hat ihre Ziele uneingeschränkt erreicht. Dank der Einsicht der Delegiertengruppen aus Kanada und Indien und aufgrund der Kooperationsbereitschaft der United Insects Organisations und der United Mammals Organisation wurden letters of intent formuliert, die in absehbarer Zeit der parlamentarischen Verabschiedung zugeführt werden dürften. Erstmalig vereinbarte Gespräche mit der United Fisch Orgnisation haben bereits stattgefunden und versprechen allseits zufriedenstellende Ergebnisse.

 

…. und sein Nachfolger

Kulles Vorlesung
Bestimmt erinnert ihr euch daran, daß es einem Menschen auf der Welt gibt, der nicht nur weiß, wo das Beerental genau liegt, sondern der auch erlebt hat, wie es dort zugeht. Richtig – der Kanzler. Er hatte sich nach seinem bärigen Abenteuer nur noch gesund ernährt – abgesehen von dem einen oder anderen Glas Champagner, aber das ist ja, wie man in vielen anderen Märchen lesen kann, letztlich auch Medizin -, war viel Fahrrad gefahren und so sehr alt geworden. Aber eines Tages stand Freund Hein auch auf seiner Türschwelle, und der Kanzler ließ sich friedlich davonführen. „…. und sein Nachfolger“ weiterlesen

Der Kanzler

baum

Es war einmal ein Kanzler, der war der mächtigste Mann in seinem Land. Und weil er so mächtig war, hatte er Angst vor allen Menschen. Deshalb versuchte er, sich vor ihnen zu schützen: Wenn er unterwegs war, benutzte er immer ein großes gepanzertes Auto mit kugelsicheren Scheiben, er ließ sich von Killern bewachen – die nannte man vornehm „Bodyguards“ -, und überdies begleitete ihn stets eine Polizeieskorte. „Der Kanzler“ weiterlesen

(Weih)-Nacht

Bosch-Die Kreuztragung
Es war einmal ein Bär, der liebte Märchen über alles. Am meisten mochte er das Märchen von Weihnachten, das seine Großmutter ihm immer erzählt hatte, als er noch ganz klein war. Es war ein Menschenmärchen, aber das störte ihn überhaupt nicht.

In diesem Märchen war immer alles ganz dunkel, denn es herrschte tiefster Winter. Der Mond schien hell, und unter seinen Strahlen erglänzte der Schnee, der das Land mit einer dicken Decke einhüllte. Eisig kalt war es, und die wenigen Menschen, die draußen zu tun hatten, beeilten sich, wieder ins Warme zu kommen, in die heimeligen Häuser. Dort bullerten die Öfen, eine Tanne stand dort mit aufgesteckten Lichtern, und die Menschen standen oder saßen darum herum und sangen melodische Lieder. Sie freuten sich über diesen Tag und liebten einander, und um sich das zu zeigen, machten sie einander Geschenke – selbstgestrickte Pullover oder Socken zum Beispiel, eine Stichsägearbeit oder sonst irgendeine Bastelei.

Der Bär hatte immer bedauert, daß er das nicht miterleben konnte. Denn seine Großmutter hatte ihm erzählt, daß Weihnachten eigentlich gar kein Märchen sei, sondern Wirklichkeit – Wirklichkeit für die Menschen. Für Bären dagegen, die Winterschlaf hielten, würde Weihnachten immer ein Märchen bleiben. Dachte der Bär.

Seinen Wintereinkauf erledigte der Bär immer Ende Oktober. Ja, auch die Bären waren modern geworden und verließen sich immer weniger allein auf den angefressenen Winterspeck. Eine zusätzliche Konserve, eine Wolldecke – dadurch konnten die Schlafmonate in der kalten Höhle viel angenehmer werden. Geld mußte man dafür natürlich haben, aber das war seit einiger Zeit kein Problem mehr. Seit die Grenzen zu den östlichen Ländern geöffnet worden waren, konnte man Automaten ohne Probleme wertlose Zloty andrehen, und gefälschte Kreditkarten gab es auch massenhaft. Natürlich mußte man sich als Mensch verkleiden, aber das war leicht. Da die Menschen die Bären seit Jahrtausenden ermordeten oder als Circusclowns mißbrauchten, hatte der Bär bei solchen Tarn- und Täuschungsmanövern keinerlei moralische Skrupel.

Er hatte einen ruhigen Herbsteinkaufstag erwartet, aber er hatte sich getäuscht. Zwar schien die Sonne vom strahlend blauen Himmel, nachdem die Morgennebel sich aufgelöst hatten, aber kaum hatte er das erste Kaufhaus betreten, schallten ihm ungewohnte Klänge entgegen. Menschliche Singstimmen waren mit sanfter Musik unterlegt, und als er genau hinhörte, verstand er auch den Text:

„Süßer die Kassen nie klingeln,
als zu der Weihnachtszeit.“

Weihnachtszeit? Aber es war doch erst Ende Oktober, noch nicht einmal Zeit für den Winterschlaf! Irritiert ging er weiter.

Schon nach wenigen Schritten aber kam er nicht mehr voran, denn er steckte in einem Menschengedränge. Alles wimmelte um Verkaufsstände mit Plastiktannen, Engelspüppchen, Lametta in Weiß, Gold, Rot und Blau, Glaskugeln, Plastikadventskränzen und Kerzen in allen denkbaren Farben.

Er versuchte zu flüchten, aber in der nächsten Abteilung war es auch nicht besser: Hier schienen die Menschen die letzte Schlacht um die letzten Süßigkeiten zu schlagen. Es mußten wirklich die letzten sein, entschied der Bär, nachdem er einen Blick auf das eine oder andere Preisschild geworfen hatte.

Ein paar Meter weiter wanderten überwiegend ältere Frauen durch eine Ausstellung von Puppen. Oh, wie lieb sahen die aus! Lange Kleider trugen sie und aufgesteckte Zöpfe, manche hielten auch eine kupferne Bratpfanne in der Hand. Zur Illustration und vollkommenen Illusion war der altertümliche Herd mit den Feuerringen auf der Platte gleich nebenan aufgebaut. Verzaubert wiegten die Kundinnen die Puppen im Arm und träumten ein paar Sekunden, bis ein Blick auf das Preisschild sie veranlaßte, die Plastikgeschöpfe wieder in ihr Regal zurückzusetzen.

Den Bären schauderte es, und er flüchtete aus dem Kaufhaus. Draußen atmete er tief durch. Die frische Luft tat gut. Froh hob er die Augen zum Himmel.

Hoch über der Straße waren Männer damit beschäftigt, viele elektrische Lampen zu installieren.

Neben sich belauschte er unfreiwillig Gespräche:

„Ein Diamant ist wirklich unvergänglich…“

„Du kannst mir glauben, Nerze werden heutzutage artgerecht gehalten…“

„Ich weiß wirklich nicht, was ich meiner Mutter schenken soll…“

„Hör endlich auf zu quengeln…“

„Das ist zu teuer, das ist er mir nicht wert…“

Beinahe wäre er über die Beine eines Mannes gestolpert, der auf der Erde saß, auf dem kalten Betonboden, mit dem Rücken an ein Schaufenster gelehnt, in dem warme Männerpullover ausgestellt waren. Der Mann hatte ein Schild vor sich aufgestellt. „Ich habe Hunger“, stand darauf.

Der Bär hatte nichts, was er ihm hätte anbieten können. Seine falschen Zlotys mochte er ihm nicht zumuten.

Er mochte auch sich selbst nichts mehr zumuten.

Weihnachten? Weihnachten??

Er wünschte, er könnte neun Monate lang Winterschlaf halten. Und er wünschte, die Menschen könnten es auch.

Auf jeden Fall beschloß er, nicht mehr im Oktober bei den Menschen einkaufen zu gehen, sondern schon im September.

Auf dem Heimweg schoß ihm die Frage durch den Kopf, ob das auf die Dauer reichen würde.

 

Grimmis Buch vom Gorillasee

Col 1

Inhaltsangabe


Dino
 


There was a Gorilla
whose name was Vanilla

He lived in the wood

near Nottinghamshrood!

Vanilla hatte eine ganz besondere Geschichte. Seine Mutter hatte ein Gorilla-Ei gelegt, also ganz so, wie es gorillös normal ist. Es war so, wie Gorillas es immer machen, wenn man von dem brutalen Silberrücken absieht, der ihr Ei vergewaltigt hatte.

Das ist zwar eine andere Geschichte und liegt auch schon lange zurück, aber vielleicht hängt es mit diesem unerfreulichen Erlebnis zusammen, daß das Ei-Innere sich nicht ganz vorschriftsmäßig gorillös entwickelte. Schaut euch doch das Ergebnis an, das sich nach der Eierinnenleben-Wachsezeit von zwei Jahren, zwei Monaten und zwei Tagen durch die Eierschale gearbeitet hat!

Gorilla-Mammi war ob ihres mißratenen Saurierkindes ganz schrecklich traurig. Das guckte derweil freundlich vor sich hin und dachte an seine
Zukunft, die es sich ganz lebhaft ausmalen konnte….

Auch Gorilla-Mama dachte an die Zukunft, allerdings mit Schrecken. Was würde Onkel Albert sagen, wenn der Termin gekommen war, den Nachwuchs der Sippe vorzustellen? Hohngelächter würde über Sie hereinbrechen, und alle würden sie mit verfaulten Bananenschalen bewerfen, sie und ihr Baby. Immerhin schien sie im Moment sicher zu sein, Dino wedelte freundlich mit einem Palmenzweig, statt sie aufzufressen.

Vorsichtshalber legte sie ihm noch ein Bündel Bananen hin, bevor sie ihn verließ. Auch wenn es gefährlich sein mochte, das Monster alleinzulassen – sie mußte unbedingt zur Gorillahexe. Wenn jemand einen Ausweg wußte, dann sie.

Nach 2 Stunden, 2 Minuten und 2 Sekunden durch den Nebelwald kam sie an ihrem Ziel an. Während sie der Gorillahexe von ihren aufregenden Erlebnissen erzählte, wurden die Furchen auf deren Stirm immer tiefer. „Das ist ein schwierges Problem“, sagte sie, „aber ich glaube, wir können es lösen“. Sie beugte sich zu ihr und flüsterte ihr das Rezept (1) ins Ohr…….

Mama verstand zwar überhaupt nichts, aber sie tat, wie ihr geheißen war. Nach langem Warten auf die madegassische Caravelle an der Küste und einem Rückweg voller Gefahren kam sie nach 2 Jahren, 2 Monaten und 2 Tagen wieder zu Hause an.

Dino war gewaltig gewachsen, aber er tat ihr nichts, sondern schwenkte immer noch freundlich seinen Palmenwedel. Er begrüßte sie mit einem großen Schmatz – Iiih Gorilla, war der feucht und kalt und glitschig. Na, das würde sich ja hoffentlich bald ändern!

Sie kochte einen großen Topf Bananenwein (2), den Dino gierig schlürfte. Unmittelbar danach fiel er in tiefen Schlaf – zum Glück auf die Seite. So konnte sie alle seine Körperöffnungen erreichen und mit Vanillestangen zustopfen. Eine Stange nur noch war übrig. Gerade hatte sie sie essen wollen – Gorillas mögen Vanille sehr – als Dino einen satten Bananenweinfurz ließ. So steckte sie ihm die letzte Stange auch noch in den Arsch und hoffte, nun würde alles gutgehen. Erschöpft schlief sie ein und träumte einen schrecklichen Alptraum, in dem sie fast von Sauriern aufgefressen wurde.

Ein sanftes Streicheln weckte sie, und eine tiefe gorillöse Stimme sagte: „Mama“.

Beglückt schloß sie ihn in die Arme, und als der Junge dem Silberrückenrat vorgestellt wurde, erhielt er auf ihren Vorschlag hin den Namen Vanilla.


 

Der Gorillasee

 


Nach seinen Startschwierigkeiten wuchs Vanilla zu einem ganz normalen Gorillakind heran: Mit zwei Jahren verprügelte er alle Schimpansen, mit drei alle Orangs, und mit vier wagte er auch schon mal einen Scheinkampf mit den alten Silberrücken. Zu Mama, der er ab und zu immer noch nachlief und sich mehr und mehr einbildete, ihr Beschützer zu sein, war er dagegen vorschriftsmäßig liebevoll. Darüber, daß er – anders als alle anderen Gorillas – nicht gern an Vanillestangen knabberte, machte er sich keine Gedanken. Mama verlor darüber kein Wort und lächelte nur ab und zu in sich hinein. Sie war es zufrieden, daß Vanilla voll und ganz damit beschäftigt war, sich seine Gorillawelt zu erobern.

Jeden Tag, wenn die anderen Hordenmitglieder behäbig in ihren Blätternestern faulenzten und das Mittagessen verdauten, machte er sich zu einem Ausflug auf und erforschte die Umgebung. So lernte er den Urwald kennen: Er stand stundenlang vor riesigen Bäumen und versuchte zu schätzen, wie hoch sie wohl waren (Gorillas können schlecht klettern, deshalb konnte er das nicht selber ausmessen), kostete den Geschmack ihrer Blätter (wobei ihm oft übel wurde, ohne daß er wußte, warum (Herr Skinner hätte ihm etwas von trial and error erzählen können, aber Herr Skinner war gerade nicht im Gorillawald), schnupperte hingebungsvoll an Orchideen und spielte selbstvergessen mit bunten Schmetterlingen (die hätten ihm viel erzählen können, aber sie waren meist zu eingebildet, um mit Gorillas zu reden, weil sie die für blöd hielten).

Immer weiter zog er seine Kreise, und nach fünf Ausflugsmonaten und fünf Ausflugstagen entdeckte er etwas völlig Neues. Es war nicht grün wie der Wald, nicht violett wie die meisten angeberischen Orchideen, nicht farbenfroh wie die taumelnden Schmetterlinge. Es war blau. Blau wie der Himmel über dem Gorillawald am Vormittag und am Nachmittag (mittags regnete es immer, und dann war der Himmel grau), nur dunkler. Viel dunkler, und deshalb viel blauer.

Da Vanilla so etwas noch nie gesehen hatte, näherte er sich sehr vorsichtig. Mama hatte ihm gesagt, er solle aufpassen: Es gebe Menschen in der Nähe, und Menschen seien eine Gefahr für Gorillas. Vielleicht waren Menschen ja dunkelblau und riesig, lagen auf dem Boden und waren ganz flach, nur mit leichten Kräuseln?

Er blieb vorsichtig in Deckung und stieß seinen Kampfschrei aus – nichts rührte sich. Nur ein Schmetterling flog vorbei und kicherte leise. Ganz dicht schwebte er über dem Dunkelblauen davon. Nein – von einem Schmetterling konnte sich ein aufstrebender Gorilla doch nicht beschämen lassen! Vanilla stürzte ihm hinterher und erwartete den Angriff des Dunkelblauen, bereit zu sterben.

Aber es gab keinen Angriff, der Dunkelblaue wich zurück, ließ ihn ein – und doch nicht, da war er wieder, er umschloß Vanilla, war aber nicht zu fassen. Nur ganz langsam konnte der Gorilla sich noch bewegen. Wütend versuchte er, den feigen Feind, der sich nicht zum Kampf stellte, zu fassen zu kriegen. Er tauchte in ihn ein und suchte ihn – und plötzlich bekam er keine Luft mehr. Das war es also – sein Feind wollte ihn erdrosseln! Er mußte entkommen!

Er tappte unbeholfen vorwärts, abwärts, schließlich aufwärts – endlich! Er nahm zunächst einen tiefen Luftzug und öffnete dann die Augen – das Dunkelblaue hatte seinen Kopf freigegeben und hielt seinen Körper noch gefangen, tat ihm aber nichts. Komisch. Schon wollte er sich wieder heldenhaft in den Kampf stürzen, als es über ihm zum zweiten Male höhnisch kicherte: der Schmetterling.

Hau ab, hier ist es gefährlich„, schrie Vanilla ihm zu.

Du bist vielleicht blöd, das ist doch nur ein See.“ lispelte der Schmetterling zurück.

Ein See?“ fragte Vanilla verständnislos. „Was ist denn das?

Aber der Schmetterling war schon davongeflogen.

Obwohl Vanilla nichts begriffen hatte, hatten ihn die Worte des Falters ein wenig beruhigt, und er beschloß, sich erstmal zurückzuziehen, einen Bananenjoint (3) zu rauchen und dabei seine Lage in aller Ruhe zu überdenken. Aber schon mußte er sich eines neuen Angriffs erwehren: Ein feuchtes Etwas hockte plötzlich auf seinem Kopf, hopste auf und ab und beschimpfte ihn fürchterlich:

Du blödes pelziges Vieh, ein See ist ein See ist ein See! Und hier wohne ich! Und jetzt mach Dich endlich vom Acker, bevor Du noch mehr von meinen Kindern zertrampelst. Kehrt marsch! Quaaak!“

Fürchterlich erschrocken gehorchte Vanilla dem Befehl, ohne nachzudenken. Er hatte Kinder umgebracht, er war ein Mörder! Der Gorillasheriff würde ihn holen, und bestimmt würde er dazu verurteilt werden, nie wieder eine Banane essen zu dürfen. Blind vor Entsetzen tapste er laut heulend aus dem Wasser und wagte erst am sicheren Ufer, sich umzudrehen. Wenigstens entschuldigen wollte er sich. Aber bei wem?

Auf einem Teichrosenblatt hockte ein großer grüner Frosch und beobachtete ihn, ohne zu blinzeln.

Ich…ich wollte wirklich nicht…„stammelte Vanilla. „Ich…

Quaak, ist ja schon gut. Ich hab ein paar tausend Kinder, Du Pelzmonster wirst uns also nicht so ohne weiteres ausrotten können. Aber ich wohne hier, daß Du`s weißt! Und wenn Du das nächste Mal vorbeikommst, dann klopf wenigstens vorher da drüben am Uruburubaum an – ich suche mir meine Besucher nämlich gerne aus. Vielleicht erlaube ich Dir dann auch wieder zu baden – es bekommt Dir scheint`s ganz gut, jedenfalls stinkst Du jetzt schon wesentlich weniger als vorher, hihi. Ich heiße übrigens Tussi.

Sprach`s und hüpfte mit einem eleganten Satz ins Wasser.

Vanilla plumpste verblüfft auf sein dickes Gorillahinterteil und starrte lange auf die sich kräuselnde Seeoberfläche, ehe er sich aufrappelte und langsam nach Hause trottete, um alles seiner Mama zu erzählen.

Ob Vanilla wohl Prügel bekommen wird?


 

Gorilla Vanilla und der Holzfäller

 


Ihr dürft Euch freuen – Vanilla passierte gar nichts. Mama war nämlich eine kluge Gorillafrau und vertrat ein Erziehungskonzept, das bei den Gorillas schon seit Jahrtausenden gilt, bei den Menschen dagegen immer noch nicht anerkannt ist: Jedes Kind muß seine eigenen Erfahrungen machen. Trotzdem ärgerte sie sich insgeheim ein wenig, daß sie Vanilla nie von Tussi und ihrem See hatte erzählen dürfen, aber das verriet sie ihrem Sohn nicht. Alle erwachsenen Gorillas kannten selbstverständlich den See und seine Froschmutter; sie betrachteten den See auch als Teil ihres Reviers und nannten ihn den Gorillasee. Das hatten sie aber Tussi nie erzählt – sie wußten, wie böse die Fröschin werden konnte, und sie schätzten ihren Rat, denn Tussi hatte ihnen in brenzligen Situationen schon oft aus der Klemme geholfen.

Mama beschränkte sich darauf, Vanilla zum x-ten Mal zur Vorsicht zu ermahnen und ihm zum y-ten Mal einzuschärfen, ja einen großen Bogen um die gefährlichen Menschen zu machen. Und weil er immer noch ganz schwarz um die Nase war (so ist das bei Gorillas, wenn sie einen leichten Schock erlitten haben), backte sie ihm zum Trost einen Bananenkuchen . Statt des Vanillezuckers, den die anderen Gorillafrauen zum Süßen benutzten, verrührte sie eine Handvoll Urwaldrosinen in den Teig.

Einige Tage später wachte Vanilla morgens von einem fürchterlichen Geräusch auf. „Klong“ hörte er, und noch einmal „Klong“. Nachdem er sich die Gorillasandmännchenscheiße aus den Augen gerieben hatte, lauschte er konzentriert: „Klong, klong, klong, klong“. Ein Takt Pause. Und dann wieder: „Klong, Klong, Klong, Klong“.

Vanilla war sehr ärgerlich wegen dieser Störung und verzichtete sogar auf sein Bananenmusfrühstück. Zuerst wollte er diesem unerträglichen Krach ein Ende setzen. Er trabte durch den Urwald, Kurs Süd-Süd-West, immer dem Klong nach.

Nach einer halben Stunde stand er vor einem merkwürdigen Bild: Ein gorillaähnliches Wesen mit einem scharfen Werkzeug, das es mit beiden Händen hielt, bearbeitete den Stamm eines Uruburu-Baumes und versuchte, eine tiefe Kerbe hineinzuschlagen.

Aber der Kerl war kein Gorilla – dafür hatte er viel zu schmale Schultern, zu kurze Arme und vor allem – Vanilla schauderte es, und er konnte nur mit Mühe seinen Fluchtinstinkt unterdrücken – fast gar keine Haare. Nur ganz oben auf dem Kopf trug er ein Büschel von haarähnlichem Wirrwar – aber das konnten eigentlich keine Haare sein. Jedenfalls hatte Vanilla noch nie einen Gorilla mit roten Haaren gesehen.

Noch etwas verwirrte Vanilla: Der Typ hatte einen merkwürdigen Unterleib. Von den Füßen bis zur Hüfte sah seine Haut zerknittert und glatt gleichzeitig aus. Das wichtigste aber war: Er hatte keinen Schwanz. Wie eine Frau sah er allerdings auch nicht aus…


Wie ein Blitz schoß es durch Vanillas Kopf: Das muß ein Mensch sein! Aber das war doch eine Witzfigur – ein Wesen ohne Teil und ohne Schultern! Mama hatte mal wieder heftig übertrieben mit ihren Schilderungen von der Gefährlichkeit der Menschen!

Vanilla war sich völlig sicher, daß er mit diesem merkwürdigen potenzlosen Tier spielend fertig werden könnte, er beherrschte sich jedoch und erwürgte den Menschen nicht sofort mit einer Liane. Stattdessen erinnerte er sich an seine Kenntnisse der Menschensprache (Mama hatte darauf bestanden, daß er sie lernte) und fragte:

„Entschuldigen Sie, ich möchte ja nicht stören, aber was machen Sie denn da?“

Der Mensch warf einen kurzen Blick über die Schulter und sagte: „Ich fäll den Baum, du dummes Vieh“.

Vanilla war verletzt: Welchem Banausen war er da begegnet! Dieser Mensch beherrschte noch nicht einmal die simpelsten Regeln der Kommunikation! Dennoch unternahm Vanilla einen weiteren Vorstoß und suchte all seine Höflichkeit zusammen:

„Ich möchte Ihnen gewiß nicht zu nahe treten, aber dieser Baum, den Sie gerade abhacken, trägt köstliche Früchte, und seine Blätter schmecken mir vorzüglich. Könnten Sie ihn nicht stehen lassen?“

„Nein“, sagte der Mensch und hackte weiter.

Vanilla beherrscht sich immer noch und fragte höflich: „Warum nicht?“

Von der Antwort, die der Mensch stoßweise von sich keuchte, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, verstand Vanilla nur Bruchstücke:

„Arbeitsplatz…Familie…ernähren…Tropenholz…Fensterrahmen…Schrank-wände…Welthandel…“

Vanilla verstand nur „Familie“ und „ernähren“. Genau darum ging es ihm ja auch – er wollte seine Mama und sich weiterhin vom Uruburubaum ernähren können. Es schien also eine Verständigungsmöglichkeit mit diesem Menschen zu geben – man mußte ihm nur alles ganz ausführlich erklären.

Vanilla stapfte näher, um mit diesem Menschen nun endlich mal vernünftig zu reden – und rannte in die offene Axt. In seiner Schulter klaffte eine große offene Wunde.

Er blutete. Er dachte nicht mehr an Lianen, mit denen er Menschen erwürgen könnte. Er dachte überhaupt nicht mehr. Er rannte. Er rannte davon vor einem Monstrum. Er wollte zu Mama. Er hoffte, er würde es noch schaffen.

Aber er war zu verwirrt, um noch Berechnungen anzustellen: Er lief nicht nach Nord-Nord-Ost, sondern nach Süd-Nord-West. Blindlings stampfte er vorwärts, raffte die Lianen zur Seite, patschte durch tiefe Sumpflöcher und bumste immer mal wieder gegen einen dicken Baum. Eine Blutspur markierte seinen Weg, und obwohl er nicht wußte, was mit ihm geschah, merkte er doch eins: Er wurde schwach und schwächer. Schließlich half es ihm auch nicht mehr, sich auf allen vier Gorillabeinen vorwärts zu tasten – Bananen kreisten in seinem Kopf, ihm wurde gelb vor den Augen, und er sank bewußtlos zu Boden.

Alles Schlechte hat sein Gutes: Vanilla träumte einen wunderschönen Traum.

Tausende kleine vierfüßige grüne Bananen tanzten um ihn herum, eine riesengroße grüne Oberbanane mit kugelrunden Augen und einem breiten Mund heilte seine Wunde, und seine Mama hatte seinen Kopf in ihren Schoß genommen, flüsterte ihm tröstende Worte zu und flößte ihm die Bananenarznei8 gegen alle Übel ein.

Selig rutschte Vanilla aus diesem Traum in einen erholsamen Tiefschlaf, aus dem er nach einer Gorillaewigkeit erwachte. Vorsichtig blinzelte er mit dem linken Auge in den Urwaldabend. Zuerst meinte er, immer noch bewußtlos zu sein oder zu träumen, denn sein linkes Auge sah grüne Bananen. Auch mit dem rechten Auge wurde es nicht besser, er sah die Bananen jetzt nur dreidimensional.

Allmählich fiel ihm allerdings auf, daß mit diesen Bananen irgend etwas nicht stimmte: Es war doch merkwürdig, daß Bananen Kulleraugen, vier Füße und einen Schwanz hatten. Außerdem hatte er noch nie erlebt, daß Bananen auf ihm herumkrabbelten, in seine Ohren schauten und in seine Nasenlöcher zu kriechen versuchten.

Angesichts dieser verwirrenden Umstände hatte er gerade beschlossen, noch eine Runde zu schlafen und danach vielleicht einen klareren Kopf zu haben, als sich Tussis Froschgesicht vor seine Augen schob.

„Na, du Stinker, ausgeschlafen? Haben dich meine Kleinen wieder wachgekitzelt?“

Bevor Vanilla irgend etwas Unverständliches stammeln konnte, spürte er Mamas festen Griff und sah ihre zornig blitzenden Augen.

„Du bananenwürdeloses ungezogenes Balg! Ist dir eigentlich klar, daß ich fast wieder zur Gorillahexe hätte laufen müssen, wenn Tussi nicht gewesen wäre?“

„Jetzt ist keine Zeit für gorillösen Familienstreit“, unterbrach Tussi sie energisch. „Wir müssen jetzt sehen, wie wir auf elegante Weise mit diesem Urwaldkiller fertigwerden. Ich hab da so`ne Idee….. Laßt mich mal kurz mit meinen Kinderlein reden.“

Tussi quakte kurz, woraufhin alle grünen Bananen – das waren gar keine grünen Bananen, sondern Froschkinder, genannt Kaulquappen, erklärte Mama Vanilla zwischendurch – zu Tussi gehüpft kamen, auf sie sprangen und über ihr einen grünen , wimmelnden, lebendigen Froschberg bildeten. Wenige Sekunden lang quakte es vielstimmig und in allen Tonlagen aus diesem Froschhügel, bis ein einhelliges höhnisches Kichern erscholl.

„Los Kinder, gehen wir,“ kommandierte Tussi, “ aber ihr“, sagte sie zu Mami und Vanilla „bleibt hier – oder zumindest hundert Meter hinter uns, damit ihr uns nicht die Tour vermasseln könnt.“

Vanilla ließ sich von Mama an die Hand nehmen und folgte mit ihr dem Heer der Frösche. Der Urwald schien noch grüner als sonst zu sein und zu leben: Mit Riesensätzen hüpfte Tussis Kampfschar in die Richtung, aus der Vanilla gekommen war, und bald vernahmen alle wieder das „Klong, klong, klong, klong“. Wenig später sahen sie auch den Menschen, dessen Axt sich schon tief in den Uruburubaum hineingearbeitet hatte.

„Psst, Kinder, jetzt ganz leise,“ flüsterte Tussi, „und verteilt euch gut!“ Selbst für Vanillas geübtes Gorillaauge schien es, als seien die Frösche plötzlich verschwunden. Nur hier und da bewegte sich ein Blatt, nur ab und zu blitzte eine weißer Froschbauch auf.

Den Menschen allerdings schien nach kurzer Zeit etwas zu irritieren. Als er zu einem neuen, gewaltigen Hieb ausholte, glitschte ihm der Axtstiel aus der Hand, und er vermochte nicht, sein Werkzeug wieder zu ergreifen – es flutschte davon, als sei es lebendig. Und der Mann konnte plötzlich nicht mehr stehen, dauernd fiel er um, als versuchte er, auf Schmierseife zu gehen.

Nun gibt es im Urwald bekanntlich keine Schmierseife, wohl aber, wie Vanilla bei ganz genauem Hinsehen erkannte, Froschschleim – Tussi und ihre Riesenfamilie hatten alles rund um den Uruburubaum in eine riesige Rutschbahn verwandelt.

Das Fluchen des Holzfällers, der vergeblich versuchte, sein Gleichgewicht wieder zu gewinnen, wurde plötzlich von Tussis Kommandoschrei übertönt: „Quaaaaaaaaaak!!!!!“

Der Himmel verdunkelte sich. Eine grüne Wolke erhob sich aus dem Unterholz, aus Büschen, aus Urwaldriesen und Schlinggewächsen und formierte sich zu einem riesengroßen Frosch, zweimal so groß wie die höchsten Bäume. Fasziniert warf Vanilla den Kopf zurück und blinzelte zu Tussi auf, die ganz oben auf der Familienpyramide thronte. Der Mensch dagegen genoß das Schauspiel keineswegs, sondern wand sich verzweifelt auf dem glitschigen Boden und versuchte zu fliehen.

So leicht aber sollte er nicht entkommen. Mit einer Stimme, die alle nur denkbaren Urwaldgeräusche in sich vereinte, erklärte Tussi ihm, daß er sich in eigenem Interesse besser nie wieder am Tussisee und im Gorillawald sehen ließe.

„Und jetzt hau ab, du schwanzloser Kerl, und bau deine Fenster in Zukunft aus kanadischer Kiefer!“

Der Monsterfrosch gab dem Holzfäller einen Fußtritt, der ihn in hohem Bogen aus dem Wald entfernte.

Mama und Vanilla waren ganz gerührt und fragten, wie sie ihr danken könnten.

„Da man nich` für,“ sagte Tussi, „aber wenn ihr unbedingt wollt, eine Flasche von der Witwe wäre nicht schlecht.“

Das allerdings verstanden weder Mama noch Vanilla.

Versteht Ihr das?


 

Bobbo

 


Nach dem aufregenden Holzfällerabenteuer mußte Vanilla sich noch lange schonen und von Mama pflegen lassen – die Schulterwunde, die die Axt ihm geschlagen hatte, heilte nur langsam, obwohl sie sorgfältig mit Tussi-Spezial-Heilbrei (4) behandelt wurde. Vanilla fügte sich geduldig in sein Schicksal, ließ sich Mamas mit Liebe und Fantasie bereitete Bananen-Krankenkost (5) schmecken und döste stundenlang behaglich im Schatten von Uruburu-, Arabara- und Oroborobäumen vor sich hin. Manchmal versuchte er, scherwiegende Probleme zu lösen, und beschäftigte sich mit der Frage, warum es im Gorillawald keine Erebere- und Iribiribäume gab, aber das wurde ihm meist schnell zu anstrengend, und er beschäftigte sich mit sich selbst.

Er zupfte an Lianen, die ihm vor die Augen hingen, er zupfte an Grashalmen, er zupfte an seinem Fell, bis es angenehm kitzelte und ein bißchen ziepte, er zupfte an seinen klitzekleinen Brustwarzen, bis sie größer wurden und zu seiner Überraschung ein völlig neues, wohliges Gefühl in seinen Oberschenkeln verursachten, und er zupfte an seinem Teil. Das wuchs beim Zupfen auch, merkte er, und das Gefühl, das dabei entstand, fand er fast noch angenehmer als die Brustwarzen-Wachse-Wirkung. Einmal überraschte ihn Mama beim Spielen mit sich selbst, und er schämte sich ein bißchen vor ihr, ohne zu wissen warum, aber Mama schmunzelte nur, strich ihm sanft über Kopf und Schwanz und fragte, ob es nett sei. Gorillamütter wissen nämlich, was gut für die Entwicklung einer ausgeglichenen Persönlichkeit ist – in der Gorilla-Schwangerenberatung wird seit Jahrtausenden die Lehre eines legendären Gorillas namens Adorno (6) weitergegeben, der herausgefunden hat, daß Sexualunterdrückung die Entwicklung der autoritären Persönlichkeit begünstigt.

So wuchs Vanilla überall dort, wo es wichtig war, und seine Wundränder wuchsen auch zusammen. Mama konnte beruhigt zusehen, wie er allmählich wieder auf die Beine kam und begann, seine Urwaldkreise zu ziehen.

Vanilla merkte selber, wie schwach er war, und begann, seine Kräfte zu trainieren. Das machte er aber nur ganz heimlich, weit weg von allen anderen an seinem Urwald-Lieblingsplatz, weil er nicht wollte, daß jemand sah, wie tolpatschig er noch war. Er machte Kniebeugen, hüpfte auf und ab, vorwärts und rückwärts, nach rechts und links, begann ein intensives Baumstamm-Hantel-Trainung und übte Klimmzüge und Bauchwellen. Zuerst kniff er bei seinen Übungen die Augen fest zusammen, weil sie so anstrengend waren, aber bald hatte er so viel Kraft gewonnen, daß er nebenbei den Schmetterlingen zugucken konnte. Die kicherten auch schon gar nicht mehr über ihn, weil er sich inzwischen wieder gorillös-elegant bewegen konnte.

Am fünfzehnten Tag seiner aktiven Rekonvaleszenz, zwei Astbreiten vor Sonnenhöchststand, entdeckte er auf einmal, daß jemand einen Spiegel vor ihm aufgestellt hatte. Er wunderte sich nicht weiter darüber, sondern freute sich über den Service – wahrscheinlich hatte Tussi mal wieder einen ihrer Tricks getrickst. Wie man sieht, ist es ein dummes Vorurteil zu glauben, Affen könnten sich nicht in einem Spiegel erkennen – Gorillas zumindest sind so selbstverliebt, daß sie immer zuerst glauben, sich selbst zu sehen, wenn sie einem schönen Gattungsgenossen begegnen.

Vanilla fand es nett, einem jungen, kräftigen Vanilla beim Sport zuzusehen. Er plusterte seine Muskeln auf, gestaltete seine Übungen besonders akzentuiert und freute sich darüber, wie gut im Spiegel alles klappte . Wirklich – er war schon wieder richtig attraktiv!

Da seine Begeisterung über sich selbst ihn voll in Anspruch nahm, litt jedoch seine Konzentration – nach einem kräftigen Anlauf erwischte er den Ast, den er für einen Klimmzug angepeilt hatte, nicht, sondern rutschte ab und purzelte gar nicht elegant zu Boden. Sein Spiegelbild aber blieb hängen – Moment mal, sein Spiegelbild? Gebildet durch Mamas exzellenten Physikunterricht wußte er, daß eine simple Reflexion sich solche Extravaganzen nicht erlauben durfte. Das war also gar kein Spiegelbild – das war ein anderer Gorilla, ein frecher Eindringling, ein Peeping Tom!

Wutentbrannt füllte Vanilla seine Lungen mit Luft für seinen Spezialkampfschrei und wollte auf den Fremden losstürmen, als der sich locker von dem Ast fallen ließ, an dem er immer noch hing, sanft in den Knien nachfederte und freundlich sagte: „Bei allen Tussis, Du bist aber gut in Form! Du hast mich weidlich schwitzen machen. Wie wärs, wenn wir künftig immer zusammen trainieren? Ich heiße übrigens Bobbo.“

Vanilla hatte zwar den zweiten Satz von Bobbo nicht verstanden – er sollte erst später erfahren, daß Bobbo aus Literatien stammte, wo die Gorillas immer so geschwollen daherredeten, weil sie sich einbildeten, von einem unendlich gebildeten Silberrücken namens Gorilla Göte abzustammen -, aber er begriff, daß der andere in friedlicher Absicht gekommen war und ihm seine Freundschaft anbot.

Warum eigentlich nicht? Es war bestimmt netter, zu zweit durch den Urwald zu tollen als allein. Alt genug schien der andere auch zu sein, jedenfalls sah sein Teil so beeindruckend groß aus, wie Vanilla es nur schaffte, wenn er ganz lange daran gezupft hatte. Wenn Mama nichts dagegen hatte…

Mama hatte nicht. Zwar runzelte sie zuerst die Stirn, als sie hörte, daß Bobbo aus Literatien stammte, weil sie meinte, daß die literarischen Gorillas unangemessen eingebildet seien. Sie drücken immer alles ganz lang und umständlich aus und kommen sich deswegen toll vor – dabei konnte man doch alles viel kürzer sagen! Die kurze und einleuchtende Theorie von Gorilla Adorno zum Beispiel hatte in Schriftform Platz auf vier Uruburublättern, in Literatien dagegen gab es einen Gorilla namens Heinrich Wirr (7) , der 400 Blätter gebraucht hatte, um dasselbe zu erklären – und dabei war es ihm noch nicht einmal gelungen, deutlich zu machen, daß er nicht einen Einzelfall abhandelte, sondern ein allgemeines Phänomen darstellen wollte.

Als sie Bobbo jedoch kennenlernte, konnte sie feststellen, daß er gar nicht eingebildet war, sondern stets höflich, charmant und zurückhaltend; nur seine Sprache war etwas ungewöhnlich. Anstatt ihr zum Beispiel einfach anzubieten, ihre Bananenbündel zu tragen, blinzelte er sie verführerisch an und sang: „Ich trage Ihre Tasch´, Madam…“ Aber das war harmloser Kinderkram.

Vanilla erhielt also die Erlaubnis, mit Bobbo loszuziehen, wann immer er wollte. Er wollte oft, und bald waren die beiden unzertrennlich. Zu ihren Lieblingsaufenthaltsorten gehörte der Tussisee. Vanilla hatte schon längst seine Angst vor dem Wasser und seinen Bewohnerinnen verloren, und Schwimmen gehörte inzwischen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Jetzt tummelte er sich zusammen mit Bobbo im Wasser. Sie schwammen um die Wette, tauchten, spritzen einander naß und freundeten sich sogar mit den Schmetterlingen an – die brachten sie auf die Idee, den Schmetterlingsstil auszuprobieren.

Tussi störte sie nie, sondern sandte ihnen nur ab und zu einen freundlichen Quak-Gruß von ihrem Lieblingsfelsen aus. Nervig waren dagegen Tussis Kinder – die wollten ständig, daß die beiden Gorillas mit ihnen spielten. Aber was sollten Gorillas mit Kaulquappen anfangen, selbst wenn es sehr nette Kaulquappen waren?

Da die Affen zu blöd waren, ergriffen die Frösche die Initiative. In einer feierlichen Kaufquappenprozession tauchte eine Delegation bei Bobbo und Vanilla auf und erklärte ihnen, welches Spiel jetzt gespielt werden sollte: Das Froschkinder – Gorillakörper – Wettrennen. Das geht so (einfache Spielregel): Bobbo und Vanilla nehmen je eine Kaulquappe in den Mund. Auf Kommando wird geschluckt. Die Kaulquappen wedeln sich dann möglichst schnell durch den Affenkörper, und wer zuerst seinen Kopf aus dem Affenarsch steckt, hat gewonnen.

Bobbo war sofort begeistert, Vanilla jedoch skeptisch. Er hatte großen Respekt vor Tussi und wollte keinen Ärger mit ihr bekommen. Was war, wenn eines ihrer Kinder sich in seinem Magen verirrte und von der Salzsäure dort drinnen zerfressen wurde? Aber die Kaulquappen lachten ihn einfach aus: „Du hast ja keine Ahnung, Du Affe, wie schnell Froschkinder sind!“

Also ließ Vanilla sich auf das Spiel ein, und siehe da, Tussis kluge Kinder hatten recht. In Sekundenschnelle absolvierten sie die Wettrennen, und bevor es ihnen zu langweilig wurde, erfanden sie Varianten: Staffelläufe wurden abgehalten und sogar Mannschaftswettbewerbe organisiert, denn die Kaulquappen hatten herausgefunden, daß so ein Gorilla-Verdauungstrakt Platz für fünf Minifrösche gleichzeitig bietet.

Nicht nur den Fröschen machte das Spiel einen Riesenspaß, sondern auch den Gorillas: Es rumpelte so schön in den Eingeweiden, und der Hintern wurde ganz warm. Es war so schön, daß Bobbo seinem Wohlsein nur in literarischen Formen Ausdruck geben konnte: „Oh wie wohl ist mir mit Frö-hö-schen, mir mit Frö-hö-schen, im Darm, im Darm!“

Nach 333 Durchläufen aber gab es einen Zwischenfall – die Froschkinder waren übermütig geworden und hatten zwei Mannschaften von je zehn Kaulquappen aufgestellt. Bei der Bobbo-Equipe war alles gutgegangen , aber das Vanilla-Team steckte plötzlich fest. Das lag nicht daran, daß die Frösche sich ineinander verhakt hätten, nein, Vanilla hatte plötzlich einen Krampf im Schließmuskel. Er konnte einfach nicht lockerlassen, auch wenn er hörte, wie die Tussikinder verzweifelt und erstickt um Hilfe zu rufen begannen.

„Tussi wird mich umbringen, aber nur sie kann helfen, ich muß sie rufen“, zuckte es durch seinen Kopf, da spürte er plötzlich Bobbo neben sich, der ihn beruhigend streichelte und dabei etwas vor sich hinmurmelte. Vanilla vernahm die Laute, ohne ihren Sinn zu begreifen.

„Bring mir ein Tuch von ihrer Brust, ein Strumpfband meiner Liebeslust…“ Dagegen nahm er sehr bewußt wahr, wie Bobbos Hand sich sanft seinem Schließmuskel näherte, wie zwei Finger in ihn eindrangen, ihn weiteten und so viel Raum schafften, daß die zehn kleinen Tussikinderlein, nach Luft japsend, den Weg in den blauen See finden konnten. Nicht nur sie, sondern auch alle anderen Kaulquappen hatten zunächst mal genug von dem Spiel „Froschkinder -Gorillakörper – Wettrennen“ und suchten Zuflucht bei Tussi.

Vanilla lag erschöpft auf der Seite und furzte leise vor sich hin.

„Sind alle gerettet?“ fragte er erschöpft.

„Ja“, sagte Bobbo und kraulte ihn zärtlich im Nacken.

„Das Spiel spiele ich nie wieder“, sagte Vanilla, „mein Hintern ist heiß wie die Hölle!“

„Die Antwort hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“, flüsterte Bobbo ihm ins Ohr und …..


Coming Out


Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die beiden jungen Gorillas probierten alles aus, was zwei junge Gorillas miteinander ausprobieren können. Gorillamama besteht allerdings darauf, daß Einzelheiten hier nicht näher erläutert werden – nur aus Rücksicht auf die menschlichen Leser, versteht sich. Aus dem öffentlich-rechtlichen Gorilla-Trommelrundfunk (8) weiß sie, daß die meisten Menschen Schwule für pervers halten und Gorillas für minderwertig. Und nun erst schwule Gorillas! Mama meint, man solle den Menschen wenigstens die Einzelheiten ersparen, wenn sie denn schon so dumm sein müssen.

Natürlich waren Bobbo und Vanilla nicht nur mit Sex beschäftigt. Sie streiften durch den Regenwald, erforschten den Grund des Gorillasees und wagten es auch, den schneebedeckten Gipfel des Kalamindschiru zu besteigen. Von ihren waghalsigen Abenteuern erzählten sie aber niemandem, nur untereinander sprachen sie darüber: Wie Bobbo fast im Schlamm des Sees steckengeblieben war, wie Vanilla beinahe oben auf dem Berg in eine Gletscherspalte gefallen wäre, wie beide nur mit Mühe dem Gorilla-Yeti entkamen, der mit geblecktem Gebiß auf sie losgestürmt war…

Von ihren aufregenden Erlebnissen erholten sie sich oft bei einem Joint. Der entspannte so schön. Natürlich versuchten sie weder „H“ noch Crack. Vielleicht hätten sie es getan, wenn es im Gorillawald Chemielaboratorien oder Puddingpulver gäbe, aber diese Errungenschaften der menschlichen Zivilisation fehlen hier, Tussi sei Dank (9) .

Manchmal, besonders nach einem wunderschönen Fick mit Bobbo (Entschuldigung, Mama!) oder nach einem besonders aufregenden Ereignis, geriet Vanilla in wunderliche Zuckungen: Es begann bei den Zehen, ergriff die Unterschenkel, die Oberschenkel, die Hüften, den Oberkörper, die Arme, den Kopf. Dann schien er aggressiv zu werden, denn er griff den nächstbesten Baumstamm an, der in seiner Reichweite lag, und schien ihn zertrümmern zu wollen – aber das sah nur so aus. Er schlug rhythmisch auf ihn ein, und je mehr Anfälle er hatte, desto abwechslungsreicher und eingängiger wurden die Lautfolgen, die er produzierte.

Bobbo hatte, selig im Kiffrausch oder in postorgiastischem Dösen, diese Ausbrüche zunächst ruhig beobachtet, bis ihm beim siebzehnten Mal ein Uruburu-Sieder aufging: Vanilla trommelte! Vanilla war musikalisch!

Bei ihrem nächsten Treffen brachte er seinem Freund eine Überraschung mit. Er hatte einen Baumstumpf ausgehöhlt und ihn mit der Haut eines toten Leoparden, die er sorgfältig gegerbt hatte, überspannt.

„Gebt uns ein Lied!“ sagte er und grinste Vanilla an, aber der glotzte nur verständnislos.

Seufzend ließ Bobbo sich auf das Sprachniveau seines Freundes herab: „Hier, jetzt kannste Mucke machen!“

Vanilla war begeistert. Er trommelte los wie nie zuvor. Er hatte nie was von Percussion gehört, aber er holte alles aus dem Leopardenfell raus, was drin war. Er trommelte, bis er erschöpft einschlief.

Im Traum (10) zerriß er das Leopardenfell. Es machte ihm Spaß, und gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen. Aus der zerstörten Trommel wuchs ein Frauenkörper mit ganz langem Hals, dem er wunderschöne Melodien entlockte. Mit Kopfschmerzen wachte er auf. Die kamen, das wußte er, weder vom Sex noch vom Haschisch: Er hatte das Gefühl, Bobbo betrogen zu haben.

Vanilla wußte nicht, was er tun sollte. Mama fragen? Die wußte immer auf alles eine Antwort, aber allmählich fühlte er sich zu alt, um immer noch zu ihr zu laufen. Die Gorillahexe? Von Mama wußte er, daß es sie gab, aber er kannte den Weg zu ihr nicht. Bobbo? Unmöglich… Also blieb Tussi. Aber Tussi war immer so – – – eigenartig. Andererseits – Tussi hatte immer geholfen.

Vanilla ging zu Tussi und erzählte ihr von seinem Traum. Darauf passierte genau das, wovor er sich gefürchtet hatte: Tussi kicherte. Und dann geschah, wovor er noch mehr Angst hatte: Tussi runzelte ihre Froschstirn. War sein Fall so kompliziert? Er wagte nicht zu fragen.

„Kein Grund zur Aufregung, Stinker“, sagte Tussi. „Es handelt sich nicht um ein libidinöses Problem. Alles nur eine Frage der Materialbeschaffung. Ich denke mal, bis morgen zum Nachmittagsmittsonnenstand haben wir das bewältigt, dann darfst Du wiederkommen. Ich muß ein wenig revidieren…“ Sprach´s, hüpfte davon und ließ einen verwirrten Vanilla zurück: Jetzt redete Tussi schon genauso unverständlich wie Bobbo.

Rastlos trottete er durch den Nebelwald und merkte erst nach Stunden, daß er ständig vor sich hin murmelte: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr.“ Es war unmöglich, den Ohrwurm, den er mal von Bobbo aufgeschnappt hatte, aus dem Kopf zu bekommen, und so plapperte er ihn einfach weiter – schlafen konnte er sowieso nicht. Nach einermillionundvierhundertdreiundneunzigtausendzweihundertzweiundzwanzig Wiederholungen war endlich der nächste Nachmittagsmittsonnenstand herangekommen, und Vanilla fand sich bangen Herzens wieder am Tussisee ein. Bei den Geistern aller Silberrücken – das war ja noch schlimmer, als er befürchtet hatte! Nicht nur Tussi erwartete ihn, sondern ihre ganze Riesenfamilie, alle Kinder genau nach Größe geordnet (die Kleinsten ganz außen), säumte das Ufer.

Tussi machte es aber gar nicht feierlich.

„Tach auch“, sagte sie einfach und griff hinter sich. „Die Kiddies sind bloß alle gekommen, weil sie die Premiere nicht versäumen wollten. Hier ist also deine Frau – schlag sie, zupf sie, streichle sie nach Kräften, hihi!“

Vanilla begriff nicht, wie ihm geschah, aber plötzlich hatte er Tussis Geschenk in den Händen und tat, wie ihm geheißen. Begeistert klatschten alle Kaulquappen ihm Beifall und wiegten sich synchron mit jeder Bewegung seiner Finger hin und her. Der Funke sprang über: Vanilla arbeitete schneller, stampfte dazu hin und her, sprang auf und ab und begann schließlich zu singen:


„There was a Gorilla

whose name was Vanilla

he lived in the wood

near Nottinghamshrood!“

Die Frösche hüpften, der Urwald dröhnte, Vanilla geriet mehr und mehr in Ekstase. Er hätte wohl stundenlang weitergemacht, wäre nicht plötzlich Mama auf ihn zugestürzt. Voller Wut brüllte sie ihn an: „Du vermenschtes rücksichtsloses Kind! Was fällt Dir eigentlich ein! Von mir hast Du das nicht gelernt!“

Verschreckt ließ Vanilla seine Arme sinken und guckte Mama unglücklich an: Was hatte er denn falsch gemacht?

Schon etwas versöhnlicher grummelte Mama: „Dein Krach stört die Silberrücken beim Abendpalaver. Der Ältestenrat hat sich bei mir beschwert. Also hör jetzt auf!“

„Buh!!!“ schrien alle Tussikinder und pfiffen, was die Kiemen hergaben. Gebieterisch winkte Tussi ab. „Ach ja,“ spöttelte sie, „der Ältestenrat! Wir feiern hier die Urwaldentdeckung des Jahrhunderts, und die Herren fühlen sich beim Verdauen ihrer Uruburudesserts gestört. Na gut, für heute ist Schluß. Aber“, sagte sie zu Mama, „du kannst die Greise schon mal darauf vorbereiten, daß sie morgen früh mit meinem hochoffiziellen Besuch rechnen können. Ich werde ihnen dann mal eine kleine Vorlesung über Talente halten. Und jetzt ab ins Bett, Kinder!“

Sofort hüpften alle Kaulquappen in hohem Bogen ins Wasser, und als der letzte Schwanz verschwunden war, folgte ihnen Tussi mit einem eleganten doppelten Salto. Kopfschüttelnd trottete Mama zurück ins Gorilladorf, und Vanilla blieb verloren am Ufer zurück.

Er erschrak fürchterlich, als sich nach einer Weile eine Hand auf seine Schulter legte – Bobbo stand hinter ihm. Bobbo! Bobbo, den er betrogen hatte! Vanilla machte sich auf alles gefaßt, nur auf das breite Grinsen, das sich jetzt über Bobbos Gesicht legte, war er nicht vorbereitet.

„Affengeil, das Instrument! Und du bist auch nicht schlecht. Wenn wir das noch ein bißchen üben – ein Froschchor dazu wäre auch nicht schlecht – und natürlich brauchst du bessere Texte…Ich hab da schon eine Idee für einen Song, der Anfang geht so: „Es war einmal ein Affe, der hatt´ einen großen Floh…“ Was hältst Du davon? Wir werden DER Hit!“ Kräftig haute er Vanilla auf die Schulter und gab ihm anschließend einen Kuß: „Oh Gorilla, bin ich stolz darauf, einen Freund zu haben, der so prima Gitarre spielen kann!“

Erst am nächsten Morgen war Vanilla in der Lage, Bobbo stückweise zu erklären, warum er danach so plötzlich in Ohnmacht gefallen war.


 

The Band

 


Bobbos sorgfältig ausgearbeiteter Übungsplan – jeden Tag zwei Stunden Harmonielehre, zwei Stunden Gitarrenunterricht und zwei Stunden Gesangslehre – erwies sich als völlig überflüssig. Vanilla war einfach ein Naturtalent. Schon neun Stunden nach seinem ersten Auftritt vor der Froschfamilie stellte er sich dem Rat der Silberrücken und brillierte mit einem Text von Bobbo: „Oh, when the apes go marching in“. Die alten Herren waren begeistert und hielten sich allesamt für Affen.

Das Ergebnis des Konzerts war positiv: Vanilla erhielt, offiziell auf einem Uruburublatt-Dokument niedergeschrieben, die Erlaubnis für eine Tournee durch den Regenwald. Bobbo und 50 Tussikinder als Chor sollten ihn begleiten dürfen.

Tussi war stinksauer, als sie davon erfuhr, aber dann sagte sie zu Vanilla: „Wart` mal einen Moment.“ In einem stillen Seewinkel drückte sie 50 Eier ab, richtete sie geschmackvoll auf einem Seerosenblatt an und übergab sie dem Jungstar: „Da hast du sie, Stinker. Wenn du sie ordentlich fütterst, können sie spätestens in drei Tagen singen.“

Die Band zog davon, und der Urwald bebte. Uruburu- und Oroborobäume tanzten, Lianen verdoppelten ihr Wachstumstempo, und Epiphyten fielen massenweise zu Boden – sie hatten sich vor lauter Begeisterung nicht mehr festhalten können. Der ganze Urwald war nur noch ein einziger Vanilla-Sound.

Der ganze Urwald? Nein, mehr als das. Vanillas Rock-Funk-Punk-Sound drang weiter hinaus. Dorthin, wo die Menschen leben, die Holzfäller. Wie elektrisiert zuckten ihre Glieder, und bei 10% der Holzfäller führte das dazu, daß sie die Riesenurwaldbäume noch schneller fällten als bisher. 90% aber reagierten auf die Musik ganz anders. Sie trafen mit ihren Äxten und Sägen nicht mehr die Bäume, sondern hackten unkontrolliert drauflos und verstümmelten sich zum Teil selbst.

Den Holzfällerherren gefiel das gar nicht. Sie meinten, man müsse gegen diese Gorillaband etwas unternehmen. Aber dafür mußte man sie erst einmal kennenlernen. Was also lag näher, als Vanilla, seinen Texter Bobbo und den Froschkinderchor einzuladen? Per Urwaldfunk erreichte Vanilla ein entsprechender Vorschlag:

„Bois de Boulogne für Vanilla-Konzert reserviert STOP Gage 100 000 Francs STOP Unterkunft gesichert (zwei Zookäfige, eine Badewanne) STOP“.

Vanilla hatte immer noch große Probleme mit der ungewohnten Publicity, und er versuchte, sich Rat zu holen.

Mama blieb reserviert: „Paris! Wenn`s denn schon sein muß, dann vergiß bloß die Pariser nicht.“

Bobbo meinte: „Paris, affengeil! Ich hab da von einem Lederladen am Place Pigalle gehört…“

Und Tussi: „Zu den Menschen willst Du? Nach Paris? Da war ich auch mal. Mein Tip: Nimm Dir eine Knarre mit und bring mir auf dem Rückweg eine Flasche Schlampanski mit.“

In Vanillas Kopf wolkten Fragezeichen, aber die machten ihn nicht ängstlich, sondern nur neugierig.

Blieb das Problem: Wo war eigentlich Paris?

Bobbo mußte passen: „Ich kenne nur den Weg nach Leipzig, es ist ein klein Paris und bildet seine Leute! Irgendwo im Norden muß es sein…“

Das half Vanilla auch nicht viel weiter, aber als er auf der Suche nach dem Weg nach Paris den Nebelwald durchstöberte, fand er einen alten Atlas.

Er schlug eine Weltkarte auf und suchte am oberen Rand – Norden war oben, das wußte ein gebildeter Gorilla selbstverständlich. Leise murmelte er vor sich hin: „Kapstadt, Feuerland, Queen Victoria Land…Komisch, daß die Namen alle auf dem Kopf stehen…“

Leise kicherte es über ihm – das kannte er doch? Da machte sich wieder mal ein Schmetterling über ihn lustig! Früher hatte er sich das gefallenlassen müssen, aber der Urwaldrockkönig Vanilla ließ sich nicht mehr verspotten! Zornig sprang Vanilla auf die Füße und begann, den Schmetterling zu jagen. Der tänzelte in einem eleganten Halbkreis vor ihm davon. Vanilla folgte, und als er gerade glaubte, den Kicherer erwischt zu haben, stolperte er über eine Baumwurzel. Platsch! Wieder hockte er vor dem Atlas, und plötzlich stand die Schrift nicht mehr auf dem Kopf. Wie gut, daß ihn außer dem Schmetterling vorher niemand gesehen hatte – welch eine Blamage, das Buch verkehrt herum zu halten!

Jetzt fand er Paris ganz schnell – das war aber weit weg, stellte er fest. Wenn er da hinkommen wollte, mußte er erst durch den Regenwald, dann durch ein endloses Gebiet namens Sahara, dann über eine Meerenge, dann durch Spanien, über die Pyrenäen (ob das wohl Menschen waren? Vanilla hatte schon mal etwas von Pygmäen gehört.) und schließlich noch durch Frankreich.

Vanilla beriet sich mit Bobbo. Der zerstreute einen großen Teil seiner Bedenken: Über die Meerenge, meinte er, könne ein Gorilla ohne weiteres rüberspringen, außerdem gebe es da Säulen von einem Herrn namens Herkules, von denen könne man sich bestimmt prima abstoßen. Die Pyrenäen seien auch nicht schlimm, das seien keine Menschen, sondern ein Gebirge, und auf Befehl Hannibals seien da schon vor 2000 Jahren Elefanten rübergeklettert, und was Elefanten können, sei für Gorillas doch erst recht machbar. (Man sieht, der Schulunterricht in Literatien ist weniger der historischen Wahrheit als der dichterischen Freiheit verpflichtet.)

Sorge aber bereitete beiden die Sahara. Das ist eine Wüste, wußte Bobbo, und Vanilla schauderte es, als er erfuhr, daß es in einer Wüste kaum Wasser gibt. Für einen Nebelwaldgorilla, der der sich mehrmals täglich immer wieder am Funkeln der Regentropfen erfreut, ist schon die Vorstellung von einer solchen Gegend unerträglich.

„Gorilla, bleib bei deinen Urwaldleisten“, murmelte er vor sich hin. „Wir reisen nicht!“

Tussi aber war mit dieser Entscheidung überhaupt nicht einverstanden. „Hier wird nicht gekniffen!“ beschied sie Vanilla, „du fährst hin und bringst mir meinen Schlampanski mit, verstanden? Ihr könnt auch mein Tussimobil haben!“

Tussimobil? Weder Bobbo noch Vanilla konnten sich darunter etwas vorstellen, aber das war auch gar nicht nötig: Tussi sackte sie und ihre 50 Kinder einfach ein, programmierte den Bordcomputer auf Paris und schickte sie los.

Die Band fand sich in labilem Gleichgewicht wieder: Das Tussimobil war auf der Spitze einer gläsernen Pyramide gelandet. Der Louvre ist das Herz von Paris, hatte Tussi beschlossen, und da waren sie nun. Die Reisenden störte das gar nicht: Die Froschkinder stiegen zuerst aus und machten beim Runterrutschen das Glas schön schlüpfrig, und Vanilla und Bobbo sausten ihnen jauchzend hinterher. Die zahlreichen Menschen aber, die Zeugen der Ankunft waren, reagierten merkwürdig: Viele rannten kreischend davon und brüllten: „Der Löwe ist los!“; die anderen beschwerten sich darüber, daß wegen des Froschschleims die Glaskuppel undurchsichtig geworden war, und wollten ihr Eintrittsgeld zurück.

Mindestens so überrascht waren die Holzfällerherren. Sie hatten ihre Einladung doch erst vor wenigen Stunden abgeschickt, und nun waren die Affen schon hier! Aber Holzfällerherren sind flexibel, weil sie genug Menschen beschäftigen, die für sie denken und handeln. Bereits 22 Minuten nach der Ankunft der Band traf ein Empfangskomitee ein.

„Wie schön, daß ihr hier seid! Wir sind davon überzeugt, daß ihr die europäische Musikwelt revolutionieren werdet! Euer erstes Konzert ist für morgen angesetzt. Jetzt solltet ihr euch erstmal ausruhen – sicherlich war die Reise sehr anstrengend!“

Bobbo, Vanilla und die Froschkinder hatten die Reise überhaupt nicht als anstrengend empfunden, aber sie wollten nicht unhöflich sein und folgten der Einladung. Bobbo und Vanilla bezogen ihre Käfige, in denen ein Bananenarrangement auf sie wartete, und die Kaulquappen hüpften in die vorbereitete Badewanne.

Alles schien in Ordnung, aber nur bis zum nächsten Morgen. Bobbo meinte, daß der erste Auftritt bei den Menschen gut vorbereitet sein müsse, und er hatte deshalb eine Vormittagsprobe angesetzt. Als er aber seinen Käfig verlassen wollte, stellte er fest, daß das nicht möglich war – ein dickes Schloß versperrte den Weg in die Freiheit.

Er rüttelte an der Tür. Vergeblich. Er spähte nach oben, in der Hoffnung, aus dem Käfig herausklettern zu können. Vergeblich. Stacheldraht versperrte den Himmel. Er rief Vanilla. Vergeblich. Vanilla schlief noch und erträumte neue Melodien. Er rief die Froschkinder. Vergeblich. Keine Antwort.

Als Vanilla plötzlich aufwachte, hörte er den Text, nach dem er für seinen neuen Song gesucht hatte:

„Mein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, daß ihn nichts mehr hält.
Mir ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und außer tausend Stäben keine Welt.“

„Super, Bobbo!“ brüllte er. „Du hast´s mal wieder voll getroffen!“

„Ja, Vanilla, murmelte Bobbo, „so kann man das nennen.“

Erst allmählich begriff Vanilla, was passiert war. Die Holzfällerherren wollten sie töten, und wenn sie das geschafft hatten, konnten sie den Regenwald endlich ungestört vernichten. Konzert im Bois de Boulogne – phh! Eine Falle war das, und er, und nicht nur er, war darauf hereingefallen. Die Band mußte hier raus!

Die Holzfällerherren hatten einen Fehler begangen: Vanilla hatte seine Gitarre mit in den Käfig nehmen können. Ganz leise und vorsichtig begann er zu spielen: „Es war einmal ein König, der hatt´ einen großen Frosch..“ und genauso vorsichtig kam die Antwort: „Es war einmal ´ne Fröschin, die hatte 50 Kinder…“

Nach und nach informierten die Froschkinder Vanilla über ihre Situation. Sie hockten zusammen in einer Badewanne, in deren Abfluß ein zu kleiner Stöpsel saß – offensichtlich wollten die Holzfällerherren sie austrocknen. Die bösen Menschen wußten aber nicht, daß Frösche im Zustand der akuten Lebensbedrohung sich zu einem Kollektivhirn zusammenschließen können – und genau das taten die Kaulquappen gerade. Sie riefen ihre Mutter zu Hilfe – und sie erreichten sie.

dieseschweinemäßigen Scheißmenschen!schimpf

schimpfte Tussi und machte sich höchstpersönlich auf, um ihre Kinder und die beiden Gorillas zu retten.

Paris erlebte den kräftigsten Tornado, seit es Lutetia gibt – erstaunlicherweise wurde nur der Zoo völlig verwüstet. Alle Käfige wurden zerstört, und nach dem Abflauen des Sturms fand man die Käfigstangen verbogen als Salzbrezeln wieder. Alle gefangenen Tiere waren spurlos verschwunden.

Spurlos? Oh nein, am Tussisee trafen sich alle wieder und vergnügten sich auf der von Tussi veranstalteten Freiheitsparty. Die Fröschin freute sich zwar über ihre erfolgreiche Rettungsaktion, aber sie mußte sich beim Feiern mit Urwaldschaumwein begnügen und vermißte den aus Paris bestellten Schlampanski schmerzlich…nicht nur deshalb sann Tussi auf Rache.


 

Die Errettung der Welt

 


Mama merkte es als erste – kein Wunder, seit sie nicht mehr alleinerziehende Mutter eines nicht ganz unkomplizierten Gorillas war, hatte sie viel Zeit zu beobachten, was um sie herum vorging. Anders die anderen – die Silberrücken veranstalteten unermüdlich unendliche Palaver und brüsteten sich mit den Heldentaten ihrer Jugend voreinander, und die Band interessierte Trommeln nur in Hinblick auf Musik. Genau das aber fehlte, hatte Mama festgestellt – das tägliche Trommeln der mittäglichen Regentropfen auf das Regenwalddach.

Zuerst machte sie sich nicht allzu viele Gedanken und ging von der These aus, daß wohl ein ungewöhnlich hohes Hoch sich Zentralafrika ausgesucht haben müsse, um sich von seinen atmosphärischen Wanderstrapazen zu erholen. Als aber nach sieben trockenen Tagen die Blätter der Uruburubäume lappig wurden – und das empfand Mama als sehr ärgerlich, denn sie hatte sich vorgenommen, an diesem Tag ein Bananensoufflé in seiner Blätterhülle zu backen – ging Mama zum Tussisee. Erstens hatte sie das Bedürfnis, ihre heißen Füße zu kühlen, und zweitens wollte sie Tussi auf das Regenproblem aufmerksam machen.

„Ja, ja, wir Frauen sind doch sensibler!“ kicherte Tussi nach vielen Umarmungsbegrüßungen. „Du hast es also gemerkt, aber die Machokerle sind so blind vom Glauben an ihre männliche Bedeutsamkeit, daß sie wohl erst aufwachen, wenn die Welt untergeht. Das dauert übrigens nicht mehr lange!“

Mama war von Tussis Begrüßung so geschmeichelt, daß der letzte Satz nur langsam in ihr Bewußtsein sickerte. „Was hast du gesagt?“ fragte sie entsetzt. „Die Welt geht bald unter?“ Aber was wird dann aus dem Nebelwald, aus uns allen und vor allem aus Vanilla?“

„Keine Sorge“, zwinkerte Tussi ihr zu, „die Welt geht auch wieder auf, und keiner wird`s merken. Aber du hast ja schon was gemerkt, also werde ich dich in meinen Plan einweihen. Aber wehe, du verrätst was!“

„Ich werde schweigen wie eine Gorillafrau!“ versprach Mama, und Tussi flüsterte ihr zwei Stunden und 22 Minuten lang intensiv ins Ohr. Nicht mal die Froschkinder bekamen auch nur einen verständlichen Laut mit, obwohl sie intensiv zu lauschen versuchten.

Aufgeregt stampfte Mama danach nach Hause und backte ihr Bananensoufflé, um sich ein wenig abzulenken, aber sie war so unkonzentriert, daß sie das Backpulver vergaß. Als sie ihr Werk aus dem Erdbackofen holte, ähnelte es einem verschrumpelten Pavianarsch, und Mama warf es angeekelt weg – Gorillas mögen nämlich keine Paviane, erstens allgemein nicht und zweitens schon gar nicht als Essen. –

Nicht nur im Nebelwald hatte es aufgehört zu regnen – es regnete nirgendwo mehr auf der Erde. Der Sahara fiel es leicht, das zu ertragen – eine Wüste ist daran gewöhnt, ohne Wasser auszukommen. Anders erging es den Menschen, also den Holzfällern und ihren Holzfällerherren. Sie brauchten am Tag ungefähr vier Liter Wasser, und das war immer schwerer zu beschaffen. Dabei narrte sie der Himmel und versprach ihnen mindestens einmal täglich das ersehnte Naß: Dicke blauschwarze Wolken zogen auf, grelle Blitze zuckten, und dumpf grollte der Donner. Aber immer dann, wenn es so aussah, als müßte das Gewitter jetzt endlich losbrechen, nahmen die Wolken die Gestalt eines riesigen Frosches an, der das Firmament völlig bedeckte, und statt des Donners hörten sie eine entsetzliche Stimme:

„Ich bin der Geist, der euch verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was Mensch macht,
ist wert, daß es zusammenkracht;
Also, ihr Ärsche: Gute Nacht“!

(Wie man sieht, ist Tussi bei Bobbo in die Schule gegangen, aber man merkt auch, daß sie nur einen Schnellkurs belegt hat.)

Am fürchterlichsten für die Menschen aber war das Gelächter, das im Anschluß an diese Drohung über die Erde schallte.

In Paris entwickelten sich die Dinge so wie überall, jedenfalls im Prinzip. Nachdem die Seine ausgetrocknet war, kauften die Holzfällerherren die Champagne mit allem beweglichen und unbeweglichen Inventar, um an Flüssigkeiten zu kommen. Eine Weile hielten sie sich so mit edlem Champagner über Wasser und machten Tussi dadurch, ohne es zu wissen, noch zorniger.

Als auch diese Vorräte erschöpft waren, begannen die Holzfäller, die noch nicht vertrocknet waren, auf Befehl ihrer Herren, den Bois de Boulogne abzuholzen, um das Wasser aus den Bäumen zu pressen. Das Baumwasser sollte in Badewannen in den Herrenhäusern gesammelt werden, aber durch die anhaltende Dürre waren die Gummi-Badewannenstöpsel zusammengeschrumpft und spröde geworden, so daß die Dreiecksbadewannen und Hot Tubs unaufhaltsam leerliefen – warum sollte es den Menschen anders gehen als Froschkindern?

Nach diesem gescheiterten Projekt suchten die Holzfällerherren nach Holzfällern, denen sie befehlen konnten, für sie zu urinieren – aber es gab keine Holzfäller mehr. Alle waren irgendwann tot umgefallen und dann innerhalb von 22 Minuten zu Staub zerbröselt. Da die Herren niemals gelernt hatten, selbst zu arbeiten, blieb ihnen nur übrig, auf den Zeitpunkt zu warten, wo sie auch tot umfallen würden.

Nach 22 Monaten gab es keinen Menschen mehr auf der Erde, kein Tier lebte, keine Pflanze. –


„Weiß du, Tussi, ein bißchen anders ist es schon hier“, sagte Mama, als sie wieder mal zum Besuch am Gorillasee war. „Die anderen haben es da einfacher, weil du vor dem Umzug ihr Gedächtnis gelöscht hast. Deshalb finden sie es völlig normal, daß hier die Zeit mal rückwärts und mal vorwärts läuft, je nachdem, wie sie es gerade wünschen. Ich krieg da immer noch manchmal Schwindelanfälle – läuft die Zeit vorwärts, ist der Himmel blau, läuft sie rückwärts, ist er grün; im ersten Fall ist der Urwald dreidimensional, im zweiten hat er eine Dimension mehr – ob ich mich jemals dran gewöhnen werde?“

„Keine Sorge, kommt Zeit, kommt Gewöhnung“, antwortete Tussi. „Immerhin mußt du zugeben, daß es hier in meiner Parallel-Tachyonenwelt spannender ist als auf der versifften alten Erde. Und wir werden für Äonen unsere Ruhe haben – Prometheus spiele ich nie wieder. Der einzige Vorzug der Menschen war, daß sie Schlampanski machen konnten, aber davon habe ich auch nie genug abbekommen. Ich werd mich halt an Bananenwein gewöhnen… Was hältst du eigentlich davon, wenn wir heute abend ne Party für alle feiern? So zur Begrüßung? Ich mach die Getränke, du das Essen und die Band die Mucke!“

„Gute Idee“, sagte Mama begeistert. „Wie wär´s mit Bananencharcuterie, Bananenauflauf und zum Schluß mit einem Bananensoufflé?“

Tussi war einverstanden, und Mama sauste los zum Bananensammeln.

„Vergiß nicht, die Zeituhr auf „vorwärts“ zu programmieren“, rief Tussi ihr nach, „sonst wird das mit dem Essen nie was…“


 

Tussigödelescherbach

 


Auch eine vierdimensionale Welt mit variabler vorwärts- oder rückwärts laufender Zeit ist nicht so kompliziert, wie mensch sich das vorstellt – gorilla kommt damit glänzend zurecht. Mamas Festessen gelang hervorragend. Alle Affen fraßen sich so voll, daß sie anschließend nur mit Mühe in ihre Blätternester wanken konnten, und die Gorillas, die ihre Schlafstätten unvorsichtigerweise in der luftigen Höhe von 50 Zentimetern gebaut hatten, bezahlten ihre Tollkühnheit in der Nacht nach dem Festmahl damit, daß ihr Schlafzimmer wegen Überlastung unsanft auf den Boden krachte. Im Tussisee stieg der Wasserspiegel um 40 Zentimeter, weil jede Kaulquappe ihr Volumen verdoppelt hatte. (11) Sogar die cleveren Schmetterlinge hatten Mühe, so elegant wie gewohnt auf ihren Lieblingsblüten zu balancieren, weil sie in unbeobachteten Augenblicken reichlich vom Bananenwein genascht hatten.

Es hatte sich also im Urwald nichts geändert – wenn alle Tiere gemeinsam ein Fest feierten und die Zeit vorwärts lief, war das schon immer so gewesen. Aber – nicht immer taten alle alles gemeinsam! Und manchmal lief die Zeit nicht vorwärts…

Vanilla und Bobbo entwickelten einen großen künstlerischen Ehrgeiz. Sie waren sich dessen nicht bewußt, und wenn man sie gefragt hätte, warum sie das taten, hätten sie keine Antwort gewußt – schließlich hatten sie schon vorher einen riesengroßen Erfolg gehabt. Aber sie spürten tief in ihrem Innersten, das nur die Tiefenpsychologie (12) hätte erklären können, daß sie Tussis wegen so handelten. Irgend etwas fehlte der Fröschin, und sie versuchten, ihr das zu ersetzen.

So gut sie einander auch verstanden – beim Komponieren gingen ihre Vorstellungen oft auseinander. Vanilla ließ sich von Stimmungen und von Dope inspirieren, während Bobbo immer Stapel von Büchern mit sich herumschleppte, literarische Vorlagen zitierte und auf musikalisch-ästhetische Theorien verwies. Manchmal konnte es dabei ganz schön heiß hergehen – Vanilla klimperte einfach selbstvergessen ein Riff vor sich hin, worauf Bobbo sofort kritisierte, daß dabei zwar Zwölftonmusik angelegt, aber nicht konsequent durchgehalten worden sei, wo doch die Werke der Gorillas Berg und Schönberg zeigten, wie man das richtig mache, und auch schon bei dem polnisch-spanischen Affen Chopin sei davon etwas spürbar, obwohl der natürlich theoretisch noch gar nicht begriffen habe, was der da mache, aber kein Wunder, er war ja auch kein Afrikaner…

Als Bobbo begann, Vanilla einen Vortrag über europäisch-afrikanische Harmonielehre und die Ursprünge der Musik der zivilisierten Welt in Ägypten und Griechenland zu halten, war Vanillas Geduld zu Ende, und er begann eine ernsthafte Prügelei mit Bobbo, die zuerst zu blauen Flecken, dann zu Knutschflecken und endlich zu einem urwalderschütternden gemeinsamen Orgasmus führte. Trotz des Happyends zogen die beiden aus dieser Erfahrung eine sinnvolle Konsequenz: In Zukunft wollten sie erstmal getrennt schöpferisch tätig sein und dann in Ruhe ihre Ergebnisse miteinander austauschen.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen packte Bobbo einen Rucksack voller Bücher zusammen und stapfte tief in den Regenwald, um zu texten. Da er zwar wußte, daß er das gut konnte, aber auch glaubte, die alten Meister Literatiens nicht erreichen zu können, las er unter einem Uruburubaum erst mal stundenlang Gedichte – natürlich von Gorilla Göte, aber auch von seinen anderen literarischen Lieblingsaffen: Schiller, Rilke, George und Benn.(13) Von so viel Lyrik wurde er allmählich ganz schläfrig, das gerade aufgeschlagene Buch glitt ihm aus der Hand, er blinzelte noch ein wenig durch die Blätter in den grünen Himmel und sank dann in einen schöpferischen Schlummer.

Als er erwachte, war der Text für Vanillas neuesten Song in seinem Kopf fix und fertig, und er brauchte ihn nur noch mit einem Lianengriffel in ein großes Arabarablatt zu ritzen:

„Ein Affe auf der Wiese stand
Unschuldig noch und unbekannt;

Es war ein süßer Affe.

Da kam ein junger Gorilla hin

Mit leichtem Schritt und munterm Sinn

Dahin, dahin,

Die Wiese hin, und sang.

Ach! denkt der Affe, wär ich nur

Das schönste Männchen der Natur,

Ach, nur ein kleines Weilchen,

Bis mir Gorilla zugenickt

Und dann ein bißchen sanft gefickt!

Ach nur, ach nur

Ein Viertelstündchen lang!

Ach! aber ach! Gorilla kam

Und gar nicht sanft den Affen nahm,

Reißt auf den armen Affen.

Er sank und litt und freut` sich noch:

Und leid ich denn, so leid ich doch

Durch ihn, durch ihn,

Zu seinen Füßen doch.

 

Die letzten Verse kritzelte Bobbo hastig auf das Blatt, denn es begann bereits zu dämmern. Eilig warf er seine Bücher in den Rucksack, pflückte sich noch eine Banane als Wegzehrung – erst jetzt bemerkte er, wie hungrig ihn die schöpferische Tätigkeit gemacht hatte – und schlug den Weg nach Hause ein, wo Vanilla schon sehnsüchtig auf ihn wartete.

Vanilla hatte zum Komponieren Mamas Nähe gesucht – er liebte es, wie in seiner Kindheit ihren Geruch zu verspüren, und wenn sie beim Kochen vor sich hin murmelte, inspirierte ihn das. Und Mamas Lieblingstätigkeit hatte natürlich einen angenehmen Nebeneffekt: Gekochtes konnte man essen, und Vanilla futterte noch immer für sein Leben gern. Heute servierte sie eines ihrer Meisterwerke: Bananenkeulchen, gefüllt mit Mango-Blättermousse. (14)

Vanilla komponierte und aß, aß und komponierte. Mit seiner schöpferischen Tätigkeit, das registrierte er ab und zu aus den Augenwinkeln, schien er mal wieder den Nerv des Urwalds zu treffen: Alles, was lebte (15), zuckte im Rhythmus seiner neuen Melodie. Nach dem opulenten Essen übte er einige schwierige Stellen noch ein paarmal, bevor er sich den verdienten Verdauungsschlaf gönnte – er war so müde, daß ihn auch die Schmetterlinge, die unbedingt weiter nach seiner Mucke tanzen wollten, lange Zeit nicht wachkitzeln konnten.

Nach Stunden gelang ihnen das aber doch: Vanilla rieb sich die Augen und stellte fest, daß die Sonne schon tief am Horizont stand. Gereizt wischte er den Schmetterlingsschwarm zur Seite und hielt Ausschau nach Bobbo, aber von dem war nichts zu sehen. Um ihn war Stille, abgesehen von wohligem Grunzen: Die gesamte Gorillahorde hatte sich an Mamas Festessen gütlich getan. Es dunkelte. Vanilla begann, sich Sorgen zu machen: Er wußte, daß Bobbo sich tief in den Urwald zurückgezogen hatte. Wenn er sich nun in der Nacht verirrte? Er mußte ihn suchen gehen!

Leider schlief auch Mama tief und fest, und Tussi hockte melancholisch unter der Wasseroberfläche ihres Sees: So konnte ihn niemand aufhalten oder vor den Gefahren der neuen Welt warnen.

Vanilla brach auf. Er tauchte ein in die Nacht des Regenwaldes. Schwärze umgab ihn. Immerhin hatte er seine Gitarre mitgenommen, in der Hoffnung, daß Bobbo hören würde, wenn er spielte. Und so spielte er denn, während er ging. Der Nachteil dieses Verfahrens bestand darin, daß er sich nicht mit den Händen vorwärts tasten konnte, und so rummste er immer wieder gegen dicke Bäume und verfing sich in Lianen. Zum Glück hatte er ja gut gesessen, so daß ihn die Energie nicht verließ. Aber weil es so stockfinster war, bemerkte er nicht, daß sich um ihn herum plötzlich eine Veränderung vollzog: Blätter schrumpften allmählich und wechselten die Farbe von dunklem zu hellem Grün. Ganz junges Laub zog sich wieder in die Knospe zurück. Nachtschmetterlinge wurden starr und falteten sich zusammen, und um sie herum wuchs eine Chitinhülle. Fast unmerklich schrumpften alle Pflanzen.

Unverdrossen stapfte Vanilla vorwärts und rief Bobbo mit seiner Gitarre. Ab und zu schrie er auch:

„BOBBO!“

Endlich, nachdem er schon vierundfünfzig blaue Flecken hatte, hörte er schwach in der Ferne eine Antwort:

„VANILLA!“

Hurra, es war geschafft! Abwechselnd rufend und mit schrillen Cis-Dur-Akkorden der Gitarre bewegten sich Bobbo und Vanilla aufeinander zu. Lauter und klarer wurden ihre wechselseitigen Signale. Bald hörten sie einander so deutlich, daß sie meinten, nur wenige Meter voneinander entfernt zu sein – aber dann verloren sie einander wieder. Eben hatten sie noch miteinander in Gorillanestlautstärke reden können, und jetzt mußten sie wieder brüllen, wenn sie überhaupt noch einen Laut vom anderen wahrnehmen wollten. Was war das? Wahrscheinlich nur äffische Dummheit – sie versuchten es ein zweites Mal, ein drittes, ein viertes, schließlich hörten sie auf zu zählen. Sie liefen einfach weiter und riefen einander, die ganze Regenwaldnacht lang, bis sie beide fast gleichzeitig mit dem Kopf gegen einen niedrighängenden Ast bumsten und k.o. zu Boden gingen.

Die Sonne ging über dem Gorillawald auf. Eine ganz junge violette Orchidee blinzelte in den grünen Himmel und zog sich in ihre Knospe zurück. Vanilla und Bobbo fühlten die warmen Strahlen, drehten sich einmal um ihre Längsachse und schlugen die Augen auf. Vanilla sah Bobbo. Bobbo sah Vanilla. Beide waren genau zwei Meter voneinander entfernt.

„Wieso bist Du denn hier? Ich habe Dich die ganze Nacht lang gesucht!“ sagten sie wie aus einem Mund.

Aber dann mußten sie einander erstmal herzhaft begrüßen, und dazu brauchten sie keine Antworten, wohl aber eine halbe Stunde. Danach versuchten sie, das Rätsel zu lösen. Bobbo schlug vor, die Spuren der nächtlichen Suche zu verfolgen, und als sie das taten, stellten sie fest, daß jeder von ihnen immer denselben Weg gegangen war, und zwar in einer fast perfekten Acht – in dieser Form war das Urwaldgras niedergetrampelt. Bobbo hatte natürlich in seiner Halbstarkenzeit Karl May27 gelesen und tat sich deshalb etwas auf seine Fähigkeiten als Spurensucher zugute: Er fand heraus, daß einzelne Grashalme im Winkel von 180° zueinander standen. Beide waren also in entgegengesetzter Richtung aufeinander zugegangen und hatten sich wieder voneinander entfernt, sie hatten einen einmal eingeschlagenen Pfad nicht wieder verlassen, und sie hatten sich nicht finden können, obwohl sie einander ganz nahe gewesen waren – merkwürdig!

Bobbo und Vanilla sahen einander an und verständigten sich ohne Worte, daß sie dieses Rätsel vorerst nicht lösen könnten. Sie waren auch viel zu froh, daß sie sich wiedergefunden hatten, sie wollten sich jetzt nicht mit Problemen beschäftigen. Und beide waren neugierig: Was hatte ihre schöpferische Isolation gebracht?

„Was hast Du gedichtet?“

„Was hast Du komponiert?“

Die Fragen kamen gleichzeitig. Um auszuknobeln, wer anfangen sollte, schlossen sie eine Wette auf die nächste Flugbewegung eines gelben Schmetterlings ab, der vor ihnen herumtanzte: Würde er rechts- oder linksherum fliegen? Bobbo gewann, also mußte Vanilla anfangen.

Vanilla griff seine Gitarre und präsentierte seine Komposition von gestern. Sofort beschlich ihn ein ungutes Gefühl: Irgendwie klang alles falsch. Bobbo hielt sich schon nach wenigen Akkorden die Ohren zu. Nur mit Mühe spielte Vanilla zu Ende.

„Was hast Du denn da gemacht?“

Vanilla antwortete nicht. Seine Musik hatte für sich selbst gesprochen. Das war einfach Mist. Komisch war nur, daß gestern der ganze Urwald mit seiner neuen Komposition mitgeswingt hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr – er hatte offensichtlich versagt.

Klaglos ertrug er daher, daß Bobbo die Gelegenheit nutzte, um einen seiner Vorträge über Kompositionslehre loszuwerden – ein hochgradig verunglückter Krebsgang, so lautete das Urteil, sei Vanillas neueste Kreation. Weil es im Gorillawald keine Krebse gab, wußte Vanilla nicht genau, was Bobbo meinte, aber er akzeptierte sein Urteil: Was er da gerade vorgespielt hatte, war ganz bestimmt kein Hit!

Trotz allem behielt Vanilla seine gute Laune: Auch Naturtalente müssen mal schwache Stunden haben dürfen! Und da war ja noch Bobbo: Sicher hatte der einen so geilen Text gedichtet, daß ihm gar nichts anderes übrigblieb, als dafür eine fetzige Melodie zu schreiben.

Bobbo war durchaus bereit, das Ergebnis seiner schöpferischen dichterischen Tätigkeit zu präsentieren, aber bitte nicht gleich. Er hatte einen doppelgorillösen Hunger, und das war auch kein Wunder, denn er hatte seit Stunden – mit Ausnahme einer Wegzehrungsbanane – nichts gegessen. Als Vanilla ihm weitere Bananen anbot, weil er möglichst hier und jetzt Bobbos neuesten Text kennenlernen wollte, winkte der angewidert ab:

„Ich brauch jetzt erstmal was Warmes!“

Eigentlich eine gute Idee – auch Vanilla konnte nach der anstrengenden Nacht schon wieder einen kräftigen Appetit entwickeln. Also auf zu Mama und ihren Bananenfrühstückspfannkuchen!

Zu Hause hatte niemand ihr Fehlen bemerkt, und so gab es keine lästigen Fragen. Nachdem sie sich gestärkt hatten, konnte Bobbo sich nicht länger zieren, und er begann, seinen Text vom Arabarablatt abzulesen:

„doch Füßen seinen zu

ihn durch, ihn durch,

doch ich leid so, denn ich leid und

:noch sich freut` und litt und sank er

.Affen armen den auf Reißt

,nahm Affen den sanft nicht gar Und

,kam Gorilla !ach aber !Ach“.

„Ach!“ sagte Vanilla.

„Stimmt was nicht?“ fragte Bobbo.

„Das ist der größte Scheiß, den ich je gehört habe!“

„Wieso? Das ist eine Gorilla-Göte- Adaption!“

„Scheiß auf Gorilla Göte!“

Damit hatte Vanilla Bobbo in seinem Innersten gekränkt. Nun gut, der Text klang anders als im Urwald, als er ihn gedichtet hatte, er klang, zugegeben, wesentlich schlechter – aber das war noch lange kein Grund, Gorilla Göte in den Dreck zu ziehen.

Bobbo rastete aus. Es begann die größte Prügelei, die die Gorillahorde jemals gesehen hatte. Vanilla wehrte sich nach Kräften. Es hagelte blaue Flecken. Aber diesmal wurden aus blauen Flecken keine Knutschflecken, sondern dunkelviolette Beulen. Vanilla und Bobbo fochten einen Kampf auf Leben und Tod aus, dem Mama und die Silberrücken hilflos zusahen. Schlag folgte auf Schlag. Aber beide waren gleich stark, und bevor sie einander endgültig außer Gefecht setzen konnten, torkelten sie, beschleunigt vom letzten Schwinger, in verschiedene Richtungen in den Urwald davon.

Gelähmt vor Schrecken starrte Mama ihnen nach.

„Hilf, Tussi!“ murmelte sie.


 

Das ist ja zum Verrücktwerden

 


Zuerst aber mußte Mama sich mal erholen, und das war auch kein Fehler. Es hätte ihr nämlich gar nichts genützt, wenn sie gleich zum Tussisee gestapft wäre, um ihre Froschfreundin um Rettung zu bitten. Tussi hatte sich tief in den schlammigen Seeboden hineingewühlt und ihre Ohren erfolgreich mit Matsch verstopft, so daß sie nichts zu hören brauchte. Dort hockte sie seit Tagen und tauchte auch nicht auf, als die verzweifelte Mama sie endlich besuchte, um mit ihr zu konferieren.

„Tussi!“ rief Mama zunächst mit Normallautstärke und dann immer greller, immer schriller, bis sie sich zu einem Kreischen steigerte, das normalerweise nur die Silberrücken ausstoßen, wenn es um einen Kampf auf Leben und Tod (16) geht. Aber ihr antwortete nur die geräuschvolle Stille des Urwalds. Tussis Kinder allerdings hatten sich nicht in Schlamm und Melancholie zurückgezogen, sie hatten nur Rücksicht auf ihre Mutter genommen und sich ihretwegen dezent leise verhalten. Als sie Mama aber so herzzerreißend kreischen hörten, mußten sie sich bemerkbar machen. Wie auf Kommando bildeten sie einen Kreis am Seeufer – sie kamen aus dem Wald und aus dem Wasser, sie hatten unterschiedliche Entfernungen zurückzulegen, aber sie trafen gleichzeitig ein und arrangierten sich ästhetisch – und begannen einen Mama-Trostgesang:

„Schlaf, Mama, schlaf,

Vanilla ist ein Schaf!

Und Tussi macht bald alles heil,

dann ist das Leben wieder geil,

schlaf, Mama, schlaf!“

Der Song war selbstgemacht und erreichte deshalb nicht die ästhetische Qualität von Bobbos Libretti, aber er erfüllte seinen Zweck: Mama schlief ein. Nachdem eine Kaulquappenabordnung sich davon überzeugt hatte, daß die Gorillafrau die Tiefschlafphase erreicht hatte – sie zwickten sie dazu sanft ins linke Ohr -, begannen sie in einer Seebucht in der Nähe eine Froschkinderkonferenz.

Eine Quappe, die schon fast vier Gliedmaßen und kaum noch einen Schwanz hatte, also nahezu ausgewachsen war, übernahm die Diskussionsleitung.

„Schwestern und Brüder, Kaulquappinnen und Kaulquappen!“ rief sie in das allgemeine Quaken hinein, „ich bitte um Ruhe und Disziplin! Während der Dauer dieser Konferenz herrschen Quak- und Hüpfverbot!“

Es erhob sich kaum Protestgemurmel gegen diese Anordnung – zwar gehören Quak- und Hüpfverbot zum Schlimmsten, was werdenden Fröschen angetan werden kann, aber außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Verbote.

Das betonte auch die Vorsitzende:

„Schwestern, Kaulquappinnen! (17) Es erübrigt sich, Euch lange Vorträge zu halten. Wir alle wissen, wie ernst die Lage ist. Für die jüngsten unter Euch fasse ich das Wichtigste kurz zusammen:

Unsere Mutter leidet unter schweren Depressionen.

Unter den Gorillas ist Feindschaft ausgebrochen.

Die Urwaldkultur ist in Gefahr.

Mamas neue Welt ist zu kompliziert für die meisten Regenwaldbewohner.

Schwestern, was sollen wir tun?“

Weil zwar Quak- und Hüpf-, nicht aber Redeverbot angeordnet worden war, sprachen alle auf diese Frage hin sofort durcheinander. Nur mühsam konnte die Vorsitzende Ruhe herstellen, indem sie sich laut klatschend mit den Händen auf ihre Schallkörper schlug. Sie verzichtete darauf, der Versammlung ihr Mißfallen über den Tumult kundzutun, sondern sagte nur pädagogisch:

„Ich eröffne hiermit die Rednerliste!“

In schneller Folge wurden Vorschläge in die Runde geworfen:

„Wir suchen Bobbo und Vanilla und versöhnen sie wieder!“

„Wir tauchen in den See und kitzeln Mama so lange, bis sie lachen muß!“

„Vanillas Mama soll mal wieder ein 7-Gänge-Menü kochen, dann vertragen sich alle bestimmt wieder!“

„Gute Idee, und dazu spielen wir alte Platten von unserer Band.“

„Wir bringen dem Ältestenrat ein Ständchen und sagen ihm, daß er Ordnung schaffen soll – schließlich ist er ja für Krisensituationen da!“

Nach der ersten Brainstorming-Phase, in der nur Vorschläge gemacht wurden, begann die Kritik. Obwohl niemand es aussprach, zeigte sich in der Diskussion, welch einen riesigen Respekt die Quappen vor ihrer Mutter hatten: Kaum jemald erwärmte sich für den Vorschlag, Tussi aus ihrer selbstgewählten Isolation herauszuholen. Die Ablehnung dieser Idee begründeten sie medizinisch („Jede Krankheit braucht ihre Zeit.“) und psychologisch („Mama mußte in der letzten Zeit so viel arbeiten, daß sie jetzt unbedingt eine Ruhepause braucht.“). Den wahren Grund („Tussi wird uns fürchterlich verprügeln, uns in Stücke hacken, uns vielleicht wegdenken, wenn wir sie zur Unzeit stören.“) nannte niemand – soweit geht auch unter jungen Fröschen die Ehrlichkeit nicht.

Schließlich einigten sich die Quappen auf das, was auch den Menschen früher immer eingefallen war, wenn sie keine Lösung wußten oder zu faul waren, sich eine zu überlegen: Sie setzten eine Kommission ein.(18) Sie allerdings brauchten keine einzusetzen, denn es gab ja schon eine: Wozu existierte sonst der Ältestenrat?

Die Sprecherin der Versammlung zog zusammen mit 49 anderen (19) Auch-Schon-Fast-Fröschen zu den zentralen Gorillanestern und fand dort erwartungsgemäß den Ältestenrat versammelt. Die alten Herren hockten vorschriftsmäßig (20) im Kreis, aber schon bei der Ankunft der Delegation zeigte sich, daß sie keineswegs in der Stimmung waren, die einer fruchtbaren Verhandlung dienlich sein konnte.

„Bringt Ihr was zu essen?“ knurrte der älteste Siberrücken die Kaulquappen an.

Die Frage war nicht ungewöhnlich, aber schlimm war, daß sie sofort geäußert wurde. Nach allen Regeln der Gorilla- und Froschhöflichkeit gehört an den Anfang einer offiziellen Begegnung eine Plauderei über das Wetter, die Beschaffenheit der Uruburublätter in der Saison und die Wassertemperatur im Tussisee. Hier war also etwas faul, und die Sprecherin der Abordnung erkannte das sofort.

Diplomatisch versuchte sie, die Situation zu überspielen:

„Nein, leider nicht, aber…“

Der alte Herr ließ sie nicht ausreden.

„Dann haut ab!“ krächzte er und wollte sich drohend aufrichten. Aber es blieb beim Versuch: Er sackte kraftlos in sich zusammen. Nach einer Pause hatte er genug Energie für eine Erklärung gesammelt, die zumindest den Schein der Höflichkeit wiederherstellte: „Wir haben Hunger! Seit Stunden gab es nichts zu essen! Unsere Köchin ist spurlos verschwunden!“

Köchin??? Mama! schoß es durch die Köpfe der 50 Kaulquappen.

„Das tut uns leid“, versetzte die Delegationsleiterin. Sie hatte noch immer die Hoffnung, trotz der unglücklichen Ausgangssituation eine fruchtbare Verhandlung in Gang setzen zu können. „Mama, also, Eure Köchin, ist krank. Wir haben sie in einen Heilschlaf versetzt. Sie muß lange Zeit, also mindestens…“

Vorsichtig versuchte sie dem Ältestenrat zu erklären, daß ein Gorillaheilschlaf 50 Stunden braucht. Aber die Silberrücken hörten ihr nicht zu. Wenn sie ehrlich war, konnte sie das auch verstehen. Sie selbst konnte sich ja nicht mehr zuhören. Automatisch redete sie weiter, trotz des grauenhaften Anblicks, der sich ihr bot.

Die alten Gorillas veränderten sich. Ihre Haare, die grauen, die weißen und die noch braunen, krümmten sich nach innen. Zugleich wuchs das Fleisch nach außen. Muskeln und Fettgewebe bildeten die Körperoberfläche. Aber auch sie hatten nur wenig Zeit, sich der Sonne unter dem inzwischen grün gewordenen Himmel auszusetzen. Kaum waren sie zur Körperoberfläche geworden, zogen sie sich wieder zurück. Statt ihrer erschienen die inneren Organe. Aber auch die wurden verdrängt: Jetzt beherrschte das Skelett das Feld. Aber nicht das Skelett, wie es jeder junge Gorilla und jede Kaulquappe aus dem Anatomieunterricht kennt: Die Knochen, die eben sein sollten, waren gewölbt, was konvex sein sollte, war konkav. Und umgekehrt.

„Und deshalb müssen wir…“ erklärte sie kraftlos des falsch konstruierten Skeletten mit Fleischfüllung und blickte sich hilfesuchend zu ihren Gefährtinnen um. Aber da war niemand. Entsetzt machte auch sie kehrt und nahm, bevor sie in den Tussisee tauchte, noch einen ordentlichen Haps Teichrosenblatt (21).

—–

Was also sagt unsere Zwischenbilanz?

Die Bewohner des Tussisees schlafen.

Mama auch.

Die Silberrücken sind in einem schwer beschreibbaren Zustand.

Nur Bobbo und Vanilla könnten, falls sie sich wieder von ihrer letzten Prügelei erholt haben, noch aktionsfähig sein. Aber sie sind verfeindet.

Und der Himmel macht, was er will: Mal ist er grün, mal blau…

—–

Was machen Gorillas, wenn sie verletzt sind? Und verletzt worden sind? Klar – sie setzen sich in ein selbstgemachtes Uruburubaumblattnest und kauen ihren Körper an der Blattdiät gesund. Da das mindestens zwei Wochen dauert, heilt ihr Geist inzwischen an der Einsamkeit.

Vanilla und Bobbo waren also allmählich wieder genesen. Aber natürlich, trotz der identischen Heilmittel, auf unterschiedliche Weise. Bobbo fand, sobald er wieder einen Buchstaben vom andren unterscheiden konnte, Trost bei Gorilla Göte:

„Wie alles sich zum Ganzen webt,

Eins in dem andern wirkt und lebt!

Wie Himmelskräfte aud und nieder steigen,

und sich die goldnen Eimer reichen!“


 

Dialog

 


– Scheißemerdemiedashitmistallesschiefgelaufenmistmierdapsiakrev…

– Ist Dir nicht gut?

-Scheißeneinmiristnichtgutallesistschiefgegangenundichbinschuldundichwillniewieder

hierhochkommenundichbleibehierfürimmerundsteckedieSchwellkörperindenSchlammund…

– Ich bin der Herr, Dein Hirte.

– Was ist los?

– Ich bin der Herr, Dein Hirte.

– Das hab ich schon mal gehört.

– Dir wird nichts mangeln.

– Bescheuerter Quatschkopf, mir fehlt eigentlich alles.

– Ich weide Dich auf einer grünen Aue…

– Bisher habe ich meine Wiesen immer alleine gefunden…

– …und führe Dich zum frischen Wasser.

– Merkst Du Idiot eigentlich nicht, daß ich mitten in meinem See hocke?

– Ich erquicke Deine Seele!

– Schön – mach mal!

– Um meines Namens willen!

– Interessant. —- Wie heißt Du eigentlich?

– Ich bin der Herr, Dein Gott.

– Angenehm – ich bin Tussi, Deine Göttin.

– Falsch! Ich bin der Herr, Dein Gott!

– Typ, Du wiederholst Dich!!

– Du sollst keine andern Götter neben mir haben.

– Einverstanden – keine andern Götter neben mir!

– Du hast mich mißverstanden: neben mir!

– Das können wir jetzt wiederholen bis zum Sankt-Tussi-Tag.

– Bis zum Jüngsten Tag.

– Sag mal, wie heißt Du denn nun wirklich?

– Ich bin, der ich bin. Alle nennen mich Gott.

– Und wie bist Du zu Deinem Job gekommen, Du so-genannter Gott?

– Ein paar Jahrhunderte vor Christus…

– Wer ist denn das schon wieder?

– Mein Sohn. Ein paar Jahrhunderte vor ihm war da ein Volk, das in Anbetracht überlegener Feinde einen Motivationsschub brauchte. Deshalb hat es mich als angeblichen Siegesgaranten erfunden. Die Juden haben trotzdem häufig verloren, aber sie haben immer weiter an mich geglaubt.

– Menschen…Und wieso hast Du dann für sie einen Sohn geboren?

– Nicht eigentlich geboren. Sie haben es geweissagt: Und es wird eine Rute aufgehen…

– Rute, hihi…

– …von dem Stamm Isais; uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewigvater, Friedefürst; eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel.

– Also noch nicht mal auf den Namen konnte sich Dein Menschenvolk einigen? Und Du hast das gemacht, nur weil sie´s wollten? Mit ner Jungfrau?

– Klar, weil sie´s wollten. Was wäre ich ohne den Glauben der Menschen? Ein unangenehmes Exemplar der Gattung hat das mal auf den Punkt gebracht:

„Ich kenne nichts Ärmeres

unter der Sonn als euch, Götter!

Ihr nähret kümmerlich

Von Opfersteuern

Und Gebetshauch

Eure Majestät

Und darbtet, wären

Nicht Kinder und Bettler

Hoffnungsvolle Toren.“

Hieß, glaube ich, Goethe oder so. Wurde nicht gerettet, sondern gerichtet. Und was die Jungfrau angeht: Die Juden haben die Geschichte sowieso nicht geglaubt, sondern meinen Sohn hingerichtet, aber die Christen ein paar Jahrhunderte später…

– Stop, das wird mir jetzt viel zu kompliziert. Außerdem habe ich sowieso schon Kopfschmerzen. Also – Du bist nur virtuell?

– Ich bin, der ich bin!

– Hat die Redundanz was mit Deinem jugendlichen Alter zu tun?

– Bitte?

– Schon gut. Bisher hab ich folgendes kapiert: Du bist eine Kopfgeburt der Juden. Und so richtig erfolgreich ist Deine Story nicht. Wahrscheinlich interessiert Dich auch, wer ich bin: Tussi, Myriaden Jahre alt. Gestalt wandelbar, beliebte Inkarnation: Fröschin. Job: Arrangement des Weltalls, Behebung größerer Störungen, künstlerische Gestaltung neuer Galaxien.

– Laß mein Volk, daß es mir diene!

– Gott…

– …danke…

– …bist Du hartnäckig!

– Ich, Gott, bin ein eifersüchtiger Gott… hast Du eigentlich gar keine Fehler?

– Jede Menge!

– Ich nicht! Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige!

– Grammatisch anzweifelbare Zeitenfolge, mein Lieber! Und wie war das mit Goethe? Also gut, ich fang an. Du kannst ja offenbar keine Fehler zugeben. Ich bin in der letzten Zeit beim Galaxienbasteln zu sehr in die Details gegangen. Hab da nicht nur Sonnen und Planeten in die Gegend gesetzt, sondern sie auch mit Leben beglückt. Du weißt ja vermutlich, wie das geht: Frau nehme ein bißchen Spucke…ach nein, weiß Du ja nicht, Du bist ja selbst von der Spucke erst ausgedacht worden. Also lies mal Lem. Oder kannst Du nicht lesen? Nur diktieren? Spannendes philosophisches Problem, muß ich bei Gelegenheit mal lösen: Wie diktiert eine virtuelle Existenz? Zum Thema: Ich bin zu sehr in die Details gegangen. Habe Menschen gemacht…

– Ich auch, ich auch: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.

– Und darauf bist Du stolz?

– Und ich sah an alles, was ich gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

– Sag mal….hast Du ne Zeitrechnung?

– Vor mir sind tausend Jahre wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre!

– Schon gut, ich verstehe. Was meinst Du – ist seit Deiner Schöpfung viel Zeit vergangen?

– Ziemlich viel.

– Kannst Du Dich noch an Deine ursprüngliche Schöpfung erinnern?

– Und ich ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen. Und es ging aus von Eden ein Strom, zu wässern den Garten. Und ich nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn baute und bewahrte.

– Und? Hast Du Dir Dein Werk in der letzten Zeit mal wieder angesehen?

– Jaaa…

– Du willst wohl nicht darüber reden?

– Eigentlich nicht. Aber ich muß wohl: Ich trat an den Sand des Meers und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seine Häuptern Namen der Lästerung. Und der ganze Erdboden betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kriegen? Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott. Und ihm ward gegeben Macht über alle Geschlechter und Sprachen. Und alle, die auf Erden wohnen, beten es an.

– Mußt Du Dich eigentlich so komisch ausdrücken? Aber okay, mir scheint, wir können uns auf folgendes einigen: Die Erde ist inzwischen ziemlich Scheiße!

– Deine Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein — wie hast Du gesagt? Okay!

– Liegt Dir was an ihr?

– An der Erde?

– Woran sonst?

– Woran sonst? Darf ich Dich an Goethe erinnern? Ohne die Erde…

– ….bist Du nie gedacht, schon gut. ICH könnte schon ohne die Erde leben…sag mal, kannst Du schweigen?

– Dein Glaube hat Dir geholfen, gehe hin in Frieden.

– Ach, so machst Du das?

– So steht es geschrieben.

– Kannst Du nicht mal sprechen?

– Kaum noch – es glaubt fast niemand mehr an mich. Ich schwinde. Meine Schuld. Paulus hat alles versaut.

– Das ist mir schon wieder zu kompliziert. Ich habe auch alles versaut. Ich habe auf Schlampanski gebaut. Und mich in Murkel verliebt.

– Ich verstehe kein Wort.

– Kein Wunder.

– Meine Wege sind wunderbar…

– Hör auf zu sülzen!

– Du hast ja recht! Ob wir das gemeinsam noch mal schaffen?

– Gemeinsam? Daß ich nicht kichere! Hast Du nicht eben gerade zugegeben, daß Du impotent bist?

– Na ja…

– Wie war das vorhin: „Deine Rede sei ja, ja, nein, nein“ – von „na ja“ hast Du da nichts gesagt.

– Also – da ist vielleicht noch jemand…

– Noch ein sogenannter Gott?

– Meine Konkurrenz. Die Höllenbrut dürfte noch am Leben sein. Allerdings sind sie mir vermutlich ziemlich böse, weil ich sie in die Verdammnis verbannt habe.

– Ach, die Bande meinst Du? Nee, mein Lieber, die lassen wir gefälligst aus dem Spiel. Erstens habe ich als Fröschin was gegen Schlangen. Und zweitens kommt der Verein immer so verquast mythisch-aufklärerisch daher und verspricht ungeeigneten Subjekten die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse – und raus kommt mit großer Wahrscheinlichkeit eine Mischung zwischen Deinem Paulus und meinen Holzfällerherren.

Laß mich mal nachdenken…

Ich glaube, ich habe eine bessere Idee. Ich werde erstmal davon absehen, dich wegzudenken – wäre auch überflüssige Energieverschwendung, schließlich erledigst du dich sowieso in Kürze von allein. Andererseits bist du zwar ein bißchen komisch, aber nicht ganz unsympathisch.

Sag mal – magst du eigentlich Tiere? Plüschtiere? Und Gorillas?

– Und ich sprach: Die E rde bringe hervor lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art. Und ich machte die Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art, und das Vieh nach seiner Art, und allerlei Gewürm auf Erden nach seiner Art. Und ich sah, daß es gut war.

– Deine Redundanz solltest du dir dringend abgewöhnen, sonst überleg ich mir´s noch mal! Okay – packen wir´s an!


 

New World

 


  1. Am letzten Anfang vernichtete Tussi die vierdimensionale Erde mit der zweideutigen Zeit.
  2. Und es war ein Loch im Universum, und die Materie war über Lichtjahre zerstreut, und Tussi plante Neues.
  3. Und Tussi wandte die einheitliche Feldtheorie an und modellierte einen Planeten nach dem bewährten Gaia-Vorbild.
  4. Und Tussi betrachtete ihn kritisch, war´s zufrieden und versetzte ihn deshalb in Rotation.
  5. Und schon war der erste Erdentag geschafft.
  6. Und Tussi modellierte noch ein wenig in liebevoller Kleinarbeit, kratzte den Marianengraben tiefer aus und erhöhte den Himalaya, und schuf viele seichte Flußdeltas für riesige Froschfamilien.
  7. Und weil Tussi schneller und effektiver arbeitete als göttliche Kopfgeburten, schuf sie gleich anschließend Pflanzen, achtete auf die Artenvielfalt und siedelte das Grünzeug in funktionierenden Ökotopen an.
  8. Und Tussi setzte vom Einzeller über den Krill bis hin zum Wels und zum Walfisch alles Getier in Flüsse und Meere, was da hineingehörte, und erschuf auch fast alle Vögel. Den Storch ließ sie aus alter Feindschaft ungeboren, aber dafür begrenzte sie künftigen Froschlaich auf maximal 50 Eier.
  9. Und Tussi kreiierte die Tiere des Landes, und sie gab ihnen Lebensraum in Arktis und Antarktis, in kaltgemäßigten und warmgemäßigten Gebieten, in Tropen und Subtropen. Besondere Liebe aber verwandte sie auf die friedlichen Gorillas, die sanften Bewohner des Regenwaldes.
  10. Und Tussi sprach: Lasset uns Gorillas machen, die Wein ziehen und Schlampanski zu destillieren verstehen, auf daß sie allezeit eine zufriedene Göttin haben. Mama, die begnadete Köchin, ihre Kinder, die Silberrücken und Bobbo sollen der Kern meines Volkes sein.
  11. Und es funktionierte, und Tussi genoß den ersten Schluck ihres Lieblingsgetränks, und sie fiel vor ihrer krönenden Abschlußschöpfung in einen erholsamen Schlaf.
  12. Und Tussi rieb sich zwischen den Beinen und sagte: Lasset uns Plüschtiere machen in großer Zahl, daß sie den lebendigen Tieren in ihrer Friedfertigkeit ein dauerndes Vorbild seien, und vor allem meinen geliebten Murkel, den Plüschhund, zu unserer ekstatischen Freude bis zur nächsten Inkarnation.
  13. (13!) Und siehe, die neue Welt war sehr gut, weil es in ihr keine Menschen gab und die Bibel ungeschrieben bleiben konnte.
  14. Und alle Pflanzen und alle Tiere waren fröhlich, genossen das Leben mit leiblichen und seelischen Genüssen und liebten einander und das Leben.
  15. (Sogar Gott lebte weiter, weil er sich seinen Dogmatismus abgewöhnt hatte und Tussi deshalb ab und zu ein paar Worte mit ihm wechselte.)

Fußnoten:
1.
„Du mußt an den Hafen gehen und schauen, wann das nächste Schiff aus Madagaskar kommt. Dann kaufst Du alle Vanille, die Du Dir leisten kannst. Die nimmst Du dann und stopfst sie in alle Körper- öffnungen Deines Dinokindes. Aber Du mußt aufpassen, daß auch wirklich alles dicht mit Vanille verschlossen ist, sonst klappt es nicht.“ Zurück

2.

Man nehme:…

10 Kilo Bananen,

2 Liter vergorenen Rohrzuckersirup,
1 Prise Zimt,
2 Messerspitzen Vanille.
Die Bananen schälen und im Mixer pürieren, den Sirup dazugeben, mit Zimt und Vanille abschmecken.
Am besten schmeckt der Wein, wenn er 48 Stunden im Kühlschrank geruht hat. Falls kein Kühlschrank zur Verfügung steht, kann man dem frischen Gebräu auch einige Eiswürfel zusetzen.
Zur Herstellung von Eiswürfeln im tropischen Regenwald findet man Hinweise bei Grimma G. Gorilla: Die Küche der wahren Menschen, Verlag Waldpress, Gorillatown 1993. Zurück

3.

Bist Du ein Gorilla? Wenn ja, dann darfst Du weiterlesen.
Bist Du ein Mensch? In diesem Falle mach sofort die Augen zu und richte sie wieder nach oben!
Für alle Gorillas: Man nehme die Stiele von 5 Kilo Bananen und trockne sie in der Nachmittagsurwaldsonne. Man verarbeite das Ergebnis zu feinem Pulver und vermenge es mit einer größeren Menge von Uruburublättern.
Und dann: Roll Dir einen! Zurück

4.

Drei Teile Froschschleim und ein Teil Schlampanski – ersatzweise Bananenschaumwein – werden schaumig geschlagen; so vorhanden, füge man fünf Späne vom Schaft einer Holzfälleraxt bei . Die Paste wird auf die Wunde aufgetragen und pünktlich alle 222 Sekunden erneuert.Zurück

5.

Wichtiger Hinweis für alle KrankenpflegerInnen: Die ideale Krankenkost ist immer die, auf die der Patient Appetit hat! Zurück

6.

Quellennachweis: Gorillophilo Waldgrund Adorno: Über frühkindliches Zupfen und die Entstehung autoritärer Silberrücken; GorillaMythenpress 1277, 99. Auflage. Zurück

7.

Ohne der Gorillawissenschaft zu nahe treten zu wollen – hier ist ihr ein Übertragungsfehler unterlaufen. Der literarische Gorilla heißt tatsächlich Heinrich Vir und ist bei der deutschsprachigen Minderheit Literatiens unter dem Namen Heinrich Mann bekannt. Zurück

8.

Dort geht es zu wie bei ARD und ZDF: Man sitzt in der ersten Reihe, um schlechte Werbung für überflüssige Produkte – z. B. Instant-Bananen – zu sehen, und bezahlt dafür mit seiner guten Laune. Zurück

9.

Geld gibt es natürlich auch nicht! Zurück

10.

Näheres zur Deutung von Gorilla-Träumen findet Ihr in dem interessanten Buch: Die Freud der Gorilla, von Gorilla Freud. Dieses Buch ist im Verlag Waldpresse veröffentlicht worden und kann dort – aber nur von psychisch gefestigten Lesern – bestellt werden. Zurück

11.

Physikaufgabe für Genies: Wieviele Kaulquappen gibt es, wenn jede fünf Tage alt ist und der See ein Volumen von 200 000 m3 Wasser hat? Zurück

12.

Näheres findet sich bei Gorilla Freud. Zurück

13.

Wie man sieht, schützt eine literarische Bildung nicht zwangsläufig vor schlechtem Geschmack! Zurück

14.

Gorilla nehme: 5 kg sehr reife Bananen und verarbeite sie zu einem sämigen Brei. Die Masse mit Curry und Vanille (ersatzweise gehackte Rosinen) würzen und an einem kühlen Ort zwei Stunden ruhen lassen. Während der Ruhezeit pflücke man 1500 g Mangos – sie müssen unbedingt ganz frisch sein, vom Gebrauch von Lagerfrüchten ist abzuraten! – und sammle 350 g Uruburublätter. Fruchtfleisch und Blätter im Mörser zerstößeln, die Masse zu gorillahandgroßen Kugeln formen. Mit dem inzwischen steif gewordenen Bananenbrei ca. 2 cm dick umhüllen und 60 min im Erdofen bei mittlerer Hitze ausbacken. Auf Walderdbeerensauce servieren. Zurück

15.

Und das war wirklich alles: Vanilla erbrachte den Beweis für die animistische Theorie, die von den meisten Menschen immer geleugnet worden war; auch die Felsen tanzten mit! Zurück

16.

Das heißt, es geht entweder um ein begehrtes Weibchen oder um die Führung der Gruppe – Männer waren schon immer großzügig, wenn es um die Definition von „Leben und Tod“ geht. Zurück

17.

Um Zeit zu sparen und so eine schnelle Entscheidung zu ermöglichen, beschränkte sich die Vorsitzende ab hier darauf, in der Anrede nur den wichtigeren Teil der Versammlung zu nennen. Zurück

18.

Das geht in der Regel schief, aber wir wollen nicht vorgreifen. Zurück

19.

Wie schon aufgefallen sein dürfte, ist 50 bei Fröschen und Kaulquappen eine äußertst beliebte Zahl – allerdings streiten sich die Amphibienforscher noch über die Gründe dafür. Die Mehrheit der Wissenschaftler meint, es liege daran, daß Kaulquappengelege ab 50 Exemplaren eine signifikant höhere Überlebenschance haben als kleinere Laichkolonien, eine ernstzunehmende Minderheit vertritt jedoch die Position, es handele sich um eine magische Zahl. Einer Legende zufolge feiert eine mythische Froschgöttin alle 50 Jahre ihren Geburtstag. Zurück

20.

Selbstverständlich akzeptieren Gorillas keine Vorschriften, sondern organisieren ihr Leben anarchisch. Aber es hatte sich als praktikabel erwiesen, sich für alle Fälle zum Ratschlag ( und zum Essen) zu versammeln, wenn es nicht gerade galt, Rangkämpfe auszufechten.
Die gorillöse Heilschlafliteratur weicht von dieser Theorie, wenn auch nur geringfügig, ab. vgl. dazu Pennus Schnarchus Gorilla, Fit in 49 Stunden. Schnarch Verlag, Urwaldtown ????? Zurück

21.

Im Gegensatz zu vielen anderen Drogen gewährleisten Teichrosenblätter, in froscherprobten Dosen genossen, immer einen netten Trip – Horrortrips ausgeschlossen! Zurück