Trumptychon

Kulle und Baerdel

Vorbemerkung:

Bei einem Spaziergang wurden Kulle und ich von einem schollernden Gelächter überrascht. Wir sahen uns zuerst entsetzt an und dann um, aber wir konnten weder den Verursacher der Töne noch einen Platz, an dem wir uns vor einem vielleicht gefährlichen Feind verstecken könnten, finden.

„Jetzt regt euch mal nicht auf“, kam Tussis Stimme aus dem Off. „Normalerweise mische ich mich bei euch da unten nicht ein, aber das hier ist zu köstlich. Das müsst ihr lesen.“

Wer mehr über Tussi erfahren möchte, sollte sich das Märchen „Exodus“ anschauen.

Und damit flatterten uns ein paar Blätter vor die Füße, die wir euch nicht vorenthalten möchten.

Trumptychon

Personen:

Der Dreijährige

Der Gockel

Der Alte

Saal, der im Stil Louis XIV. möbliert ist. Es dominiert die Farbe Gelb. Der Dreijährige ist allein, er sitzt mitten im Raum auf einem prächtigen Schaukelpferd. Auf einem Tischchen daneben steht eine große Schüssel, gefüllt mit Pillen und Tabletten. Der Dreijährige fasst immer wieder hinein und wirft die Medikamente in die Luft.

Der Dreijährige: Und das ist für Obama. Und das. Und das. Für den verdammten Neger. Der hat den IS gegründet, wer denn sonst? Diese Dschihadisten sind doch auch alle schwarz. Und der will Bürger der wunderbaren Vereinigten Staaten von Amerika sein? Seine Geburtsurkunde ist gefälscht, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich kann nämlich schon lesen, auch wenn ich erst drei Jahre alt bin. Ich kann eigentlich alles. Und jetzt mache ich Obamacare kaputt. Keine Pillen mehr für Neger und Terroristen.

Er wirft die jetzt fast leere Schüssel um.

Der Dreijährige: Scheiße! Ich will mehr Pillen! Mehr! Mehr! Mehr! Maria! Jesús!

Pause.

Der Dreijährige: Maria! Jesús!

Pause.

Der Dreijährige: MARIA!! JESÚS!!!

Der Gockel kommt herein.

Der Gockel: Was schreist Du denn so? Die beiden waren illegal, ich habe sie entlassen. Vorher mussten sie aber noch unseren Rasen mähen und die Swimmingpools sauber machen. Bezahlt habe ich sie dafür selbstverständlich nicht. Ja, Kleiner, von mir kannst Du lernen, wie man Milliardär wird!

Der Dreijährige: Aber wer bringt mir jetzt neue Pillen zum Herumwerfen?

Der Gockel: Wir stellen jemanden ein. Einen arbeitslosen weißen Amerikaner und seine Frau. Leute, die uns gewählt haben.

Der Dreijährige: Und was kosten die?

Der Gockel: Die arbeiten bestimmt umsonst, aus lauter Dankbarkeit.

Der Dreijährige: Warum sollen die dankbar sein?

Der Gockel: Weil sie jetzt doch Arbeit haben, Dummerchen! Ich bin der beste Präsident in Sachen Arbeitsplätze, den Gott erschaffen hat!

Der Dreijährige: Sie sind aber noch nicht da. Und ich will meine Pillen jetzt. JETZT!!

Er rutscht von seinem Schaukelpferd herunter, legt sich auf den Bauch, trommelt mit den Fäusten auf den Boden und schreit weiter.

Der Gockel: Wir könnten Melania fragen, ob sie uns Pillen bringen will.

Der Dreijährige: Au ja, das machen wir. Ich mag Melania.

Der Gockel: Ich mochte sie auch mal, bis sie schwanger wurde. Frauen, die geboren haben, erregen mich sexuell nicht mehr. Ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich mich von ihr trenne. Im Moment wäre das aber ungeschickt – sie macht sich gut als First Lady. Fast so gut wie Claire Underwood. Zum Glück ist sie nicht mal halb so schlau. Sie kann uns nicht gefährlich werden. Niemand kann uns gefährlich werden, denn unser IQ ist sehr hoch, einer der höchsten.

Der Dreijährige: Melania soll endlich herkommen!

Der Alte kommt herein, in der Hand eine große Schüssel mit Pillen. Er zeigt anklagend auf den Inhalt.

Der Alte: Jetzt habe ich alles schon drei Mal durchgewühlt und immer noch kein Viagra gefunden!

Der Dreijährige: Was ist Viagra?

Der Alte: Eine Pille natürlich. Würde ich sonst in einer Schüssel mit Pillen danach suchen?

Der Dreijährige: Und wozu ist diese Pille gut?

Der Alte: „Make America great again“ – haben wir unseren wirksamsten Slogan schon vergessen? Meine Finger sind lang und schön, andere Teile meines Körpers auch, das ist gut dokumentiert worden. Die sind schließlich der wichtigste Teil Amerikas.

Der Dreijährige: Das verstehe ich nicht.

Der Alte: Kommt Zeit, kommt Verstand. Außerdem habe ich einen Ruf zu verteidigen.

Der Dreijährige: Das verstehe ich auch nicht.

Der Alte: Ich werde es dir erklären, indem ich Dir einen Witz erzähle. „Ein Cavaliere ist gestorben. Sein Privatsekretär möchte wissen, ob er schon im Himmel angekommen ist. Er ruft oben an, und eine weibliche Stimme meldet sich: ‚Hier spricht die Jungfrau Maria!‘ Der Sekretär legt auf und ruft nach einer Stunde noch einmal an. Diesmal antwortet die Stimme: ‚Hier spricht Maria!‘ Der Sekretär seufzt erleichtert und sagt: ‚Gott sei Dank, der Chef ist oben angekommen.‘“

Der Dreijährige: Den Witz verstehe ich erst recht nicht.

Der Gockel: Das war ja auch ein schlechter Witz über diese Maria, diese illegale Mexicana. Ich erzähle euch jetzt einen wirklich guten über eines meiner Hauptprojekte, über die Mauer zwischen den USA und Mexiko.

„Wir, der mexikanische und der russische Präsident treffen eine Fee. ‚Jeder von Euch hat einen Wunsch frei,‘ sagt die Fee. Peña Neto sagt: ‚Mein Vater war Bergmann, ich war Bergmann, und mein Sohn wird Bergmann sein. Ich wünsche mir, dass Mexiko für alle Zeiten reich an Bodenschätzen ist.‘ Sofort verfügt Mexiko über die seltensten Bodenschätze im Überfluss. Jetzt sind wir dran, und wir verfolgen unbeirrt unser Ziel: ‚Gib uns eine Mauer um die USA, so hoch, dass niemand unser geliebtes Land betreten kann.‘ Eine riesige Mauer erscheint rund um die Vereinigten Staaten. Putin ist vorsichtig und will zuerst Genaueres wissen: ‚Erzählt mir mehr über diese Mauer,‘ bittet er die Fee. ‚Sie ist 50 Meter hoch, 10 Meter breit und umschließt die USA komplett. Nichts und niemand kann herein oder heraus,‘ erhält er zur Antwort. Putin überlegt keine Sekunde: ‚Fülle die USA mit Wasser.‘ “

Er lacht sich kaputt.

Großartiger Witz, nicht? Ich werde eine große Mauer bauen – und niemand baut Mauern besser als ich, glaubt mir – und ich baue sie sehr kostengünstig. Ich werde eine große, große Mauer an unserer südlichen Grenze bauen, und ich werde Mexiko für diese Mauer bezahlen lassen. Denn wenn wir keine Grenzen haben, haben wir kein Land. Wir müssen eine Mauer bauen, die illegale Einwanderer aussperrt. Mexiko schickt uns nicht die besten. Es schickt Menschen, die viele Probleme haben. Sie bringen Drogen, sie bringen Kriminalität, sie sind Vergewaltiger. Und einige, nehme ich an, sind auch nette Menschen.

Der Dreijährige: Melania! Melania! MELANIA!!!

Der Gockel: Niemand hat mehr Respekt vor Frauen als ich, das ist allgemein bekannt. Aber manchmal kommt Blut aus ihnen raus, woher auch immer. Sie sind dann nicht mehr rational. Und wenn du ein Star bist, lassen Frauen alles mit sich machen. Du kannst alles machen. Ihnen an die Möse fassen. Alles. Aber jetzt hör endlich auf, nach Melania zu kreischen. Ich ziehe es vor, wenn Männer unter sich sind, es sei denn, ein breites Bett und viele enge Pussies mit Knackärschen sind im Zimmer.

Der Alte: Also ich finde Melanias Arsch in ihren String-Tangas immer noch sehr attraktiv!

Der Gockel: Du bist ja auch das unglückliche Auslaufmodell. Du bist siebzig, ich fühle mich dagegen wie dreißig. Wenn Melania mit dir zusammen ist, denkt sie wahrscheinlich nur an deinen hohen Cholesterinspiegel und tröstet sich mit dem Wissen, dass sie mit zehn Milliarden Dollar im Bett liegt.

Der Alte: Du bist ja heute noch frauenfeindlicher als sonst! Hast Du immer noch nicht verwunden, dass du gegen eine Frau antreten musstest und dass Clinton drei Millionen Stimmen mehr eingefahren hat als du?

Der Gockel: Das war Wahlbetrug! Wahlbetrug der übelsten Art. Die angeblichen drei Millionen Stimmen kamen von Toten und Illegalen. Ich habe Beweise!

Clintons E-mail-Affaire – das ist die größte Geschichte seit Watergate. Alle hat sie korrumpiert. Sie hätte während des Wahlkampfs in Florida in den Saal kommen und jemanden erschießen können, genau mitten ins Herz, und sie wäre nicht strafrechtlich verfolgt worden. Ich habe gefordert, dass sie ins Gefängnis muss. Das hätte sie zweifellos verdient. Aber ich habe ein viel besseres Naturell als sie. Ich habe ein gewinnendes Naturell. Ich weiß, wie man gewinnt. Ich habe eine viel bessere Urteilsfähigkeit als Clinton.

Der Dreijährige: Wer ist diese Clinton?

Der Alte: Eine hässliche Frau, ungefähr so alt wie ich. Mit der würde ich auch nichts mehr anfangen wollen.

Der Dreijährige: Kann sie nicht kommen?

Der Alte: Die? Wieso?

Der Dreijährige: Na ja, wenn Melania schon nicht kommt…

Der Gockel: Jetzt hör doch endlich auf, nach Frauen zu schreien!

Pause

Obamacare hast du ja schon kaputt gemacht, das war super. Hast Du jetzt vielleicht Lust, mit Klötzchen zu spielen?

Der Dreijährige: Au ja! Ich habe aber keine Klötzchen!

Der Gockel: Das haben wir gleich.

Er reißt den Intarsienfußboden auf und wirft die Holzstücke in Richtung des Dreijährigen, Es dauert seine Zeit, bis das halbe Parkett verschwunden ist. Der Alte muss immer mal wieder Möbel rücken, um die Weiterarbeit zu ermöglichen, der Dreijährige sieht fasziniert zu.

Der Gockel: Da hast du deine Klötzchen. Jetzt kannst du spielen und eine schöne Mauer bauen.

Der Dreijährige: Aber wenn ich eine Mauer baue, haben wir keinen Fußboden mehr.

Der Gockel: Die Mauer ist den Preis wert. Ich habe Hillary Clinton verhindert, und das ist gut so. Clinton wollte Amerikas Angela Merkel werden, und ihr wisst, was für eine Katastrophe diese massive Einwanderung für Deutschland und die Menschen Deutschlands ist. Die Kriminalität ist auf ein Niveau gestiegen, das niemand je zu sehen geglaubt hat. Merkel ruiniert Deutschland.

Der Alte: Haben wir jetzt nicht genug getan für die ersten Tage? Wie wäre es mit einem Drink, einer Linie, einem Dutzend Austern und netter Gesellschaft zur Verdauung?

Der Gockel: Bist Du verrückt? Als nächstes nehme ich mir diese sogenannten ökologischen Dekrete von Obama vor. Die Keystone-XL und die Dakota Access Pipeline werden genehmigt. Das schafft amerikanische Arbeitsplätze! Die globale Erwärmung wurde von den Chinesen für die Chinesen erfunden, um die US-Produktion wettbewerbsunfähig zu machen. Die Chinesen werden sich auch noch über mich wundern. Strafzölle sollen sie zahlen, bis sie bluten! Steigende Temperaturen – was für ein Quatsch! Es schneit und friert in New York. Wir brauchen globale Erwärmung! Und Melania soll unseren Müll trennen? Bio ist Abfall, was soll der Unsinn?

Der Dreijährige: Guckt mal!

Er hat keine Mauer gebaut, sondern die Holzstücke zu einem Turm aufeinander geschichtet.

Der Alte: Das hast Du aber schön gemacht!

Der Gockel: Das hast du Scheiße gemacht! Das hast du überhaupt nicht schön gemacht! Das hast du total verkackt! Was solltest du bauen?

Der Dreijährige: Eine Mauer.

Der Gockel: Und was hast du gebaut?

Der Dreijährige: Den Trump-Tower.

Der Gockel: Und was macht der Trump-Tower?

Der Dreijährige: Er wackelt.

Der Gockel und der Alte im Chor: DER TRUMP-TOWER WACKELT NICHT!!!

Pause

Der Gockel: Ich bin enttäuscht von dir. Es war nicht einfach für mich. Ich habe in Brooklyn angefangen. Mein Vater gab mir nur einen kleinen Kredit von einer Million Dollar. Du solltest immer daran denken.

Man kann uns nicht wegen unseres Aussehens angreifen. Wir sehen zu gut aus. Wir werden unseren zweiten Verfassungszusatz schützen. Ich lasse nicht zu, dass man uns unsere Waffen wegnimmt. Ich werde unser Militär so groß, so mächtig und so stark machen, dass sich niemand mit uns anlegt. Ich bin ein harter Präsident. Glaubt mir, Leute, ich bin so was von hart!

Der Alte: Du hast also das Viagra versteckt!

Der Dreijährige fängt an zu weinen.

Der Gockel: Ich glaube nicht, dass Du es kannst. Vielleicht konnte ich es auch noch nicht, als ich drei war. Aber ich konnte es ganz bestimmt mit vier. Die folgenden Regeln lernst Du auswendig und sagst sie mir an jedem Abend vor:

WENN DU MIT EINEM VERLIERER ZEIT VERBRINGST, BIST DU EIN VERLIERER.

LERNE IMMER VON DEN FEHLERN ANDERER, NICHT VON DEINEN EIGENEN – DAS IST DER VIEL BILLIGERE WEG.

WENN JEMAND DICH HERAUSFORDERT, SCHLAG ZURÜCK. SEI BRUTAL, SEI HART.

REGELN SIND DA, UM GEBROCHEN ZU WERDEN.

Der Alte: Das hast du aber schön gesagt.

Der Dreijährige: Ich werde es schön auswendig lernen. Zeigst Du mir, wie man eine Mauer baut, wenn ich es gut kann?

Herbstdämmerung

Baerdel

Der Sommer war sehr groß, aber jetzt war es Zeit. Der Herr gab den letzten Früchten noch zwei südlichere Tage, aber dann legte er seinen Schatten auf die Sonnenuhren und ließ die Winde auf den Fluren los.

Und damit war den in ein Sonett gegossenen Forderungen Rilkes Genüge getan, wenn auch nur prosaisch.

Bärdel schlug das „Buch der Bilder“, eine wertvolle bibliografische Ausgabe, zu, kraulte sich den wohlgemästeten Bauch und blinzelte in die Morgendämmerung. Er wartete auf Kulle, den regelmäßigen Gefährten seiner Morgenspaziergänge, und hatte sich währenddessen mit der Jahreszeit entsprechender Lyrik unterhalten.

Manfred

Von Kulle war jedoch noch nichts zu sehen. Stattdessen tauchte Manfred aus der Richtung der Kommunikationszentrale von Bärenleben auf. Die Haare seines sonst sehr gepflegten Pelzes standen wirr in alle Richtungen ab, ein untrügliches Zeichen, dass er sehr aufgeregt war. Er war so außer sich, dass er seinen Vater überhaupt nicht wahrnahm, sondern blicklos an ihm vorbeirennen wollte. Erst dessen Stimme stoppte ihn:

„Manfred!“

„Oh, Papa! Ich hab Dich gar nicht…“

„Das war nicht zu übersehen. Was ist denn los?“

„Die Welt ist aus den Fugen!“

„Das ist sie erstens schon lange, und zweitens ist das Zitat falsch: ‚The time is out of joint‘, sagt Hamlet.“ Bärdel hatte erkennbar seine literarische Stunde, aber seine Reaktion regte Manfred nur noch mehr auf.

„Dann redet Hamlet Quatsch! Zeit und Raum sind a priori, das kannst Du bei Kant nachlesen, und können gar nicht aus den Fugen sein! Aber die Welt…“

„Was findet Du denn gerade so schlimm?“ Bärdel merkte, dass Manfreds Gemütszustand mit Bildungsbärentum nicht beizukommen war.

Manfred fasste sich tatsächlich: „Ich habe mir die Nacht um die Ohren geschlagen und das erste Fernsehduell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump verfolgt, und ich war entsetzt. Zwei Menschen im Greisenalter, als Präsidentschaftskandidaten von ihren jeweiligen Parteien nominiert, reden aneinander vorbei. Clinton hat jahrzehntelange Politikerfahrung, vielleicht ein Konzept, aber bestimmt kein Charisma, ihre Reaktionen sind einstudiert, ihre Antworten auswendig gelernt. Trump hat Geld und Selbstbewusstsein, aber kein Selbstbewusstsein – weißt Du, was ich meine?“

Bärdel nickte. „In der deutschen Sprache gibt es da keine Differenzierung. Trump ist self-confident, aber nicht self-conscious. Er ist selbstsicher, aber er ist sich seiner selbst nicht bewusst.“

„Danke, genau das meine ich. Er lügt erkennbar, aber er scheint das gar nicht zu merken. Er ist unbeherrscht. Und er hat von Politik und Wirtschaft keine Ahnung.“ Manfred holte tief Luft. „Ich verstehe nicht, dass Demokraten und Republikaner keine besseren Kandidaten gefunden haben. Und ich verstehe schon gar nicht, dass möglicherweise Trump am achten November zum Präsidenten gewählt wird.“

Bärdel wünschte sich jetzt dringend seinen Freund Kulle herbei, der weniger als er von Literatur verstand, dabei aber um so mehr von Politik. Von Kulle war allerdings immer noch nichts zu sehen. Also fing er mit den einfacheren Erklärungen an.

„In Dehland werden politische Spitzenkandidaten auch von ihren Parteien nominiert, genau wie in den USA, aber anders als in den USA bezahlen die Parteien auch den Wahlkampf. In den USA muss jeder Kandidat um Spenden werben und/oder seine Ausgaben aus eigener Tasche bezahlen, und deshalb gibt es im Wahlkampf meist nur reiche Menschen, wie Clinton, oder Superreiche, wie Trump.“

Kulle

„Die beiden großen Parteien in den USA sind nicht mehr zeitgemäß. Sie verstehen sich immer noch als Vertreter der WASPs, der White Anglo-Saxon Protestants, die nach der Gründung der USA die intellektuell, wirtschaftlich und politisch dominierende Schicht stellten. Auch wenn die Demokraten vorgeben, sich für African Americans und Hispanics einzusetzen, wenn sie sogar acht Jahre lang einen schwarzen Präsidenten gestellt haben, bleibt ihre Politik doch alten Schemata verhaftet. Aber das ist Parteipolitik. Viel spannender ist die Meinung der Bevölkerung.“ Die bekannte Stimme kam zunächst aus dem Gebüsch, aber Kulle teilte die Zweige, während er sprach, und stand jetzt vor ihnen.

„Guten Morgen! Entschuldigung, ich habe mich ein wenig verspätet, ich habe verschlafen. Ich habe mir nämlich den Tort angetan, heute Nacht diese sogenannte Fernsehdebatte zu verfolgen – nun ja. Wie ich höre, war ich nicht der einzige. Manfred, Du hast gerade sehr interessante Fragen aufgeworfen.“

Kulle glättete seine Fliege und fuhr fort. „Wenn es Euch recht ist, möchte ich eine Antwort darauf versuchen.“ Wie zufällig streifte sein Blick Bärdel, und er registrierte mit Genugtuung, dass dessen Gesichtszüge sich entspannten. Manfred sah ihn begeistert an. Kulles Ego vollführte einen begeisterten Salto.

„Ich werde dazu weiter ausholen. Der intelligente Mensch Stanislaw Lem hat eine Theorie über das Wesen der Menschen aufgestellt, deren Kernaussagen er in den Mund einer intelligenten Maschine legt. Dieser Theorie zufolge hat die Evolution des tierischen Lebens auf der Erde auf einer recht hohen Stufe zu einem Zustand geführt, der eine Lücke evozierte: Nicht alle Handlungen wurden mehr rein instinktiv gesteuert. Dass Lem rein instinktives Handeln uns Tieren unterstellt, ist natürlich Unsinn und allein seiner menschlichen Borniertheit geschuldet, aber seine Aussagen über seine eigene Spezies sind zweifellos nachdenkenswert.

Die Lücke bedeutet, sich zwischen Alternativen entscheiden zu können. Die Lücke ist das, was der Mensch selbstgerecht als ‚Verstand‘ bezeichnet.

Nun ist das Entscheiden ein anstrengender Prozess, dauernde Entscheidungen überfordern auch Bären, ganz gewiss aber Menschen. Deshalb, so Lem, organisieren die Menschen ihr Leben in regelhaften Gemeinschaften, die sie selbst als ‚Kulturen‘ bezeichnen. Die Vorschriften darin, die sie selbst gemacht haben, die sie aber schnell als von überirdischen oder irdischen Mächten gegeben betrachten, nehmen ihnen die Notwendigkeit der Entscheidung ab: in toleranten Kulturen nur zum Teil, in doktrinären vollständig. Soweit Lem.

‚Die Welt ist aus den Fugen‘ hat Manfred vorhin gesagt. Das ist zwar ein nicht korrektes Zitat, wohl aber eine korrekte Zustandsbeschreibung. Die technologischen Veränderungen in der Menschenwelt, allen voran die Revolution der Kommunikation und der Berufswelt, stellen tradierte Kulturen in Frage. Die gesellschaftliche Antwort darauf ist ein Auseinanderdriften der Menschengesellschaften: Doktrinär bestimmtes Leben wird noch doktrinärer, permissive Kulturen verzichten zunehmend auf verbindliche Regeln. Und die Gesellschaften mit fixen Grundsätzen und die Gesellschaften ohne fixe Grundsätze werfen den jeweils anderen vor, am fugenlosen Zustand der Welt schuld zu sein.“

„Ist ja alles schön und gut!“ murrte Manfred. „Aber ich weiß immer noch nicht, warum ein Amerikaner Donald Trump wählen sollte.“

Kulle schüttelte den Kopf so leise, dass nur Bärdel es sehen konnte. „Die USA sind eine zumindest in Teilen tolerante Kultur. In ihr zu leben erfordert Entscheidungen. Trump versprich den Menschen, ihnen die Entscheidungen abzunehmen, indem er ihnen sagt, wer böse ist und wer gut. Er verspricht ihnen das Ende der wirtschaftlichen Unsicherheit, indem er die ‚fugenlose‘ Welt von den USA fern hält: Durch eine Mauer gegen Mexiko, durch Protektionismus. Er ist der reiche Onkel, der es ganz nach oben geschafft hat und der verspricht, dass alles für alle gut wird. Wie man Kindern leichtfertig unhaltbare Versprechungen macht.“

Alle schwiegen lange, bis Manfred leise fragte: „Auf der Welt gibt es gerade viele Kinder unter den Menschen, oder?“

„Ich fürchte, ja.“

„Jetzt gehen wir aber endlich spazieren!“ forderte Bärdel gewollt heiter, obwohl ihm das Herz ebenso schwer war wie Manfred. „Wer kommt mit?“

Sie wanderten zu dritt durch die dehländische Ebene, aber anders als sonst begleiteten sie keine munteren Reden.

September 2016

Die Kanzlerin

Ramses

Die Kanzlerin

„Entschuldige bitte, Joachim! Ja, natürlich möchte ich lieber zusammen mit Dir in den Alpen wandern, wie jeden Sommer. Und ich habe nun mal nur knapp drei Wochen Urlaub vom Regieren, das ist wenig genug. Du als Prof mit Deinen opulenten Semesterferien – davon kann unsereins nur träumen. Die paar Tage muss ich jetzt für meine Zukunft nutzen. Kannst Du vielleicht mit Deinem Sohn wandern gehen?“ „Die Kanzlerin“ weiterlesen

Zwischengeburtstag

An einem 22. Oktober, dem Tag also, der genau sechs Monate vor und sechs Monate nach ihrem Erinnerungstag, dem Tag, an dem sie erinnert werden wollte oder, wenn es niemanden gab, der sie erinnerte, sich erinnern wollte, nämlich daran erinnern, dass sie die Bewegerin dieses einen Universums unter anderen zahllosen Universen war, deren Bewegerinnen zahllose andere Entitäten waren, am 22. April also, denn aus Gründen, die nur Tussi, denn von ihr ist die Rede, hell sein konnten, legt sie Wert darauf, ihren Erinnerungstag an dem Datum zu begehen, an dem Immanuel Kant und Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, das Licht dieser Welt, also des dritten Planeten des Solarsystems am Rand ihres Universums, erblickt haben, an dem Tag  zwischen den Erinnerungstagen lädt Tussi alle Bewohner Bärenlebens zum Robbenreiten vor der Insel Norderney ein.

Tussi und Merkel

Kulle fand wenig Vergnügen am Reiten von Robben, nicht in der Vergangenheit und auch nicht beim aktuellen Anlass. Er hasste kaltes Wasser, und er glitschte immer wieder von den dicken Tieren mit ihrem fettigen Fell, das keinen festen Griff erlaubte, hinunter. So stapfte er nach einem kurzen Intermezzo im Meer erleichtert wieder an den Inselstrand.

Kulle

„Na, kleiner Stinker? Schon die Nase voll vom Dorfvergnügen?“

Kulle zuckte zusammen, ertappt und schuldbewusst. Einer Göttin zeigt man nun einmal nicht, dass man ihr Unterhaltungsprogramm nicht schätzt. Aber Tussi gab sich huldvoll.

„Schon gut. Ich sollte mir vielleicht was Neues einfallen lassen, solange noch Zeit ist.“ 

Vor der großen Fröschin materialisierte sich ein silberner Kübel, aus dem der Hals seiner Champagnerflasche ragte, daneben stand ein schlanker Kelch. Vor Kulle erschienen zwei irdene Töpfchen.

„Sanddornhonig und Sanddorncreme für dich, Champagner für mich. Recht so?“

Kulle nickte. Süßherbe Düfte stiegen ihm in die Nase. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen, nicht sofort Pfote und Schnauze in die Leckereien zu stecken, sondern zu warten, bis Tussi den ersten Schluck genommen hatte, wie es sich gehörte. Aber noch viel mehr Beherrschung kostete es ihn, Tussi nicht sofort mit Fragen zu überfallen. Tussi war hier! Mit ihm allein! Tussi wusste alles! Er konnte alles erfahren! Er musste es nur geschickt anstellen…

„Sag mal…“

„Sag mal…“

Beide hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen. Beide sahen einander an. Beide nickten. Und beide fuhren gleichzeitig fort:

„Was wolltest Du fragen“?

„Was wolltest Du fragen?“

Kulle war verwirrt, aber er gab sich galant: „Du hast natürlich den Vortritt!“

„Sag mal – wie gefällt es Dir auf meiner Welt?“

Oh weh! Eine solche Frage eines Gottes oder einer Göttin wagt nur der Teufel ehrlich zu beantworten, und Kulle suchte bei ihm Zuflucht.

„Von Sonn‘ und Welten weiß ich nichts zu sagen,

Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.

Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,

Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.

Ein wenig besser würd er leben,

Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,

Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“

„Ja,“ sagte Tussi nachdenklich und nippte am Champagner, „Goethe war ganz schön klug. Dem hätte ich gerne Gesellschaft geleistet, aber ich habe von seiner Existenz erst erfahren, als er schon tot war. Man kann eben nicht alles haben!“

„Aber ich dachte, Du seist allwissend!“

„Das hast Du nicht gedacht, sondern gemutmaßt. Aber das nur am Rande. Und was den Inhalt Deiner Annahme angeht: Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst Du im Ernst, ich könnte hier sitzen und es mir gut gehen lassen, wenn ich alles wüsste, was vorgeht?“

„Aber ich denke – äh, ich nehme an, Du machst alles?“

„Präteritum, mein Lieber, Präteritum! Ich habe alles gemacht, vor langer Zeit, als es Eurer Physik zufolge noch gar keine Zeit gab, und seitdem gucke ich nur zu, was passiert, oder ich schaue auch weg, wenn es zu fürchterlich ist. Um ehrlich zu sein, ich sehe meistens weg.“

„Es gefällt Dir also auch nicht auf der Erde, wo ‚sich die Menschen plagen’ und mit ihrem Verstand überfordert sind, wie Mephisto sagt?“

„Nein. Im Prinzip ist die Erde ein ‚Failed Planet’. Aber man muss nehmen, was man hat, auch als Schöpferin: Allzu viele Planeten mit annehmbaren Umweltbedingungen haben sich in meinem Universum nicht entwickelt, um es vorsichtig zu formulieren. Terra nimmt eindeutig diesbezüglich eine Spitzenposition ein. Ein paar akzeptable Ecken gibt es hier schon.“

„Europa zum Beispiel?“

„Nicht zum Beispiel.  Nur Europa. Nur ein paar europäische Länder.“

„Dann ist Dein Kriterium nicht Reichtum!“

„Richtig erkannt. Du bist ein kluger kleiner Stinker. Ginge es um Reichtum, hätte ich mich in den USA niedergelassen. Habe ich aber nicht.“

„Also geht es um Frieden?“

„Natürlich.“

„Welche europäischen Länder meinst Du?“

„Frankreich, Benelux, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Schweiz, Westdeutschland…“

„Also nicht die DDR? Nicht zum Beispiel Spanien, Portugal, Griechenland?“

„Nein.“

„Also nur die Länder, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges demokratische Strukturen entwickeln konnten, in denen es keine Diktaturen gab?“

„Du bist wirklich ein kluger Stinker. Iss von Deinem Honig und Deiner Creme – die sind gut für Dein Gehirn.“

Kulle war jedoch zu aufgeregt zum Essen.

„Wirst Du länger hierbleiben?“

„70 Jahre Frieden. Das ist in Europa ein einmalig langer Zeitraum. Die europäischen Länder, in denen so lange Frieden herrscht, machen etwa zwei Prozent der Kontinentallandmasse aus – die Antarktis lasse ich außer Acht, weil sie nicht von Menschen besiedelt ist. Wenn ich unterstelle, dass der heutige Mensch die Erde seit 70.000 Jahren besiedelt;­ ein Durchschnittswert, in Afrika lebt der Mensch viel länger, in den Amerikas erschien er erst später , dann entsprechen 70 Jahre einem Promille.“

Jetzt griff Kulle doch in den Honigtopf.

„Du wirst also nicht länger hierbleiben?“

„Die Stochastik spricht dagegen.“

„Vielleicht“, sagte Kulle und sah aufs Meer hinaus, wo Bärdel und Atti und Manf sich, auf dem Rücken von Seehunden reitend, mit Wasser bespritzten, „vielleicht sollte ich jetzt doch noch die Freuden des Meeres genießen. Wer, weiß, wie lange es die noch gibt.“

Oktober 2015

Eule aus Athen

Da Ramses einerseits ein höflicher Frosch war, sich andererseits aber sorgte, dass seine Stimmbänder verkümmern könnten – er hatte seiner Meinung nach einen angenehmen Bariton – hüpfte er oft in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden aus Bärenleben fort, um außer Hörweite des Dorfes seine Quakübungen auszuführen. Aus ihm unerfindlichen Gründen waren nämlich alle Bärenlebener außer ihm der Meinung, dass sein Quaken sehr misstönend sei.

Ramses

So saß er denn im Juni auf einem luxuriös großen Teichrosenblatt, sang vor sich hin und blinzelte bereits um vier Uhr in den beginnenden Tag, denn in dieser Jahreszeit sind die Nächte kurz. Aber plötzlich wurde er aus seiner Ruhe gerissen: Etwas rauschte, sein Blatt geriet in Schwingungen, wackelte gefährlich, neigte sich zur Seite, und etwas Großes, etwas sehr Großes landete neben ihm darauf. Ramses wurde abgedrängt und fiel ins Wasser.

Das war nicht sonderlich tragisch, sind Frösche doch, wie jeder weiß, hervorragende Schwimmer. Aber Frösche sind eben auch höflich, und das rüde Verhalten ärgerte ihn gewaltig. Welcher Bärenlebener wollte ihm zu dieser Stunde und so weit außerhalb des Dorfes einen Streich spielen? Dem würde er es schon zeigen!

Er tauchte auf und öffnete den Mund, um eine Philippika zu beginnen, schloss ihn aber gleich wieder. Auf dem Blatt saß kein Bewohner Bärenlebens. Auf dem Blatt saß ein großer Vogel, und mit Vögeln kannte Ramses sich gar nicht aus. Manchen allerdings sollte man als Frosch besser aus dem Weg gehen, Störchen zum Beispiel, das wusste er. Aber der Eindringling sah nicht wie ein Storch aus.

„Entschuldige bitte, dass ich Dich runtergeworfen habe. Ich muss mich verflogen haben. Und jetzt ist es schon so hell, dass ich fast blind bin.“

Minerva

Der Fremde hatte also immerhin Manieren, stellte Ramses fest. Aber komisch war doch, dass jemand nicht sehen konnte, wenn es Tag war. Der Sache wollte er auf den Grund gehen.

„Macht nichts!“ sagte er großspurig. „Macht gar nichts. Schon gut! Ich bin übrigens Ramses.“ Wenn ich mich vorstelle, musst Du Dich auch vorstellen, dachte er sich. Er hatte richtig gedacht.

„Ich bin Athene.“

Wenn Du Athene bist, bin ich Zeus, schoss es Ramses durch den Kopf. Oder zumindest Apoll.

„Dann kommst Du also aus Griechenland?“ Er wollte einen Witz machen. „Aus Athen, nehme ich an? Und Du bist bestimmt eine Eule?“

Minerva

„Ja, ich komme aus Athen, und ich bin genau genommen ein Steinkauz, Athene noctua, aber Du darfst mich eine Eule nennen. Alle machen das.“

Das wäre beinahe schief gegangen – er war auf dem besten Weg gewesen, sich zu blamieren, stellte Ramses fest. Eulen nach Athen tragen, Aristophanes – hier schien sich Antikes anzubahnen.

„Willkommen in Dehland!“ sagte er feierlich. „Du hast bestimmt Hunger, aber außer ein paar Fliegen kann ich Dir leider nichts anbieten. Ich hoffe doch, Du isst keine Frösche?“

„Ich bevorzuge Mäuse,“ erklärte Athene ernsthaft.

„Das beruhigt mich sehr. Sag mal, wohin wolltest Du denn, bevor Du Dich verflogen hast?“

„Zum Kanzler. Zu dem Kanzler, von dem mir berichtet wurde. Der auf den Rat der Bären hört.“

Von diesem Kanzler hatte Ramses auch schon gehört. Im Dorf erzählte man sich, er habe sich einst bei einem Gewitter verirrt und sich, obwohl er zuerst Angst vor sogenannten wilden Tieren hatte, von Bären zur Vernunft bringen lassen. Ramses hielt die Geschichte für wahr. Er wusste auch, dass dieser Kanzler schon lange nicht mehr um Amt und sehr krank war. Ebenfalls erinnerte er sich, dass der Nachfolger des Kanzlers später bei den Bären aufgetaucht war, und er hatte sich wesentlich weniger vernünftig gezeigt als sein Vorgänger. Und dessen Nachfolgerin…

„Du weißt aber, dass Dehland seit zwölf Jahren keinen Kanzler mehr hat, sondern eine Kanzlerin? Sie heißt Angela Merkel. Und ich habe noch nie davon gehört, dass sie auf den Rat von Bären hört.“

Bei dem Namen zeigte Athena Unruhe. Ramses, der inzwischen wieder auf sein Teichrosenblatt zurückgeklettert war, geriet mit seiner Unterlage in eine gefährliche Schieflage.

„Was ist los?“ wollte Ramses wissen.

„Zu Angela Merkel will ich nicht. Auch nicht zu Christine Lagarde. Nicht zu Jerôme Dijsselblom. Nicht zu Claude Juncker. Nicht zu Wolfgang Schäuble. Nicht zu…“

Athena schien die Puste nicht auszugehen, und deshalb unterbrach Ramses sie: „Zu wem willst Du dann?“

Athena antwortete nicht, sondern steckte den Kopf unter ihren rechten Flügel. Der Kopf verschwand völlig. Ramses wartete geduldig, obwohl er es merkwürdig fand, auf ein Lebenszeichen eines gefiederten Quaders zu hoffen. Er musste lange warten, bis der Kopf wieder erschien.

„Ich habe nachgedacht. Der Kanzler damals…“

„Der ist alt und sehr krank.“

„Schade.“

„Ja.“

„“Er hat mit den Bären geredet…“

„Ja.“

„Leben die Bären noch?“

„Ja.“

„Bring mich bitte zu ihnen.“

„Gerne. Aber ich gehe mal lieber vor.“

Es gelang Ramses gerade rechtzeitig, Bärdel und Kulle auf ihrem Morgenspaziergang abzupassen.

Kulle und Bärdel

„Wir haben Besuch aus fernen Ländern!“ quakte er. „Eine Eule! Eine politische Eule! Sie will zum Kanzler, aber das habe ich ihr ausgeredet. Sie kommt zu Euch!“

Bärdel sah Kulle an. Kulle sah Bärdel an. Ungläubig. Verständnislos.

Und schon war sie da. Sie landete auf einem niedrigen Ast am nächsten Baum.

„Guten Morgen!“ grüßte Bärdel. Und gedankenlos fuhr er fort: „Ich hoffe, Du hast gut geschlafen.“

„Guten Morgen. Ich hoffe, Du siehst, dass ich ein Nachtvogel bin. Ich habe nicht geschlafen, sondern bin geflogen.“

„Sie kommt aus Athen!“ platzte Ramses dazwischen.

„Wer hat Dich denn da hingetragen?“ flachste Kulle. Man muss ihm verzeihen – er war noch nicht ganz wach und ließ es an der nötigen Ernsthaftigkeit fehlen.“

„Das war Wolfgang Hildesheimer 1954. Aber ich lebe schon viel länger. Schon seit Aristophanes.“

Schlagartig begann Kulles Verstand auf Hochtouren zu arbeiten.

„Du bist eine literarische Eule? Eine symbolische Eule?“

Kulle und Bärdel

Athena nickte bescheiden.

Ramses verstand gar nichts. Bärdel nur ein bisschen.

„Du, die Kluge, Symbol der Göttin Athene, weiser Vogel aus dem Land, das die Wiege Europas ist, aus dem der göttliche Stier die Jungfrau in die Fremde trug – Du suchst Rat bei wilden Tieren?“

Bärdel erkannte Kulle kaum wieder. Seinen Hang zur Literatur hatte sein Freund bisher erfolgreich vor ihm verborgen.

„Ich suche Rat bei wilden Tieren, denn mein Land ist unter die Menschen gefallen.“

Athena hatte sich überreden lassen, den Tag zu verschlafen und ihre Geschichte allen Bärenlebenern bei der abendlichen Dorfversammlung zu erzählen. Heute war es später als gewöhnlich – man hatte höflich auf die Dunkelheit gewartet, damit die Eule ordentlich sehen konnte.

„Es ist eine lange Geschichte, aber ich will versuchen, es kurz zu machen. Seit 30 Jahren ist Griechenland Mitglied der Europäischen Union, seit 15 Jahren ist die Währung der Euro. Die damaligen Regierungen haben sich den Euro mit gefälschten Zahlen erschwindelt. Im Land wird schlecht gewirtschaftet, damals wie heute. Die Regierung gab mehr Geld aus, als sie einnahm, und musste für die fehlende Summe Kredite aufnehmen. Die Zinsen für solche Kredite stiegen ständig, weil die Geldgeber immer stärker daran zweifelten, dass sie ihr verliehenes Kapital jemals wiedersehen würden. Schließlich konnte der Finanzminister den Schuldendienst nicht mehr bedienen. Das Land stand vor dem Bankrott Das war vor fünf Jahren.

Ist das soweit klar?“

Alle nickten, aber Piggy, das Schwein, wollte wissen: „Und warum ist Griechenland vor fünf Jahren nicht pleite gegangen?“

„Es wäre eine Blamage für die anderen Euro-Länder gewesen. Das Ansehen des Euro an den internationalen Devisenbörsen wäre stark beschädigt worden. Man beschloss, Griechenland zu helfen. Die Helfer waren zwei Organe der Europäischen Union und der Internationale Währungsfonds.“

„Oh je!“ Na hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, weil sie sich wieder einmal nicht hatte beherrschen können.

Athena richtete mit einem ihrer Augen einen stechenden Blick auf sie. Wenn Eulen schmunzeln könnten, hätte sie es getan.

„Sehr richtig: Oh je! Vor allem der IWF ist knallhart, aber über den wisst Ihr in Bärenleben ja Bescheid, hat Kulle mir erzählt. Wenn der Kredite vergibt, dann immer nach den gleichen Spielregeln: Geld gibt es nur, wenn die Staatsausgaben verringert werden. Wenn also weniger ausgegeben wird für Bildungs- und Gesundheitswesen, für Soziales. Allgemein für den öffentlichen Dienst. Wenn die Staatseinnahmen erhöht werden, also die Steuern. Wenn das Staatseigentum verkauft wird.“

Athena holte tief Luft.

„In Griechenland sind die Renten in den letzten fünf Jahren um zehn Prozent gesenkt worden, die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden um 30 Prozent gekürzt. Jeder dritte Grieche kann sich keine Krankenversicherung mehr leisten. Und fast jeder dritte Grieche ist arbeitslos. Vor fünf Jahren war es noch nicht einmal jeder zehnte. Viele Menschen sind obdachlos geworden, viele hungern.“

Athena schwieg. Die Zuhörer waren mucksmäuschenstill. Sie warteten auf die Fortsetzung des Vortrags. Aber die Eule war am Ende.

„Und jetzt?“ fragte Kulle schließlich sanft.

„jetzt hat Griechenland schon wieder kein Geld mehr. Nur Schulden. Und die Geldgeber stellen neue Bedingungen.“

„Warum kann man denn nicht einfach einen Schlussstrich ziehen? Also Griechenland seine Schulden erlassen?“ schlug Tumu vor.

„Das möchten die Griechen natürlich. Aber nicht die Gläubiger, vor allem nicht die Regierung von Dehland. Niemand erinnert sich offenbar daran, dass diesem Land die Forderungen aus dem Versailler Friedensvertrag weitgehend erlassen wurden. Ohne diese Großzügigkeit der Gläubiger hätte sich Dehland wohl kaum wirtschaftlich erholen können.“

Athena seufzte.

„Ich wollte mit dem alten Kanzler sprechen, dem, der auf die Bären gehört hat. Aber den gibt es nicht mehr, habe ich gelernt. Die neue Kanzlerin, das wissen in Athen alle, hört nicht auf Bären, sondern nur auf Geld. Zu ihr zu fliegen hat keinen Zweck. Das hieße, Eulen nach Berlin tragen. Und davon gibt es in Berlin genug.“

„Was können wir denn tun, um den Griechen zu helfen?“ wollte die alte Bärin wissen.

„Wir können zum Beispiel all das technische Equipment nutzen, das ich im Lauf der Jahre zusammen… zusammengestellt habe,“ meldete sich Manfred. „Über die diversen sogenannten sozialen Medien lässt sich da Meinung machen, und meine Firewalls sind so gut, dass niemand uns entdecken wird. Gleich morgen früh legen wir los – ich garantiere, dass der Shitstorm die Kanzlerin aus dem Bett holen wird. Vielleicht fällt ihr dann ein neuer Spruch ein: ‚Ruinieren unter Freunden – das geht gar nicht!‘ Aber Ihr geht jetzt besser erst mal schlafen -¬ ich muss noch ein wenig basteln.“

Die Bären brummten zustimmend, das Schwein quiekte, und im Augenblick störte es auch niemanden, dass Ramses quakte.

„Und Du bist bitte unser Gast!“ sagte Bärdel zu Athena. „In den Wäldern der Umgebung gibt es Mäuse genug für Deine Bedürfnisse, anderes Kleingetier auch, wonach Dir der Appetit steht, so genau wollen wir das gar nicht wissen.“ Und mit ein bisschen schlechtem Gewissen fügte er hinzu: „Und schlaf schön. Morgen, tagsüber, meine ich.“

Zur Erläuterung:

Die Redensart „Eulen nach Athen tragen“ geht auf den griechischen Dichter Aristophanes zurück, in dessen Komödie „Die Vögel“ sich der Satz findet:

„Wer hat die Eule nach Athen gebracht?“

Die Eule, Symboltier der Göttin Pallas Athene, gilt als Inkarnation der Weisheit.

Und: Eulen waren damals in die Silbermünzen geprägt.

Hier beginnt die Spielwiese der Interpretation: Wie möglich/ unmöglich, sinnlos/ unsinnig ist es, Weisheit bzw. Geld irgendwo hin zu bringen?

Wolfgang Hildesheimer, Meister der kurzen Form und der Ironie, schreib 1954 die Erzählung: „Ich trug eine Eule nach Athen“. Nachzulesen im Archiv der „Zeit“.

Eisbärenabitur – oder: Kant für Anfänger

Eisbärenkinderabitur

Eisbärenfamilie

„Tante Atti, Onkel Kulle, können wir heute bitte Abitur spielen?“

Athabasca und Kulle sahen einander verwundert an. Was war wohl jetzt wieder in Nanuk gefahren?

„Wie kommt ihr denn auf die Idee?“ wollte Atti wissen.

Athabaska

„In ganz Dehland finden jetzt mündliche Abiturprüfungen statt, haben wir in der Zeitung gelesen. Wenn man die besteht, darf man studieren. Das wollen wir auch machen!“

Kulle schüttelte sanft den Kopf. „Man muss auch schriftliche Prüfungen bei den Menschen bestehen, wenn man studieren will. Aber das nur nebenbei. Ihr braucht diese Voraussetzungen nicht: Hier in Bärenleben dürft ihr studieren, wozu immer ihr Lust habt!“

„Das wissen wir doch, Onkel Kulle! Aber wir möchten so gerne spielen….“

„Na gut! Tante Atti und ich werden uns eine Aufgabe für euch ausdenken. Da ihr aber zweifellos klüger seid als die Menschen, werden wir euch nur mit Material versorgen. Die Aufgaben dazu müsst ihr euch selbst überlegen. Mit dem Material dürft ihr euch zwanzig Minuten lang beschäftigen, und danach folgt eine Prüfung von einer halben Stunde. Einverstanden?“

„Super, Onkel Kulle! Wir sind jetzt gleich bei Mami im Wasser. Sagt uns Bescheid, wenn ihr fertig seid.“

Und schon sausten zwei weiße Blitze davon zum Dorfteich.

Athabasca bot Kulle ein paar frisch gepflückte Kräuter an und erkundigte sich: „Was wollen wir den beiden geben? Du hast doch bestimmt schon eine Idee, du Schlaumeier!“

Kulle

Es gab nur einen Bären auf der Welt, genauer gesagt, eine Bärin, von der sich Kulle despektierlich „Schlaumeier“ nennen ließ. Atti war die Frau seiner Träume, seit er sie kennengelernt hatte. Deshalb bedankte er sich artig für den vegetarischen Imbiss und sagte: „Kant. Kurz und knackig. Da ist alles drin und alles draus zu machen.“

Atti mopste sich ein paar Rucolablätter aus Kulles Faust und nickte zustimmend. „Gute Idee. Aber bitte gekürzt.“

„Versteht sich. Die Kleinen werde auch so genug zu knabbern haben.“

Kulle trollte sich in die Bibliothek und kam wenig später mit bedrucktem Papier zurück.

„Nanuk!“ rief er.

Voller Begeisterung sprangen die Zwillinge ans Ufer, schüttelten sich das Wasser aus dem Fell und griffen nach den Zetteln.

„Zwanzig Minuten!“ erinnerte Kulle.

„Viel Spaß!“ wünschte Atti.“

Beantwortung der Frage:

Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich…Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: Räsonniert nicht! Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich, welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung…

„Ganz schön viel Text“, stellte Nuk beeindruckt fest.

„Ach nee“, kommentierte Na ironisch. „Komm, lass uns arbeiten: Von wem ist der Text, was steht drin, sind die Aussagen richtig – einverstanden?“

Nuk antwortete nicht – sie war schon in das Material vertieft. Zwanzig Minuten lang war es still – eisbärenarbeitsstill.

„Seid ihr so weit?“ Athabasca hatte eine Holunderblüten-Honig-Limonade angesetzt und wollte den Kindern davon einschenken, aber Nuk wehrte dankend ab: „Später, bitte, Tante Anti.Erst müssen wir reden!“

„Wir gehen davon aus, dass der Text von einem Aufklärer stammt, also auf das späte 18.Jahrhundert zu datieren ist. Die häufige Verwendung des Verbs ‚räsonnieren‘ und die Anspielung auf einen einzigen Herrn in der Welt, der sagt: ‚Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht‘ sind eindeutige Hinweise auf Preußen und Friedrich II. Der Verfasser des Essays ist vermutlich Immanuel Kant.“

Lehrerin und Lehrer nickten anerkennend.

„Wir könnten jetzt den Textinhalt referieren, wenn ihr möchtet,“ bot Na an. „Wir fänden das, ehrlich gesagt, aber langweilig. Spannender wäre es, den Text politisch einzuordnen, denn Aufklärung ist beziehungsweise war eine intellektuell-politische Bewegung, die ihrer Natur nach bestehende Herrschaftsstrukturen in Frage stellt. Außerdem reizt es uns, die Textaussagen auf ihre aktuelle Relevanz abzuklopfen.“

„Athabasca seufzte vor Glück. Kulle freute sich ebenso, dachte aber wehmütig daran, dass er wohl lange auf die nächste Generation ähnlich begabter Eleven würde warten müssen.

„Wir sind ganz Ohr,“ sagten beide im Chor.

„Ein Revolutionär war der Königsberger Professor Kant nicht gerade. Ist ja auch menschlich: ‚Wes Brot ich ess, des Lied ich sing…‘ Ohne Bevormundung denken sollen die Menschen seiner Meinung nach schon, aber dabei bloß nicht die öffentliche Ordnung und das Gefüge des Gemeinwesens stören, auch wenn es darum nicht zum Besten bestellt sein mag. Deshalb unterscheidet er zwischen öffentlicher und privater Freiheit. Der Privatmensch, ob nun als Soldat oder in einem zivilen Beruf tätig, hat zu gehorchen, öffentlich darf er dagegen seine Gedanken kundtun – gemein formuliert, Kant postuliert die Freiheit der Stammtischmeinung.“

Kulle dachte. ‚Das hätte von mir sein können.‘

„Der Text, den wir bekommen haben, ist mehr als zweihundert Jahre alt, wenn unsere Einschätzung stimmt.“ Nuk schien laut zu denken, für sich zu überlegen, nicht zu ihren Lehren zu sprechen.

„Ich habe gelernt, dass der Optimismus, den er ausdrückt, erst am Beginn des 20. Jahrhunderts zerstört worden ist, durch den Großen Krieg.

Es gab einen zweiten Optimismus-Aufguss mit dem Sieg der Oktoberrevolution 1917, bis sich allmählich herausstellte, dass die Revolution ein Putsch war und die Herrschaft der Arbeiterklasse die Willkürdiktatur der Nomenklatura.

Es gab einen dritten Aufguss nach dem Ende der Bipolarität. Für kurze Zeit sah es so aus, als könnte die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges Schwerter zu Pflugscharen schmieden.“

„Aber“, fuhr Na ebenso träumerisch fort, „das war die Sicht der satten Reichen, die meinten, immer weiter gut leben zu können mit den billigen Rohstoffen der Armen. Denn die Armen waren ruhig gestellt unter der Herrschaft von Diktatoren, mit denen die Reichen hervorragend Handel treiben konnten. Aber die Armen hatten selten Brot und immer keine Arbeit, kein Auskommen, und als manche von ihnen die Diktatoren vertrieben, jubelten die satten Reichen sogar, denn sie meinten, nun würden die Armen das Regierungssystem der Reichen einführen, und dann ließe sich mit ihnen noch besser Handel treiben. Weit gefehlt.“

„Denn,“ spann Nuk den Faden fort, „denn die Aufständischen begaben sich nicht unter die Fuchtel der kapitalistischen Vormünder, sondern, was Kant, wenn er denn der Verfasser des uns vorliegenden Textes ist, verabscheut hätte, unter die Vormundschaft der Imame und der Muftis. Nicht die Vernunft regiert, stattdessen ist die öffentliche Freiheit ein Opfer der Scharia. Die schlimmsten Auswüchse, wenn wir der Presse trauen dürfen, produziert der IS mit Morden und Vergewaltigungen in einem Ausmaß, wie sie – in Europa – seit dem dreißigjährigen Krieg nicht mehr vorgekommen sind.“

„Das soll aber nicht heißen, dass die Menschen in den Industrie- und Schwellenländern rationaler agieren,“ sagte Na. „Die kleinen digitalen Helferlein haben sich längst in die Rolle der Vormünder gedrängelt und sind auf dem besten Weg, die Diktatur zu übernehmen. Der elektronische Assistent ist der elektronische Kontrolleur, und dessen Boss – Google, Apple oder wie such immer – weiß alles über dich. Aber die ‚User‘ scheinen es zu wollen – Netzsucht ist bereits als Krankheit definiert.“

„Und dann sagte Na: „Jetzt habe ich Durst.“

„Ich auch“, setzte Nuk hinzu.

Beide tranken einen herzhaften Schluck, rülpsten nach Bärenart. und danach fragte Nuk: „Sollen wir noch weitermachen?“

Athabasca sah Kulle an. Kulle sah Athabasca an. Beide schüttelten den Kopf.

„Ihr dürft gerne weitermachen, wenn ihr möchtet. Eure gewünschte Prüfung ist aber zu Ende. Ihr habt mit Auszeichnung bestanden und seid an jeder Bärenuniversität der Welt zugelassen. Wobei wir zugeben, dass es so viele Bärenuniversitäten nicht gibt.“

„Danke! Wir studieren gerne weiter in Bärenleben. Für heute Abend haben wir einen Vorschlag: Können wir alle gemeinsam darüber reden, warum die Menschen Aufklärung aufgegeben haben?“

Kulle war von dem Vorschlag angetan. „Gute Idee! Ich werde Bärdel sagen, dass er das Thema ansprechen soll.“

„Danke, Onkel Kulle!“

Zwei Minuten später lieferten sie einander eine erbitterte Wasserschlacht. Oicy freute sich, dass ihre Kinder ganz normale Eisbären waren, keine verkopften Grizzlys.

Si vis pacem ???

Der Nieselregen der letzten Tage hatte den Schnee in und um Bärenleben schmelzen lassen. Die Erde roch wieder nach Erde und nach Wurzeln und nach keimendem Leben. Nach langer Winterruhe trieb es Bärdel zu einem Morgenspaziergang, aber den wollte er natürlich nicht allein unternehmen.

Baerdel

Er rief nach Kulle. Ein wenig artikulierter Laut aus einem Gebüsch am Dorfteich antwortete ihm. Bärdel trabte dorthin und begrüßte im Vorbeigehen Oicy, die wehmütig die letzten schmelzenden Eisschollenreste betrachtete. Ihre Kinder schlossen sich sofort Bärdel an, als sie ihn bemerkten.

Eisbaeren

Kulle hocke unter einem Forsythienbusch, dessen Knospenspitzen schon gelbe Farbe zeigten. Er freute sich aber nicht an der zarten Frühlingsankündigung, sondern schaute nach unten und werkelte an öligen Metallteilen herum, die er vor sich auf einem schmierigen Lederlappen ausgebreitet hatte. Weder Bärdel noch die Eisbärenzwillinge hatten jemals etwas Ähnliches gesehen.

Folgerichtig erkundigte sich Bärdel: ”Was ist das denn?” Vor lauter Verblüffung vergaß er sogar einen Morgengruß – dabei war er doch ein sehr höflicher Bär!

„Das ist eine Glock”, knurrte Kulle. Der Tonfall verriet, dass er auch noch hatte sagen wollen: ‚Frag nicht so blöd – das sieht man doch!‘

Bärdel holte tief Luft und nutzte die damit gewonnene Zeit, um darüber nachzudenken, was er dazu sagen sollte.

So konnte Na ihm zuvorkommen: ”Aber nein, Onkel Kulle, Du schwindelst uns an. Eine Glocke sieht doch ganz anders aus!”

Bärdel hatte zu Ende überlegt, bevor Kulle explodieren konnte. ”Wozu brauchst Du eine halbautomatische Pistole?” fragte er. Na war zwar oft naseweis, aber auch sehr intelligent. Sie begriff sofort, und vor Überraschung kullerten ihr fast die Augen aus dem Kopf. Auch Nuk sah man ihre Verwirrung an.

„Zur Verteidigung. Zur Selbstverteidigung. Si vis pacem, para bellum!”

Die Zwillinge hatten genug Latein bei Kulle und Athabasca gelernt, um den Spruch mühelos übersetzen zu können: ‚Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor‘. Sie verstanden die Aussage, nicht aber den Zusammenhang mit Kulles Tun. Bärdel ging es ebenso.

„Wer bedroht denn unseren Frieden” – er war klug genug, um ‚unseren‘ zu sagen und nicht ‚Deinen‘ -,”so dass wir uns gegen Aggressoren bewaffnen müssen?” fragte er.

„Jetzt tu bitte nicht so dumm!” fauchte Kulle.”Winterschlaf hin, Winterschlaf her, wir haben in diesem mal wieder zu warmen sogenannten Winter nicht durchgeschlafen und genug Nachrichten verfolgt, um zu wissen, dass die Welt aus den Fugen ist!”

Na konnte mit dem Wort ‚Fuge‘ nur Musikstücke verbinden, deren Meisterkomponist Johann Sebastian Bach gewesen war, aber Nuk knuffte sie in die Rippen, bevor sie nachfragen konnte. Wir Kinder halten jetzt mal ein paar Minuten lang den Mund, sollte das heißen. Na gehorchte folgsam. Es ging anscheinend um die Welt, und da wussten die Erwachsenen bestimmt besser Bescheid als sie.

Bärdel hatte sich gerade intensiv mit Shakespeare beschäftigt und wusste deshalb, dass für Hamlet nicht die Welt, sondern die Zeit aus den Fugen war. Das war jetzt egal – das eine war so schlimm wie das andere. Und er wusste auch Bescheid über die aktuelle Politik.

„Natürlich weiß ich das. Die schöne ‚Friedensdividende‘, an die die Menschen bei dem Ende des Kalten Krieges 1990 geglaubt haben, ist verspielt. Nine eleven. Irak. Afganistan. Libyen. Syrien. Ägypten. IS. Ukraine… es gibt genug böse Akteure auf der Welt!”

Kulle hatte seine Pistole erfolgreich zusammengebaut und konnte sich endlich auf ein Streitgespräch konzentrieren.

„Recht hast Du,” begann er harmlos. Und in mindestens genauso harmlosem Ton wollte er wissen: ”Wer sind denn die bösen Akteure?”

„Das liegt doch auf der Hand. Al Quaida. Die Taliban. Al Assad. Die Muslimbrüder. Putin. Die Liste ist verlängerbar.”

Bärdel war arglos in die Falle getappt. Er hätte es wissen müssen: Immer wenn Kulle ein ‚denn‘ in eine Frage einbaute, führte er Böses im Schilde.

„Die Liste ist in der Tat verlängerbar.” Kulle genoss seinen Triumpf im Voraus, packte sorgfältig seine Pistole ein, ließ sich Zeit mit der Antwort.

„Wer Al Quaida sagt, darf Saudi Arabien nicht vergessen.

Die USA haben die Taliban gepäppelt, solange sie noch willige Kämpfer gegen die UdSSR waren, die damals Afghanistan besetzt hatten.

Al Assad ist ein Chamäleon, jetzt schillert er schon fast wieder gut, weil der IS schlimmer ist als er.

Ist der Mubarak-Nachfolger Al-Sisi besser als die Muslimbrüder? Die Folterkeller hat er nicht geöffnet, wie man sagt, aber der ‚Westen‘ arbeitet gern mit ihm zusammen.

Und Putin macht nichts anderes als die angeblich zivilisierten Menschenrechtler in der westlichen Welt.”

Der letzte Satz kam so handzahm, so beiläufig, so unbedeutend, dass er an Nanuks Ohren harmlos vorbeidriftete. Die Eisbärenkinder hatten Hunger auf ein ordentliches Frühstück bekommen – was scherte sie da Putin?

Eisbaeren

Bärdels Ohren waren dagegen gezückt. Jetzt waren sie offen für jeden Unterton von Kulles Aussagen. Und: Er war bereit, sich zu wehren.

„Putin hat das Völkerrecht verletzt! Putin hat Staatsgrenzen gewaltsam verschoben, und zwar in Europa! Putin führt einen unerklärten Krieg gegen die Regierung der Ukraine!”

„Yo!” sagte Kulle. Er klang so selbstsicher wie Jesse Pinkman, der gerade eine ordentliche Charge Chrystal hergestellt hatte. ”Hat er getan!” Nach einer Pause fügte er beiläufig hinzu: ”Wie ich schon sagte: Er hat gemacht, was alle anderen auch machen.”

Bärdels Ohren sanken. Wenn Kulle so sicher auftrat, dann hatte er entweder völlig gute oder völlig schlechte Karten und pokerte einfach hoch. Jetzt, schien es ihm, war Kulle obenauf.

„Die USA haben das Völkerrecht verletzt, als sie 2003 den Iran angriffen. Die Begründung dafür, der Staat besitze Massenvernichtungswaffen, war erlogen.

Die USA suchen mit militärischen Mitteln, vor allem mit Drohnen, führende Köpfe islamistischer Vereinigungen und töten sie. Das geschieht jenseits rechtsstaatlicher Prinzipien. Das ist Mord. Sogenannte ‚Kollateralschäden‘ werden billigend in Kauf genommen.

Frankreich verletzt permanent das Völkerrecht, denn die französische Armee maßt sich an, in afrikanischen Staaten zu intervenieren, die ehemalige Kolonien sind.

Deutschland ignoriert internationale Konventionen, indem es Waffen in Krisengebiete liefert.

Eine von der UN nicht autorisierte Militärallianz bekämpft den IS und versorgt die Peschmerga mit Waffen. Die Peschmerga sind keine offizielle Armee und agieren innerhalb keines offiziellen Staates.

Die Liste ist verlängerbar.”

Kulle schwieg und gab sich Mühe, nicht zu grinsen.

Bärdel gab sich Mühe, seine Gedanken zu ordnen.

„Aber … aber Putin handelt aus Eigennutz!”

„Wer nicht?” konterte Kulle kalt.

„Aber…” Na wusste nicht weiter.

„Was: Aber?” fragte Kulle. Er fragte warm. Er mochte die Kleinen.

„Aber gibt es nicht den guten Eigennutz und den bösen Eigennutz?” fragte Na .”Ich meine, gibt es nicht das Handeln, das allen oder zumindest den meisten nutzt, und das entgegengesetzte?”

„Alle Handelnden behaupten, Gutes zu wollen. Alle wollen auch Gutes, aber nur für sich selbst.”

„Gibt es keine Menschen, die etwas tun, damit es allen Menschen und allen Bären und allen überhaupt nützt?”

„Nicht mehr.” Kulle dachte an die rote Fahne in der hintersten Ecke seiner Höhle, aber er verdrängte die Erinnerung.

Na ließ den Kopf hängen. In einer Ecke ihres Gehirns steckte jedoch das ‚aber‘ und ließ sich nicht vertreiben. Mit dem Gespür, über das nur eineiige Zwillinge verfügen, wusste Nuk das. Und sie half:

„Onkel Kulle, Tante Atti hat uns noch einen ähnlichen lateinischen Spruch beigebracht. ‚Si vis pacem, cole iustitiam‘. (Wenn Du den Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit) Der steht als Motto über dem Friedenspalast in Den Haag, dem Sitz des Internationalen Strafgerichtshofs. Der bestraft Kriegsverbrechen und andere schlimme Sachen. Ist das nicht ein besserer Leitfaden als Dein ‚para bellum‘?”

Kulle reagierte sofort :”Ein viel besserer Leitfaden! Kommt her, Ihr Beiden, lasst Euch knuddeln!”

Zufrieden sprangen die Eisbärenschwestern in Kulles Arme und ließen sich streicheln. Mehr sagte Kulle nicht, und dafür war Bärdel ihm sehr dankbar.

Natürlich wussten die alten Bären, dass weder die USA noch Russland den Internationalen Strafgerichtshof als Institution anerkannten. Die beiden Kleinen würden das früh genug erfahren.

Pluralismus

Na und Nuk

„Was meinst Du – sollen wir nicht doch mal?“ fragte Na.

„Was sollen wir ‚doch mal‘?“ Nuk bemühte sich um Höflichkeit.

„Manfred hat uns letztens geraten, wie er früher einmal in eine Menschenschule zu gehen – fändet du das nicht lustig? Es wäre ein tolles Abenteuer!“

„Du spinnst! Man würde uns sofort als Eisbärinnen erkennen. Manfred als Braunbär kann sich ohne Probleme als Mensch geben, aber wir…“

„Das können wir auch! Wir binden uns ein Kopftuch um, und schon sind wir Muslimas. Dazu gehören natürlich körperverhüllende Gewänder, und schon erkennt uns niemand. Die Sache mit dem aufrechten Gang kannst Du doch, oder?“

„Frag nicht so dumm! Schließlich unterrichtet Tante Atti uns auch im Tanzen, obwohl ich mich immer wieder frage, wozu das gut sein soll. Ich könnte also dank ihres Unterrichts auch auf den Zehenspitzen zur Menschenschule gehen, wenn es sein müsste.“

„Prima!“ Na freute sich. „Morgen melde ich uns dann an. Ich dachte an die vorletzte Klasse. Da gibt es noch keine ernsthaften Prüfungen, aber unser Niveau dürfte der Unterricht dort in etwa haben.“

„Woher weißt du das?“

„Reine Spekulation. Aber im vorletzten Jahr vor der Erreichung der allgemeinen dehländischen Hochschulreife sollte man doch etwas erwarten können, oder?“

Die neuen Schülerinnen Na Ibrahima und Nuk Abdallahi wurden problemlos in den elften Jahrgang aufgenommen. Selbstverständlich belegten sie alle Kurse gemeinsam. Als erstes Fach hatten sie Deutsch. Man beschäftigte sich mit Goethes „Faust“. Nanuk versuchten, ein Gähnen zu unterdrücken – diese Lektüre lag schon ein paar Monate hinter ihnen. Aber sie setzten sich brav in die letzte Reihe, in der noch zwei Plätze frei waren. Vor ihnen zählten sie die Köpfe und kamen auf fünfundzwanzig.

„Haben die Menschen in Dehland vielleicht kein Geld für effektiven Individualunterricht?“ flüsterte Nuk ihrer Schwester zu. Aber die junge Lehrerin hatte gute Ohren und fuhr schnell dazwischen: „Hier wird nicht geschwatzt, junge Dame, hier wird aufgepasst. Was meinen Sie – nähert sich Faust dem ihm unbekannten jungen Mädchen in angemessener Weise?““

Nuk musterte die Lehrerin unter ihrem Schleier hervor, was diese nicht bemerkte. Statt auf ihre Augen konzentrierte sich die junge Pädagogin auf deren kunstvoll geschlungenes Kopftuch und schürzte dabei verächtlich die Lippen. Kopftücher können nicht denken, schlussfolgerte Nuk aus dieser Mimik. Na warte!

„Sie müssen entschuldigen – meine Schwester und ich sind neu hier, und wir kennen den Roman, den Sie lesen, nicht.“

Nuk registrierte mit Genugtuung das Stirnrunzeln, als sie ‚Roman‘ sagte. Sie dachte, sie hätte sich genug dumm gestellt.

„Ein bisschen haben wir aber schon mitbekommen. Die Handlung spielt in der dehländischen oder einer ähnlichen fiktiven Vergangenheit. Damals war es äußerst unhöflich, einem jungen Mädchen seinen Arm anzubieten, Ein „Fräulein‘, wie Faust das Mädchen nennt, ist eine adelige junge Dame. Wahrscheinlich ist diese Anrede unpassend – wie gesagt, wir kennen den Roman nicht. Ich habe den Eindruck, Faust will Gretchen möglichst schnell ins Bett kriegen.“

Sie biss sich auf die Lippen – woher sollte sie wissen, dass der Name des Mädchens Gretchen war? Aber zu ihren Glück merkte die Lehrerin nichts, und die Klasse döste sowieso vor sich hin.

„Sie halten Faust also für einen Egoisten?“

Ich halte Faust für notgeil, dachte Nuk, aber das sagte sie natürlich nicht.

„Ganz sicher ist Faust ein Egoist!“ antwortete Nuk und knuffte ihre Schwester heftig in die Rippen – also in die wallenden Gewänder, unter denen sie deren Rippen vermutete. Sie brauchte jetzt Unterstützung.

„Ganz bestimmt ist Faust ein Egoist!“ echote Na mit einer unverdächtigen Mädchenstimme. „Er sollte besser ein, naja, ein Besserer sein, das wäre bestimmt besser für das Mädchen. Was ist das Gegenteil von einem Egoisten?“

„Das ist eine gute Einschätzung!“ lobte die Lehrerin. „Und ein guter Alternativvorschlag! Das Gegenteil von einem Egoisten ist übrigens ein Pluralist.“ Sie lächelte gönnerhaft.

„Wie bitte?“ Na wollte es nicht glauben. „Das Gegenteil eines Egoisten ist ein Pluralist?“

Der Lehrerin entging die elegante Genitivkonstruktion ebenso wie der Sarkasmus.

„Ja, natürlich. Ego, das heißt auf lateinisch ich, ist also Singular. Plural ist die Mehrzahl. Wenn jemand also an die Allgemeinheit denkt, anstatt an sich, ist er ein Pluralist und kein Egoist. Pluralismus heißt, an andere denken.“

„Dieser Logik zufolge ist das Gegenteil eines Egoisten ein Nosist!“ Na kicherte unkontrolliert, und das Gesicht der Lehrerin signalisierte Verständnislosigkeit.

„Alter!“ grunzte Nuk aus tiefstem Eisbärenrachen. Ein paar Gesichter wandten sich ihr zu. Zoff mit einem Lehrer macht auch den müdesten Schüler munter.

„Solche umgangssprachlichen Töne schätzen wir an einem Gymnasium gar nicht!“ tadelte die Lehrerin. „Wir legen hier Wert auf ein gewisses Niveau.“

„Wissen Sie, was ‚alter‘ auf lateinisch heißt?“ erkundigte sich Nuk zuckersüß.

Die Lehrerin versuchte, sich herauszuwinden: „Sie vergessen, dass wir hier im Deutschunterricht sind.“

„Entschuldigung, aber Sie haben mit Herleitungen aus dem Lateinischen angefangen, nicht ich.“

Die Pädagogin wurde von dem deus ex machina gerettet, der in jeder Schule lauert, sich regelmäßig meldet und schon zahllose Lehrer davor bewahrt hat, sich völlig zu blamieren: dem Stundengong. Sobald er ertönte, erwachten alle 25 jungen Menschenkinder aus ihrer Lethargie, begannen zu schwatzen, packten ihre Sachen ein und schenkten dem Deutschunterricht und der Unterrichtenden keinerlei Beachtung mehr. Nanuk waren überzeugt, dass sie „Faust“ bereits erfolgreich vergessen hatten. Die Lehrerin schien sie nicht ungern ziehen zu lassen. Als dann aber auch die Zwillinge ihre Sachen packten, langsam und voller Unglauben, denn selbstverständlich hatten sie eine Hausaufgabe erwartet, wurden sie aufgehalten. „Nuk Abdallahi, bleiben Sie bitte noch hier!“

Widerstrebend ließ Na ihre Schwester allein zurück.

Die Lehrerin setzte sich hinter ihren Tisch und ließ Nuk davor stehen. „Warum wollen Sie Ärger mit mir?“ fragte sie unvermittelt. „Vergessen Sie nicht, dass Sie an dieser Schule nur zur Probe aufgenommen worden sind. Sie sollten es sich mit Ihren Lehrern nicht verderben.“

„Ich möchte keinen Ärger mit Ihnen,“ antwortete Nuk zögernd. Sie wägte ihre Worte wohl, denn sie hatte Angst, Bärenleben durch zu ehrliche Auskünfte zu gefährden. „Na und ich werden auch nicht wiederkommen. Wir haben gehofft, hier etwas lernen zu können – intellektuell, meine ich. Das wird nicht der Fall sein. Allerdings haben wir etliche Erkenntnisse in Bezug auf schulische Gruppensoziologie gewonnen. Dafür möchte ich mich bedanken.“

Die Lehrerin schien jetzt hellwach zu sein. „Wer sind Sie?“ fragte sie scharf und stand auf.

„Ich bin Nuk Abdallahi. Ich bin gläubig. Ich denke gerne. Ich gehe dahin zurück, wo mein Denken gefördert wird.“

„In den Dschihad?“ Das Entsetzen war greifbar.

Ach du dicke Tussi! dachte Nuk. Jetzt habe ich aber Robbenmist vom Feinsten gebaut! Die hysterische Tante schickt uns noch den Verfassungsschutz an den Hals.

„Natürlich nicht.“ flötete sie. „Mein Glaube steht in der Denktradition von Dschâbir Ibn Zaid. Wir Ibaditen pflegen Toleranz und lieben den Frieden und die Wissenschaften. Wir setzen uns für das Wohl anderer ein. Wir sind Altruisten.“

Sie hatte nicht zu dick aufgetragen, wie sie befürchtet hatte. „Wo liegt denn das Paradies, aus dem Sie stammen?“ fragte die Lehrerin beeindruckt.

„In der Ebene Albern (Anagramm für Baerenleben). Das ist ziemlich weit weg von hier. Deshalb muss ich jetzt auch schnell gehen. Vielen Dank für alles.“

Nuk raffte ihre Gewänder und stürzte aus der Tür. Na stand auf dem Gang und wurde mitgerissen.

„Ist was passiert?“ fragte sie ängstlich.

„Ja. Nein.“ Nuk kicherte nervös. „Wir sind entlassen und müssen jetzt eilig in die Ebene Albern. Komm, ehe es die Tante sich anders überlegt. Und ja: Vielleicht hat sie zugehört und weiß jetzt, was Faust anstelle eines Egoisten sein sollte.“

September/Oktober 2014 (nach einer wahren schulischen Begebenheit)

UNO oder Alleingang

Bärdel

Schon seit geraumer Zeit waren Bärdel und Kulle bei ihrem Morgenspaziergang nur noch selten zu zweit. Manfred schloss sich ihnen an, wenn er sich aus dem Gewirr seiner Computerkabel befreien konnte, und mischte sich manchmal ins Gespräch ein. Del, der sehr junge Bär, war sehr wissbegierig und trabte mit, hörte aber lieber zu. Und oft tollten Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge, in ihrem unbändigen Bewegungsdrang um sie herum, was die Kinder nicht davon abhielt, sich eifrig am Gespräch zu beteiligen. Da alle selbstverständlich bereits einen Blick in die wichtigsten nationalen und internationalen Zeitungen geworfen hatten, diskutierten sie oft aktuelle Ereignisse.

Kulle

So auch heute.

Nanuk

Die vorlaute Na konnte natürlich nicht abwarten, bis die Erwachsenen ein Thema angesprochen hatten. Sie platzte heraus:

„Also ich finde Onkel Barack ganz toll. 3000 Soldaten schickt er nach Liberia, um die böse Ebola-Seuche zu bekämpfen. Und den komischen Islamischen Staat will er auch besiegen, in Syrien und im Irak. Das macht er aber nicht mit Soldaten, sondern mit Flugzeugen.“

Da Nuk natürlich nicht erlauben konnte, dass nur ihre ein paar Minuten nach ihr geborene Schwester sich äußerte, gab sie ihren Kommentar dazu:

„Gegen die IS gehen die USA nicht allein vor. Auch Frankreich und Großbritannien machen mit, sogar Dehland!“

Da weder Bärdel noch Kulle den Anschein erweckten, dazu Stellung nehmen zu wollen, bohrte Del kaum merklich nach: „Ich habe das auch alles gelesen, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

Del

„Ist doch ganz einfach zu bewerten,“ knurrte Kulle. „Es war schon immer die ureigenste Bestimmung von Soldaten, Krankheiten zu besiegen. Ärzte wären dabei völlig fehl am Platz. Wie man weiß, ist es deren Beruf, feindliche Ärzte zu töten.“

Bärdel knuffte Kulle in die Seite, aber es war schon zu spät. Na schaute erst verdutzt, aber dann ließ sie den Kopf hängen. Nuk war sofort an ihrer Seite. Zwar stellte sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihre eigene Überlegenheit zur Schau, aber wenn Na traurig war, kam sie sofort, um sie zu trösten.

„Du musst das nicht so tragisch nehmen, kleine Na!“ Bärdel versuchte es mit Worten. „Du kennst doch Deinen Onkel Kulle! Manchmal hat er Messer im Mund anstatt von Zähnen. Seine Worte können dann sehr verletzen.“

„Aber…“ Na versuchte, sich zu fassen. „Aber ich habe nicht nur die Meldungen in der Zeitung gelesen, sondern auch die Kommentare dazu. Alle Journalisten finden es gut, dass der amerikanische Präsident energisch geben Ebola vorgehen will.“

„Kein Wunder! Vor Seuchen haben alle Menschen Schiss. Bei Epidemien begrüßen sie jeden Aktionismus dagegen, auch wenn die Aktionen ungeeignet sind. Sogar die Djihadisten vom Islamischen Staat finden das vermutlich gut, auch wenn sie es nie laut sagen würden. Außerdem ist jeder GI, der gegen Ebola eingesetzt wird, ein GI weniger, der gegen sie kämpfen kann.“ Kulle hatte sich beruhigt und war für seine Verhältnisse jetzt richtig sanft.

„Aber gegen den IS werden doch keine Soldaten eingesetzt!“ Obwohl Na zum Heulen war, gab sie nicht auf.

Kulle, der selbst den dicksten Bärenschädel hatte, den man sich denken kann, imponierte ein nicht allzu dummer Dickkopf bei anderen. „Ah ja, keine Soldaten, sondern Flugzeuge. Und wer steuert die? Wer wirft die Bomben ab? Und die Raketen?“

Wieder sprang Nuk ihrer Schwester zur Seite: „Onkel Kulle, ich haben gelesen, die USA kämpfen mit Drohnen. Da sind keine Soldaten drin.“

„Stimmt! Aber Soldaten spielen schon eine Rolle: Die Drohnen müssen ferngesteuert werden. Die Soldaten, die das tun, sitzen übrigens oft in Ramstein in Dehland. Sie steuern die Drohnen gegen Menschen, die vermutlich Terroristen sind. Bewiesen ist das aber nicht, und oft kommen Unschuldige dabei um. Wenn man darüber nachdenkt, stellt man fest, dass es sich um Mord handelt.“

Manfred

„Mord?“ Jetzt mische sich Manfred ein. „Mord? Ist das nicht zu streng geurteilt? Im Krieg…“

Bevor Kulle wieder explodieren konnte – und Bärdel sah ihm an, dass er kurz davor war – lenkte er ab: „Seht mal, hier sind noch Brombeeren! Ja, Krieg – früher hatten die Menschen dafür Regeln, selbst für den Krieg, in dem alle Regeln des normalen Lebens außer Kraft gesetzt werden. Kriege wurden zwischen Staaten geführt, und die Staaten erklärten einander den Krieg. Heute ist alles durcheinander. Die Amerikaner behaupten, sie seien im Krieg gegen den Terrorismus, also ist es gerechtfertigt, Feinde zu töten. Kulle sieht das anders, wie wir gehört haben. Man kann lange darüber streiten, wer Recht hat.“

Kulle murrte leise. beließ es aber dabei. Alle machten sich über die Brombeeren her, sogar die Eisbären.

„Wer darf denn bei den Menschen darüber urteilen, ob andere Menschen getötet werden dürfen?“

Nuk wollte das wissen.

Manfred schluckte eine leckere Brombeere herunter, räusperte sich und erklärte: „Wie Ihr wisst, bin ich mal in eine Menschenschule gegangen. Dort habe ich gelernt, dass kein Mensch einem anderen Menschen das Leben nehmen darf. Das ist jedenfalls in Dehland die offizielle Meinung. Es ist allerdings merkwürdig, dass Dehland der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist. Irgendwas passt da nicht zusammen. Außerdem gibt es angeblich „gerechte Kriege“. Wenn ein Land angegriffen wird, darf es sich verteidigen, das gilt als gerechtfertigt. Eigentlich soll aber kein Land ein anderes angreifen, und um das zu verhindern, gibt es die Vereinten Nationen. Das ist eine internationale Organisation, in der fast alle Staaten Mitglieder sind. Das höchste Ziel dieser Organisation ist die Wahrung des Weltfriedens. Wenn es nicht anders geht, dürfen die Vereinten Nationen den Weltfrieden mit militärischen Mitteln wiederherzustellen versuchen. “

„Aha!“ kommentierte Nuk trocken. Bärdel freute sich über ihre Reaktion, aber Manfred hatte nicht verstanden, was sie sagen wollte.

„Wieso ‚aha‘?“

„Bei Tante Atti habe ich gelernt, dass ‚aha‘ eine Interjektion des Triumphs, der Verwunderung, des Spotts, der Verachtung, der Ironie und noch manch anderer Bedeutung sein kann, je nach der Intonation des Sprechers. Mein ‚aha‘ war komplex und enthielt Spott, Verachtung und Ironie.“

Kulle wiegte anerkennend den Kopf, hielt sich aber hinter Manfreds Rücken.

„Ach so! Du wunderst Dich noch über die Menschen und ihre Schizophrenie. Ich nicht mehr. Vielleicht solltet Ihr auch mal eine Menschenschule besuchen…“

„Nein, danke, Onkel Manfred! Wir sind mit dem Unterricht von Tante Atti und Onkel Kulle sehr zufrieden,“ sagten Nanuk im Chor. Und Na fuhr fort: „Aber wenn die Menschen glauben, dass nur die Vereinten Nationen legitim Waffengewalt anwenden dürfen, warum sind dann so viele begeistert davon, dass Onkel Barack – also dass der amerikanische Präsident das macht?“

Bärdel dachte:

Weil Menschen immer Idolen nachlaufen.

Weil der Friedensnobelpreisträger Obama vielen immer noch eine Ikone ist.

Weil manche Menschen in der westlichen Welt Angst dafür haben, dass ehemalige IS-Kämpfer mit der eigenen Staatsbürgerschaft aus dem Krieg zurückkehren und im eigenen Land weiterbomben.

Del dachte:

Auf die Antwort bin ich gespannt.

Kulle dachte:

Weil die UN handlungsunfähig sind. Die Blockade im Sicherheitsrat ist schlimmer als zu Zeiten des Kalten Krieges.

Weil die Menschen die Schrift an der Wand nicht lesen können.

Weil die Geschichte der Menschen lehrt, dass sie die Menschen nichts lehrt.

Manfred dachte:

Weil die Türken schon zweimal vor Wien standen und das christliche Abendland bedroht haben.

Nuk dachte:

Weil die Menschen komisch sind.

Bärdel sagte: „Weil die Menschen den Glauben an das Gute nie verlieren, selbst wenn sie das Böse tun.“

Sprach’s und labte sich an der letzten Beere, die er in der Pranke hielt.

September 2014

Bären und Wölfe

„Bärdel, es wäre gut, wenn…“

„Bärdel, sollten wir nicht mal…“

„Bärdel, was denkst du über..“

„Bärdel, jetzt ist es aber höchste Zeit, dass…“

Bärdel

Bärdel hörte diese Ansinnen seit Wochen. Sie wurden immer häufiger geäußert in immer kürzeren Abständen, seit Bärenleben aus der Winterruhe erwacht war. Es war offensichtlich zwecklos, sie zu ignorieren, was er versucht hatte. Er seufzte und gab nach.

„Na gut, wir werden über die Rückkehr der Bären nach Europa sprechen. Und über die Rückkehr der Wölfe. Aber glaubt bloß nicht, dass…“

Seine Einwände gingen in allgemeinem Jubel unter.

„Wir reden heute Abend darüber. In der Höhle. Ich gehe davon aus, dass sich bis dahin jeder von Euch eingehend über die aktuelle Lage informiert hat.“

In der ersten Märzhälfte ist der dehländische Tag fast schon wieder zwölf Stunden lang. Das heißt aber auch, dass die Nacht kaum länger als zwölf Stunden ist, und diese zwölf Stunden kosten die schlafsüchtigen Bären gerne aus. Also trafen sich alle Bärenlebenbewohner schon mit dem Einsetzen der Dämmerung in der Haupthöhle. Natürlich waren auch Ramses und Piggy dabei. Athabasca galt inzwischen als einheimische Bärin, Nanuk, ihre Zöglinge, hielten sich an ihrer Seite. Organisatorische Schwierigkeiten gab es nur mit Oicy, der es in der Höhle natürlich viel zu warm war. Sie schwamm in ihrem Eissee herum, und damit sie alles mitbekam und auch mitreden konnte, hatte Manfred ihr eine Mikrofonleitung gelegt.

Bärdel sah sich um und stellte fest, dass alle vollzählig versammelt waren. Fast alle – aber das änderte sich in diesem Moment. Mit einer riesigen roten Fahne, in der er sich ständig verhedderte, marschierte Kulle herein und sang dazu:

„Bären zur Sonne zur Freiheit,

Wölfe zum Lichte empor!

Hell aus dem dunklen Vergangnen

Leuchtet die Zukunft hervor.“

Die Versammlung kommentierte den Auftritt mit zustimmendem Gebrumm und Gebrüll, und Kulle setzte sich auf seinen Platz, wobei er bescheiden tat.

Kulle, bescheiden

Bärdel hatte nicht applaudiert. Er horchte in sich hinein und traf hinter seiner Stirn alte lästige Bekannte: Kopfschmerzen. Wenn die sich erst einmal eingenistet hatten, wurde er sie so schnell nicht wieder los.

Was sollte er nur tun? Die Stimmung war eindeutig gegen seine Bedenken. Da wurde ihm unerwartete Hilfe.

„Sagt mal, ihr seid wohl vom Homo sapiens getreten? Oder hat euch ein Neanderthaler geknutscht?“ Athabacsa war voll in Fahrt.

Atti, zornig

„Was das Zusammenleben von Bären und Menschen angeht, so bin ja wohl ich die Expertin und nicht ihr, einverstanden?

In Kanada, wo ich geboren bin, leben ungefähr 300.000 Schwarzbären. Dazu kommen höchstens 30.000 Grizzlys, also Bären wie wir. Wie die meisten von uns jedenfalls. Nichts für ungut, Oicy. In Kanada leben drei Menschen auf einem Quadratkilometer, und trotzdem kommt es immer wieder zu Zusammenstößen und zu Tötungen. Keine Tötungen von Menschen, nicht, dass wir uns missverstehen. Und wie viele Menschen pro Quadratkilometer gibt es in Dehland?“

Langes Schweigen.

„227“, brummte Kulle schließlich zerknirscht.

„Eben!“ sagte Atti und rollte sich wieder gemütlich zusammen. Ihr Zorn war verraucht.

Niemand sagte etwas.

Bärdel war erleichtert. „Möchte jemand dazu etwas sagen?“ fragte er.

Del meldete sich zu Wort. Er war ehrgeizig und ärgerte sich schon lange darüber, dass die Eisbärenzwillinge als die intellektuellen Überflieger schlechthin galten, seit sie in Bärenleben aufgetaucht waren.

„Ich habe recherchiert und herausgefunden, dass es in Dehland überhaupt keine Bären gibt – außer uns natürlich. Wenn Bären aus den Karpaten in die Alpen einwandern, werden sie beim ersten Fehlverhalten gejagt. Man nennt sie Problembären, wobei ich wirklich nicht weiß, wo es bei Bären ein Problem geben soll!“

„Und Homo Schappi Schappi gibt ihnen noch nicht mal einen Namen, sondern bezeichnet sie mit Nummern -– erst kürzlich wurde in der Schweiz M13 erschossen!“ Nuk wollte nicht akzeptieren, dass Del allein brillierte.

Eisbären

„Es klingt, als wäre die Bärendiskussion hiermit abgeschlossen!“ quiekte Piggy. „Und was ist mit den Wölfen? Ich muss zugeben, dass ich vor denen Angst habe!“

Piggy

„Du brauchst keine Angst zu haben,“ mischte sich Tumu ein. „Du wirst gleich sehen, warum. Ich habe einen Gast eingeladen, wenn ihr erlaubt!“

Da niemand widersprach, stieß Tumu einen merkwürdigen Laut aus, der gar nichts Bärisches an sich hatte. Es war ein Heulen, und sofort wurde ihr auf gleiche Weise geantwortet.
„Er wird in ein paar Minuten hier sein, und niemand muss sich vor ihm fürchten.“

Da Tumu zweimal betonte, dass der Fremde keinen Anlass zur Besorgnis geben würde, spannte Bärdel seine Muskeln an, und etliche andere Bären taten es ihm gleich. Man konnte ja nie wissen…

Am Höhleneingang war nichts zu hören, aber ein Schatten erschien und bewegte sich vorwärts in den Innenraum. Langsam. Vorsichtig. Aus dem Schatten entwickelte sich ein Körperumriss. Langer Kopf, spitze Ohren, lange Schnauze. Buschiger Schwanz am Ende eines schlanken, zum Laufen gemachten Torsos. Die Rute war nicht eingezogen, aber auch nicht hoch erhoben. Der Besucher war seiner nicht sicher, aber auch nicht ängstlich. Vier kräftige Läufe.

Piggy schrie.

Luca Toni

„Ruhig!“ sagte Tumu. „Das ist Toni. Er lebt mit seiner Familie seit ein paar Wochen hier in der Gegend. Ich habe ihn gebeten, uns heute Abend zu besuchen.“

„Willkommen,“ begrüßte Bärdel den Wolf. „Wir freuen uns, dich in Bärenleben zu sehen. Ich bin Bärdel.“

„Seit wann freut sich der Bär, den Wolf zu treffen?“ knurrte der Neuankömmling. Wir teilen dasselbe Habitat und sind deshalb unversöhnliche Konkurrenten! Bin ich bei einer Versammlung von Heuchlern zu Gast?“

„Du bist zu Gast bei einer Versammlung von Tieren, die zusammenhalten gegen das schlimmste Raubtier der Welt, den Homo sapiens sapiens. Der bedroht auch dich, wenn wir recht informiert sind. Wir sind nicht länger Feinde, sondern sollten zusammenstehen gegen einen gemeinsamen Feind!“

Der Wolf hob den Kopf, auch die Schwanzspitze bewegte sich deutlich nach oben. „Wir Wölfe sind deutlich besser aufgestellt als ihr Bären! Mindestens zwanzig Rudel leben in Dehland. Und ihr versteckt euch in einem geheimen Dorf!“

„Ja,“ meinte Athabasca, recht hast du.“ Sie richtete sich wieder auf.

Der Wolf hörte genau hin – klang die Stimme der Bärin nicht sarkastisch?

„Recht hast du!“ bekräftigte Athabasca, „wir verstecken uns. Ihr solltet das auch tun!“

„Unsinn!“ behauptete Toni und reckte die Spitze seiner Rute so weit in den Himmel, dass sie seinen Rist um das Doppelte überragte. „Wir werden geliebt!“

„Natürlich werdet ihr geliebt – vom NABU, vom WWF, vom BUND, und wie die Ökofreaks sonst noch heißen. Aber hast du dir auch mal Volkes Stimme angehört?“

„Das Tier kenne ich nicht,“ sagte der Wolf unsicher.

„Besser so – es handelt sich nicht um ein Tier, sondern um eine Bestie. Sie nennt sich selbst ,Gesunder Menschenverstand‘. Ich gebe dir ein paar Kostproben.

Schon in der Bibel seid ihr die Bösen: ,Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.‘ Matthäus 7,15.

,Reißend‘ seid ihr immer: Gierig und maßlos und grausam. Bei Goethe heißt die Wölfin ,Gieremund‘.

In Grimms Volksmärchen taucht der böse Wolf immer wieder auf, er verschlingt Tiere und Menschen ganz, was es möglich macht, seine Beute zu retten, indem man ihm den Bauch aufschlitzt und mit Wackersteinen wieder füllt – und der dumme Wolf bemerkt den Betrug noch nicht einmal und wacht nicht mehr auf, bis man ihn in einem Brunnen ersäuft.

In einem aktuellen Internetforum gibt es als Antwort auf die Frage: ,Brauchen wir Bären und Wölfe in Dehland?‘ wiederholt die Antworten ,abknallen‘ und ,SSS – schießen, schaufeln, schweigen‘.

Noch Fragen?“

Die Schwanzspitze ruhte kraftlos auf dem Boden. „Und was jetzt?“ fragte Toni unsicher.

„Ganz einfach – ihr macht es wie wir. Nein, nicht ganz so schlimm, ihr braucht euch nicht unsichtbar zu machen. Die Menschen wissen ja, dass ihr da seid. Von uns wissen sie es nicht.

,Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; seid daher klug wie die Schlangen und nicht arglos wie die Tauben. Nehmt euch vor den Menschen in acht!‘

Steht übrigens auch bei Matthäus, so ungefähr jedenfalls. Ernährt euch von Rehen und Hirschen und vor allem Wildschweinen, das wird die Menschen freuen. Und lasst Kälber und Schafe in Ruhe, dann wird euch nichts geschehen.“

„Und – und – dürfen wir euch gelegentlich besuchen, um uns bei euch Rat zu holen?“

„Dagegen haben wir bestimmt nichts!“ sagte Bärdel entschieden. Sein Kopf war wider Erwarten schmerzfrei.

„Dann ist ja alles gut,“ sagte Kulle. „Wollen wir das schöne Arbeiterlied nicht zu Ende singen, um den Abend zu beschließen?“

„Nein, das wollen wir nicht!“ widersprach Tumu energisch. „Das schöne Arbeiterlied‘ ist nämlich ein poetisches Greuel, und es hat überhaupt nichts mit unserer Situation zu tun. Darf ich einfach mal kommentarlos zitieren?

,Seht wie der Zug von Millionen

endlos aus Nächtigem quillt

bis eurer Sehnsucht Verlangen

Himmel und Nacht überschwillt

Brüder, in eins nun die Hände

Brüder, das Sterben verlacht

ewig der Sklaverei ein Ende

heilig die letzte Schlacht.‘

Zitat Ende.“

„Buh!“ machten fast alle Bären, der Frosch und das Schwein. Auch der Wolf schloss sich an.

„Wir schlafen einfach so. Ganz heimlich.“

Krise

Es war ein warmer Spätfrühlingstag in Bärenleben, und es war Vormittag. Das Leben ging seinen üblichen Gang. Die Bären, das Schwein und der Frosch studierten, diskutierten, bereiteten das Essen vor, machten sauber oder betrieben Körperpflege.

Einbären

Oicy hatte sich für die Körperpflege entschieden, und das hieß für eine Eisbärin in dieser Jahreszeit hauptsächlich, der dehländischen Wärme auszuweichen, so gut es ging. Deshalb war sie in den eigens für sie und ihre Kinder erweiterten Dorfteich geglitten, hatte über und unter Wasser ihre Runden gedreht und davon geträumt, gleich gegen eine Eisscholle zu stoßen, auf der sich eine fette Sattelrobbe vergeblich zu verstecken versuchte. Aber natürlich blieb das ein Traum. Sie traf nur Ramses, der sich unter Teichrosenblättern zu verbergen versuchte und hoffte, eine Libelle zu erbeuten. Aber die klugen Libellen erspähten ihn immer rechtzeitig und bogen ab, bevor sie in seine Reichweite gerieten.

Ramses

Ramses verdrückte sich deshalb bald und hüpfte in Manfreds Hochtechnikwerkstatt. Er hatte dort einen Computerarbeitsplatz, an dem er an zwei komplexen Problemen arbeitete: Er wollte das Wetter präzise voraussagen – das war für einen Laubfrosch eine vergleichsweise leichte Aufgabe. Er wollte das Wetter aber auch beeinflussen können, und das war deutlich schwieriger. Wenigstens störte er niemanden, wenn er vor seinem Rechner hockte und versuchte, Tussis Schöpfung zu verstehen.

Mit Oicy war das anders. Als sie den Teich verließ, um zuerst nach ihren Kindern zu sehen und dann Tumu beim Kochen zu helfen, schüttelte sie sich kräftig, und es passierte das, was passiert, wenn Eisbären sich schütteln, nachdem sie gerade aus dem Wasser gestiegen sind: Aus dem dichten Pelz flogen Tropfen über Tropfen, und wer gerade in der Nähe stand, bekam eine kräftige Dusche ab.

Die Dusche erwischte die alte Bärin, die gerade vor ihrer Höhle aufräumte. Und nicht nur die Wasserdusche: Die Tropfen, die Oicy energisch auf die Reise geschickt hatte, platschten auf den trockenen Boden, lösten daraus Erdpartikel, ließen sie hochspringen und verwandelten die eben noch saubere Alte in eine über und über von Schmutz bedeckte Bärin.

“Ich krieg die Krise!” schimpfte die Alte zornig.

Oicy fühlte sich irgendwie angesprochen, wusste aber nicht recht, warum. Sie hatte sich doch ganz normal verhalten, oder? Aber helfen wollte sie schon.

“Kann ich Dir bei Deiner Krise helfen?” erkundigte sie sich freundlich.

“Bei meiner Krise? Bei MEINER Krise?” keifte die Alte. “DEINE Krise ist das! Weil bei Dir zu Hause das Eis schmilzt, bekleckerst Du mich hier in Dehland mit Wasser und Dreck, und wahrscheinlich bist Du auch für die Aschenkrise verantwortlich, die dieser Vulkan aus Island macht, aus dem Eisland also, da, wo Du herkommst.”

Oicy hatte ausgesprochen gut gefrühstückt, nämlich eine Kiste frischer grüner Heringe, in den Morgenstunden angeliefert vom Rungis-Express, und war deshalb friedlich gestimmt.

“Du hast recht, die Klimakrise ist meine Krise, aber ich bin dabei der passive und nicht der aktive Teil. Und mit dem Eyjafjallajöküll habe ich gar nichts zu tun.”

“Mit wem?”

“Mit dem Eyjafjallajökull. Das ist der isländische Vulkan, der vor kurzem ausgebrochen ist.”

Die alte Bärin überlegte, ob sie ausfällig werden sollte, weil Oicy sie jetzt auch noch mit unaussprechlichen Worten bombardierte, aber bevor sie damit zu Ende war, tauchten Bärdel und Kulle am Teichufer auf. Wie immer waren sie in ein intensives Gespräch vertieft.

Kulle und Bärdel

“Also, das mit der Krise musst Du mir bitte unbedingt erklären, und zwar ohne komplizierte Fachbegriffe!” sagte Bärdel energisch.

“Mir auch!” schloss sich die Alte nicht minder energisch an.

Kulle hatte ihr gar nicht zugehört, aber Bärdel war irritiert.

“Seit wann interessierst Du Dich für Ökonomie?” wollte er wissen.

“Für was?” Die Alte hatte allmählich die Nase voll von merkwürdigen Worten.

“Für Wirtschaft”, verbesserte sich Bärdel.

Empört stemmte die Alte die Arme in die Seiten. “Willst Du etwa behaupten, dass ich keine ordentliche Wirtschaft führe? Bei mir kann man vom Fußboden essen, normalerweise jedenfalls, wenn nicht gerade dieses ungeschickte weiße Monstrum…”

Auf Oicys Stirn zeigten sich die ersten Falten. Tiefe Falten. Sie war noch nie zornig geworden, seit sie in Bärenleben war, und das war auch gut so. Jetzt aber war sie kurz davor. Zum Glück wurde sie von Nanuk abgelenkt. Die Zwillinge stürzten auf sie zu.

“Mamimami, wir haben gerade etwas Neues gelernt! Onkel Manfred hat uns die Geschichte von Tschernobyl erklärt. Wir wissen jetzt, wann ein Reaktor kritisch wird!”

“Und wann ist das?” wollte ihre Mutter wissen.

“Wenn er zu heiß wird. Wenn man Pech hat, kommt es zu einer Kernschmelze. Dann wird die gesamte Umgebung vergiftet. Das ist dann eine fürchterliche ökologische Krise.”

“Ist eure ö-kol-ko-logische Krise dieselbe wie die von Bärdel?” fragte die Alte die Kleinen. “Bärdels Krise klang ähnlich, aber irgendwie anders.”

Na und Nuk waren von der Frage logischerweise überfordert, aber sie nutzten die Gelegenheit, um Bärdel mit Beschlag zu belegen.

“Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, hast Du eine Krise?”

“Hm, ich weiß nicht so recht,” brummte Bärdel. “Allmählich schwirrt mir der Kopf. Vielleicht bekomme ich einen Migräneanfall. Ich glaube, ich bin an der kritischen Grenze dazu.”

Die Alte, die keineswegs immer nur putzte, obwohl sie dabei oft beobachtet wurde, lernte in ihrer freien Zeit gerade Griechisch und beschäftigte sich dabei natürlich auch mit Geographie und Landeskunde. Jetzt schüttelte sie den Kopf zum zweiten Mal und verstand überhaupt nichts mehr. Konnte ein Reaktor sich aussuchen, ob er auf Kreta stand oder anderswo? Wieso glaubte Bärdel, er sei an der Grenze Kretas? Und – hatte eine Insel überhaupt eine Grenze?

Kulle hörte immer noch nicht zu. Er pflegte das, was er als ,soziale akustische Umweltverschmutzung‘ bezeichnete, stets zu ignorieren. In solchen Phasen der gesellschaftlichen Abwesenheit beschäftigte er sich, wie er fand, produktiv mit der Lösung theoretischer Probleme oder wenigstens mit deren kommunikativer Vermittlung.

Kulle und Bärdel

“Diese Krise”, sagte er jetzt, “ist eine umfassende. Es ist falsch, wenn sie allein der Ökonomie angelastet wird. Ursächlich für sie ist die Politik, oder besser gesagt, das Versagen der Politik. Die politische Klasse Europas oder meinetwegen Kerneuropas sollte also selbstkritisch eingestehen, dass eine Währungsunion ohne eine gemeinsame Währungs- und Finanzpolitik, und eben ein solches Konstrukt stellt der Euro dar, auf tönernen Füßen steht. Was ist denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt anderes als ein zahnloser Papiertiger? Die kritische Betrachtung dieser dilettantischen Konstruktion kann nur zu einem vernichtenden Urteil kommen.” Kulle holte tief Luft. “Derlei Dilettantismus lädt geradezu dazu ein, ihn auszunutzen. Wer will es den smarten Boys von den Hedgefonds, die sich im Januar oder Februar in einem New Yorker In-Restaurant getroffen haben, in dem es, Schande über die amerikanische Küche, vermutlich auch nichts anders zu essen gab als Steak oder totgebratenes Hähnchen, verübeln, dass sie auf die Idee kamen, mit vereinten Kräften gegen den Euro zu wetten? Der Erfolg spricht für sie!” “Kulle räusperte sich. “Die Krise, über die alle so entsetzt sind, ist übrigens keine Euro-Krise. Sie ist eine Schuldenkrise. Fast alle Staaten dieser Welt leben über ihre Verhältnisse, allen voran die USA. Ich bin gespannt, wann der Dollar brennt. Dann kann ich endlich meine rote Fahne aus ihrer Ecke holen. So!” sagte er triumphierend. “Noch Fragen?”

“Hast Du Kopfschmerztabletten?” Bärdel hielt sich schützend die Pranke vor sie Stirn.

“Hat das was mit mir zu tun, oder kann ich jetzt Tumu beim Kochen helfen?” wollte Oicy wissen.

“Onkel Kulle, was sind Hedgefonds?” Das waren die Zwillinge.

“Kulle, klopf mit mal den Pelz ab, damit ich wieder sauber werde. Und erkläre mir dabei: Was heißt eigentlich ,Krise‘?”

Kulle willfahrte ihr, bevor seine Situation allzu kritisch wurde.

Appetit auf Löwenzahn

Bärdel

Bärdel boxte Kulle freundschaftlich, aber durchaus energisch in die Rippen.

Kulle

„Nun komm schon hoch, Du Schlafmütze“, sagte er so laut, dass er auch beim besten Willen nicht zu überhören war. „Das neue Jahr ist schon fast wieder alt, der Tag ist schon zwei Stunden länger als zur Wintersonnenwende, und die gewendete Sonne scheint übrigens gerade. Genug der Hibernation! Lass uns spazierengehen!“

Kulle brummte ungnädig. Da er aber wusste, dass er gegen seinen energiegeladenen großen Freund keine Chance hatte, richtete er sich auf, reckte sich und steckte den Kopf aus der Schlafhöhle. Sofort zuckte er zurück.

„Spinnst Du?“ wollte er wissen. „Da draußen liegt noch Schnee!“

„Weiß ich doch,“ antwortete Bärdel seelenruhig. „Anders als der Herr Privatgelehrte bin ich nämlich schon eine Weile lang aktiv. Dehland erlebt seit Jahren mal wieder einen Winter, der den Namen auch verdient. Vielleicht ist es ja der letzte, bevor auch in Bärenleben die Palmen gedeihen. Also komm schon! Ich hab Dir sogar Schneeschuhe besorgt.“

Kulle schnallte sich zwei Apparate unter die Hinterpranken, die ihn sehr an Tennisschläger erinnerten. Es waren übrigens Tennisschläger – Manfred hatte sein Organisationstalent spielen lassen.

Draußen blinzelte er in den blauen Himmel und atmete tief durch, bevor er die ersten breitbeinigen Schritte wagte. „Ist tatsächlich eine gute Idee von Dir gewesen, die Nase aus der Höhle zu stecken,“ gab er zu. „Die Luft tut gut. Aber die Luft macht auch Hunger – ich hätte jetzt nichts gegen ein paar Löwenzahnwurzeln einzuwenden, roh oder auch gebraten!“

Loewenzahn - gewesen

„Da wirst Du noch ein paar Wochen warten müssen“, wandte Bärdel ein. „Der Löwenzahn, der bei Minusgraden im Schnee wächst, ist noch nicht erfunden.“

„Vielleicht doch. Kann sein, wir wissen es nur nicht.“

„Kaum bist Du wieder wach, versuchst Du, mich auf den Arm zu nehmen.“

„Im Prinzip ja, jetzt aber gerade nicht. Schon mal was von Monsanto gehört?“

„Ich glaube nicht. Ist das ein heiliger Berg oder so was?“

„Eher so was. Monsanto ist ein Agrarchemiekonzern, der genmanipulierte Pflanzen züchtet. Vielleicht auch anderes Genmanipuliertes, aber davon ist offiziell nichts bekannt. Belegt sind nur die Pflanzen.“

„Und warum macht das dieser Konzern?“

„Willst Du die offizielle Antwort oder die wahre?“

„Wie wär‘s mit beiden?“

„Monsanto bekämpft erfolgreich den Hunger in der Welt. Monsanto ist dafür unverzichtbar. Tatsächlich verdient Monsanto sich mit seinen Produkten dumm und dämlich. Seit 40 Jahren gibt es ein Pestizid mit dem schönen Namen ,Roundup‘. Das entsprechende Produkt in Europa vom Bayer-Konzern heißt ,Basta‘ – eigentlich könnte der Kanzler den Namen erfunden haben, weißt Du, der zweite, der mal bei uns war, noch im alten Bärenleben.

Hat er aber nicht. ,Basta‘ vernichtet ebenso wie ,Roundup‘ alle Pflanzen außer denen, die gegen es resistent sind, und das sind überwiegend genmanipulierte Pflanzen aus den Labors von Monsanto. Die Landwirte dürfen davon kein Saatgut zurückhalten, sondern müssen Jahr für Jahr neues kaufen. Von wegen Hungerbekämpfung! Hungerleider können sich kein teures Saatgut leisten, habe ich mir sagen lassen.“

„Ich glaube, ich habe davon schon mal gelesen“, sagte Bärdel nachdenklich. „Und zwar etwas Gutes, von einem Wissenschaftler.“

„Weißt Du auch, auf wessen Lohnliste dieser Wissenschaftler steht?“

„Du meinst…?“

„Ich meine erst mal gar nichts. Aber Fakt ist, dass Monsanto eine gute PR betreibt, natürlich nicht in eigenem Namen, sondern unter dem Feigenblatt wissenschaftlicher Objektivität. Tatsache ist auch, dass Regierungen und politische Parteien, vor allem in den USA, großen Konzernen traditionell gewogen sind, denn von großen Konzernen kommen große Spenden. Und die anderen Wissenschaftler, die sich gegen Monsanto aussprechen – die gibt es nämlich auch –, die werden von Greenpeace bezahlt oder von Friends of the Earth oder anderen Umweltverbänden.“

„Willst Du damit sagen, dass es keine objektive Wissenschaft gibt?“

Kulle blickte Bärdel empört an. „Natürlich gibt es eine objektive Wissenschaft – oder was meinst Du, was ich den lieben langen Tag so treibe? Aber mich bezahlt schließlich niemand. ,Wes Brot ich ess, des Lied ich sing‘ – das war schon richtig für Hartmann von Aue und Oswald von Wolkenstein…“ Kulle sah in Bärdels Augen große Fragezeichen. „…Das waren Minnesänger…und das gilt auch noch heute.“

„Entschuldige bitte“, murmelte Bärdel zerknirscht. Ich wollte Dich nicht verletzen. Am liebste würde ich Dir jetzt eine Löwenzahnwurzel anbieten, aber leider ist gerade keine da.“

„Zum Glück ist keine da!“ korrigierte Kulle. Er dreht sich um und geriet dabei auf seinen Tennisschlägerschneeschuhen beinahe aus dem Gleichgewicht. „Komm, wir gehen nach Hause. Tumu hat bestimmt noch eingelegte Wurzeln vom letzten Herbst übrig. Wie wär‘s, wenn Du Deine Frau überredetest, uns ein leckeres Frühstück zu bereiten?“

Bärdel hatte nichts dagegen.

Augenleben

Wie alle Bärenlebener schätzte Tumu Marx‘ ideales Lebensmotto: morgens Sammler, nachmittags Fischer, abends kritischer Kritiker zu sein, und natürlich hielt sie sich nicht sklavisch an dessen Reihenfolge. Heute hatte sie sich am helllichten Vormittag in die Bibliothek begeben, um nach geeigneten Gutenachtmärchen für die Eisbärenkinder zu suchen. Nanuk waren zwar sehr intelligent und wussten dank Attis und Kulles Bemühungen auch schon sehr viel, aber oft waren sie noch die reinsten Kindsköpfe.

Tumu

Unter den Stichworten „Bärenmärchen“ und „Bärengeschichten“ fand sie im elektronischen Katalog „Stories of Winnie-the-Pooh“ und rief den Text auf. Bald musste sie laut lachen: Der Mensch, der das geschrieben hatte, kannte sich mit Bären gar nicht schlecht aus! Der wusste zum Beispiel. dass Bären fast immer an Honig denken, wenn sie zum Beispiel ein Summen hören oder eine Biene sehen. Schmunzelnd wollte Tumu Winnie beim Erklettern einer hohen Eiche verfolgen, weil er in ihrem Wipfel einen Bienenstock vermutete, als sie plötzlich mit dem rechten Auge nur noch Farben sah. Schönste Regenbogenfarben. Aber eben keinen Bildschirm mehr, keine Buchstaben, keine Bibliothek.

Sie kniff das rechte Auge zu. Links war alles, wie es sein sollte.

Sie blinzelte mit beiden Augen. Öffnete sie. Rechts blieb der Regenbogen.

Sie bekam Angst.

Einäugig fand sie den Weg ins Labor. Alle nannten die Höhle, in der Manfred unumstrittener Herrscher war, so, aber eigentlich war sie seine Kommandozentrale. Sein Bärenlebener Technikzentrum. Und sein Lagerplatz für alles das, was er irgendwann einmal an sich gebracht, wofür sich aber bisher keine Verwendung hatte finden lassen.

Manfred

„Manfred!“ Tumu stieß sich wegen ihrer ungewohnt eingeschränkten Sicht schmerzhaft die Schulter an der Wand. „Au!“

„Mama, was ist los?“

„Ich habe da noch was, warte mal,“ murmelte Manfred, nachdem Tumu mit ihrer kurzen Erklärung fertig war. Er war ein Sammler. Nie hatte er sich damit zufrieden gegeben, nur das zu erwerben – was immer erwerben auch heißen mochte -, was er unmittelbar verwenden konnte. ,Man kann ja nie wissen‘ war sein Motto – und jetzt machte es sich bezahlt. Er kramte im Hintergrund seiner Schatzkammer herum, kam mit einem riesigen Karton wieder zum Vorschein und begann auszupacken.

„Das dauert jetzt noch einen Moment“, sagte er. „Ich muss erst mal die Betriebsanleitung lesen. Aber das hier ist genau das, was wir brauchen: Augendiagnostik mit Gesichtsfeldmessung und etlichem anderem Schnickschnack.“

Tumu setzte sich und schloss die Augen. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich: Die Regenbogenfarben tanzten weiter. Die Angst tanzte mit.

„Okay, Mama“, sagte Manfred schließlich. „Komm mal her. Jetzt finden wir raus, was mit deinen Augen los ist!“ Zehn Minuten später stand sein Urteil fest: „Im rechten Auge hast Du einen großflächige Netzhautablösung. Das muss umgehend operiert werden. Sonst verlierst Du Dein Augenlicht. Du musst ins Krankenhaus.“

Plötzlich war Tumu völlig ruhig. Sie akzeptierte das Urteil. In Zukunft würde sie also auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. Nun gut. Bären waren sowieso kurzsichtig, allesamt. Bären waren Nasentiere. Ihre Nase funktionierte ausgezeichnet. Sie würde zurechtkommen.

„Nein, das muss ich nicht. Wir dürfen das nicht riskieren. Vielleicht merken die Menschen nicht gleich, dass ich eine Bärin bin, aber später werden sie mich verfolgen mit ihren Rechnungen und Nachuntersuchungen. Sie werden Bärenleben finden, und dass das nicht passieren darf, brauche ich Dir nicht zu erklären.“

Manfred nickte. Dann schüttelte er den Kopf. „Aber, Mama…“

“Jetzt halt mal die Klappe, Jungstinker! Und mach uns hier bitte Platz! Deine kluge Mutter hat völlig recht. Ich kann Eure ganze Mischpoke schließlich nicht dauernd durch die Gegend transportieren. Aber eine kleine Netzhautfestklebung sollten wir mit Bordmitteln schon hinkriegen, hihi! Erstmal brauchen wir einen ordentlichen Operationstisch.“

Tumu hörte ein Summen und Brummen, ein Schwirren und Sirren, ein Sausen und Brausen. Mit dem gesunden Auge sah sie, dass die Luft zu tanzen begann. Aus allen Richtungen kamen Blattschneiderbienen, Blutbienen, Buntbienen, Düsterbienen, Erdbienen, Filzbienen, Fleckenbienen, Furchenbienen, Glanzbienen, Graubienen, Harzbienen, Holzbienen, Hosenbienen, Hummeln, Kegelbienen, Kuhhornbienen, Kraftbienen, Kurzhornbienen, Langhornbienen, Löcherbienen, Maskenbienen, Mauerbienen, Mörtelbienen, Pelzbienen, Sandbienen, Sandgängerbienen, Sägehornbienen, Schenkelbienen, Scherenbienen, Schienenbienen, Schlürfbienen, Schmalbienen, Schmuckbienen, Schwebebienen, Seidenbienen, Spiralhornbienen, Steinbienen, Steppenbienen, Steppenglanzbienen, Trauerbienen, Wespenbienen, Wollbienen, Zottelbienen und Zweizahnbienen angeflogen. Aller Wachsdrüsen arbeiteten auf Hochtouren.

Tumu und Manfred trauten ihren Augen nicht, Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Insekten ein Wachsbett modelliert hatten, in dem das Basrelief einer liegenden Tumu ausgespart worden war. Nach einem abschließenden Kontrollflug brumselte eine dicke Hummel als letzte davon.

„Danke, KInder! Ihr habt was bei mir gut! Und nun, meine Liebe – mach es Dir im OP gemütlich!“

Natürlich hatte Tumu Tussis Stimme schon beim ersten Mal sofort erkannt. Alle Angst war verflogen. Wenn Tussi etwas in die Hand nahm, brauchte niemand sich mehr Sorgen zu machen, und schon gar keine Bärin in Bärenleben. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, legte sie sich auf und in das Kunstwerk der Bienen. Es schmiegte sich perfekt an ihren Körper.

„Alles klar, wie ich sehe. Entspann Dich. Entspann Dich wirklich – die besten Operateure der Welt sind eben nicht Säuger, sondern Krabbeltiere – wahrscheinlich ist das für Dich gewöhnungsbedürftig. Aber alles mit Tussi-Garantie!“

Tumu lächelte, allerdings nur zwei Sekunden lang. Dann spürte sie, wie es auf ihrem Gesicht krabbelte. Es mussten viele sein, auch wenn ihr klar war, dass jeder – jede – jedes – oh, fiel ihr ein, eigentlich wusste sie nichts von Krabbeltieren, noch nicht mal etwas über deren Geschlecht – sechs Beine hatte. Oder sogar acht, falls es Spinnen waren. Oder Dutzende, wenn es sich um Tausendfüßler handelte.

„Gaaanz ruhig!“ kommandierte Tussi. „Zu Deinem rechten Auge ist gerade eine Eliteeinheit roter Waldameisen unterwegs. Sie werden sich unter Deinem Auge versammeln, und dann werden sie Dich alle gleichzeitig beißen – Ameisensäure ist ein perfektes Anästhetikum! Vom Rest der Operation wirst Du nichts mehr spüren.“

Manfred bekam große Augen, biss sich aber auf die Zunge. Tussi wusste immer, was sie tat, beruhigte er sich. Oder versuchte es wenigstens.

Tumu registrierte ein Ende des Krabbelns und bekam gleich danach einen ordentlichen Stich versetzt – oder wohl eher einen Biss, wie Tussi gesagt hatte.

„Und jetzt“, verlangte Tussi, „machst Du Deine Augen zu. Vor allem das rechte. Nicht erschrecken – ich helfe in bisschen nach!“

Tumu erwartete einen kühlen Froschfinger auf ihrem Gesicht, aber stattdessen verspürte sie pelzige Wärme über dem rechten Auge und roch etwas – Sumpf und Moschus.

„Das ist Freundin Bisamratte“, informierte sie Tussi. „Ihre Geruchsdrüsen harmonieren perfekt mit der Wirkung der Ameisensäure. Sie wird ein paar Minuten da hocken bleiben, bis die Betäubung richtig wirkt. Manchmal seid Ihr Säuger eben doch zu etwas zu gebrauchen. Aber danach übernehmen die wirklichen Künstler. Die Operation werden Blattschneiderameisen durchführen – sie sind gerade aus Lateinamerika eingereist. Die machen Dein Auge erst mal kaputt, wie Du Dir denken kannst, und implantieren Dir eine neue Linse. Die alte taugt nämlich nicht mehr viel. Die Linse hat mir eine Freundin geschenkt. Ich kenne sie zwar noch nicht lange, denn sie ist ziemlich jung, keine dreitausend Jahre, schätze ich, aber ich halte sie für vertrauenswürdig. Sie ist eine Redwood aus Nordkalifornien und produziert glasklares Harz, das schnell zu Bernstein erstarrt. Danach musst Du bloß noch zusammengenäht werden. Diese verantwortungsvolle Aufgabe übernimmt Meisterin Kreuzspinne, berühmt für ihre Fußfertigkeit und ihren extrafeinen Klebfaden. Der Weberknecht assistiert ihr natürlich. Du darfst derweil träumen – von süßen Kaulquappenkindern zum Beispiel. Aber vermutlich ziehst Du stinkende kleine Bären vor – chacun à son goût, wie der französische Frosch sagt. Und jetzt geht‘s los!“

Tumu überließ sich willig ihren Operateuren, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Sehnerv ein aufregendes Eigenleben beginnen würde. Kaum war ihr Auge weg‘, wie sie den ersten Schritt des Eingriffs für sich übersetzte, da entfaltete sich eine Farbenpracht, wie sie sie noch nie zu sehen bekommen hatte. Sie verzichtete darauf, irgend etwas steuern zu wollen, und überließ sich dem Geschehen. Irgendwann setzten sich die Farben zu Bildern zusammen.

Eine Decke aus Geldscheinen, überwiegend Dollarnoten, lag locker auf dem Globus. Anfangs war sie dünn, reichte nicht aus, um den Erdball zu bedecken, bekam immer wieder Löcher, wurde notdürftig geflickt. Dann aber gewann sie an Fülle und Fläche, wurde flauschig wie ein Bett aus Eiderdaunen, bedeckte mit der Ausnahme Afrikas alle Kontinente, füllte sich prall und praller, schien ihre Hülle sprengen zu wollen. Sie wurde lebendig, hob sich in die Höhe, wollte sich losreißen, kam aber nicht fort. In geringem Abstand von der Erdoberfläche schwoll sie immer weiter und weiter an. Sie wurde so dick, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie platzen würde.

Sie platzte. Geldscheine taumelten durch den Weltenraum, verglühten in den Sternen, verschwanden in unendlichen Weiten. Ein Jammergeschrei erhob sich auf der Erde, die die Sonnenstrahlen endlich wieder erreichten. Verkrüppelte menschliche Wesen, bleich wie Höhlenbewohner, reckten ihre mageren Arme suchend in den Himmel und versuchten gleichzeitig, sich vor dem Licht zu schützen.

Tumu schüttelte nicht unwillig den Kopf, denn erstens war der perfekt in den Bienentisch eingepasst, und zweitens hätte sie nie gewagt, die delikate Arbeit der Meisterin Kreuzspinne und ihrer Mitoperateure zu gefährden. Sie verscheuchte den Traum, ohne sich zu rühren, und beherzigte Tussis Empfehlung. Die neueste Weltwirtschaftskrise lag ihr momentan weitaus ferner als zum Beispiel Na und Nuk und Gute-Nacht-Geschichten für die Kinder. Winnie-the-Pooh fiel ihr wieder ein und seine Vorliebe für Honig. In Bärenleben, beschloss sie, würden alle Gerichte künftig nur noch mit Kunsthonig zubereitet werden. Nie mehr würde sie zulassen, dass Bienen bestohlen wurden.

„Lobenswerter Vorsatz!“ kommentierte Tussi. „Wir sind übrigens fertig mit der Behandlung. In ein paar Tagen kannst Du wieder ordentlich sehen und den Kleinen Geschichten vorlesen. Ich werde mich übrigens dazu einladen – Geschichten von Bären von sehr geringem Verstand gehen mir runter wie Honig – pardon, wie Kunsthonig natürlich, hihi! Und jetzt wird geschlafen.“

Konsequenz


Bärdel saß gemütlich in der Aprilsonne auf der Erde und schaute den ersten Löwenzahnblättchen beim Wachsen zu. Er bleib nicht lange ungestört. In der Ferne hörte er fordernde Rufe: “Onkel Bärdel! Onkel Bärdel!“ Die hohen Stimmchen gehörten Na und Nuk. Er hatte die beiden Kleinen gerne um sich, aber er erleichterte ihnen die Suche nicht: Mochten sie ihn selber finden!

Na und Nuk

Da die Zwillinge empfindliche Nasen hatten, entdeckten sie Bärdel schnell. Er nahm sie in die Pranken, knuffte sie herzhaft, was ihnen ein entzücktes Quieken entlockte, und bot ihnen zarten Löwenzahn als Delikatesse an.

Nuk wehrte ab: “Danke, Onkel Bärdel, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wir kommen wegen etwas Wichtigem!“

Bärdel steckte sich das wohlschmeckende Grünzeug ins eigene Maul, kaute genüsslich und erkundigte sich: “Und das wäre?“

“Du musst uns helfen, die Welt untergehen zu lassen,“ erklärte Nuk, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Da Bärdel das anders bewertete, verschluckte er sich heftig, rang nach Luft und erholte sich erst allmählich von seinem Erstickungsanfall, nachdem die Schwestern ihm kräftig auf den Rücken geklopft hatten. “Die ganze Welt oder nur die Erde?“ erkundigte er sich danach.

“Die Erde reicht,“ antworteten Nanuk im Chor.

“Und warum möchtet Ihr das, wenn ich fragen darf?“

“Du darfst immer fragen, Onkel Bärdel. Tante Atti und Onkel Kulle haben gesagt, wir seien ihnen immer herzlich willkommen, wenn wir etwas wissen möchten, aber zur Schule zu gehen brauchten wir ab sofort nicht mehr. Wir wüssten jetzt eine Menge, und wir hätten auch gelernt, wie wir uns noch fehlendes Wissen beschaffen könnten. Na ja, und daraufhin haben wir uns klargemacht, was wir wissen. Und als wir damit fertig waren, haben wir beschlossen, dass es am besten ist, wenn…“

“Schon gut, schon gut!“ unterbrach Bärdel. “Was wisst Ihr denn?“

“Wir wissen viele schöne Dinge, zum Beispiel in Mathe und Physik, und viele scheußliche. Die scheußlichen haben wir in Geschichte und Politik gelernt. Also in Menschenkunde. Die Menschen haben nichts Besseres zu tun, als sich zu vermehren und sich gegenseitig umzubringen. Das Umbringen ist übrigens nicht effizient genug, die Menschen werden immer mehr. Sie sind kurz davor, auch noch die letzten Rohstoffe auszubeuten und das Klima so zu verändern, dass nicht nur wir Eisbären, sondern auch sie selbst und andere Tiere und Pflanzen nicht mehr auf der Erde leben können. Und deshalb haben wir uns überlegt, dass ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende.“ Als eingespieltes Team hatten Na und Nuk immer abwechselnd einen Satz gesagt. jetzt schauten sie Bärdel erwartungsvoll an.

“Das klingt wohl überlegt!“ kommentierte Bärdel. “Und warum soll ich Euch beim Untergang der Erde helfen?“

“Wir … wir wissen nicht, wie wir das anstellen sollen,“ gestanden die Kleinen.

“Nun, in dieser Beziehung kann ich Euch durchaus Vorschläge machen. Aber erst müsst Ihr mir genauer sagen, welches Ziel Ihr anstrebt: Soll die Erde in Trümmerstücke zerlegt werden? Oder reicht es, wenn die Menschen von ihr verschwinden?“

Na und Nuk waren sich wie immer einig: “Es reicht, wenn die Menschen von ihr verschwinden.“

“Dazu fällt mir eine gute Methode ein. Nein, keine Seuche, auch das aggressivste Virus arrangiert sich irgendwann mit seinem Wirtstier, weil es selbst überleben will. Ich schlage einen Krieg vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Einen Atomkrieg. Der kann ruhig lokal begrenzt sein – zur Produktion eines nuklearen Winters und zur Zerstörung der Ozonschicht reicht so etwas aus. Hetzt also zum Beispiel Indien und Pakistan aufeinander, was nicht schwer fallen sollte, und ihr habt, was Ihr wollt. Die Menschen haben nichts mehr zu essen und sterben an Krebs wie die Fliegen. Ist das nach Eurem Geschmack?“

“Super, Onkel Bärdel!“ jubelten Nanuk. “Das ist genau das, wonach wir gesucht haben. Danke! Wir sausen jetzt schnell zu Onkel Manfred ins Computerzentrum und schauen, ob wir die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan stören können. Bis bald!“

Aber bevor sich die Kleinen davonmachen konnten, bremste Bärdel sie. “Immer langsam mit den jungen Eisbärinnen!“ schmunzelte er. “Möchtet Ihr vielleicht nicht doch ein bisschen Löwenzahn? Nein? Nun, dann lasst uns wenigstens voneinander Abschied nehmen.“

Na wunderte sich: “Aber Onkel Bärdel, Du bist doch sonst nicht so feierlich! Wir kommen bald wieder!“

Bärdel wiegte seinen dicken Kopf hin und her. “Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Auch wir werden verhungern, erfrieren und an Krebs sterben, wenn Ihr Euren Krieg macht. Ob wir uns jemals wieder sehen?“

“Oh!“ sagte Nuk.

“Wieso wir?“ fragte Na.

“Wir sind mit den Menschen genetisch eng verwandt. Was ihnen schadet, schadet uns auch.“ Bärdel ließ es dabei bewenden und verkniff sich einen Seitenhieb: Das hättet Ihr in Biologie eigentlich lernen sollen.‘

“Ja, dann…“ überlegte Nuk. Und schnell kam sie zu einem Entschluss: “Ich als die Erstgeborene beschließe hiermit, dass wir mit dem Weltuntergang noch ein wenig warten. Einverstanden, Na?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: “Onkel Bärdel, gilt Dein Löwenzahnangebot noch?“

“Selbstverständlich!“ antwortete Bärdel und schloss die Beiden in die Arme. Bärenleben und auch die Menschen hatten noch einmal Glück gehabt.

Was ist Politik (II)

Wochenlang herrschte nach der Theateraufführung von Bärdel, Kulle und Manfred für das jugendliche Publikum Bärenlebens scheinbare Ruhe. Niemand von den “Erwachsenen” bekam mit, dass sich Ramses, Piggy, Del und Nanuk regelmäßig jeden Tag trafen und hitzig miteinander diskutierten. Vor ihren Treffen verbrachten sie in der Regel lange Stunden in der Bibliothek und vor den Computern, mit denen sie im Internet recherchierten. Sie suchten nach der Formel für ein ideales gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen, wie Bärdel es ihnen aufgetragen hatte, aber sie hatten auch noch einen ehrgeizigen weiteren Plan.

“Es geht nicht!” stellte Piggy schließlich resigniert fest. “Es geht einfach nicht! Wir sind gescheitert!”

Piggy

“Nein, das sind wir nicht!” widersprach Del. “Nicht wir sind gescheitert, sondern die Menschen. Und das und die Gründe dafür kann man doch zeigen, oder?”

Del

Das sahen Piggy und die anderen ein. Sie fanden es jedoch langweilig, sich vorführen zu lassen, was sie schon selbst herausgefunden hatten. Außerdem fanden Sie, dass Bärdel und Kulle eine Belohnung für ihre Polittheatershow verdient hatten. Manfred eigentlich auch, aber der würde arbeiten müssen – sie brauchten seine Hilfe, wenn jetzt sie ein Stück inszenierten.

Manfred half den “Kleinen” gerne, und sie begannen heimlich mit den Proben. Bärdel war völlig überrascht, als er am Beginn einer Abendversammlung bestimmt, aber höflich von Nuk unterbrochen wurde.

Na Nuk

“Bitte entschuldige, Onkel Bärdel!” piepste sie. “Ich weiß, dass ich Dich eigentlich nicht stören darf. Aber heute Abend stehen keine wichtigen Entscheidungen auf der Tagesordnung, und wenn das nicht der Fall ist, erzählen wir uns sowieso nur Märchen. Anstatt das zu tun, können wir auch ins Theater gehen – wir jungen Bärenlebener haben ein kleines Stück einstudiert.”

Die Bären nahmen den Vorschlag begeistert an und gruppierten sich vor der Bühne. Na übernahm die Einführung und erklärte, worum es gehen sollte. Und dann erlosch das Licht auf dem Podium. Im Zuschauerraum war es schon lange dunkel, denn es war später Herbst.

Als die Lichter auf der Bühne wieder angingen, sahen die Zuschauer zunächst einen Stummfilm, in dem warme Farben vorherrschten. Er zeigte Menschen in einfachen Verhältnissen, die glücklich zu sein schienen, bei einfachen Tätigkeiten. Sie aßen, tranken, arbeiteten, lasen, diskutierten, schliefen, spielten mit ihren Kindern. Ab und zu diskutierten alle über das gleiche. Dann wurde die entsprechende Frage eingeblendet. “Sollen wir eine Brücke über den Fluss bauen oder darauf verzichten, weil wir damit den Lebensraum einer Fledermaus gefährdeten?” “Wollen wir genmanipulierte Pflanzen anbauen und so die landwirtschaftlichen Erträge steigern, obwohl dadurch vermutlich die Reproduktionsrate der Schmetterlinge verringert wird?” “Wollen wir ein Fastfood-Restaurant eröffnen oder eine zweite Bibliothek einrichten?”

Wann immer es galt, eine solche Frage zu beantworten, trafen sich alle Erwachsenen auf einem großen Platz. Es gab niemanden, der zu Hause blieb, außer den ganz Kranken und Schwachen. Sie diskutierten nur kurz und entschieden sich schnell: Für die Fledermäuse, die Schmetterlinge und die Bibliothek. Und: Sie entschieden immer einstimmig.

Der Film endete, und die Bären wollen schon anfangen zu applaudieren, als ein freundlich aussehender Menschenmann in altmodischer Kleidung und mit einer Perücke auf dem Kopf auf der Bühne erschien und eine Erklärung abgab:

“Wie viele schwer zu vereinigende Dinge setzt diese Regierungsform überhaupt voraus! Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder Bürger genügende Gelegenheit hat, alle anderen kennenzulernen; zweitens eine große Einfachheit der Sitten, die keine Veranlassung zu vielen schwierigen Arbeiten und Verhandlungen gibt, sodann fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte; endlich wenig oder gar keinen Luxus, denn der Luxus ist entweder die Folge des Reichtums oder macht ihn nötig; er verdirbt nicht nur den Reichen, sondern auch den Armen, jenen durch den Besitz, diesen durch die Lüsternheit; er verwandelt das Vaterland in eine Stätte der Weichlichkeit und Eitelkeit; er entzieht dem Staate alle Bürger, um die einen zu Sklaven der anderen und alle zu Sklaven des Vorurteils zu machen.”

Ramses

Hier machte der freundliche Herr eine lange Pause, die ebenso wie seine lange Rede von gelegentlichem Kichern aus dem Publikum unterbrochen wurde. Trotz aller Verkleidungskünste und Schminkbemühungen ließ sich nicht übersehen, dass der Sprecher ein grünes Gesicht hatte. Und ein grünes Gesicht hatte in Bärenleben nur einer: Ramses.

Der verkleidete Frosch schloss: “Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht.”

Er verbeugte sich tief und ging ab.

“Aber sehr wohl für Bären!” brummte ein sehr alter Bär, der sich sonst meist damit hervortat, dass er gegen alles war. Er begann, die Pranken ineinander zu schlagen, aber auch jetzt war die Vorstellung noch nicht zu Ende. Eine Melodie erklang, laut und kämpferisch, die den meisten Anwesenden bekannt vorkam. Dazu marschierten auf der Leinwand Soldaten in einem nicht enden wollenden Zug. Die Filmaufnahme war diesmal schwarzweiß. Den Text des Liedes hatte bisher niemand gekannt.


Auf, Kinder des Vaterlands!

Der Tag des Ruhms ist da.

Gegen uns wurde der Tyrannei

Blutiges Banner erhoben.

Hört Ihr auf den Feldern

Das Brüllen der grausamen Krieger?

Sie kommen bis in eure Arme

Eure Söhne, eure Frauen zu erwürgen!

An die Waffen, Bürger!

Schließt die Reihen,

Vorwärts, marschieren wir!

Damit ein unreines Blut

Unsere Äcker tränkt!

“Ich wusste gar nicht, dass die Marseillaise so einen blutrünstigen Text hat!” seufzte Tumu, “Das ist ja schrecklich!”

Wieder erschien Ramses auf der Bühne, in ähnlichem, aber in erkennbar anderem Kostüm, auch mit anderer Perücke. Er setzte sich auf einen Louis-XVI.-Stuhl und begann zu häkeln, wobei er freundlich ins Publikum lächelte.

Ramses

“Ja, schrecklich ist es, aber in revolutionären Zeiten gibt es ohne Schrecken keine Tugend, und wir leben in revolutionären Zeiten: Deshalb: Alle Verdächtigen an die Laterne, wie es früher hieß, bevor der gute Dr. Guillotin seinen humanen Tötungsapparat erfunden hat. Glauben Sie bitte nicht, dass ich mich an den Hinrichtungen berausche – ich war noch bei keiner einzigen dabei. Blut ist mir zutiefst zuwider. Aber unser Land ist entartet, und wenn diese Entartung beendet werden soll, wenn wieder Moral, Grundsätze, Vernunft, Seelengröße und Wahrheit herrschen sollen, wie es Jean-Jacques Rousseau, der Prophet des “Höchsten Wesens”, gewollt hat, dann müssen wir die Parasiten am Volkskörper ausmerzen, ausmerzen, ausmerzen!”

Der Sprecher lächelte jetzt nicht mehr, und er hatte auch aufgehört zu häkeln. Seine Miene war verklärt, und zu den letzten drei Worten hatte er begonnen, den Takt zu klatschen.

Das Licht auf der Bühne wechselte, Ramses versank im Dunklen, und die Spielzeugguillotine, die Bärdel und Kulle für ihr vorhergehendes politisches Theaterstück gebaut hatten, tauchte auf. Piggy trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf, war aber trotzdem am Ringelschwänzchen gut zu erkennen. Das Schwein agierte als Henker. Na und Nuk hatten sich rote Streifen um den Hals gemalt und spielten die Opfer. Nacheinander legten sie sich auf das Schafott, und bei jedem Händeklatschen ließ Piggy das Beil herabsausen, das aber auf halber Strecke stoppte. Die “Exekutierte” verbarg den nicht abgeschlagenen Kopf in den Armen, ließ sich von der Guillotine rollen und versteckte sich dahinter. Kaum war das geschehen, spielte der andere Eisbärenzwilling den nächsten Verurteilten. Und immer so fort.

Das wirkte so komisch, dass die Zuschauer, die zunächst betreten dreingeschaut hatten, bald das Lachen nicht mehr unterdrücken konnten. Ein erstes verschämtes Lächeln wurde zum unterdrückten Gepruste, bis sich allgemein schallendes Gelächter durchsetzte.

Die Schauspieler schafften es eine Zeitlang, diese ungebührliche Reaktion zu ignorieren. Schließlich aber platzte Nanuk der Kragen. Sie hörten auf, sich exekutieren zu lassen, und stellten sich an die Rampe.

“Ihr Ignoranten!”

“Ihr seid vielleicht blöd!”

“Das ist alles historisch verbürgt!”

“Und komisch ist das überhaupt nicht!”

“Weil nämlich Robbespierre auch ein dogmatischer Ignorant war.”

“Er hat eine gute Idee pervertiert.”

“Er hat sie nicht verstanden und hat trotzdem versucht, sie mit Gewalt durchzusetzen.”

“Und wir haben rausgefunden, dass das bei dem Menschen immer wieder passiert.”

“Zum Beispiel in der Religion.”

“Oder in der Politik.”

“Und ihr lacht darüber!!!”

Die Bären im Publikum sahen einander unsicher an. Gehörte das noch zum Stück? Natürlich waren sie alle kulturinteressiert und kannten Handkes “Publikumsbeschimpfung”. Oder war das jetzt ernst gemeint?

Ein kleiner Kopf tauchte aus dem Souffleurkasten auf und wandte sich den Zuschauern zu. “Das, liebe Bären, ist sehr ernst gemeint!” sagte Del.

Sofort kehrte Ruhe ein.

Nach wenigen Sekunden allerdings erhob sich donnernder Applaus.

Was ist Politik?

Nach ihrem Unterricht in Menschenkunde und Mathematik waren Na und Nuk nicht zu bremsen: In Physik, Chemie und Biologie eigneten sie sich die wichtigsten Kenntnisse im Pfotenumdrehen an, und danach entwickelten sie sich zu Geografie-Expertinnen. Bei den Geisteswissenschaften haperte es dagegen – die kleinen Eisbärinnen wollten nicht so recht an Literatur oder Philosophie und Geschichte heran, und selbst Kulle drängte nicht darauf, sie mit seinen ureigenen Forschungsgegenständen zu befassen.

Die Lernwilligen

Eines Tages aber geschah, was geschehen musste. Na und Nuk hatten sich das richtige Opfer ausgespäht. Sie erwischten Kulle auf seinem Morgenspaziergang und fragten: “Onkel Kulle, wir möchten gerne wissen, was Politik ist. Guten Morgen übrigens. Guten Morgen auch Dir, Onkel Bärdel!“

“Guten Morgen, Guten Morgen! Also, Politik ist…“

Bärdel und Kulle hatten gleichzeitig zu sprechen begonnen und hörten ebenso gleichzeitig auf. Sie schauten einander unsicher an.

“Also…“ machte Kulle nach einer Kunstpause einen weiteren Versuch, aber Nuk, als Erstgeborene die Mutigere, fiel ihm ins Wort.

“Onkel Kulle, wir ahnen, dass Du jetzt überlegst, welche von den Dutzenden Definitionen von Politik, die Du kennst, also welche davon Du uns jetzt als die richtige verkaufst. Das wollen wir aber gar nicht wissen. Nachgeguckt haben wir selber. Wir wollen nicht wissen, wie man Politik definieren kann, sondern was Politik ist!“

Kulle fragte: “Was meint Ihr damit?“

“Wir möchten das Sein des Seins’Politik‘ erfahren, das meinen wir damit!“ Es gelang Na ohne Mühe, ernst zu bleiben, denn sie ahnte nicht, wie fremd ihre Formulierung am Beginn des 21. Jahrhunderts klang.

“Ihr möchtet also Politik erleben – ist es das?“ vergewisserte sich Bärdel.

“Genau, Onkel Bärdel!“ jubelten die Zwillinge und sahen die alten Braunbären erwartungsvoll an.

“Ich fürchte“, brummte Kulle so leise vor sich hin, dass ihn die Eisbärenkinder gar nicht und Bärdel nur mit Mühe hören konnte, “ich fürchte, das läuft auf ein Spiel hinaus!“

“Bloß das nicht!“ flehte Bärdel. Er hatte mit Spielen so seine Erfahrungen.

Aber sein Entsetzen beeindruckte die Kinder überhaupt nicht.

“Toll!“ brüllten sie. “Wir spielen ein Spiel! Ein Spiiieell!“

Bei der Versammlung am Abend, als Bärdel den Bärenlebenern verkündete, was ihnen bevorstand, wenn sie sich auf den Wunsch von Nanuk einließen, reagierten viele ablehnend, und Tumu gehörte dazu.

“Wenn Ihr Politik spielen wollt – meinen Segen habt Ihr. Wir haben seit Deinem letzten Geburtstag eine wunderschöne Freilichtbühne neben unserer Höhle. Da könnt Ihr den Kindern vormachen, wie Politik funktioniert, und viele andere kommen bestimmt auch gerne zum Zugucken. Ein Realspiel lehne ich dagegen ab – das letzte liegt mir noch in den Knochen.“

So waren Bärdel und Kulle zum Theaterspielen verurteilt. Sie überlegten sich ein Konzept, suchten sich Manfred als Helfer und begannen mit den Proben. Schon nach ein paar Tagen kündigten sie die erste Aufführung an und erklärten, es handele sich dabei um Jugendtheater. Die Erwachsenen sollten, so wünschten sie, der Aufführung fern bleiben.

Manfred

Der Zuschauerraum war zwar nicht gut gefüllt, aber alle Jungbären der Gegend waren anwesend, und auch Piggy das Schwein und Ramses der Frosch waren gekommen, denn sie betrachteten sich in der Bärengemeinschaft immer noch als unwissend, also in gewisser Weise als jung. Da es keinen Theatervorhang gab, konnten alle beobachten, wie Bärdel die Bühne betrat. Er trug eine Krone aus Goldpapier auf dem dicken Schädel und ließ sich schwer in einen geschmückten Sessel plumpsen, der mitten auf der Bühne stand und wohl einen Thron darstellen sollte.

Bärdel wandte sich an sein Publikum: Guten Abend, junge Bären!“” grüßte er freundlich. “Ich bin Euer König. Das heißt also, ich bin Euer Herrscher. Wenn ich freundlich zu Euch bin, dann bin ich nicht einfach freundlich, sondern huldvoll. Das heißt, ich bringe Euch Wohlwollen entgegen, ich will Euch wohl. Dafür will ich von Euch Abgaben, aber die verwende ich nicht immer nur für mich alleine – wenn Ihr angegriffen werdet, will ich Euch gerne verteidigen, vorausgesetzt, Ihr helft mir dabei!“

Unruhe entstand im Publikum.

“Habt Ihr dazu etwa irgend welche Fragen?“ wollte Bärdel wissen.

“Heißt das“, erkundigte sich Del, “heißt das, dass Du als König auf unsere Kosten lebst?“

“Nein, natürlich nicht. Ich lebe auf Kosten der Gnade Gottes, ich bin König von Gottes Gnaden. Gott hat mich über Euch gesetzt, damit ich hier auf Erden seinen Willen exekutiere. Dafür geht es mir materiell ein bisschen besser als Euch, das gebe ich zu.“

Und welche Rolle spielen wir in diesem Spiel?“ fragte Del weiter.

“Na ja,“ erklärte Bärdel, “wie ich schon sagte: Ihr zahlt und kämpft im Krieg. Im übrigen gehorcht Ihr und seid fromm und dankbar dafür, dass es Euch so gut geht.“

“Das gefällt uns nicht!“ sagten Na und Nuk gleichzeitig,

“Mir auch nicht!“ rief Kulle, der jetzt auf die Bühne gelaufen kam. Er trug eine große bunte, mit Schellen besetzte Kappe. “Mit gefällt das auch nicht, weil ich nämlich der Hofnarr dieses Königs bin. Wollt Ihr wissen, was der König den ganzen Tag lang macht?“

“Jaaa!!!“ rief das Publikum.

“Am Morgen steht der König auf, am Abend geht der König zu Bett, und tagsüber langweilt er sich mit seinen Sorgen, mit seinen Dienern, seinem Gold, Silber, Samt, seiner Seide, langweilt sich mit seinen Kerzen. Sein Bett ist prunkvoll, aber man kann darin auch nicht viel anderes tun als schlafen.

Die Diener machen am Morgen tiefe Verbeugungen, jeden Morgen gleich tief, der König ist daran gewöhnt und schaut nicht einmal hin. Jemand gibt ihm die Gabel, jemand gibt ihm das Messer, jemand schiebt ihm den Stuhl zu, und die Leute, die mit ihm sprechen, sagen Majestät und sehr viele schöne Worte dazu und sonst nichts.

Nie sagt jemand zu ihm:’Du Trottel, du Schafskopf‘, und alles, was sie ihm heute sagen, haben sie ihm gestern schon gesagt.

So ist das.

Und deshalb haben Könige Hofnarren.

Die dürfen tun, was sie wollen, und sagen, was sie wollen, um den König zum Lachen zu bringen, und wenn er über sie nicht mehr lachen kann, bringt er sie um oder so.“

(Vielen Dank an Peter Bichsel. Das Zitat stammt aus: “Amerika gibt es nicht“, in: Kindergeschichten)

Bei seinen letzten Worten schleppte Kulle eine kleine Guillotine auf die Bühne, legte sich unter das Fallbeil und spielte kokett mit der Schnur.

“Lass das sein, Onkel Kulle!“ heulten Nanuk auf. Sieh lieber zu, wie wir diesen König loswerden!“

““Nichts leichter als das!“ schmunzelte Kulle, zog sich die Narrenkappe vom Kopf und setzte als Ersatz eine rote Mütze auf. “Auch ein König kann unter der Guillotine sterben.“

Bärdel zog eine jämmerliche Grimasse, nahm die Krone vom Kopf, heftete sich stattdessen eine blau-weiß-rote Kokarde hinters Ohr und hängte sich ein Schild um den Hals, auf dem “Bürger Capet“ stand.

Kulle entrollte feierlich eine Pergamentrolle und las daraus vor: “Der Nationalkonvent erklärt Louis Capet, den letzten König, der Verschwörung gegen die Freiheit der Nation und des Anschlags gegen die allgemeine Sicherheit des Staates für schuldig. Der Nationalkonvent verhängt die Todesstrafe über Louis Capet.“

“Darf ich noch beichten?“ fragte Bärdel.

“Klar!“ sagte Kulle. “Das wird sich bestimmt lohnen – Du hast ja genug auf dem Kerbholz. Aber beeil Dich damit – der erste Akt ist gleich zu Ende!“

Bärdel kniete sich hin, Manfred kam als Priester verkleidet angesaust, legte für eine Sekunde lauschend die Hand hinter sein Ohr, nickte, schlug das Kreuz über Bärdel und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Bärdel legte sich ergeben unter die Guillotine. Kulle verdeckte die Szene mit einer großen blau-weiß-roten Flagge. Im Publikum hörte man, wie das Fallbeil herabsauste und zur Ruhe kam.

“Onkel Bärdel! Bärdel!“ heulten alle auf.

Die Fahne sank in sich zusammen. Dahinter erhob sich Bärdel unverletzt. “Der König ist tot“, erklärte er, “aber der Schauspieler lebt selbstverständlich. Jetzt machen wir erst mal eine Pause, und danach dürft Ihr Euch wünschen, welche Art von Politik Ihr als nächstes vorgeführt haben möchtet. Eben seid Ihr übrigens mit der Monarchie bekannt gemacht worden, also mit der Herrschaft eines Königs, und mit der Revolution. So nennt man es, wenn eine Staatsform oder eine Regierungsform gewaltsam gestürzt wird.“

In der Pause wurde Himbeersaft serviert wie in einem richtigen Theater für erwachsene Bären, und das jugendliche Publikum diskutierte eifrig darüber, was es im zweiten Akt geboten bekommen wollte.

“Also, ich fand das gemein, was eben mit dem König passiert ist“, sagte Del. “Man sollte ihn wieder in sein Amt einsetzen und ihm sagen, dass er sich in Zukunft besser benehmen soll. Er darf zum Beispiel seinen Hofnarren nicht umbringen, nur weil er sich langweilt.“

“Das geht aber nicht!“ wandte Ramses ein. “Erstens ist der König tot, und eine Leiche als Herrscher haben sich selbst die verrückten Menschen bisher noch nicht ausgedacht. Und zweitens lässt ein Alleinherrscher seine Macht nicht beschränken, jedenfalls nicht ohne Zwang. Außerdem wäre es für uns langweilig, wenn der König wieder auferstünde – die Monarchie kennen wir doch jetzt!“

“Aber was wollen wir dann?“ fragte Piggy. “Wir kennen sonst doch nichts!“

“Das stimmt nicht ganz“, widersprach Nuk. “Ich gebe zu, dass ich noch nicht regelmäßig in der Zeitung lese, aber ab und zu werfe ich einen Blick hinein. Daher weiß ich, dass es hier in Dehland keinen König gibt. Politik muss es doch aber immer geben, oder? Das ist so, weil alle intelligenten Lebewesen – na ja, ich meine jetzt auch die Menschen – Spielregeln für ihr Zusammenleben brauchen. Ich bin dafür, dass wir uns im nächsten Akt die Art von Politik wünschen, die es in Dehland gibt.“

Na sah ihre ältere Schwester bewundernd an. “Das finde ich gut!“

Alle anderen stimmten ebenfalls zu und begaben sich erwartungsvoll wieder in den Zuschauerraum.

Die Bühne war inzwischen umdekoriert worden. An allen drei Seiten hingen große Plakate, die riesige Fotos von Bärdel, Manfred und Kulle zeigten. Auf den Postern stand außerdem noch jeweils ein kurzer Text:

“Bärdel ist Zukunft. Und Zukunft bedeutet Tempolimit.“

“Die Zukunft heißt Tempolimit mit Kulle.“

“Zukunft? Tempolimit? Manfred!“

Bärdel erschien und schmunzelte.

“Ihr seht, dass wir euch bespitzelt haben. Auch das gehört bei den Menschen zur Politik – Berufspolitiker wollen immer wissen, was das Volk denkt und wünscht. So können sie es am besten besch… – ich meine, am besten manipulieren. Ihr wollt die Politik in Dehland erleben, haben wir gehört. Das ist technisch ein bisschen schwierig, denn die Art von Politik, die in Dehland gemacht wird, nennt sich Demokratie, und daran sind viele Menschen beteiligt, jedenfalls ab und zu. Wir hier auf und hinter der Bühne sind aber nur zu dritt. Aber Ihr kennt ja Manfreds Tricks – er wird das schon schaffen.

Manfred

Hinter mir seht Ihr Wahlkampfplakate – in Dehland werden Abgeordnete, die Gesetze beschließen, nämlich vom Volk gewählt. In dem Wahlkampf, den Ihr gleich sehen werdet, spielt ein Tempolimit auf Autobahnen eine große Rolle. Lasst euch überraschen!“

Bärdel ging ab, und die Bühne wurde dunkel. Nach wenigen Sekunden aber wurden drei Filme abgespielt, die ähnliche Situationen zeigten: Unter freiem Himmel sprachen drei Redner, nämlich Bärdel, Kulle und Manfred, zu einem interessiert zuhörenden menschlichen Publikum. Die Präsentation begann als Stummfilm, aber allmählich wurde der Ton hochgefahren, und zwar so, dass man in ständigem zufälligem Wechsel einen Redner laut und die beiden anderen nur ganz leise hörte.

“…wichtig für die Menschen“… “eine wichtige Entscheidung“… “mehr als wichtig, eine wahre Richtungsentscheidung“… “denn die Zukunft“… “denn unsere Zukunft“… “unsere und vor allem die Zukunft unserer Kinder“… “verantwortungsvolles Handeln“… “Handeln aus dem Bewusstsein der Verantwortung“… “Handeln und Verantwortung übernehmen“… “Grenzen erkennen und akzeptieren“… “wir haben eine Grenze erreicht, und wir müssen akzeptieren“… “auch wenn es schwerfällt: Wir müssen erkennen“… “und deshalb fordern wir“… “und deshalb werden wir“… “und so werden wir mit aller Kraft“… “ein Tempolimit einführen“… “das überfällige Tempolimit auch in diesem unseren Land durchsetzen“… “endlich auch hier so fahren wie unsere europäischen Nachbarn: mit Tempolimit“.

Die Filme verblassten, und die Zuschauer applaudierten höflich wegen Manfreds technischer Meisterleistung, sahen einander danach aber verunsichert an.

“Ich bin mir nicht sicher“, brach Na als erste tapfer das Schweigen, “aber – haben die nicht alle dasselbe gesagt?“

Bevor jemand antworten konnte, ertönte ein Gong, und dazu erklang eine Stimme aus dem Off. “Hier ist das erste dehländische Fernsehen mit der Tagesschau.“ Eine hübsche junge Frau wurde sichtbar und verlas eine Meldung: “Am Vorabend der Wahlen zum dehländischen Bundestag haben die Spitzenkandidaten der drei großen Volksparteien auf Kundgebungen für ihre Programme geworben. Da unterschiedliche Positionen dabei nicht zu erkennen waren, rechnen Experten für den morgigen Sonntag mit einer nur geringen Wahlbeteiligung.“

“Also“, sagte Piggy und kringelte das Schwänzchen ganz eng zusammen, was ein untrügliches Zeichen von Empörung war. “Also, ich würde mich an dieser Veranstaltung auch nicht beteiligen. Was ist das denn für eine Wahl, wenn man keine Wahl hat?“

Die Tagesschau-Sprecherin wurde für kurze Zeit unscharf und und verlas gleich darauf die nächste Meldung. “Nach den ersten Hochrechnungen liefern sich die drei großen Volksparteien ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Insgesamt entfielen 90 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen auf sie. Die Wahlbeteiligung war noch niedriger als erwartet: Nur 45 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.“

Die Tagesschau-Sprecherin verschwand, und an ihrer Stelle tauchte jemand auf, mit dem wirklich niemand gerechnet hatte: Athabasca. Sie war als Professorin verkleidet und wandte sich an Na und Nuk. “Hallo, Ihr Beiden, ich wollte mich nur kurz als Eure Mathelehrerin in Erinnerung bringen. Zwei Parteien, die zusammen 60% der Stimmen erhalten haben, werden sich in ein paar Tagen zusammenschließen, um die Regierung zu bilden. So etwas nennt man Koalition. Gewählt haben nur 45% der Wahlberechtigten. Auf wie viel Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung wird sich die künftige Regierung stützen können?“

Athabaska

“Das ist doch pipileicht, Tante Atti! Auf 27 Prozent!“

“Aber das ist ja entsetzlich!“ rief Ramses.

““Nö, Onkel Ramses, das ist nicht entsetzlich, das ist richtig!“ protestierten Nanuk.

“Ja, natürlich ist das richtig, aber das ist ja das Entsetzliche. In einer Demokratie wie in Dehland leiten die Politiker ihr Recht, Gesetze zu machen und zu regieren, davon ab, dass das Volk sie damit beauftragt hat. Aber sind 27% das Volk? Welchen Rückhalt hat eine Regierung, die sich auf eine so kleine Minderheit stützt?“

“Hervorragende Frage“, lobte Bärdel, der wieder leibhaftig auf der Bühne erschienen war. “Eine solche Regierung hat in Wahrheit gar keinen Rückhalt. Aber wir wollen mal sehen, ob es den Politikern darauf überhaupt ankommt. Nach einer Bundestagswahl tritt irgendwann der neue Bundestag zusammen, das heißt, dass sich gut 600 gewählte Abgeordnete in einem Saal treffen und einen Regierungschef wählen, den Kanzler. Die Partei, die das macht, ist die Regierungspartei. Wenn eine Partei nicht ausreicht, schließen sich mehrere zusammen und bilden eine Koalition. Nachdem das passiert ist, fangen sie an, Gesetze zu machen. Dabei sind sie jetzt gerade. Sie debattieren über ein Tempolimit auf dehländischen Autobahnen. Ihr dürft zuhören.“

Wieder wurde ein Film eingespielt, der suggerierte, dass sich das Theaterpublikum auf der Besuchertribüne des Bundestages befand. Man sah von weit oben auf das Rednerpult herab, hinter dem Manfred stand.

“Als Kanzler der Bundesrepublik Dehland ist es meine Pflicht, meine Damen und Herren Abgeordneten, meine Pflicht als Regierungschef, das Wohl der Allgemeinheit im Blickfeld zu behalten. Es wäre vollkommen kurzsichtig, nur der sogenannten Umwelt zuliebe ein Tempolimit auf Autobahnen zu verhängen. Freie Fahrt dem freien Bürger! – Das ist das Motto des AD….“ Manfred verschluckte sich und trank einen Schluck Wasser aus dem frisch gefüllten Glas vor ihm. “Das Motto des adulten, also des erwachsenen Dehländers. Natürlich, meine Damen und Herren, wollen wir gute Europäer sein, und wir sind es auch. Aber wir setzen uns ein für ein Europa der Vielfalt, nicht für ein Europa der Konformität. Mit mir, und das sage ich in aller Deutlichkeit, wird es ein Tempolimit nicht geben!“

Bärdel als Sprecher der Opposition war als nächster dran.

“Ich bin betrübt“, sagte er. “Das gehört sich nicht, ich weiß. Politiker sind immer optimistisch oder geben sich zumindest so, als könnten sie das Ruder noch herumreißen, obwohl klar ist, dass sie hoffnungslos in der Minderzahl sind. Ich spiele dieses Spiel jetzt mal nicht mit, denn wir sind in einem anderen Spiel, und zudem in einem didaktischen.

Also: Ich bin betrübt. Denn meine Partei wollte – und will – ein Tempolimit, weil das nämlich aus verschiedenen Gründen vernünftig ist. Aber die Lobbies aus Autobauern und Energiekonzernen, die übrigens häufig identisch sind und sich populärer Sprachrohre wie des ADAC bedienen, die Gelder für Parteien spenden und für abgehalfterte Politiker lukrative Jobs bereit halten, diese Lobbies haben offenbar die besseren’Argumente‘. So werden wir weiterhin mehr CO2 als nötig in die Umwelt pusten und mehr Tote und Verletzte in Kauf nehmen, als nötig und vernünftig wäre.“

Der letzte Redner war Kulle.

Kulle

“Die Kulle-Partei, meine Damen und Herren, ist, wie Sie alle wissen, nicht irgendeine Partei. Wir sind die Vertreter der kleinen Leute. Wir wissen, wo das Herz des Dehländers schlägt. Wir kennen seine Sorgen, seine Nöte. Viele von uns teilen seine Biografie des Nicht-Erfolgs.

Was bleibt dem kleinen Dehländer? Er gewinnt nicht im Lotto, obwohl er das jede Woche hofft, und er kann sich das Traumhaus, in dem er gerne lebte, nicht leisten. Was er sich aber leisten kann, ist sein Auto. Nein, keinen Porsche Carrerra, noch nicht mal einen VW Touareg, aber einen kleinen Suzuki oder Skoda, vielleicht auch einen Golf. Darüber freut er sich. Das ist sein Shangri-La. Damit fährt er auf die Autobahn.’180‘ sagt der Tachodisplay, vielleicht ein bisschen weniger oder ein bisschen mehr. Und die Schilder am Straßenrand? Die sollen’130‘ sagen oder vielleicht nur’120‘? Das, meine Damen und Herren, wäre Kastration, wäre Vergewaltigung, wäre Verhinderung eines Lebensgefühls, auf das der kleine Mann in Dehland angewiesen ist wie auf das tägliche Brot – ja, vielleicht noch mehr. Ein Tempolimit auf Autobahnen ist dem Dehländer nicht zuzumuten, das ist eine schlichte, unumstößliche Wahrheit. Und deshalb, meine Damen und Herren, wird es keines geben. Mit uns nicht!“

Damit endete der Film, und die drei Schauspieler erschienen persönlich auf der Bühne und verbeugten sich. Nur Bärdel erhielt Applaus, während Kulle und Manfred kräftig ausgebuht und beschimpft wurden.

“Ihr lügt ja, wenn Ihr den Mund aufmacht!“

“Volksvertreter wollt ihr sein? Ihr vertretet doch nur Euch selber!“

“Und das große Geld!“

“Eure Demokratie gefällt uns nicht!“

Bärdel hob beschwichtigend die Pranken, und allmählich gelang es ihm, den Tumult zu beenden.

“Uns gefällt diese Demokratie auch nicht, das dürft Ihr uns glauben. Immerhin: Gegenüber der Monarchie, die wir Euch im ersten Akt gezeigt haben, hat sie einen großen Vorteil: Das Volk kann seine “Vertreter“ bei den nächsten Wahlen loswerden, wenn es das möchte, und zwar ohne Gewalt.“

Das leuchtete dem Publikum ein, aber zufrieden waren die Zuschauer dennoch nicht.

“Könnt Ihr uns denn nicht zum Schluss eine richtig gute Politik zeigen?“ fragte Del.

“Nein, denn Schluss ist jetzt. Beim nächsten Mal vielleicht. Wir werden dann nämlich das spielen, was Eurer Meinung nach richtig gute Politik ergibt. Wir sind sehr gespannt darauf, was Euch einfallen wird.“

Mathematik

Tante Atti
Nach den ersten Lernerfolgen der Zwillinge hielt Athabasca sie für wahre Genies und drängte Kulle, Na und Nuk auch in anderen Fächern als in Menschenkunde zu unterrichten. Kulle hatte nichts dagegen, zeigte als Ökonom, Soziologe und Philosoph allerdings auch kein sonderliches Interesse daran.
“Also“, sagte Atti, als die beiden kleinen Eisbärinnen sie am Beginn des nächsten Unterrichtsmorgens wissbegierig anschauten, “also, wir beginnen heute mit einem neuen Gegenstand. Er heißt Mathematik. Menschenkinder sagen auch gerne Mathe dazu. Mathe ist eine Wissenschaft, die sich mit Zahlen und Symbolen beschäftigt. Zahlen kennt ihr doch bestimmt, oder?“
Na und Nuk runzelten die Stirn, aber nur ein ganz kleines bisschen, so dass Atti die gefältelte Haut unter dem dichten Fell nicht sehen konnte. Für soo dumm konnte Tante Atti sie doch nicht halten!
Als höfliche kleine Eisbärinnen erklärten sie: “Natürlich, Tante Atti!“ Und sie begannen zu skandieren: “Eins, zwei, drei, vier…“ Bei “88“ unterbrach sie Atti mit dem Lob: “Das klappt ja schon ganz prima! Dann können wir auch gleich anfangen zu rechnen. Ich habe da eine Aufgabe vorbereitet…“
Attis Aufgabe lautete: Es gibt an einem bestimmten Ort 50 Bären und 50 Äpfel. Wie viele Äpfel bekommt jeder Bär, wenn gerecht geteilt wird?
Da Atti diese Aufgabe für leicht hielt, war sie von der Reaktion der Zwillinge überrascht. Die baten nämlich um ein paar Minuten Bearbeitungszeit.
“Wollt ihr dieses Problem etwa schriftlich bearbeiten?“ erkundigte sie sich.
“Nein, aber wir wollen darüber diskutieren, und vielleicht brauchen wir tatsächlich ein paar Notizen.“
Die Kinder sind für Mathematik wohl doch nicht geeignet, dachte Atti, als sie sich in der unerwarteten Pause in der Vormittagssonne räkelte. Aber Na und Nuk belehrten sie eines Besseren, als sie zurückkamen.
“Tante Atti, wir haben natürlich erkannt, dass du uns in eine Falle locken wolltest. Wenn alle Bären gleich viel wiegen und gleich viel Appetit auf Äpfel haben, und wenn alle Äpfel gleich groß und gleich saftig und ohne Würmer sind, oder wenn in jedem Apfel Würmer sind, die schon gleich große Teile der Äpfel ungenießbar gemacht haben, dann ist es natürlich gerecht geteilt, wenn jeder Bär einen Apfel bekommt. Aber wann ist das schon mal der Fall?“
Na Nuk
Das hätte Atti auch gerne gewusst, merkte sie jetzt. Der einzige, der in Bärenleben eine so komplexe mathematische Frage beantworten konnte, war aber Manfred, und der steckte wie üblich zwischen seinen Computerkabeln.
“Ihr habt das Problem hervorragend problematisiert“, formulierte sie unbeholfen und hoffte, damit ihre mangelnde Kompetenz zu überdecken. “Da ihr über eine wenig wahrscheinliche Möglichkeit nachgedacht habt, habt ihr vermutlich auch Lösungen für andere Varianten gefunden?“
“Aber klar, Tante Atti! Alle Bären haben gleich viel Appetit auf Äpfel, aber wiegen unterschiedlich viel – dann werden die Äpfel proportional zum Gewicht der Bären aufgeteilt! Alle Bären wollen alle Äpfel, die alle gut sind, aber verschieden schmecken, kosten: Jeder Bär kriegt dann von jedem Apfel ein möglichst identisches Stück. Wenn aber die Bären unterschiedlich viel wiegen und nicht alle den gleichen Hunger haben, wenn die Äpfel unterschiedlich groß, saftig und wurmstichig sind, und wenn es nicht erlaubt ist, die Äpfel zu zerteilen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Bär den für ihn richtigen Apfel bekommt, verschwindend gering. Wir haben überschlagen, dass die Chance etwa 1 zu 1031 beträgt. Genauer ging es leider nicht, wir konnten in der Eile keinen Taschenrechner finden. Deshalb sind wir auch davon ausgegangen, dass zehn Bären den gleichen Hunger haben und andere zehn das gleiche Gewicht, und zehn Äpfel sind gleich groß, und so weiter. Aber…“
Erschrocken verstummten Nanuk, als Athabasca sie sprachlos mit offenem Mund anstarrte. Schüchtern fragten sie schließlich: “Haben wir was falsch gemacht?“
“Nein, ihr habt nichts falsch gemacht.“ Mühsam sammelte sich Atti. “Ihr nicht, aber ich. Ihr braucht nämlich keinen Matheunterricht. Oder vielleicht doch, aber dann solltet ihr die Lehrerinnen sein und ich die Schülerin. Und jetzt geht spielen. Ich muss mich erst mal erholen.“
Fröhlich tollten Na und Nuk davon. Sie beschlossen, Manfred zu suchen und sich von ihm einen Taschenrechner auszuleihen, denn sie waren mit ihrem ungenauen Ergebnis unzufrieden. Atti dagegen blieb hocken wie angenagelt und murmelte wiederholt: “1 zu 1031“ vor sich hin. So fand sie Kulle, den doch die Neugier gepackt hatte und der wissen wollte, ob die Kinder mathematisch begabt seien. Ihm war nämlich eingefallen, dass Karl Marx sich intensiv mit Differentialrechnung befasst hatte, um sich von seiner persönlichen Qual abzulenken, als seine Frau im Sterben lag. Irgend etwas musste an dieser Wissenschaft also wichtig sein.
Athabasca riss sich zusammen und berichtete. Kulle konnte ebensowenig wie Atti nachvollziehen, was die Kinder da berechnet haben mochten, aber er analysierte sofort, dass sie das Problem der Verteilungsgerechtigkeit auf eine Weise betrachteten, die seiner Sicht der Dinge entsprach: Jedem nach seinen Bedürfnissen. Das, dachte er, ließe sich vielleicht für sein aktuelles Forschungsprojekt nutzen. Er machte ein bisschen Petting mit Atti, weil das erstens beiden Spaß machte und zweitens sie beruhigte, und danach begab er sich auf die Suche nach Nanuk. Er fand die beiden bei Manfred, der ihre Berechnungen bestätigte, und lud sie für den nächsten Tag zu einer weiteren Mathestunde ein.
“Morgen werde ich euch dann unterrichten!“
Na und Nuk vollführten voller Vorfreude einen doppelten eleganten Purzelbaum und besuchten danach ihre Mutter. Oicy planschte genüsslich im See und befragte natürlich, wie alle Mütter, ihre Kinder, wie es in der Schule gewesen sei. Sie war äußerst zufrieden mit den Fortschritten ihrer Töchter!
Kulle

Am nächsten Tag erschien Kulle mit mindestens ebensoviel Tatendrang zum Unterricht wie die Zwillinge.
“Ihr wisst ja, dass ich kein Mathematiker bin, sondern Gesellschaftswissenschaftler“, erklärte er am Anfang der Lektion. “Für Forscher wie mich kann die Mathematik nur eine Hilfswissenschaft sein, und deshalb habe ich mich damit nie intensiv beschäftigt. Um präzise zu sein: Ich habe mich gar nicht damit beschäftigt. Tante Atti hat mir gestern erzählt, dass ihr eine große Begabung darin gezeigt habt, Variablen zueinander in Beziehung zu setzen. Ich habe deshalb eine ganz einfache Aufgabe für euch! Beantwortet die Frage: Wann verhungert die Menschheit? Die dafür wichtigen Variablen sind…“
“Nein, Onkel Kulle, bitte nicht, Onkel Kulle! Das darfst du nicht verraten! Das wollen wir alleine rauskriegen! Haben wir bis morgen Zeit? Wir glauben nämlich, dass das eine sehr umfangreiche Aufgabe ist!“
Selbstverständlich gab Kulle den beiden die geforderte Zeit – er selbst biss sich an dem Problem seit Monaten die Zähne aus, was er Na und Nuk, eitel wie er war, natürlich nicht verriet.
“Schwester, wir teilen uns die Arbeit!“ befahl Nuk, nachdem Kulle, der überlegen lächelte und sich den Anschein gab, die Lösung des Problems selbstverständlich zu kennen, sie verlassen hatte. “Kein Widerspruch – ich bin die Erstgeborene! Es geht um die Menschheit und ihre Nahrungsgrundlage, und es geht, das hat Onkel Kulle gesagt, um Variablen. Wir müssen also erst mal gucken: Was nimmt zu, was nimmt ab? Was für unser Problem wichtig ist, brauchen wir wohl nicht zu erörtern. Willst du die Zunahme oder die Abnahme?“
“Ich nehme die Abnahme. Und du musst nicht immer deine Erstgeburt betonen – das nervt!“
Beide galoppierten los und vergruben sich in der Bibliothek von Bärenleben.
“Du fängst an mit der Zunahme!“ schlug Na vor, als sie sich ein paar Stunden später wieder trafen. “Zuerst das Positive!“
“Schön wär‘s ja“, seufzte Nuk. “Ist aber nicht so. Die Weltbevölkerung nimmt zu. In dieser Minute (18.9. 2007. 13.05 Uhr MESZ) leben ungefähr 6.647.000.000 Menschen auf dem Erdball. Pro Jahr werden es 81 Millionen mehr. In jeder Minute kommen 155 dazu! Die Menschen gehen davon aus, dass es 2050 ungefähr neun Milliarden von ihnen geben wird. Und die müssen essen!“
“Das wird aber schwierig, denn die verfügbare Ackerfläche pro Kopf der Erdbevölkerung nimmt ab. Gegenüber 1970 hat sich die gesamte für den Anbau von Getreide geeignete Fläche unwesentlich vergrößert – aber damals gab es drei Milliarden Menschen weniger. 1970 standen für jeden Menschen 0,18 ha Ackerfläche zur Verfügung, heute sind es weniger als 0,11 ha.“
“Das Problem könnte durch verbesserte Anbaumethoden behoben werden. Intensivlandwirtschaft…“
“… erhöht den Einsatz von Pestiziden und Insektiziden und damit die ökologische Belastung, was wiederum die Ertragsfähigkeit der Böden verringert…“
“…erhöht die Ernteerträge. Ebenso können genetisch manipulierte Pflanzen…“
“… die von Monsanto und anderen international agierenden Konzernen zum Zweck von deren Profitsteigerung, aber nicht zum Zweck der Erhöhung der Nahrungsmittelsicherheit entwickelt worden sind, die Erträge vielleicht steigern, weil sie schädlingsresistent sind. Es sieht allerdings so aus, als schädigten sie die Biodiversität, weil Insekten und Würmchen und Co – Biologie hatten wir noch nicht – sich bei ihnen nicht wohl fühlen und sich nicht vermehren. Außerdem müssen Bauern das entsprechende Saatgut jedes Jahr neu kaufen, und dazu sind nur Großbauern in der Lage. Schon deshalb verhungern Menschen.“
“Ich will ja gar nicht gewinnen“, stöhnte Nuk. “Du hast ganz sicher die besseren Argumente. Mach ruhig weiter!“
“Bleiben wir bei der Landwirtschaft. Natürlich werden die Menschen versuchen, aus dem Ackerland so viel wie möglich herauszuholen. Und sie werden versuchen, die landwirtschaftliche Nutzfläche zu vergrößern. Mehr rausholen kann man zum Beispiel durch Bewässerung. Schon heute verbraucht die Landwirtschaft etwa 70% des weltweiten Süßwasserbedarfs. Man braucht tausend Tonnen Wasser, um eine Tonne Weizen zu produzieren. Wasser wird knapper werden, als es jetzt schon ist, das hängt zusammen mit  der Bevölkerungszunahme und dem Klimawandel, der fast überall die Temperaturen steigen lässt. Ich habe dabei übrigens eine neue Vokabel gelernt: Desertifikation. Kennst du die?“
“Nee. Heißt das ‚Vernachtischung‘?“
“Quatsch, Wüstenbildung! Zurück zum Nahrungsproblem: Für die Vergrößerung der landwirtschaftlichen Nutzfläche bietet sich aus der Sicht der Menschen vor allem der tropische Regenwald an: Zuerst kann man wertvolle Hölzer vermarkten und danach Landwirtschaft betreiben. Regenwälder wurden zunächst für die Rinderhaltung abgeholzt, und seit wenigen Jahren kommt die Gewinnung von Biosprit dazu.
Rinder furzen…“
“Mami auch, Mami auch!“
“Sei nicht so albern, es geht um Rinder. Ihre Fürze enthalten Methan – dazu komme ich später. Rinder fressen irgendwo in Afrika oder Südamerika vielleicht Gras, aber die meisten fressen von Menschen angebautes Getreide. Weltweit werden etwas mehr als zwei Milliarden Tonnen Getreide geerntet, das entspricht gut 300 Kilogramm pro Menschenkopf. Das klingt ganz gut, ist aber insgesamt nicht mehr als 1970. Die Erntemenge wächst langsamer als die Weltbevölkerung.
Von dieser Ernte wird weltweit fast die Hälfte des Korns an Vieh verfüttert. In den Industrieländern liegt der Anteil sogar bei mehr als zwei Dritteln. Um Fleisch zu produzieren, braucht man mehr Energie als für die Herstellung pflanzlicher Nahrung, es gilt ungefähr Faktor 10. Also kann man sagen, dass bei der Produktion von Fleisch 90% der geernteten Nahrungskalorien verloren gehen.“
“Ob Mami das weiß?“ unterbrach Nuk nachdenklich. “Vielleicht würde sie dann Vegetarierin…“
“Das kann Mami gar nicht, und das weiß du genau. Überhaupt, lass Mami in Frieden! Und lenk nicht dauernd vom Thema ab! Also: Die Fleischproduktion der Menschen steigt weiter, weil der Luxuskonsum zunimmt, und gleichzeitig wird die Grundversorgung schlechter. Schon jetzt sind 800 Millionen Menschen unzureichend ernährt, obwohl statistisch ausreichend Nahrung erzeugt wird. Je mehr Fleischproduktion, desto weniger Regenwald, desto mehr CO2, desto ungerechte Lebensmittelverteilung. Fleischproduktion auf industrieller Basis bedingt notwendig Massentierhaltung und die wiederum Seuchengefahr, worauf die Menschen bisher nur eine Antwort kennen, die sie Keulung nennen. Es handelt sich dabei um Massenmord, und die Opfer werden irgendwie “entsorgt“, jedenfalls nicht gegessen.“
“Mir ist schlecht!“ stöhnte Nuk.
“Mir auch!“ sagte Na. Nach einer Pause fuhr sie fort: “Mit zunehmender landwirtschaftlicher Nutzung der Erde steigt nicht nur der Ausstoß von Methan, sondern auch von Kohlendioxid. Beides sind hoch wirksame Treibhausgase. Ich habe gelesen, dass der Anteil der weltweiten Landwirtschaft am Klimawandel etwa 18% beträgt und damit dem der USA entspricht.“
Na holte tief Luft.
“Bist du jetzt fertig?“ erkundigte sich Nuk.
“Gleich. Es fehlt nur noch eine Variable, nämlich Energie. Den größten Teil ihres riesigen Energiebedarfes befriedigen die Menschen mit fossilen Rohstoffen, und da selbst sie begriffen haben, dass die irgendwann erschöpft sein werden, wobei irgendwann ziemlich bald ist, suchen sie nach Alternativen. Da gibt es Wind- und Sonnenenergie, was vernünftig ist, und daraus lässt sich Elektrizität gewinnen, mit der man zum Beispiel heizen kann. Aber damit kann man kein Auto in Bewegung setzen, jedenfalls heute noch nicht. Das Auto ist aber wichtig für die Menschen, was ich nicht verstehe, aber es ist so. Sie könnten doch auch laufen, oder? Die Besitzer von Ölfördergesellschaften sind übrigens oft auch die von Autoproduktionsfirmen, sie haben also identische Interessen, warum hätten sie nach alternativen Antriebsweisen suchen sollen?
Aber allmählich wird Öl knapp und deshalb teuer, immer mehr Menschen wollen sich automobil bewegen, die Menschen suchen jetzt nach anderen Antriebsstoffen. Sie haben den Biosprit entdeckt. Also bauen sie zum Beispiel in Dehland Raps an, um ihn zu Diesel zu verarbeiten. Das wird sogar subventioniert, ist aber völliger Blödsinn, denn selbst wenn die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Dehland zum Rapsanbau genutzt würde, ergäbe das2 nur 5% des Diesels, der von Autos verbraucht wird. Auf einem Hektar kann man so viel Raps anbauen, dass man daraus 288 Liter Diesel gewinnen kann, damit kann man mit einem Auto, das 8 Liter auf 100 Kilometer verbraucht, 3600 Kilometer fahren. Man kann auf derselben Fläche aber auch zum Beispiel Weizen oder Kartoffeln anbauen.“
“Oops!“ sagte Nuk. ““Ich glaube, wir haben ein Problem.“
“Falsch, wir haben bestimmt ein Problem. Die Variablen, mit denen wir es zu tun haben, sind nicht fix, sondern werden sich gemäß ihrer Interdependenz verändern. Wir können Onkel Kulles Aufgabe nicht lösen. Was meinst du – wird er uns böse sein?“
“Das glaube ich nicht. Niemand kann das berechnen. Die Antwort ist nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Wann die Menschen verhungern werden, ist ungewiss, dass sie verhungern werden, wenn sie weitermachen wie bisher, ist fraglos. Die Antwort wird Onkel Kulle gefallen. Ich habe ein ganz anderes Problem!“
“Welches?“
“Ich finde, wir reden so komisch, so – wissenschaftlich!“
“Das ist mir auch schon aufgefallen, aber das liegt an der Umgebung hier in Bärenleben.“
“Gehen wir jetzt spielen?“
“Klar!“

 

Lernkontrolle

Na und Nuk hatten sich nach ein paar Wochen in Bärenleben schon prima eingewöhnt, und es machte ihnen einen Riesenspaß, dass „Tante“ Atti und „Onkel“ Kulle – von dieser Namensgebung waren sie nicht abzubringen – ihnen viel über das Leben in ihrer neuen Umgebung beibrachten. Sie hatten auch nichts dagegen, ihre Lernerfolge überprüfen zu lassen; allerdings leuchtete ihnen überhaupt nicht ein, dass sie das getrennt machen sollten. Und so schrieben sie auch ihren ersten Aufsatz gemeinsam. Das vorgeschriebene Thema lautete: Der Mensch.

Eisbärenfamilie

Der Mensch

Der Mensch ist ein Säugetier wie wir auch, was er aber nicht wissen will, denn er hält sich für etwas Besseres. Deshalb, glaubt er, ist er auch später geschaffen worden als wir. Zu dem, der das angeblich geschafft hat, kommen wir später.

Weil der Mensch ein Säugetier ist, bringt er lebende Junge zur Welt, die vom Weibchen gesäugt werden. Sollte das nicht klappen, springt Milupa ein, ein Märchenwesen, das Kinder stark macht. Weil der Mensch viel Wert auf die Kraft seiner Lenden und wenig auf die Kraft seines Geistes legt, zeugt er viele Kinder. Das führt dazu, dass er wegen Überbevölkerung vom Aussterben bedroht ist, aber wir Bären auch, allerdings wegen Ausrottung.

Der Mensch bildet sich, wie oben schon gesagt, ziemlich viel auf sich ein. Deshalb hat er die Religion erfunden, die zum Beispiel in der Sixtinischen Kapelle zeigt, dass ein Mensch direkt mit dem Finger berührt wird. Auch der Papst ist angeblich direkt berührt, jedenfalls glaubt er, dass er auch ein Finger ist. Wenn der Mensch stirbt, verspricht ihm der Papst, dass er anschließend beim Finger wohnen und Halleluja singen wird. Von Onkel Kulle haben wir gelernt, dass Religion Unsinn ist, nämlich Crack für das Volk, weil Crack nämlich aggressiv macht, anders als Opium, das beruhigt.

Der Mensch betrachtet sich als höchstes Lebewesen, was ihn aber nicht daran hindert, andere höchste Lebewesen umzubringen, und er wird dabei immer besser. Er behauptet von sich, er sei das Maß aller Dinge, aber allmählich stellt er fest, dass er versäumt hat, den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre zu messen. Eigentlich interessiert sich der Mensch nur für sich selbst; deshalb bezeichnet er alles andere als Umwelt“. Er mag Hunde und manchmal Katzen, aber Eisbären nur, wenn sie vom Klimakollaps bedroht sind und er keinen direkten Kontakt mit ihnen hat.
Der Mensch, wie er hier beschrieben ist, ist ein Mann. Es gibt viele Männer, die behaupten, dass eine Frau kein Mensch ist.

Bekannte Menschen waren und sind Karl Marx und Michelangelo und Benedikt XVI. und…mehr kennen wir noch nicht. Der Finger ist kein Mensch, sondern etwas noch Besseres.

Kulle war geknickt, als er den Aufsatz las und sich dabei an seine eigene Arbeit über den Menschen erinnerte. Atti dagegen musste so lachen, dass sie hilflos durch die Höhle kugelte.

„Du schaffst das schon!“ kicherte sie. „Fraglos gelingt es dir, die richtige Auswahl von Menschen zu treffen – weiter so! Die Beiden kriegen doch eine Eins, oder?“

Kulle widersprach nicht.

Eisbärenleben

Athabaska

Athabasca lag gemütlich inmitten einer blumenübersäten Frühsommerwiese in Bärenleben und ließ sich die Sonne auf den braunen Pelz brennen. Die überwältigenden Düfte um sie herum brachten sie zum Niesen.
„Hatschepüh!“ machte sie lautstark. Und noch einmal: „Hatschepüahhh!“
“Du hörst mir gar nicht zu!“ beklagte sich Kulle, der neben ihr hockte. ‚Stimmt‘, dachte Atti, aber laut sagte sie: „Welch ein Unsinn! Ich lausche jedem deiner Worte mit Hingabe!“
Kulle, blind und taub wie jeder, der verliebt ist, glaubte ihr natürlich jedes Wort und fuhr in seiner Suada fort.

Kulle
„Der Treibhauseffekt verstärkt sich, je weiter die Kohlendioxidkonzentration ansteigt. Es wird also immer wärmer.“
„Na und?“ fragte Athabasca und rollte sich genüsslich im Gras hin und her. Sie liebte es warm.
„Na und, na und! In Dehland werden vielleicht Palmen wachsen, die Sahara wird sich bis nach Spanien ausbreiten, und Grönland wird wieder  grün!“
Atti verstand Kulles Aufregung nicht. Sie hatte nichts gegen ein subtropisches oder zumindest warmgemäßigtes Dehland; sie liebte die Wüste, seit sie ein paar Monate im kargen Südwesten der USA zugebracht hatte, und dass Grönland wieder grün werden könnte, erschreckte sie überhaupt nicht: Der Name der Insel legte schließlich nahe, dass ihr Normalzustand eisfrei war.
„Na und?“ fragte sie zum zweiten Mal.
„Nuk!“
Atti sah Kulle an, Kulle sah Atti an. „Was war das?“ fragten beide gleichzeitig. Der merkwürdige Laut, den sie gehört hatten, war irgendwo aus dem hohen Gras gekommen, das sie umgab.
Atti gab sich schnell zufrieden. „Es klang wie eine schlecht geölte Tür, aber hier gibt es ja keine Türen, und schlecht geölte schon gar nicht. Wahrscheinlich eine Grille, die sich im Ton vergriffen hat. Also – was ist schlimm daran, wenn in Grönland Gras wächst?“
Kulle spähte weiter aufmerksam um sich. „Die Albedo der Erde verändert sich drastisch“. brummte er unkonzentriert. Er sah Athabasca noch immer nicht an. „Irgendwas ist da!“ knurrte er.
„Albedo? Habe ich noch nie gehört. Ist das wichtig?“ Kulle reagierte nicht. Ungeduldig fragte Atti: Na, und was….“
Nuk!“
Atti verstummte sofort. Kulle kratzte sich am Kopf. „Es gibt da ein Muster, da bin ich sicher. Das Geräusch, oder was immer es sein soll, wird durch ein Schlüsselwort aktiviert. Aber welches? Was hast du zuletzt gefragt?“ wollte er von Atti wissen.
„Ich habe die Sache mit der Albedo nicht verstanden, Na, und…“
„Nuk!“ machte es zum dritten Mal.
„Na und Nuk, das ist es. Na und Nuk. Naundnuk. Aber was bedeutet das?“
„Das heißt nicht Naundnuk, sondern Nanuk. Nanuk heißt Eisbär. Das ist Inuit. Und gemeint sind wir.“
Der Sprecher, der das sagte, hatte eine helle Stimme und sprach Deutsch mit einem fremden Akzent. Atti und Kulle brauchten nicht lange zu warten, bis er sich ihnen zeigte. Zwei kleine Eisbären tapsten aus dem hohen Gras auf sie zu.
„Knut!“ rief Atti entzückt. „Und gleich zweimal!“
Manchmal fragte Kulle sich, ob Frauen wirklich so blöd sein mussten, wie sie sich meistens gaben, aber er fragte sich das immer und auch jetzt nur ganz im Geheimen. „Nein, das ist nicht Knut!“ erklärte er. „Knut ist inzwischen so groß, dass sich noch nicht mal sein Wärter mehr allein in seinen Käfig traut. Diese beiden heißen Nanuk. Stimmt‘s?“ fragte er.
„Nicht ganz. Ich bin Na, und meine Schwester heißt Nuk. Nanuk heißen wir nur zusammen.“
„Danke für die Vorstellung, Das ist Athabasca, und ich bin Kulle. Wir wohnen hier in Bärenleben. Und woher kommt ihr?“
„Aus Kanada.“
„Ich auch!“ rief Atti begeistert. „Kennt ihr Sunwupta Falls? Kennt ihr einen großen Grizzly namens Otto?“
Die beiden Kleinen schüttelten die Köpfe.
Kulle hätte liebend gerne in Erfahrung gebracht, wer dieser vermaledeite Otto war, aber er hielt nichts von Multitasking, wie man neuerdings sagte, wenn man mehrere Dinge auf einmal machte, und keines davon richtig. Er bevorzugte es, eine Sache nach der anderen zu erledigen. Da kamen ihm die beiden Kleinen gerade recht, denn er musste Atti noch erklären, was Albedo bedeutete.
„Ihr habt ein wundervoll weißes Fell“, sagte er. „Darf Atti das mal anfassen?“
Die Eisbären hatten nichts dagegen, und Athabasca strich mit ihrer rechten Vorderpfote sanft über Haut, die nicht spürbar war, weil sie von daunenweichem weißem Haar bedeckt war.
„Fühlt sich gut an!“ brummte sie.
„Und jetzt leg deine linke Vorderpfote auf dein eigenes Fell!“ kommandierte Kulle. Atti hatte keine Ahnung, warum er das wollte, aber sie tat ihm den Gefallen.
„Oops!“, sagte sie. „Rechts ist es viel kühler als links.“ Sie tastete nach ihrer Stirn. „Habe ich vielleicht Fieber?“
„Du hast kein Fieber, aber dein Fell ist braun, und das Fell der Eisbären ist weiß. ‚Albedo‘ bedeutet Rückstrahlkraft. Die Sonnenstrahlen werden von dem weißen Fell unserer Überraschungsgäste fast vollständig reflektiert, das heißt, es bleibt kaum Wärme an ihnen hängen. Mir deinem braunen Fell ist das anders, es wird aufgeheizt. Und wenn Grönland grün wird und nicht mehr weiß ist, dann wird auch Grönland aufgeheizt, und das hat Auswirkungen auf die gesamte Erde, und….“
„Kulle?“
Ja?!“ Kulle hatte über seiner Erklärung, während deren er sich auf Attis heißes Fell konzentriert hatte, die beiden kleinen Eisbären fast vergessen.
„Dasselbe erzählt Mami uns auch immer!“
„“Mami?“
„Wer ist Mami?“ fragte Athabasca, während Kulle sprachlos blieb. Für Mütter hatte er nichts übrig.
„Mami ist auch hier. Mami hat uns hergebracht. Mamiiii!!!!“ Atti und Kulle hätten nie gedacht, dass Bären, auch wenn es Eisbären waren, so laut kreischen könnten.
Eisbärenfamilie

Eine Eisbärin tauchte aus den Büschen neben ihnen auf, eine Bärin, die so groß war, wie Atti und Kulle noch nie eine gesehen hatten. Sie war tropfnass.
„Hi there!“ grüßte sie. „Englisch versteht ihr doch, oder? Meine Kinder habe ich multilingual erzogen in Anbetracht des Klimawandels, aber, Entschuldigung, ich selbst kann als Fremdsprache nur Englisch. Ich habe gerade gebadet, um mich abzukühlen – es ist viel zu heiß bei euch. Aber euer See ist nett, und etwas zu essen hat er auch. Habt ihr Hunger?“ Sie spuckte eine große Forelle aus, die sie vorsichtig in ihren Fängen gehalten hatte.
„Ja! Na klar! Immer!“ riefen Na und Nuk durcheinander.
„Danke, nein!“ Atti und Kulle lehnten höflich ab, obwohl ihnen das Wasser im Maul zusammenlief.
Die Eisbärenmutter schleuderte den Fisch ihren Kindern vor die Füße, und die machten sich sofort an ihre Mahlzeit.
„Jetzt haben wir ein bisschen Ruhe vor den Beiden“, brummte sie zufrieden. „Ich heiße Oicy, und wir kommen aus Kanada. Ich bin froh, euch beide gefunden zu haben, denn wir sind schon lange unterwegs, aber in Europa scheint es kaum Bären zu geben. Oder versteckt ihr euch nur so gut?“
„Beides ist richtig“, antwortete Atti. „Es gibt kaum noch Bären, weil es zu viele Menschen gibt, und deshalb verstecken wir uns vor ihnen.“
„Also ist es hier auch gefährlich“, seufzte Oicy. Dann werde ich wohl weiterziehen und mein Glück in der Antarktis versuchen. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich durch die Tropen kommen soll, aber irgendwie…“
„Nein, gefährlich ist es nicht, jedenfalls nicht für uns“, unterbrach Kulle sie. Schaudernd dachte er daran, was für ein Massaker die drei Eisbärinnen unter der Pinguinpopulation rund um den Südpol anstellen würden. „Sag mal: Was hast du eigentlich vor?“
„Ich habe eben gerade den Klimawandel erwähnt. Wisst ihr, was das ist?“
Kulle wollte sich ob dieser Frage empören, aber Atti legte ihm beruhigend die Pfote auf den Arm. „Ich denke schon“, flötete sie und gönnte Kulle einen betörenden Augenaufschlag. „Die Kohlendioxidkonzentration steigt an, und es wird überall immer wärmer. Grönland wird wieder grün werden!“
„Ja, und auch Nordkanada, und der Nordpol wird eisfrei. Er ist im Sommer schon eisfrei!“ grollte Oicy. „Das heißt, dass wir Eisbären dort oben keine Lebensgrundlage mehr haben. Deshalb will ich die Kinder evakuieren. Sie sind noch jung genug, um sich an ein fremdes Habitat und eine andere Ernährung zu gewöhnen. Jedenfalls hoffe ich das. Darf ich meine Theorie gleich mal testen?“
Kulle war immer für die Entwicklung von Theorien und deren Erprobung. „Selbstverständlich!“ sagte er.
Oicy rief ihre Zwillinge, und da die beiden inzwischen aus der Forelle ein Grätenskelett gemacht hatten, kamen sie bereitwillig herbei. „Was isst man denn bei euch so?“ erkundigte sich ihre Mutter.
„Fisch mögen wir genau so gerne wie ihr auch, aber wir fressen auch Wurzeln und andere Pflanzenteile und Beeren und – na ja, und…“ erklärte Atti und verstumme unsicher, weil sie nicht wagte, die weniger appetitlichen Essgewohnheiten der dehländischen Bären zu verraten.
„Aas?“ fragte Oicy nach. „Das mögen wir auch, keine Sorge. Probleme haben wir dagegen mit pflanzlicher Nahrung. Könnt ihr mir mal so eine – wie heißt das – so eine Beere geben, bitte?“
Mit einem Sprung war Atti in einem nahe gelegenen Gebüsch verschwunden und schnell wieder zurück. Als sie ihre Pranke öffnete, lag darin unverletzt ein Häuflein reifer Himbeeren.
„Bitte!“ sagte sie höflich und bot Oicy davon an.
Zögernd langte die riesige Eisbärin zu, fasste mit überraschender Zartheit nach einer Beere und warf sie sich ins Maul. Sofort verwandelte sich ihr Gesicht in eine Grimasse des Ekels. „Pfui Inuit!“ brüllte sie. „So etwas esst ihr? Das werden meine Kinder bestimmt nicht mögen!“
Athabasca war der Meinung, dass Oicy nichts, aber auch gar nichts von Kindererziehung verstand: Wie konnte man seinen Abscheu gegen etwas zum Ausdruck bringen, wenn man erreichen wollte, dass Kinder diesen Abscheu eben nicht entwickelten! Aber sie behielt ihre Meinung höflich für sich. Anstatt etwas zu sagen, nahm sie selbst einige der Himbeeren, gab Kulle ebenfalls ein paar, und als sie sie mit der Zunge zerdrückte, zeigte ihr Gesicht den Ausdruck höchstmöglichen Entzückens. „Himbeeren!“ sagte sie schwärmerisch, „Himbeeren!“ Ich wollte, sie reiften das ganze Jahr lang! Wollt ihr auch mal probieren?“ fragte sie Na und Nuk. „Ich wette, ihr habt noch nie etwas so Köstliches gegessen! Ihr dürft übrigens Tante Atti zu mir sagen!“ Sie trat Kulle heftig gegen ein Bein, und er verstand, was sie von ihm wollte.
„Und ich bin Onkel Kulle“, ergänzte er. „Himbeeren sind wirklich etwas Wunderbares, esst nur!“
Na und Nuk sahen sich unsicher an, aber schnell ergriff Na die Initiative. „Ich bin die Erstgeborene“, erklärte sie selbstbewusst. „Ich probiere jetzt mal!“
„Pah, das sind nur anderthalb Minuten, die du mir voraus hast!“ protestierte Nuk. „Ich esse auch!“
Athabascas Pfote war auf einmal leer. Ängstlich beobachtete sie zusammen mit Kulle die Mienen der beiden Kleinen, aber sie konnte keine Veränderung des Gesichtsausdrucks erkennen, während die beiden kauten und schluckten.
„Hast du davon noch mehr, Tante Atti?“ fragten sie im Chor, als sie fertig waren. Athabasca wusste nicht, ob sie zuerst gelächelt oder zuerst zu einem weiteren Sprung in die Büsche angesetzt hatte. Die beiden Kleinen verputzen die zweite Beerenlieferung im Nu und sagen danach wie aus einer Kehle: „Mehr!“
„‘Mehr, bitte!‘ heißt das“, sagte Atti und schmunzelte. „Mehr ist da drüben in den Büschen. Bedient euch, aber seid vorsichtig: Beerensträucher haben Dornen!“
Sofort waren Na und Nuk verschwunden.
„Das scheint ja zu klappen!“ seufzte Oicy. „Ich muss gestehen, dass ich das gehofft habe. Ihr Vater war nämlich ein Grizzly, kein Eisbär, müsst ihr wissen.“ Tapfer fuhr sie fort: „Ich werde mich davonschleichen, solange sie beschäftigt sind. Ihr werdet ihnen bestimmt erklären können, warum ich nicht hiergeblieben bin. Und…“ Die Stimme versagte ihr. „Bitte, bitte, macht sie glücklich!“
„Na klar machen wir sie glücklich!“ brummte Kulle. „In Bärenleben ist jeder glücklich, sogar ich, nach Maßgabe der immer noch ausstehenden Revolution, natürlich. Gehst du weg“, fragte er plötzlich interessiert, „weil demnächst in Kanada eine Revolution zu erwarten ist?“
„Natürlich nicht. Es sei denn, du bezeichnest es als Revolution, dass alle Eisbären demnächst verhungern werden…“
„Psst“ machte Atti. „Lass das die Kinder nicht hören! Warum willst du überhaupt wieder weg, wenn du deine Kinder hierlassen willst?“
„Das ist doch klar, das liegt doch auf der Hand!“ sagte Kulle selbstbewusst und warf sich in die Brust. „Sie verträgt unsere Nahrung nicht. Sie würde hier sterben!“
„Ach ja?“ fragte Atti. „Ach ja?“ wiederholte sie zornig. „So, sie verträgt unsere Nahrung nicht? Sie würde hier sterben? Und in Kanada verträgt sie das gewechselte Klima nicht, das mit dem Kohlenirgendwas, und da würde sie auch sterben! Warum soll sie also nicht bei uns bleiben, zusammen mit ihren Kindern, und zu leben versuchen? Es wird uns schon was einfallen!“
Kulle gab ungern zu, dass er Unrecht hatte, noch nicht einmal vor sich selbst und schon gar nicht vor anderen. Aber allmählich dämmerte ihm, dass Athabasca Recht hatte. „Es gab da früher ein Verfahren“, sagte er langsam, „mit dem man im Winter Eis erntete. Man lagerte es an einem kühlen Ort, so dass der Vorrat für das ganze Jahr reichte. Wir könnten das System so auszubauen versuchen, dass es für Oicy und Nanuk als Wohnhöhle eingerichtet werden kann. Und wenn die Winter auch in den höheren Lagen von Dehland so warm werden, dass sich nicht mehr genug Eis bildet, dann fällt Manfred bestimmt eine technische Lösung ein. Die Verpflegung sollte kein Problem sein. Nanuk finden Gefallen an pflanzlicher Nahrung, wie es aussieht, und für Carnivoren findet sich in den dehländischen Wäldern und Gewässern immer genug Fleisch. Atti, du hast Recht! Sag mal“, wandte er sich an Oicy, „möchtest du denn bleiben?“
Zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben sah Kulle eine Eisbärin weinen.

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein

„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
„Du musst!“
„Kein Mensch muss müssen – und ein Frosch schon gar nicht!“
„Aber vielleicht eine Fröschin?“
„Wieso das?“
„Guck Dich doch um – Deine Art stirbt aus!“
„Weiß ich längst.“
„Und?“
„Was ‚und’?“
„Und was fühlst Du?“
„Was geht Dich das an?“
„Nichts. Aber…“
„Aber was?“
„Aber Du könntest das ändern.“
„Ach ja?“
„Ja. Du kannst alles.“
„Ich mische mich nicht mehr ein.“
„Sicher?“
„Ja.“
„Schade.“
— „Warum?“
„Du wirst dich einsam fühlen.“
„Ich fühle mich nur einsam, wenn Murkel nicht da ist.“
— „Ich wünsche mir, dass Du mir hilfst.“
„Viele Märchen fangen an mit der Floskel: ‚Zu der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat…’ Die Zeiten sind vorbei.“
„Warum willst Du mir nicht helfen?“
„Warum sollte ich?“
„Weil Du mich gemacht hast. Und die Märchen. Und weil, auch wenn Du behauptest, dass es Dich nicht interessiert, ein Drittel von den 6158 bekannten Amphibienarten vom Aussterben bedroht ist. Die erkrankten Frösche und Kröten leiden an einem Hautpilz und ersticken qualvoll, denn sie atmen durch die Haut. Du könntest das ändern.“
„Ich habe die Frösche und Kröten nicht gemacht und Dich nicht und Märchen schon gar nicht. Ich habe ein Universum geschaffen, richtig. Der Rest war und ist Chemie und Physik und Biologie.“
„Und Chemie und Physik und Biologie haben Leben und haben Bewusstsein hervorgebracht.“
„Stimmt. Damit habe ich übrigens nicht gerechnet.“
„ Und Intelligenz.“
„Falsch.“
„Darüber wollen wir jetzt nicht streiten. Intelligenz setzt jedenfalls Bewusstheit voraus, und die streitest Du ja nicht ab.  Ist denn seiner selbst bewusstes Leben nicht erhaltenswert?“
„Nö.“
„Nicht?“
„Nein – warum sollte es das sein?“
„Weil….“
„Weil?“
„Weil wir fühlen, die Frösche und die Bären und Murkel und Du auch. Weil es wehtut, wenn wir aufhören zu existieren.“
„Das ist kein Argument. Alles individuelle Leben ist dem Tod geweiht, der wiederum Lebensformen hervorbringt oder ernährt, welche auch immer. Jedes Lebewesen fühlt den Todesschmerz.“
„Tussi?“
„Ja?“
„Ich möchte Bärenleben retten.“
„Ach ja? Und Dich nicht?“
„Doch, zugegeben, mich auch. Aber ich bin doch verantwortlich…“
„Und weil Du verantwortlich zu sein glaubst für etwas, dessen Parameter du nicht beeinflussen kannst, unterstellst du mir, die Verantwortung zu tragen für das, was ich gemacht habe? Ein Seminar in formaler Logik hast Du nie besucht, oder?“
„Nein…Aber…“
„Schon gut. Was willst du?“
„Dass Du die Welt rettest.“
„Ich wiederhole mich ungern. Ich sagte bereits, dass ich mich nicht mehr einmische.“
„Dann möchte ich, dass irgendjemand sonst die Welt rettet.“
„Dann viel Spaß.“
„Bitte?“
„Ist doch ganz einfach: Ich will die Welt nicht retten, im Gegensatz zu Dir – also ist es Dein Job, das edle Werk zu tun.“
„Ich?“
„Wer sonst?“
„Ich soll – Gott spielen?“
„Nein – du sollst Gott sein.“
„Mit allen Konsequenzen?“
„Welche Konsequenzen bringt es mit sich, Gott zu sein?“
„Na ja, die Welt geht vielleicht unter, und man muss über seine Geschöpfe zu Gericht sitzen – so was alles.“
„Die Welt kann vielleicht untergehen, aber der Rest ist Bullshit.“
„Das ist immer noch ein ziemlich hohes Risiko. Bärenleben…“
„Ihr Bären seid entsetzlich sentimentale Wesen. Bärenleben geht vielleicht unter, wenn ich nichts mache oder wenn Du versuchst, es zu retten. Oder auch nicht. Ich weiß das nicht – ich kann nämlich nicht in die Zukunft gucken. Aber sag das bloß keinem weiter. Also – willst du nun oder nicht?“
„Ich weiß nicht.“
„Schisser!“
„Und wenn ich alles falsch mache?“
„Doppelschisser!“
„Ich habe fast den Eindruck, Du möchtest, dass ich es mal versuche.“
„Es wäre mal was anderes.“
„Und wenn ich es nicht kann?“
„Du kennst ja meine Telefonnummer.“
Vor der abendlichen Versammlung in Bärenleben ließ Bärdel sich nichts anmerken. Aber er schmiedete heimlich Pläne und stellte eine umfangreiche Tagesordnung zusammen, die ein wenig anspruchsvoller war als das, was sich die Bärenlebener normalerweise zu entscheiden vornahmen.
Wie gewohnt übernahm Bärdel den Vorsitz und nannte den ersten Punkt, über den zu reden sein würde. Bärenleben war längst darüber hinaus, regelmäßig eigene Probleme reflektieren zu müssen, denn es gab kaum mehr welche. Folgerichtig widmeten sich die Bären den brennenden Menschenproblemen, aber bisher hatten sie weise darauf verzichtet, Lösungsvorschläge zu formulieren – zu vertrackt erschien ihnen die Gemengelage. Deshalb war Unruhe spürbar, als Bärdel sagte: „Wir werden uns heute mit Aids beschäftigen, und ich denke, wir werden die damit zusammenhängenden Fragen beantworten.“
Die Bären rutschten auf ihren dicken Hintern hin und her.
„Wie ihr natürlich alle wisst,  ist HIV beziehungsweise Aids im südlichen Afrika besonders stark verbreitet. Etwa 26 Millionen Menschen sind dort infiziert, das sind mehr als 60 Prozent aller Erkrankungen weltweit. Besonders dramatisch ist die Todesrate unter den 15- bis 45-Jährigen gestiegen, was gravierende wirtschaftliche und demografische Folgen hat. Die Ursachen dafür…“
„Die Ursachen dafür,“ unterbrach Tumu hitzköpfig ihren Mann, „liegen hauptsächlich im Sexualverhalten der Männer begründet. Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung, Polygamie ist weit verbreitet, ebenso wie Prostitution.“
„Ich dachte immer, Prostitution sei überwiegend ein Angebot von Seiten der Frauen,“ brummte Kulle vor sich hin. Tumu wischte seinen Einwand mit einer ärgerlichen Armbewegung beiseite.
„Prostitution ist ein Angebot, das aufgrund von Nachfrage entsteht, du Ignorant!“ fauchte sie. „Aufgrund von männlicher Nachfrage! Insgesamt kann man in den Subsaharastaaten von verbreitetem promiskem Sexualverhalten sprechen, und das bedeutet, vor allem in einer armen Gesellschaft, überproportional häufig Geschlechtskrankheiten, was wiederum Infektionen mit HIV begünstigt, weil geschlechtskranke Menschen häufig offene Wunden im Genitalbereich haben. Noch irgendwelche Fragen?“
„Ja!“ Del meldete sich schüchtern. „Was heißt ‚promisk’?“
„Promisk bedeutet, dass jemand häufig seine Sexualpartner wechselt.“ Kulle war schneller als jeder andere Bär, wenn es darum ging,  etwas zu erklären.
Del bedankte sich, was Bärdel Gelegenheit gab, sich wieder einzuschalten.
„Trotz der emotionalen Kontroverse, die es gerade gegeben hat, sind die Ursachen der hohen Aids-Rate im südlichen Afrika insgesamt richtig dargestellt worden. Es bleibt die Frage, was zu tun ist. Eine Bekämpfung der Krankheit ist schwierig, weil die Menschen arm sind, denn Kondome und Tests sind teuer. Außerdem wird Aids gesellschaftlich nicht akzeptiert, und wo Kranke wegen ihrer HIV-Infektion ausgegrenzt werden, haben die Menschen kein Interesse an der Kenntnis ihres HIV-Status. Weil sie nicht wissen, dass sie ansteckend sind, stecken sie andere weiter an. Eine einzige Strategie scheint bisher Erfolg zu versprechen: Aufklärung. In Ost- und Zentralafrika sind Präventionskampagnen durchgeführt worden, und man hat die Krankheit tatsächlich zum Rückzug gezwungen.“
Bärdel holte tief Luft. Er hoffte, dass er nichts vergessen hatte. Er war gespannt auf die Antwort auf die entscheidende Frage. Er sagte: „Bären, wir können etwas tun. Also – was sollen wir tun?“
Die Antworten hagelten auf ihn nieder.
„Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika!“
„Monogamie verordnen!“
„Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten!“
„Frauenbeauftragte in jedem Dorf einsetzen!“
„Männer abschaffen!“
„Kondome verteilen!“
„Überall kostenlose Tests anbieten!“
„Schulungen anbieten, natürlich kostenlos, die die Empathie fördern, zum Beispiel: ‚Dein Freund könnte HIV-positiv sein…’“
„Den Menschen Geld geben!“
„Quatsch, den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“
„Die Chance nutzen und das südliche Afrika evakuieren, um endlich den Tieren mehr Lebensraum zu lassen!“
Bärdel hörte zu.
Bärdel nickte zu jedem Vorschlag.
Und bei jedem Vorschlag wurde ihm deutlicher klar: Wenn du ein Gott zu sein versuchst, dann bist du allein. ALLEIN!
Er ließ alle ausreden, und alle wollten etwas sagen. Er nickte weiter zu allem. Erst als niemand mehr sich zu Wort meldete, sagte er:“ Ich danke euch, Bärenlebener. Ihr habt mir geholfen wie immer, wenn auch anders als immer. Den Rest der Tagesordnung behandeln wir besser später.“
Bärdel war es gleichgültig, dass die Bärenlebener jetzt verwirrt sein mussten. Er hatte seine erste Lektion als Götterlehrling gelernt.

Nach einer schlaflosen Nacht war ihm klar, dass viele der Vorschläge, der er gestern gehört hatte, ihm plausibel erschienen, dass er aber keinerlei Vorstellung davon hatte, welche Auswirkungen sie hätten, wenn sie verwirklicht würden. Und schon gar nicht wusste er, welche Konsequenzen die Kombination von zwei oder mehr Maßnahmen nach sich zögen. Er kratzte sich ausgiebig den Kopf, seufzte und ging dann auf die Suche nach Papier und Stift, um sich ein paar Notizen zu machen. Noch lieber wäre er auf die Suche nach Kulle gegangen, aber das hätte über kurz oder lang bedeutet, dass Kulle über Bärdels neue Rolle Bescheid wüsste. Welche Konsequenzen das hätte, darüber mochte Bärdel lieber nicht nachdenken.
„Na, Stinker, wie schmeckt der neue Job? Am Anfang ist er ziemlich anstrengend, soweit ich mich erinnern kann. Ich dachte, ich schaue mal nach Dir. Das mit der Vernetzung aller möglichen Phänomene hast Du inzwischen kapiert, wie ich merke. Mit Papier und Stift wirst Du nicht weit kommen. Hier, das Spielzeug wird Dir helfen. Es zeigt Dir keinen kompletten Überblick, aber ein paar Strukturelemente werden doch deutlich. Ich habe die Aids-Geschichte eingegeben, damit Du siehst, wie es funktioniert. Du wirst schon damit zurechtkommen – die Bedienung funktioniert intuitiv.“ Tussi drückte ihm einen kleinen flachen Gegenstand in die Pfote und verschwand ebenso blitzartig und lautlos, wie sie erschienen war.
Bärdel sah sich das unerwartete Geschenk näher an. Er hatte eine Art Computer bekommen, der aber über keine Tastatur verfügte, sondern nur über ein Display. Auf dem Bildschirm stand: AIDS – Subsaharastaaten. Darunter pulsierte ein Icon: Optionen. Er legte seinen dicken Daumen darauf und las: Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika! Das war der erste Vorschlag, der gestern Abend gemacht worden war, daran erinnerte er sich gut. Noch einmal berührte er den Bildschirm, und der wurde lebendig. Ein Film wurde abgespielt, der überwiegend menschliche Aktivitäten zeigte. Männer zeigten Männern Kondome, Frauen zeigten Frauen Kondome. Männer und Frauen hatten Geschlechtsverkehr und benutzen dabei Kondome. Diese Sequenz lief über längere Zeit. Danach waren Friedhöfe zu sehen, auf denen sich immer weniger Menschen aufhielten: Die Zahl der Bestattungen nahm ab.
Die Projektionsfläche wurde dunkel, und als sie wieder hell wurde, hatte sich der Bildschirm geteilt. Auf beiden Hälften waren kopulierende Menschen zu sehen, die keine Kondome benutzten. Rechts tauchten nach einer Weile wieder Friedhöfe auf mit mehr und mehr Menschen. Links dagegen sah man Familien, kinderreiche Familien. Die Kinder hatten Hungerbäuche, der Gesichtsausdruck der Erwachsenen zeigte Hoffnungslosigkeit. Die bewegten Bilder wurden durch statistisches Material ergänzt. So beobachtete Bärdel, wie die Bevölkerungszahl in Südafrika sich in beiden Fällen stabilisierte, im ersten Fall danach wieder schrumpfte, während sie im zweiten stieg. Er sah Arbeitslosenzahlen, Zahlen über Hilfsprogramme, Zahlen, Zahlen, Zahlen.
Aufklärung allein fruchtet nichts, erkannte Bärdel. Wenn eine Bedrohung nicht mehr akut ist, denken die Menschen, es gäbe sie nicht mehr. Und wenn die Bedrohung tatsächlich verschwunden ist, weil zum Beispiel ein Impfstoff gegen eine schwere Krankheit entwickelt werden konnte, dann verelenden die Menschen, zumindest die im südlichen Afrika, weil sie sich wieder ungebremst vermehren können. Aber vielleicht hilft es, wenn ich Aufklärung mit einem zweiten Vorschlag kombiniere? Er erinnerte sich an den gestrigen Abend. „ Den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“ Das war’s. Das erste Szenario konnte er damit zwar nicht verhindern, aber das zweite würde sich gewiss zum Positiven verändern.
„Er suchte wieder unter ‚Optionen’, konnte den Vorschlag aber nicht finden. Intuitiv fragte er den Apparat in seiner Pfote: „Verstehst Du mich?“ Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm: „Ja.“ „ Gut, dann untersuche bitte die Auswirkungen der folgenden Maßnahme!“ Und Bärdel wiederholte den Vorschlag.
Er hatte erwartet, dass jetzt eine gewisse Zeit vergehen würde, aber er bekam sofort eine Antwort. „Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%.“
Bärdel war enttäuscht. Die Möglichkeiten, die er einem Gott oder einer Göttin unterstellt hatte, schrumpften immer mehr in sich zusammen. Nicht nur konnten Götter nicht in die Zukunft sehen, sie waren auch keineswegs allmächtig und hatten sich an bestehenden Realitäten zu orientieren. „Gibt es denn weitere realistische Optionen?“ wollte er wissen. „Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten,“ las er. „Na gut, dann machen wir das!“ sagte Bärdel forsch.
Der Bildschirm teilte sich zuerst in zwei, dann in vier, dann in neun, in sechzehn, fünfundzwanzig Teile und immer weiter, bis auch das Raubtierauge eines Bären nichts mehr darauf erkennen konnte. Aber solange die Bilder und Zahlen noch groß genug waren, hatte Bärdel genug gesehen. Die Konsequenz dieser Idee waren Diktaturen, häufig klerikaler Natur, die vor allem eines betrieben: Diskriminierung und Unterdrückung der Frauen.
„Hör auf!“ sagte er, und der Bildschirm wurde sofort schwarz. „Eigentlich wollte ich sowieso was anderes. Sagt dir Klimawandel etwas? Klimakatastrophe? Treibhauseffekt?“ „Ja.“ „Gibt es zu dessen Beeinflussung, also Minderung, Optionen, die du akzeptierst?“ „Ja.“ Bärdel war gereizt, aber ein Tussi-Computer war eben kein Bär, sondern ein logisch denkender Apparat, der wirklich nur auf die Frage antwortete, die ihm gestellt worden war. „Welche?“
„Atomkrieg; Ausbruch von H5N1 oder ähnlichem; Zusammenbruch der Weltwirtschaft…“
„Danke,“ brummte Bärdel in sich hinein, „Katastrophenszenarien kann ich mir alleine ausdenken.“ Laut sagte er: „Ich meinte Optionen, die auf dem vernünftigen Handeln der Menschen aufbauen.“
„Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%,“ sagte der Computer.
Bärdel holte aus und war gerade dabei, den Apparat möglichst weit in die Büsche zu schleudern, als er Tussis befehlsgewohnte Stimme hörte. „Stop!“ rief sie. „So billig sind die Dinger nun auch wieder nicht! Und inzwischen solltest Du begriffen haben, dass auch wir Götter uns dem Realitätsprinzip unterwerfen müssen. Also keine Verschwendung von Ressourcen, bitte!“
Bärdel spürte, wie der Computer aus seiner Pranke verschwand.
“Du kannst das Ding gerne wiederhaben, wenn Du möchtest. Aber vielleicht willst Du erst mal mit mir reden.“
Bärdel setzte sich. Aller Elan war aus ihm gewichen. „Nein, danke. Ja natürlich, gerne. Ich…“
Er wusste nicht mehr weiter.
Tussi patschte ihm mit der Pfote tröstend auf die Schulter. „Schon gut. Mir ist auch übel geworden, als ich der Brut eine Weile lang zugeguckt habe und allmählich begriff, was mit ihr los ist. Das einzige Mittel, diese Spezies halbwegs im Zaum zu halten, besteht darin, sie leiden zu lassen und zahlenmäßig zu begrenzen. Sonst richtet sie sich und ihre sogenannte ‚Umwelt’ zugrunde. Das tut sie jetzt tendenziell auch, wie wir wissen, aber nach Maßgabe der Möglichkeiten langsam. ‚Collateral Damage’ entsteht so weniger, glaub mir. – Willst Du weitermachen?“
Bärdel schüttelte stumm den Kopf.
„Ich dachte es mir. Schade – war mal eine Abwechslung. Ist aber okay mit mir. Wirf mir bloß nie wieder vor, dass ich mich nicht mehr einmische!“
Tussi warf ihm eine Kusshand zu. „Eigentlich mag ich Dich richtig gerne, Stinker!“