Jobsuche

Nach sechs Stunden Marsch konnte Manfred allmählich erleichtert durch Dehland wandern. Tumus Tränen, als sie ihn ziehenlassen mußte, Tränen, die er schließlich mitgeweint hatte, waren vergessen. Die tagelangen Diskussionen mit Bärdel beschäftigten ihn allerdings immer noch.
„Du willst dir einen Job suchen? Bei den Menschen? Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen“?
Manfred war standhaft geblieben. Schließlich hatte er gute Argumente: Auch seinem Vater war es schon gelungen, sich gegenüber Menschen als Mensch auszugeben (vergleiche Außergewöhnliches Beispiel von Menschenliebe bei einem wilden Tiere), warum also sollte er enttarnt werden? Und: Wenn man etwas über Menschen lernen wollte und es unabdingbar für das eigene Überleben war, möglichst viel über sie zu wissen – welche besseren Lehrer könnte man finden als die Menschen selbst? Er hatte Bärdel sogar dazu bewegen können, ihm zu allen möglichen Zeugnissen zu verhelfen. Aus der Bärenfälscherwerkstatt trug er Dokumente über Abschlüsse dehländischer Schulen und Hochschulen und angebliche Bescheinigungen real existierender Firmen mit sich, die ihm bestätigten, ein hervorragender Mitarbeiter gewesen zu sein, den man mit Bedauern hatte gehen lassen. Da Menschen das Alter von Bären, die sich als Menschen ausgeben, überhaupt nicht einschätzen können, konnte er mit diesen Unterlagen nach Belieben spielen.
Ob das wirklich richtig ist, was ich mache? fragte er sich. Aber natürlich gab er sich die richtige Antwort: Ein Mann geht seinen Weg! Und das, obwohl Manfred noch nie einen Western gesehen hatte…

Er hatte keine genaue Vorstellung davon, wie er sein Ziel erreichen sollte. Auch wußte er nicht, ob es geschickter war, sein Glück in einem Dorf, einer Klein- oder Großstadt zu versuchen. So ging er einfach geradeaus – im dicht besiedelten Dehland würde er schon bald über irgend etwas stolpern und dann entscheiden.
Er stolperte bald. Als er von einem Waldweg aus eine Straße und an deren Rand ein Ortsschild wahrnahm, das Lehrte“ ankündigte, zog er aus seinem Rucksack – den er als vierfüßiger Bärenwanderer als Bauchsack getragen hatte – Hemd, Hose und Jacke und zog sie an. Danach schulterte er sein Gepäckstück und richtete sich auf. Zum Abschied pflückte er eine Himbeere, ie ihn verführerisch rot anblinzelte, und nahm mit ihr vorerst Abschied von seinem Bärendasein.

Lehrte, entdeckte er bald, war eine Kleinstadt. Stellenangebote, nach denen er Aussschau hielt, gab es nicht. Aber damit hatte er gerechnet. Er wußte, daß Menschen Jobs in der Zeitung fanden – oder beim Arbeitsamt.
Also ging er in ein Papierwarengeschäft. Auf einer Bank im nahen Park schlug er die Zeitung auf, die er erworben hatte: die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“. Wochenendausgabe. Er ging die Stellenanzeigen durch.
Erst jetzt fiel ihm auf, daß er sich bisher nur wenig konkrete Vorstellungen gemacht hatte. Er wollte bei den Menschen arbeiten — nun gut. Aber was? Was war besonders gut geeignet, um sie kennenzulernen? Die Zeitung verwirrte ihn nur – Stellenanzeigen allgemein, Außendienst, Kaufmännisches, Gewerbliches, medizinisch-soziale Berufe. Diese Klassifizierung führte wohl nicht weiter. Also stellte er sich die wichtigste Frage überhaupt: Was macht mir Spaß? Unter diesem Gesichtspunkt fand eine Annonce sein Interesse: Eine Versicherungsgesellschaft suchte einen Executive Assistent für die Abteilung Versicherungsmathematik. Voraussetzungen für den Job waren eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung (die hatte er, sagten seine Zeugnisse), ein gutes Zahlenverständnis (rechnen konnte er) und körperliche Einsatzbereitschaft (Als junger Bär liebte Manfred es zu raufen, wenn er auch nicht so recht verstand, wieso diese Vorliebe in einem menschlichen Beruf gefragt war.). Das Problem war: Man wollte von ihm wissen, welche Gehaltsvorstellungen er hatte. Also: Bist du billiger als die anderen Bewerber, hast du gewonnen. Oder doch nicht? Vielleicht bedeutete ein Billigangebot ja auch: Ich bin schlecht? Und was war überhaupt bei den Menschen in Dehland gegenwärtig billig, was teuer? Ob Bärdel das gewußt hätte? Jedenfalls hatte er ihn nicht gefragt…
Er las weiter. Anderen Jobangeboten entnahm er, daß sich die Bezahlung bei den Menschen häufig an BAT orientierte. Was das wohl sein mochte? Bären- Arbeits-Tarif? Unwahrscheinlich…

Neben seiner Parkbank stand eine Telefonzelle, und ordentlich, wie es in Dehland nun einmal war, hing das örtliche Telefonbuch neben dem Apparat. Manfred schlug es auf und suchte : BAT – nicht vorhanden. Wahllos blätterte er weiter – schließlich hatte er noch nie ein menschliches Telefonbuch gesehen. Von einem bärischen ganz zu schweigen – Bären hatten kein Telefon, sie redeten noch wirklich miteinander. Bei O stolperte er über Ordnungsamt. Ein für die Ordnung zuständiges Amt müßte doch eigentlich ordentlich erklären können, was Unverständliches bedeutete. Er wählte die Nummer.
Tuut,tuut,tuut, didadidadidadidadah, dadadah, dadadah, bitte warten, didadidadidadidadah, dadadah, dadadah, bitte warten…

„Ordnungsamt Hannover“!
„Guten Tag. Ich wollte Sie nur um eine Auskunft bitten. Was, bitte, bedeutet BAT“?
„Eine solche Auskunft gehört eigentlich nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Ich sage es Ihnen trotzdem: Bundesangestelltentarif“.
„Und wie hoch ist der? Ich meine, wieviel Geld verdient man da“?
„Zu wenig, guter Mann, viel zu wenig. Ich werde nach BAT bezahlt, ich weiß, wovon ich rede“.
„Ja – aber – entschuldigen Sie: Was heißt denn das konkret“?
„Sie dürften selbst wissen, daß man über Geld nicht redet. Wenn Sie einen Paß oder Personalausweis beantragen wollen, stehen wir Ihnen gerne in der Zeit von…“

Manfred legte auf. Er war so schlau wie vorher, aber eine Auskunft, die ihm weiterhalf, würde er hier nicht bekommen. Also gut – dann galt es eben zu pokern.
Er rief die Versicherungsgesellschaft an und vereinbarte einen Gesprächstermin für den nächsten Tag.

Das aber bedeutete, daß er für die Nacht eine Unterkunft brauchte. Nächtigen in Lehrte? Zwar war das Leben in diesem Nest für einen Bären schon wahrhaft aufregend, aber wenn er jetzt die Gelegenheit hatte, wollte er möglichst viel kennenlernen. Er stapfte zum Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte ins nahe Hannover.
Als er dort aus dem Zug hüpfte, machte er einen Fehler: Er wandte sich Richtung Raschplatz.
Für einen Bären, der an gegenseitige Rücksichtnahme und wechselseitige Hilfestellung in allen Lebenslagen gewöhnt ist, ist eine menschliche Großstadt, in der sich keiner um den anderen kümmert, auch wenn es dem noch so schlecht geht, ein Schock. Das ist schon schlimm genug, wenn er an Orte gerät, an denen es den meisten Menschen gutgeht.
Der Raschplatz war kein solcher Ort. Manfred bediente sich der üblichen Mechanismen intelligenter Lebewesen, die versuchen, einen überwältigenden Eindruck zu verarbeiten: Er bemühte sich, Worte für seine Wahrnehmung zu finden. Er mußte lange suchen, obwohl er über einen großen Wortschatz verfügte. Schließlich kamen ihm fünf Buchstaben in den Sinn, die er auf einer Wanderung durch den Harz auf einem Ortsschild gesehen hatte: Elend. Elend – das paßte. Das quäkende Lautgebilde beschrieb Dreck, zerstochene und zerschundene Haut, Orientierungslosigkeit und Gestank. Alles war überlagert von einem noch penetranteren Geruch, dem der Gleichgültigkeit.

Von Panik ergriffen, kehrte er um und ergriff das Bärenpanier. Kaum ein Passant wunderte sich darüber, daß ein etwa menschengroßes Wesen halb aufrecht, halb auf allen Vieren erst durch die Bahnhofs- und dann durch die Karmarschstraße hetzte. Als er das geschafft hatte, verlangsamte Manfred sein Tempo: erstens ging ihm allmählich die Puste aus, und zweitens gab es nach zehn Minuten wilder Jagd keine Menschen mehr, die ihn verunsicherten. Er war im Maschpark angekommen. Langsam trottete er über die gewundenen Pfade, kreuzte noch eine Straße und legte sich dann zwischen Rosenrabatten auf die Bärenhaut. Hier war kein Mensch. Er spürte, daß auch keiner kommen und ihn stören würde.
Sein Bäreninstinkt hatte ihn richtig geleitet: Welcher Hannoveraner geht schon auf den 1945 angelegten Friedhof der von den Nazis ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen? Die meisten wissen noch nicht einmal, daß es ihn gibt…

Ausgeschlafen sprang er ein paar Stunden später am frühen Morgen in den Maschsee. Nach dem Bad, bei dem er einem ausführlichen philosophischen Disput der Seekarpfen lauschte, von dem er nur wenig verstand, war es allmählich Zeit, sich zur Versicherung aufzumachen. Auf dem Weg dorthin schüttelte Manfred hin und wieder immer noch den Kopf: Was diese Fische umtrieb! Richtig beredsam wurden sie bei der Frage, ob die Hannoveraner es wert seien, zu Weihnachten und Silvester von ihnen gefüttert zu werden. Anstatt sich auf die universellen Tierrechte zu berufen und sich jedem Gefressenwerden zu verweigern!

Wenig später saß er auf einem niedrigen Stuhl einem großen Schreibtisch gegenüber, hinter dem in einem hohen Sessel eine Menschenfrau thronte. Sie hatte sich ihm als Sabine Schreiner vorgestellt. An der Tür, durch die sie ihn gerade geführt hatte, hing ein Schild, das Personalbüro besagte. Jetzt redete sie, ohne dabei etwas zu sagen. Manfred kannte diese Art der Nichtmitteilung, diesen Fluß von Leerformeln und höflichen Lügen, und es war ihm trotz höchster Konzentration nicht möglich, inhaltlich zu folgen. Das war kein Nachteil. Wichtig war allein, im entscheidenden Moment richtig zu reagieren. Also konzentrierte er sich nur auf den Augenblick, in dem sie ihre Stimme am Ende eines Satzes hob.
„Das hat mich schon immer interessiert“, antwortete er auf ihre Frage. „Sehen Sie, es gibt Dinge, bei denen die Menschen Hilfe benötigen. Ich denke, ich könnte da von Nutzen sein“.
In Bärenleben hatte Manfred bei Kulle nämlich einmal einen Rhetorikkurs belegt. Was er gerade reproduziert hatte, war Kulles Patentantwort Nummer Eins, passend für alle Situationen: Sie war angemessen als Reaktion auf die Behauptung, daß die Welt von Gott verlassen sei, ebenso wie auf die Feststellung, daß die Arbeitslosenzahlen ständig stiegen. Selbst als Reaktion auf eine Liebeserklärung konnte sie, ein wenig modifiziert, zur Not durchgehen.
Manfred hatte auch gelernt, daß eine derartige Aussage zwar gut ankam, aber sofort eine Frage provozierte. Wollte man der entkommen, mußte man selbst eine Frage stellen. Natürlich war Manfred ein gelehriger Schüler gewesen, also fuhr er ohne Pause fort:
„Was erwarten Sie von mir?“
Statt einer direkten Antwort legte sie ihm einen Schriftsatz vor.
„Machen Sie sich damit in aller Ruhe vertraut. Ich lasse Ihnen einen Kaffee kommen und lasse Sie allein. In einer halben Stunde bin ich wieder da“.
Kaffee – das mußte wohl sein. Mitleidig sah Manfred den Ficus Benjamini an, der die braune Brühe würde schlucken müssen. Bären und Kaffee – das vertrug sich einfach nicht miteinander.
„Danke“, sagte er höflich und schlug den Ordner auf.
Den Fall durchschaute er schnell. Der Studienrat Michael Strauß hatte im Alter von 40 Jahren eine private Zusatz-Rentenversicherung abgeschlossen und 25 Jahre lang regelmäßig seine Beiträge gezahlt. Der letzte Zahlungseingang lag zwei Jahre zurück. Strauß war jetzt 67 und erhielt seit seiner Pensionierung seine Privatrente.
Ein klarer Fall ohne irgendwelche Probleme. Manfred schüttelte den Kopf. Er verstand nicht im Geringsten, was solche klaren, eigentlich abgeschlossenen Fälle mit Versicherungsmathematik und körperlicher Einsatzfähigkeit zu tun hatten.
Als Sabine Schreiner zurückkam, schenkte sie ihm neben einem charmanten Lächeln ein erwartungsvolles: „Nun, Herr Bär“?
Manfred pokerte – auch das hatte er von Kulle gelernt . und hob die Schulter. „Ganz klare Sache, keine Frage“.
„Hervorragend“! Frau Schreiner war sichtlich erleichtert. „Ich hatte gleich den Eindruck, daß Sie für derlei verantwortungsvolle Aufgaben geeignet sind. Die Zusammenarbeit mit unserer Gesellschaft wird Sie nicht reuen. Wir zahlen gut – 1000 DM Prämie pro Fall, zuzüglich Spesen. Erfahrungsgemäß bearbeiten unsere Mitarbeiter zwischen acht und fünfzehn Fälle pro Monat“.
Also acht- bis fünfzehntausend Mark im Monat, rechnete Manfred blitzschnell. Das war sehr viel Geld, soviel immerhin wußte er. Merkwürdig – jetzt machte sie ihm ein Angebot, aber in der Anzeige hatte gestanden, daß er Forderungen stellen sollte. Er ging darüber hinweg.
„Ich denke, das kann ich auch leisten“.
Manfred legte alle ihm zur Verfügung stehende Seriosität in seine Stimme. Er verriet Sabine Schreiner nicht, daß er noch immer nicht wußte, was er in seiner neuen Stellung zu tun haben würde. Trotzdem – oder gerade deshalb – bekam er den Job. In drei Tagen sollte er anfangen. Zur Einarbeitung, wie Sabine Schreiner sagte, drückte sie ihm ein Köfferchen voller Papiere in die Hand.
Dank ihrer Vermittlung fand er auch eine kleine Wohnung. Schade eigentlich – er hatte sich auf dem sowjetischen Friedhof und bei den Karpfen sehr wohl gefühlt. Für Menschen brauchte er aber künftig wohl eine menschliche Adresse. Das Wichtigste im Augenblick jedoch war, daß er einen Vorschuß erhielt.

Manfred verschwendete keine Zeit damit, sich Möbel anzuschaffen. Er gab sein Geld für Fahrscheine für die Stadtbahn aus und ließ sich zur Universität kutschieren.
Ich glaub, ich bin in England, brummelte Manfred vor sich hin, als er auf das Tudorschloß zusteuerte, in dem Hannovers Universität beheimatet war. Aber dann kümmerte er sich nicht mehr um Architektur, sondern fragte sich zum Immatrikulationsamt durch und schrieb sich ein: Manfred Bär, Volkswirtschaftslehre.
Als er wieder in seiner Wohnung war, schaute er sich zunächst den Inhalt von Sabine Schreiners Geschenk an. Der Aktenkoffer seiner neuen Firma war prall gefüllt mit Papieren. Fünfzehn Personalakten stapelten sich darin, alle von ähnlicher Qualität wie die des Studienrates Michael Strauß. Daneben lag eine in Folie eingeschweißte Tabelle. Über den zahlreichen Spalten standen merkwürdige Überschriften: Geb.-Jr., Verf.-Jr. oder Neg.-Zeitr. fanden sich da.
Manfred verstand, daß er nichts verstand. Aber das beunruhigte ihn nicht. Er hatte die Bärenruhe weg, und noch hatte er zwei Tage Zeit. Der Student Manfred Bär würde schon herausbekommen, was hier gespielt wurde.

Früh am nächsten Morgen verschwand er im Lesesaal der Universitätsbibliothek. Er entschwand buchstäblich allen Blicken, denn bald türmten sich auf dem Tisch vor ihm meterhohe Bücherstapel.
Zuerst widmete er sich dem Band Empfehlenswerte Abkürzungen im Versicherungswesen, herausgegeben von E. N. T. Täusch, und ließ sich darüber belehren, daß Geb.-Jr. Geburtsjahr hieß. Verf-Jr. bedeutete Verfallsjahr, und Neg-Zeitr. war der Negativzeitraum. Empfehlenswert, so der Herausgeber im Vorwort, seien diese Abkürzungen vor allem deshalb, weil sich der Versicherungsnehmer in den wenigsten Fällen unter ihnen etwas vorstellen könne. Manfred stimmte aus vollem Herzen zu – auch den Volltext verstand er nur zum Teil.
So kam er also wohl nicht weiter. Es galt, die Angelegenheit grundsätzlich anzugehen. Grundlagen des Versicherungswesens. Eine Einführung – Prof. Dr. R. Eibach würde ihm mit seinem dicken Wälzer weiterhelfen, hoffte er.
Manfred lernte, daß eine Versicherung auf die planmäßige und entgeltliche Deckung eines risikogerechten Eventualbedarfs abzielt, also Schäden, die nach Anzahl, Zeitpunkt und Höhe unbestimmt sind, deckt. Eintritt und Höhe der Bedarfsfälle, so Prof. Eibach, ließen sich um so sicherer berechnen, je größer die Zahl der zu einer Gefahrengemeinschaft vereinigten Einheiten sei.
Den zweiten Gedanken verstand Manfred. Tumu hatte ihn gründlich in die Wahrscheinlichkeitsrechnung eingeführt – alle jungen Bären lernten das, und als Material benutzten sie mit Vorliebe Brombeeren. Mit dem ersten Satz aber hatte er Schwierigkeiten: Wieso deckte eine Versicherung nur Schäden? Der Studienrat Strauß hatte doch keinen Schaden erlitten, sondern freute sich über sein Rentnerdasein! Aber dann dämmerte es ihm: Was Michael Strauß freute, war in den Augen der Versicherung ein Schaden. Strauß kostete Geld.
Entsetzen durchschoß ihn: Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen bekamen die Worte Verfallsjahr und Negativzeitraum plötzlich eine Bedeutung. Für einen kurzen Moment durchzuckte ihn eine Idee, was sein neuer Arbeitgeber wirklich von ihm wollte. Aber dieser Gedanke erschien ihm so absurd, daß er ihn sofort aus seinem Kopf verbannte.
Dennoch – plötzlich war ihm übel. Hastig verließ er den Lesesaal und suchte frische Luft.
Also: Vermutlich hatte seine Versicherung Probleme mit ihren privaten Altersversicherungen. Das Verfallsjahr schien das Jahr zu sein, von dem ab der Rentner mehr Geld als Rente bekam, als er vorher als Prämie eingezahlt hatte. Von diesem Jahr ab begann für die Versicherung der Negativzeitraum. Natürlich kamen solche Fälle immer mal vor, aber sie sollten theoretisch ausgeglichen werden – durch diejenigen, die so früh starben, daß sie die von ihnen angesparte Summe nicht mehr in Anspruch nehmen konnten. Mathematische Stochastik – das Gesetz der großen Zahl. Und versicherungsmathematisch, überlegte Manfred sich, war die Prämie natürlich so kalkuliert, daß bei einer berechenbaren Zahl von kurz- und langlebigen Versicherten noch genug Geld in der Firma hängenblieb…
Entweder reichte seiner Versicherung der Normalprofit nicht mehr, so daß sie ihre Versicherten vor deren natürlichem Ende loswerden wollte, oder sie hatte sich verrechnet.
Manfred wurde bewußt, daß er jetzt schon ganz selbstverständlich von der Hypothese ausging, daß er als Mörder gedungen werden sollte. Seine sonst so kräftigen Bärenbeine sackten unter ihm weg, er mußte sich setzen. Jetzt wußte er, warum sein Vater ihn hatte überzeugen wollen dazubleiben, warum seine Mutter so viele Tränen geweint hatte. Das Denken der Menschen war mörderisch (Die Menschen selbst nennen das in Verkennung ihrer Natur inhuman) , und es färbte ab. Er begann zu weinen.
„Natürlich guckt wieder kein Schwein“, hörte er plötzlich neben sich eine laute Stimme. „Ein Bär hockt heulend an einem Baum mitten im hannoverschen Georgengarten, dazu noch direkt neben dem Wilhelm-Busch-Museum, und keiner nimmt‘s zur Kenntnis“!
Manfred war kein verklemmter Menschenmann, er fand es also ganz natürlich zu weinen, wenn er traurig oder verzweifelt war. Trotzdem war es ihm peinlich, in aufgelöstem Zustand von einem wildfremden Wesen ertappt worden zu sein. Er wischte sich die Augen, murmelte etwas von Heuschnupfen und wandte dann seinen Kopf zur Seite.
„Du bist ein Schwein!“ entfuhr es ihm.
„Na klar“, grunzte sein Gegenüber, keineswegs beleidigt.
Rosa Haut, Steckdosenschnauze, spitze Ohren, Ringelschwänzchen: Es war zweifellos ein Schwein.
„Wieso sagst Du dann, daß Du nicht guckst? Du siehst mich doch an“!
„Ich habe nur zitiert. Und außerdem bin ich eine Karikatur. Mir ist übrigens kalt, ich gehe wieder rein. Zu Hause bin ich da drüben im Museum. Komm doch mit“.
Manfred in seinem Bärenpelz fror es zwar nicht, aber er fühlte sich trotzdem kalt – von innen heraus. Er rappelte sich auf und folgte dem Schwein ins Haus. Wilhelm-Busch-Museum stand daran und Karikaturenmuseum.
Innen gab es einen Kassenschalter, und Manfred langte nach seiner Geldbörse. Der Kassierer aber grinste nur.
„Lassen Sie das, Sie Kunstfigur! schmunzelte er. Ab in Ihren Rahmen!“
Achselzuckend schlenderte Manfred weiter in die Ausstellung. Die Waechter des Museums begrüßten ihn wie einen alten Bekannten. Außerdem begrüßte ihn das Ausstellungsmotto: Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Gestern noch hatte Manfred geschwankt, ob er sich an der Uni für VWL oder für Politik einschreiben sollte. Heute stellte er fest, daß seine Entscheidung richtig gewesen war. Ein Mini-Politikstudium konnte er hier im Museum absolvieren. Einführung in Soziologie und Psychologie inklusive.

Er schlenderte herum und bildete sich. Der Kanzler war eine Birne. Kernobst als Kopf einer Gesellschaft? Das sprach nicht gerade für die Wähler…
Auf einer anderen Zeichnung versetzte ein Hund zahlreichen Katzen, die sich noch nicht einmal durch Fauchen zur Wehr setzten, Schwere Bisse und jagte sie aus dem Haus. Die Bildunterschrift belehrte ihn, daß ein Mensch namens Hundt Arbeitgeberpräsident war.
Die dritte Karikatur, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigte zwei Männer. Ein Gesicht, dessen Hauptcharakteristik eine große Nase war, neigte sich über ein anderes. Untengesicht hatte eine Sprechblase, in der stand: Herr Kultusminister, das ist zu viel! Obengesicht antwortete: Kein Grund zur Aufregung, Herr Studienrat! Wir haben Ihre Dienstpflichten so kalkuliert, daß Sie sie bis zu ihrer Pensionierung gerade noch werden erfüllen können.

Karikatur
In der Bärenschule hatte Manfred gelernt, was ein Elektroschock war. Er hatte sich nie vorstellen können, wie sich so etwas anfühlen könnte. Jetzt plötzlich hatte er das Gefühl, einen solchen Schock erhalten zu haben. Verblüffenderweise durchlebte er sogar alle Phasen, die zu einer solchen Behandlung gehören: völlige Amnesie, allmähliches Erinnern und schließlich – Glück gehabt! – ein besseres Denkvermögen als vorher.

Das also war des Studienrats Michael Strauß Kern! Der war nicht als Mensch zu alt, sondern als Studienrat! Die Versicherung hatte sein Alter auf der Basis seiner Berufszugehörigkeit kalkuliert, und er hatte es gewagt, nicht gleichzeitig mit seiner Pensionierung zu sterben, sondern zwei Jahre weiterzuleben. Dementsprechend war er für die Versicherung ein Schaden geworden.
Für Manfred war jetzt glasklar, was von einem Executive Assistent der Abteilung Versicherungsmathematik erwartet wurde. Er sollte als Mörder arbeiten, um die fehlerhaften Hypothesen der Versicherungsgesellschaft wieder ins Lot zu bringen.

Was sollte er tun?
Manfred zog sich in eine stille Ecke des Museums zurück und erprobte seine Muskeln. Er ging auf die Toilette, stellte sich vor den Spiegel und zeigte sich selbst seine fürchterlichsten Grimassen. Lautlos übte er dazu seine Kampfschreie.
Dann gab er es auf.
Seine Situation war ihm klargeworden.

Natürlich war es eine verführerische Idee, in Sabine Schreiners Büro zu marschieren, ihr seine Verachtung ins Gesicht zu schmettern und ihr zu erklären, daß er ihre Mordpläne durchschaut hatte. Und dann? Sie würde die Polizei rufen, die die Feuerwehr, und schließlich würde er als die Allgemeinheit gefährdender Bär im Zoo landen – wenn er Glück hatte. Wahrscheinlich würde er als tollwütiges Tier eingeschläfert werden. Einschläfern – so nannten das die Menschen.
Sich mit den Tieren verbünden, zum Beispiel mit dem Schwein? Wenig aussichtsreich – die Tiere schienen damit glücklich zu sein, als Karikaturen existieren zu dürfen.
Es gab nur eins – zurück nach Bärenleben.

Manfred ließ alles stehen und liegen. Zum Glück wußte er, welche Richtung er einschlagen mußte, um nach Hause zu kommen – zu Tumu, zu Bärdel und zu Kulle und all den anderen. Er dachte nicht an das Geld, das er hatte. Er dachte nicht an Verkehrsmittel. Er rannte einfach. Er übersah sogar die Beeren am Wegesrand. Er aß nicht. Er trank nicht. Er rannte. Dann torkelte er. Er wankte vorwärts. Zuletzt kroch er. Er kämpfte um jeden Zentimeter, der ihn Bärenleben näher brachte. Tumu fand ihn schließlich – wer auch sonst? Er hatte es fast geschafft.

„Manfred“!
Unruhig wälzte er sich auf seinem Laublager hin und her.
„Manfred“! Sanft legte sie ihre Tatze auf seine Schulter.
Er zuckte zusammen. Sein Körper rollte sich weg.
Sie griff fester zu. Er wand sich.
„Manfred! Wach auf“!
Bilder: Sabine Schreiner hält ihn fest, eine Statistik in der Hand, die besagt, daß er zu alt ist, sterben muß…
„Manfred! Du bist zu Hause“!
Der Widerstand schwand. Er wachte auf. Er öffnete die Augen und sah Tumu. Er lächelte.
„Mama.“

Tumu brauchte nach dieser anstrengenden Wiederbelebung noch viel Kraft, um Manfred wieder zu einem normalen Jungbären zu machen. Er wollte kaum etwas essen, und es war ihre Rettung, daß sie sich an einige alte Rezepte von Mama Gorilla erinnern konnte (vergleiche die Rezepte in „Grimmis Buch vom Gorillasee“), an denen er Gefallen fand und die ihn schließlich wieder zu Kräften brachten.

Als Manfred wieder aufrecht hocken konnte, bat er darum, den Stammesrat einzuberufen. Tumu sorgte für genügend Platz in der Wohnhöhle, so daß alle gemütlich sitzen konnten. Es war Herbst geworden, draußen pfiff ein starker Wind, und alle Angehörigen der Bärensippe kuschelten sich aneinander.
„Freunde“, sagte Bärdel. „Mein Sohn hat um diese Versammlung gebeten. Ich weiß, daß er Schweres erlebt hat. Ich weiß nicht, was er uns sagen will. Ich bitte, hört ihn freundlich an“.
Bärdel sagte die Wahrheit – und doch nicht. Natürlich hatte er von Tumu einiges darüber erfahren, was Manfred bei den Menschen durchgemacht hatte. Dennoch tat er pflichtgemäß so, als sei er uninformiert – so hatte sich ein objektiver Versammlungsleiter bei den Bären zu verhalten. Gleichzeitig mußte er immer um freundliches Gehör bitten – das gehörte auch zum Ritual.
Zustimmendes Gemurmel antwortete ihm.
„Ich“, sagte Manfred, „habe Unsinn gemacht. Meine Eltern haben mich gewarnt. Ich habe ihnen zuwider gehandelt und bin zu den Menschen gegangen. Ich bin gegangen, weil ich etwas über die Menschen lernen wollte. Ich habe auch etwas gelernt: Menschen rechnen Menschen gegen Geld auf. Wenn es ihnen zu teuer wird, bringen sie die zu teuren Menschen um. Sie heuern sogar Mörder an, um solche angeblich zu teuren Menschen zu töten. Sie haben versucht, mich als einen solchen Mörder anzustellen“.

Stille herrschte in der Bärenhöhle. Unsicher schaute Manfred von einem Gesicht zum anderen. Alle waren ihm zugewandt. Alle lächelten ihm zu.
„Was ist?“ fragte er.
Das Lächeln verstärkte sich.
„Was ist?“
Er sah in die Runde, sah Kulle an. Es war ihm unmöglich, die Beherrschung und Zurückhaltung zu wahren, die in einer Bärenversammlung zum guten Ton gehören.
„Bei Tussi! brach es aus ihm heraus. Glotzt nicht so verständnislos! Es geht um Mord, sogar um Massenmord! Dagegen muß man doch etwas tun!“
Unsanft wies Bärdel ihn zurecht – bei aller Sympathie durfte ein Versammlungsleiter einen solchen Ausfall nicht durchgehen lassen.
Kulle meldete sich zu Wort: „Die negative Weiterentwicklung der Primaten zu den Humanen und die damit einhergehende ethische Regression hat logisch eine Extension der Agression zur Folge, gerade auch intra speciem. Das ist wissenschaftlich unumstritten. Es ist daher…“
Zufällig streifte sein Blick beim Sprechen Manfred, der ihn mit offenem Mund verständnislos anstarrte. Am liebsten hätte er sich vor Ärger eine Pranke voll Haare aus dem Pelz gezogen. Mußte er auch gerade jetzt in seinen alten Fehler verfallen! Immer dann, wenn er gerührt war, drückte er sich viel zu hochgestochen aus. Sofort schaltete er um:
„Es ist daher völlig verständlich, wenn Manfred einen Schock erlitten hat“. „Auch“, fuhr er fort, indem er sich Manfred direkt zuwandte, „auch kann ich gut verstehen, daß Du gegen das Morden etwas unternehmen möchtest. Das geht aber nicht. Hör mir jetzt gut zu: Die Menschen machen das, weil sie Menschen sind. Verstehst Du? Weil! Sie handeln nicht gegen ihre Natur, sondern ihr entsprechend. Wenn Du den Massenmord beenden willst, mußt Du die Menschen vernichten“.
Lastendes Schweigen füllte die Höhle. Langsam setzte sich Kulle.
Erst nach langer Zeit war wieder ein Geräusch zu hören. Manfred räusperte sich die Kehle frei.
„Entschuldigung“ sagte er. „Das wußte ich nicht. Ich habe geglaubt…“. Hilflos brach er ab.
„Alle jungen Bären glauben das“, brummte Bärdel. „Weil sie Bären sind“.
„Aber warum… Warum habt Ihr…?“
„Warum wir Dich haben ziehen lassen? Leicht ist es uns nicht gefallen, das hast Du gemerkt. Die meisten jungen Bären müssen die Menschen direkt kennenlernen. Sonst wissen sie nicht, wie diese Monstren wirklich sind. Die Erzählungen von uns Alten haltet Ihr Jungen für übertrieben.“
„Stimmt“, seufzte Manfred. „Ich habe Euch nie so richtig geglaubt. Aber jetzt habe ich Angst. Sollte man nicht Bärenleben…?“
„Keine Sorge“, schmunzelte Bärdel. „Während Deiner Abwesenheit haben unsere Physiker die Tarnkappe über Bärenleben fertiggestellt. Uns findet keiner – zumindest kein Mensch.“
Plötzlich ertönte vor der Höhle lautes Rülpsen und Grunzen. Höhnisch schien es Bärdel zu widerlegen. Die Bären hockten starr. Ein Kopf schob sich herein: Steckdosenschnauze, spitze Ohren, Ringelschwänzchen.

„Ich bitte um politisches Asyl“, quiekte es.

„Gewährt“, brummte die Bärenhorde im Chor.

Kulle über Sex

PD Kulle

Die menschliche Sexualität im Zeitalter ihrer nicht nur natürlichen, sondern auch technischen Reproduzierbarkeit (1)

Kulle

  1. Sexualität bei Pflanzen, Tieren und Menschen
  2. Die quantitative Entwicklung der Menschheit
  3. Die menschliche Anpassungsfähigkeit
  4. Die Nicht-Adaptionsfähigkeit der menschlichen Sexualität
  5. Der Korrekturversuch der Natur und seine Konterkarierung
  6. Künstliche Insemination
  7. Genetische Manipulation
  8. Fazit
  9. Fazit des Fazits
  10. Nachwort

1. Sexualität bei Pflanzen, Tieren und Menschen

 

Menschen können erstaunlicherweise manche Sachverhalte relativ angemessen rational beschreiben, obwohl sie sich in actu unangemessen irrational verhalten. Diese interessante Diskrepanz erlaubt es, zur Definition des zu untersuchenden Gegenstandes vorläufig auf Meyers Lexikon (2) zurückzugreifen.

Sexualität, so lesen wir da, „ist bei Pflanzen und Tieren identisch mit der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei niederen Tieren (3) ist das Fortpflanzungsverhalten allein von Geschlechtshormonen gesteuert, artspezifisch stereotyp und ausschließlich heterosexuell. Bei höheren Arten (4) übernimmt die Großhirnsteuerung eine stetig zunehmende Rolle. Die Folgen sind sexuelle Aktivität vor Eintritt der Geschlechtsreife und außerhalb der Brunst, Selbstbefriedigung, Homosexualität und die Bevorzugung bestimmter Partner.

Die Sexualität des Menschen schließlich geht noch weit (5) über das hinaus, was mit der Lust und den Aktivitäten in Abhängigkeit vom Funktionieren der Geschlechtsorgane sowie mit dem Verhalten, das zur Befruchtung…führen kann, zusammenhängt.“ (6)

Schon nach dieser kurzen Definition läßt sich also feststellen, daß menschliche Sexualität in zwei Richtungen strebt, die teilidentisch, aber auch völlig diskrepant sein können:

  • Fortpflanzung
  • sexuelle und/oder psychische Befriedigung.

Den wichtigsten Aspekt allerdings deutet Meyers Lexikon bestenfalls an:

Die menschliche Sexualität ist in all ihren Emanationen maßlos.

2. Die quantitative Entwicklung der Menschheit

Betrachten wir zunächst die Fortpflanzung.

Allein die absoluten Zahlen sprechen für sich.

Im Jahr 7000 v. Chr. (7) betrug die menschliche Weltbevölkerung ca. 10 Millionen.(8) Im Jahr 4500 v. Chr. waren es 20 Millionen. Homo sapiens sapiens brauchte also 2500 Jahre, um sich zahlenmäßig zu verdoppeln – ein Verhalten, das schon nicht mehr als weise bezeichnet werden kann. Schließlich beträgt die Landmasse der Erde 149 Millionen km2, das ergibt rein rechnerisch pro Mensch im Jahr 4500 v. Chr. etwa 7,5 km2. Die Fläche reichte also bereits nicht mehr für jeden aus, um sich als Jäger und Sammler durchzuschlagen, wenn man die Unwirtlichkeit von Sand- und Eiswüsten berücksichtigt. Allein die Jäger- und Sammlerexistenz wird jedoch jener Notwendigkeit gerecht, die seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „sustainable development“ auch ansatzweise ins menschliche Bewußtsein dringt, obwohl die Menschen unter diesem Slogan natürlich die Entwicklung zu retten versuchen, also den Kapitalismus, nicht aber ihren Lebensraum.

Wie aber ging es weiter? Ich kürze die Darstellung ab: 1950 betrug die menschliche Weltbevölkerung 2,5 Milliarden, 1986 lebten 5 Milliarden Menschen auf der Erde. Die Menschen brauchten also nur noch 36 Jahre, um ihre Zahl zu verdoppeln, und jedem Menschen standen 1986 statistisch 0,03 km2 zur Verfügung.


Entwicklung der Weltbevölkerung

Es gilt, eine Populationszunahme in einem Zeitrahmen von – grob gerechnet – 6500 Jahren zu analysieren, die 25 000% beträgt. Selbst zahlreiche Seuchen, Hungersnöte und etliche Selbstausrottungsversuche der Menschen – sie selbst nennen das Kriege – konnten daran nichts ändern.

25 000%! Eine ungeheure Zahl! Selbst eine Krebszelle wäre stolz, wenn sie um so viel wachsen könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sie ihren Wirtskörper vorher zerstört.

Wie haben die Menschen das geschafft?

Zwar ist die Frage sekundär9 , dennoch soll sie zuerst beantwortet werden.

3. Die menschliche Anpassungsfähigkeit

Der Schlüssel zur Lösung des Rätsels liegt in der verblüffenden intermediären (10) Adaptionsfähigkeit der Gattung Homo sapiens sapiens. Nach der Existenzphase als Jäger und Sammler konnten die Menschen durch die Ausweitung des Lebensraumes der Gattung, durch Ackerbau und Viehzucht, durch die Nutzung regenerativer und fossiler Energien ihren Ressourcenoutput erhöhen und gleichzeitig den individuell benötigten Lebensraum begrenzen. Die zunächst recht langsame zahlenmäßige Zunahme der Menschheit war dem mangelnden Wissen in bezug auf Hygiene und Gesundheit geschuldet, was eine hohe Mortalitätsrate vor allem bei jungen menschlichen Individuen zur Folge hatte. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigte sich das Wachstum der Gattung, denn bessere Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten verringerten die früher letalen Folgen lokaler Katastrophen. Das ausgehende 19. und das frühe 20. Jahrhundert dann sind gekennzeichnet durch bahnbrechende Erkenntnisse der Medizin, dank deren (11) die Mortalitätsrate signifikant sank. Nach dem II. Weltkrieg (12) erreichten die Prinzipien einer öffentlichen Gesundheitspflege und besserer hygienischer Bedingungen auch Asien, Lateinamerika und – zum Teil – Afrika, und Lebensmittel aus den von den Menschen so genannten entwickelten Ländern wurden dorthin exportiert (13), ohne die in diesen Regionen hohe Fertilitätsrate zu reduzieren.

Die Ursache dieses bemerkenswert raschen Wandels in der gesellschaftlichen Organisation des Gattungslebens liegt in dem, was die Menschen Intelligenz nennen (14) . Mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln haben sie sich als Art angepaßt, wobei der Verlust an Individuen bei einem Wandel immer hoch war. (15)

Die eigentlich entscheidende Frage lautet aber:

Warum (16) haben die Menschen das geschafft?

 

4. Die Nicht-Adaptionsfähigkeit der menschlichen Sexualität

Der Schlüssel zur exorbitanten Quantitätszunahme von Homo sapiens sapiens liegt in der menschlichen Sexualität. Nein, falsch! Ich korrigiere mich wie folgt: in der männlichen menschlichen Sexualität. Ganz richtig ist das auch nicht: Das Wachstum hat auch mit der weiblichen Fertilität zu tun.

Wenn ich, P. D. (17) Kulle, zu stottern anfange, muß es sich um ein wirklich schwieriges Problem handeln. Es ist so, in der Tat. Ich werde versuchen, es am Beispiel der Kaninchen zu erläutern.(18)

Das Kaninchen

In Zeiten hoher sexueller Aktivität, wenn das Weibchen empfängnisfähig ist, vulgo Rammelzeit genannt, rammelt das Kaninchen-männchen. Das Rammeln unterscheidet es im Prinzip nicht vom Menschenmännchen (19) . Allerdings ist für dieses, anders als für das Kaninchen, immer Rammelzeit. Menschenfrauen sind nämlich im Prinzip (20) immer zur Paarung bereit, auch wenn sie nur in einem Zyklus von durchschnittlich 28 Tagen empfängnisfähig sind. Tiere dagegen verkehren nur sexuell miteinander, wenn das Weibchen empfangen kann. Ein Kaninchenmann (21) muß sich von Oktober bis Februar anderweitig vergnügen.

Nehmen wir an, die Kaninchenfrau wird schwanger, und auch die Menschenfrau wird schwanger. Beide Schwangerschaften verlaufen gut. Die Menschenfrau bringt ein Kind zur Welt, einen Jungen oder ein Mädchen – völlig normal für Menschenfrauen. Auch die Kaninchenfrau bekommt Kinder, aber deren Zahl richtet sich nach den jeweiligen Umweltbedingungen. Bis zu 30 Jungkaninchen pro Jahr sind biologisch möglich. War der Winter jedoch hart, gibt es also wenig zu knabbern, bleibt der Wurf klein. Sind die Bedingungen besser, kommen mehr Junge zur Welt. Aber auch die Zahl der Jagdfeinde ist bei guten Bedingungen höher, so daß die große Zahl rasch dezimiert wird.

Zwischenbilanz: Die globale Kaninchenpopulation (22) ist zwar kurzfristigen Schwankungen unterworden, sie bleibt aber wegen der in natürliche Vorgänge eingebundenen Lebensweise der Spezies letztlich konstant.

Über ein solches Anpassungsverhalten verfügen die Menschen nicht. Im Gegenteil: Ihr Sexualverhalten zeigt, daß sie sich um so intensiver reproduzieren, je schlechter die individuellen Rahmenbedingungen für die Aufzucht des Nachwuchses sind. Da Jagdfeinde der menschlichen Rasse fehlen (23) , ist auch ein Korrektiv dieses Verhaltens ex post nicht möglich.

Folgerung: Menschliche – männliche wie weibliche – Sexualität ignoriert Umwelt-(24) bedingungen völlig.

5. Der Korrekturversuch der Natur und seine Konterkarierung

 

Bei der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen entsprechend dem Stand der von ihnen entwickelten Produktivkräfte nicht nur von ihrem Willen unabhängige Produktionsverhältnisse ein (25) , es entstehen auch Konsumtionsverhältnisse.

Die angesichts der großen Menschenzahl notwendige Industrialisierung der Agrarwirtschaft und der Lebensmittelproduktion kann und will aus Profitinteresse auf die permanente und zunehmende Induzierung chemischer Substanzen nicht verzichten. Eben diese Industrialisierung und der damit einhergehende Abusus von Boden, Wasser und Luft wirken negativ nicht nur auf die menschliche Gesundheit im allgemeinen, sondern speziell auch auf die Spermaproduktion des Menschenmännchens. Gelten 200 – 300 Millionen Spermien pro Ejakulation als biologisch normal, so läßt sich seit Jahrzehnten eine Abnahme der Samenzellen beobachten, die inzwischen zu signifikanten Unfruchtbarkeitsquoten geführt hat.

Ist also endlich auch mit der Abnahme dieser Spezies zu rechnen, die sich, wir erinnern uns, effektiver vermehrt als eine Krebszelle? (26)

Weit gefehlt!

a) Künstliche Insemination

 

Dem egoistischen Individualsinn der Menschen, der sich hervorragend mit dem Sinn für Profit ergänzt, ist es geschuldet, daß der natürliche Rückgang der Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies konterkariert werden konnte. (27) Menschenfrauen, die unfähig waren, Kinder zur Welt zu bringen, behaupteten, entsetzlich zu leiden (28) . Um diesem entsetzlichen Leiden zu entgehen, waren und sind sie bereit, sich entsetzlichem Leiden auszusetzen. So unterziehen sie sich zum Beispiel der Prozedur der in-vitro-Fertilisation: Sie lassen sich eine Eizelle aus der Gebärmutter entnehmen, die dann im Reagenzglas die Chance bekommt, sich mit Spermien zu vereinigen – möglicherweise Spermien des eigenen Mannes, aber, sollte der unfruchtbar sein, auch mit anderen. Parallel dazu existiert die in-vivo-Befruchtung: Die Menschenfrau erlaubt während ihrer fruchtbaren Tage einer kalten sterilen Kanüle statt eines warmen pulsierenden Penis, sich ihrer Gebärmutter zu nähern und dort ihren Samen zu deponieren.

Es ist nicht nur diese Tortur, die jedes fühlende Wesen schaudern macht, sondern auch ihr Ergebnis: Anders als bei der normalen Befruchtung endet das Rennen der Spermien oft unentschieden, mehrere erreichen gleichzeitig ihr Ziel, die Eizelle, und durchdringen deren Trennwand. Das Ergebnis sind Zwillinge, Drillinge, Vierlinge, Fünflinge – Mehrlinge. Die Menschheit vermehrt sich so in einem Maße, das alle bisherigen Horrorszenarien (29) verblassen läßt.

Damit nicht genug!

b) Genetische Manipulation

 

Seit nunmehr fünfzig Jahren bemühen sich die Menschen, das geheimste Geheimnis der Natur zu entschlüsseln: Das Genom, das Erbgut. Sie haben inzwischen gelernt, viele der in der DNA verschlüsselten Informationen zu lesen und zu verstehen. Sie können sie auch kopieren und manipulieren, so daß sie die Natur von Pflanzen und Tieren (30) verändern.

Das öffentliche Interesse der Menschen wird gegenwärtig aber nicht von dieser sehr weitgehenden Perspektive beherrscht, sondern von einem Schlagwort, das viel kürzer greift: Kloning. Kloning, das Herstellen von Klonen, meint die Reproduktion biologisch identischer Lebewesen. Die Idee scheint faszinierend (31) , und manche meiner menschlichen Wissenschaftlerkollegen (32) und auch sogenannte normale Menschen (33) sind davon schier besessen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich den bärischen klaren Verstand aber schnell der entscheidende Pferdefuß: Psyche, Wissen und Erfahrung sind nicht übertragbar.

 

6. Fazit

Fassen wir zusammen.

Der Mensch ist das Krebsgeschwür dieser Welt. Er verhält sich wie eine Krebszelle. Wäre er intelligent genug, um zu begreifen, welche Gefahr er darstellt, würde er seine Reproduktion drastisch einschränken. Offenbar ist er dazu nicht intelligent genug, da es ihm an Möglichkeits- und Zukunftssinn mangelt. Im Gegenteil: Die partiellen intellektuellen Fähigkeiten, mit denen er ausgestattet ist, benutzt er, um sich weiter zu vermehren und sein eigenes Gattungsleben um so schneller zu beenden, während er doch glaubt, es zu verlängern.

7. Fazit des Fazits

 

Pfffffffffffft…(34)

8. Nachwort:

 

  • Selbstverständlich weiß inzwischen jeder, daß ich meiner Sekretärin danke.
  • Ich danke den Menschen, bei denen ich immer dann wohne, wenn ich nicht in Bärenleben bin, dafür, daß sie keine Kinder haben.
  • Ich hasse alle Menschen, die mehr als zwei Kinder haben, die sich in vitro oder in vivo fertilisieren oder sich klonen lassen.

Fußnoten:

1 Ich entschuldige mich bei Walter Benjamin für das Plagiat   
2 vgl. Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Mannheim 1997, Schw – Spin   
3 Ich will hier nicht erörtern, wer damit gemeint sein könnte. Meiner Erfahrung nach gehören Frösche auf jeden Fall nicht dazu  .
4 Dankbar nehme ich zur Kenntnis, daß die biologische Systematik der Menschen Bären dazurechnet.   
5 Was „weit“ bedeutet, wird zu untersuchen sein   .
6 ebd. Deutlich wird hier übrigens die Sichtweise, daß Menschen weder Pflanzen noch Tiere sind. Als Wissenschaftler kann ich diesen Unsinn nicht gutheißen, als voreingenommener Bär stimme ich hingegen zu – ich möchte mit den Menschen so wenig wie möglich zu tun haben.  
7 Ich bediene mich hier der gängigen sog. abendländischen Zeitrechnung, obwohl jeder Wissenschaftler weiß, daß diese äußerst fragwürdig ist  .
8 Zwar war ich selbst damals noch nicht geboren und kann dergleichen Angaben also nicht empirisch nachprüfen; auch weiß ich nicht, auf welche Erkenntnisse meine menschlichen Wissenschaftlerkollegen ihre Aussagen stützen. Der Einfachheit halber glaube ich ihnen ausnahmsweise mal.   
9 Die Begründung für diese Einschätzung folgt weiter unten.  
10 Auch dieses wertende Adjektiv wird später erläutert  .
11 besser: derentwegen    
12 Nach menschlicher Zählung, versteht sich: Die Pflanzen und wir Tiere haben noch nie auch nur einen Krieg geführ t.   
13 Natürlich nur die Überschüsse!   
14 „Intelligenz“ impliziert nach menschlicher Definition die Fähigkeit, Wissen zur Bewältigung neuer, akuter Probleme anzuwenden und so bisher unbekannte Situationen bewältigen zu können. Der uns Bären beständig gegenwärtige Möglichkeits- und Zukunftssinn spielt dabei allerdings keine Rolle.    
15 Ich könnte hier übrigens viel darüber erzählen, wie viele andere Gattungen durch die Ausbreitung von Homo sapiens sapiens vernichtet worden sind oder durch sie gelitten haben. Eigentlich habe ich Lust dazu, denn ich bin ein Bär. Aber ich bin auch ein wissenschaftlicher Bär, und als solcher sage ich: Das gehört nicht hierher.   
16 vgl. Anmerkung 9    
17 vgl. „Der Wert“    
18 Man möge mir zugute halten, daß ich nicht, wie die menschlichen Biologielehrer, auf die Bienen zurückgreife.    
19 Im Prinzip nicht, die bei Menschenmännchen beobachtete Phantasie ist allerdings bei einigen wenigen Exemplaren höher ausgeprägt.  
20 Vergewaltigungen müssen bei dem hier zu erörternden Problem leider unberücksichtigt bleiben.   
21 Die Rede ist hier nur von ordentlichen Wildkaninchen, nicht von unordentlichen Haustieren.  
22 „Bevölkerungsexplosionen“ auf so genannten neu entdeckten Kontinenten wie Amerika oder Australien bleiben hier aus evidenten Gründen unberücksichtigt   .
23 vgl. Anmerkung 15   
24 Ich benutze diesen Begriff lediglich, damit menschliche Leser mich verstehen. Selbstverständlich wäre es viel korrekter, von „Welt-“ zu sprechen  .
25 Ich entschuldige mich ebenfalls bei Karl Marx   .
26 Die Menschheit ist übrigens auf dem Weg, ihren Wirtskörper zu zerstören, beeindruckend weit vorangekommen. Dieses an sich positive Phänomen hat allerdings eine Kehrseite: Der Wirtskörper der Menschen ist auch der aller anderen Existenzen   .
27 Das Modalverb gibt selbstverständlich die menschliche Sicht der Entwicklung wieder. 
28 Ich als Bär maße mir nicht an, dieses Leiden zu beurteilen. Allerdings gebe ich zu, daß es mir schwer fällt, ein heimliches Kichern zu verbergen  .
29 Ich verweise hier z. B. auf den vielleicht auh Menschen bekannten Spielfilm: „2024 – die überleben wollen“  .
30 Da Menschen, wissenschaftlich betrachtet, Tiere sind, können die Menschen natürlich auch in ihre eigene biologische Struktur eingreifen – und sie tun das auch. Allerdings geben sie das bisher öffentlich nicht zu. Entsprechende Arbeit wird in höchst geheimen Labors geleistet  .
31 Ich muß leider zugeben, daß auch ich selbst eine Sekunde lang von der Idee fasziniert war, mich verdoppelt zu sehen   .
32 Dr. Seed aus den USA z. B. will sich unbedingt klonen – ob da der Name das Bewußtsein bestimmt   ?
33 Die Zahl der Witwen, die sich einen Klon ihres Mannes wünschen, oder der unglücklichen Mütter, die auf diese Art der Reproduktion ihr totes Kind zurückhaben möchten, ist Legion  .
34 Ich gebe zu, daß ich überrascht davon bin, daß eine ökonomische und eine biologische wissenschaftliche Arbeit zu demselben Ergebnis führen!

Grizzys Plan

Wer steckt hinter „Murphy’s Law“? Wer sorgt dafür, daß immer alles schiefgeht, was nur schiefgehen kann?
Grizzy, geheimnisvoller als seinerzeit Markus Wolf, hat sich bereit erklärt, unserer „Zeitschrift“ ein Interview zu gewähren.

Zeitschrift:

Grizzy, wer sind Sie und wo leben Sie?

Grizzy:

Wie mein Name schon andeutet, bin ich ein Grizzly. Im Sommer lebe ich in Grönland und im Winter in Kanada. Ich habe ein wenig Eisbärenblut in den Adern, deshalb liebe ich es kalt.

Zeitschrift:

Sie reisen sonst nicht?

Grizzy:

Doch, natürlich. Anderenfalls könnte ich mein Ziel wohl kaum erreichen. Allerdings ist das manchmal sehr unangenehm, vor allem wenn ich gezwungen bin, tropische Gegenden aufzusuchen. Sehen Sie sich doch mein Fell an – gegen meinen genetisch bedingten Winterpelz bin ich nun mal machtlos. Vor fünf Jahren in Rio habe ich echt gelitten. Alle halbe Stunde habe ich beim Zimmerservice einen Seesack voll Eis bestellt. Allerdings hat sich die Mühe gelohnt, wenigstens aus meiner Sicht. In Denver und New York vor ein paar Tagen war es dagegen sehr viel angenehmer. In Colorado hatte ich sogar Gelegenheit, nebenbei einen alten Bekannten zu treffen.

Zeitschrift:

Grizzy, Sie haben gerade Ihr Ziel erwähnt. Über dieses Ziel rätselt die ganze Welt. Wir alle kennen Sie nur als den geheimnisvollen Bären, der bei vielen internationalen Konferenzen erscheint. Offenbar verfügen Sie über Geld, denn Sie steigen nur in den besten Hotels ab. In der Regel sagen Sie kein Wort, niemand hat je beobachtet, daß Sie mit einem Konferenzteilnehmer ins Gespräch gekommen sind. Und irgendwann sind Sie wieder verschwunden.

Grizzy:

Stimmt.

Zeitschrft:

Also?

Grizzy:

Was also?

Zeitschrift:

Wir fragen Sie jetzt nicht, woher Sie das Geld haben…

Grizzy:

…diese Frage würde ich Ihnen auch nicht beantworten…(1)

Zeitschrift:

…sondern was Ihr Ziel ist. Was treibt Sie zu diesen Konferenzen?

Grizzy:

Die Sorge um die Welt. Um es kurz zu machen: Ich sorge für den Erfolg.

Zeitschrift:

Gestatten Sie, daß wir lachen. Vor fünf Jahren in Rio wurde die Agenda 21 unterzeichnet, wurden Absichtserklärungen bekundet. Es gab quasi-verpflichtende Erklärungen wichtiger Industrieländer. Und was ist passiert? Seit Rio gibt es 380 Millionen Menschen mehr, jetzt 5,85 Miliarden. 1,4 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu gutem Trinkwasser. Der Frischwasserverbrauch steigt schneller als das Wachstum der Weltbevölkerung. 1992 gab es 15 Millionen Flüchtlinge, heute sind es 26 Millionen. 1992 betrug die CO 2-Konzentration in der Luft 356 ppm, heute sind es 364 ppm. Der Waldverlust im Amazonasgebiet ist seit Rio von 11 000 Quadratkilometern im Jahr auf 15 000 gestiegen. Vor fünf Jahren gab es dreizehn Megastädte, heute mindestens 18 – sollen wir noch weitermachen?

Grizzy:

Gerne, wenn Sie möchten.

Zeitschrift:

Aber das kann Ihnen doch keinen Spaß machen?

Grizzy:

Warum nicht? Jeder hört schließlich gerne seine Erfolgsbilanz.

(Jeder Reporter wird natürlich vehement leugnen, daß es Momente gibt, in denen es ihm die Sprache verschlägt, aber hier war der Fall gegeben. Erst nach einer langen Pause kam die nächste Frage.)

Zeitschrift:

Sie wollen damit sagen..?

Grizzy:

Ich will damit sagen, daß ich auf diesen internationalen Konferenzen alles tue, um zu verhindern, daß sie Erfolg haben. Ja.

Zeitschrift:

Warum?

Grizzy:

Weil alle diese Konferenzen eine unausgesprochene Prämisse haben: Sie sind von anthropozentrischem Denken bestimmt. Das ist kein Vorwurf per se. Wenn Sie so wollen, denke ich ursozentrisch – also bärisch. Die bärische Philosophie hat aber immer gewußt, daß alles auf der Welt eine Lebensberechtigung hat, daß also nichts zerstört werden darf, auch nicht um des eigenen Vorteils willen. Bärische Erkenntnis sagt, daß die Beeren nachwachsen und die Lachse, die wir schlagen, uns verzeihen werden, denn sie haben gelaicht und sind todgeweiht.

Menschen denken anders. Zumindest die Menschen, die das Schicksal der Menschheit bestimmen. Das geschieht offenbar, wie ich gelernt habe, auf internationalen Konferenzen.

Zeitschrift:

Und wie denken diese Menschen?

Grizzy:

Ich habe gewisse Probleme, das zu begreifen. Velleicht können Sie mir helfen. Eine wichtige Rolle scheint Geld zu spielen. Ich habe zwar Geld, ich bezahle damit meine Hotelzimmer, aber ich weiß nicht, was es den Menschen bedeutet.

Zeitschrift:

Alles.

Grizzy:

Alles? Beeren, Lachse, Wasser, Wälder, Meere…?

Zeitschrift:

In gewisser Weise schon. Alles hat seinen Preis.

Grizzy:

Damit haben Sie recht. Trotzdem muß nicht alles Geld kosten. Aber lassen wir das.

Natürlich weiß ich, daß Sie Ihre Gesellschaft als Tauschgesellschaft organisiert haben und alsTauschmittel Geld benutzen. An sich schon schlimm genug – wer kein Geld hat, kann in der modernen Menschenwelt nicht leben. Ich begreife aber nicht, warum die Mächtigen der Menschen alles daran setzen, mehr Geld zu besitzen, als sie jemals werden ausgeben können.

Zeitschrift:

Das dürfte in einem gewissen Sicherheitsbedürfnis begründet sein.

Grizzy:

Sicherheitsbedürfnis?

Zeitschrift:

Nun ja – Vorbeugung. Zum Beispiel vor Inflation, Kriegs- oder Katastrophenfolgen.

Grizzy:

Dagegen hilft Geld? Menschen denken also, bei einer Inflation werden sie ihre wertlosen Geldscheine kochen und verspeisen, im Krieg ihre Verletzten mit Dollarnoten verpflastern und die Opfer einer Flutkatastrophe auf Flößen aus Yenbündeln bergen?

Zeitschrift:

Verzeihung, Grizzy, aber das sehen Sie wohl doch etwas zu banal. Wir sollten wohl wieder zu unserem eigentlichem Thema zurückkommen: Ihrer Anwesenheit auf wichtigen Konferenzen und Ihrem Erfolgsrezept. Ganz direkt: Warum nehmen Sie an hochkarätigen internationalen Treffen teil?

Grizzy:

Aus Sicherheitsbedürfnis.

Zeitschrift:

Das verstehen wir nicht.

Grizzy:

Dann lassen Sie mich Ihnen helfen. Welches ist das Ziel solcher Konferenzen, zum Beispiel der 1992 in Rio?

Zeitschrift:

Das Überleben zu gewährleisten, selbstverständlich. Sustainable development…

Grizzy:

Wessen Überleben?

Zeitschrift:

Natürlich das der Menschheit.

Grizzy:

Danke.

Zeitschrift:

Wieso?

Grizzy:

Ich bin ein Bär.

Zeitschrift:

Oh.

(Pause)

Aber wir alle wissen doch, daß das Überleben der Menschheit…

Grizzy:

…ohne das Überleben der Bären undenkbar ist! Nicht wahr, das wollten Sie doch sagen? Soll ich Ihnen jetzt wirklich eine Vorlesung über den Umgang von Menschen mit Bären halten? Sie dürften ebenso wie ich wissen, daß das eine Geschichte grausamer Ausrottung ist, weil die Menschen in ihrem überbordenden Fortpflanzungsdrang uns unseren Lebensraum mehr und mehr streitig machten. Falls Ihre Gattung tatsächlich glaubt, meiner Gattung möglicherweise noch einmal zu bedürfen, wird sie unsere wichtigsten Erbinformationen in Genbanken konservieren – das war’s aber auch.

Zeitschrift:

Wollen Sie damit andeuten…?

Grizzy:

Andeuten wollte ich eigentlich gar nichts. Ich wollte laut und deutlich folgendes sagen: Die bisherige Geschichte der Menschheit zeigt, daß zwischen Bären und ihr eine friedliche Koexistenz nicht möglich ist. Folglich muß eine der beiden Spezies verschwinden. Ich versuche zu erreichen, daß das nicht die Bären sind. Also ist jedes Scheitern einer Konferenz, die zum Ziel hatte, die Anwesenheit der Gattung Homo sapiens sapiens auf diesem Planeten zu verlängern, für mich ein Erfolg. Rio, Denver und New York haben gezeigt, daß Ihr primäres Ziel darin besteht, sich zu Tode zu verdienen. Ich arbeite daran, daß Sie dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Zeitschrift:

Ganz leuchtet uns das nicht ein. Wenn Sie daran arbeiten, daß wir uns weiterhin schrankenlos vermehren und diesen Planeten ruinieren, arbeiten Sie doch auch an Ihrem eigenen Untergang?

Grizzy:

In gewisser Weise: ja. Sie werden mich als Individuum, vielleicht auch uns Grizzlys vernichten. Aber wir haben viele kleine Verwandte. Zur Not fangen wir bei den Ratten wieder an. Uns alle werden Sie nicht schaffen.

Zeitschrift:

Grizzy, wir wollen nicht mißtrauisch sein. Sie behaupten tatsächlich, all das zu erreichen, indem Sie einfach nur da sind?

Grizzy:

Haben Sie eigentlich Angst vor mir?


Zeitschrift:

Wir geben es zu: ein bißchen schon. Sie sind groß, haben eindrucksvolle Zähne und Tatzen und duften nicht gerade nach Aftershave…

Grizzy:

Sehen Sie. Mehr brauche ich doch gar nicht. Ich verbreite Wildnisgeruch – und schon werden die Menschen nervös. Ich signalisiere ihnen: Noch haben sie sich die Erde nicht ganz untertan gemacht. Also arbeiten sie weiter daran – wie sie es verstehen…

(1) Wer wissen will, wo das Geld vielleicht herkommen könnte, der schaue hier! (Zurück)

Hamburg und Doris

 

Hamburg und Doris

 

Manfred und Tumu
Papa, ich würde gerne mal nach Hamburg fahren. Kommst Du mit Mama mit?“
Bärdel verschluckte sich vor Überraschung; er kaute gerade genüßlich eine Honigwabe aus. Wieso zog es seinen Sohn in eine Menschengroßstadt? Und vor allem: Warum wollte sein halbstarker Sohn, der beständig nichts mehr betonte als seine Selbständigkeit, auf einmal seine Eltern bei einer so aufregenden Unternehmung dabeihaben?
Nachdem er seinen Husten besiegt hatte, schaute er Manfred nur an, und der verstand die stumme Frage. Er tat sich allerdings schwer, sie zu beantworten, und druckste herum:
„Na ja, ich muß die Menschen doch auch mal kennenlernen, wenn es schon so viele von ihnen gibt. Das geht in einer Stadt bestimmt am besten. Aber ein bißchen Angst habe ich, ehrlich gesagt, doch. Deshalb sollt ihr mitkommen. Und ich möchte etwas Bestimmtes sehen. In der Zeitung habe ich letztens gelesen, daß es in Hamburg einen Zoo gibt. Da möchte ich hin.“
Bärdel simulierte einen neuen Hustenanfall, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Hamburg? Na gut. Das konnte dem Jungen nicht schaden – erst Jungfernstieg und Binnenalster zum Staunen, vielleicht sogar Blankenese, und danach St. Georg zur Ernüchterung. Falls sie nicht allzu müde waren, auch noch die Reeperbahn. Aber Hagenbecks Tierpark? Niemals!
„Keine schlechte Idee, Manfred!“ sagte er. „Frag mal Mama, wann sie Zeit und Lust hat.“
Bärdel war ein kluger Vater. Er wußte, daß sein Sohn seinen Willen durchsetzen würde, wenn er versuchte, ihm sein Vorhaben zu verbieten. Er mußte also taktieren.

Als Manfred und seine Eltern ein paar Tage später aufbrachen, war Tumu in Bärdels Plan eingeweiht. Castornixleben in der Nähe von Bärenleben hatte einen Bahnhof, und dort schmuggelten sie sich als blinde Passagiere in den Gepäckwagen eines Zuges, der zum Hamburger Hauptbahnhof fuhr.
Manfred war schrecklich aufgeregt: Er war noch nie Eisenbahn gefahren, schon gar nicht ohne zu zahlen, und verstand auch nicht den Grund für ihr illegales Handeln. „Papa, wir haben doch Geld, oder?“
Bärdel nickte und bemerkte nur: „Richtig, aber das brauchen wir für Wichtigeres“, was seinen Sohn auch nicht schlauer machte.
Die Ankunft in Hamburg Hauptbahnhof verwirrte ihn völlig: Zahllose hastende, drängelnde, schimpfende, lachende, bettelnde,weinende, immer aber rücksichtslose Menschen schubsten und stießen einander oder gingen achtlos aneinander vorbei, und dieses Gewimmel überlagerten scheppernde Lautsprecheransagen.
Manfred tat, was er schon lange nicht mehr getan hatte: Er schmiegte sich schutzsuchend an Tumu. „Mama, ich will hier weg!“
„Ich auch!“ seufzte Tumu aus Herzensgrund. „Sag uns schnell, wo der Zoo ist, zu dem du willst. Dort ist es bestimmt ruhiger.“
„Aber ich weiß doch gar nicht, wie man da hinkommt… Vielleicht sollten wir einfach loslaufen und suchen?“
„Keine gute Idee!“ kritisierte Bärdel. „Hamburg ist riesengroß; wir würden uns nur die Füße wundlaufen und nichts finden. Wahrscheinlich müssen wir sogar nochmal mit der Bahn fahren. Kommt, da vorne ist eine Srteckennetzkarte.“
Manfred hatte keine Ahnung, was eine „Streckennetzkarte“ sein könnte, und als er davor stand, wurde er auch nicht schlau daraus. Verschiedenfarbige Linien zogen sich, von wenigen Zentren ausgehend, kurvig über ein überwiegend rechteckiges Grundmuster.
„Na, wohin müssen wir?“ fragte Bärdel. Niemand, noch nicht einmal Tumu, vermochte die gespielte Unschuld in seiner Stimme zu hören.
„Keine Ahnung…“ Manfred zuckte die Schultern. „Erstens verstehe ich diesen Plan nicht. Und zweitens weiß ich noch nicht einmal, wie der Zoo heißt.“
„ich auch nicht“, log Bärdel. „Aber laß uns mal nachdenken. Ein Zoo ist was für‘s Volk. Und ein anderes Wort für ,Zoo‘ ist ,Tierpark‘ – ein Hoch auf den Euphemismus. Hmmm – was hältst du von ,Volkspark‘?“
Bärdel wußte, wie gefährlich sein Spiel war – schließlich stand auch ,Hagenbecks Tierpark‘ fettgedruckt auf der Karte, und dumm war Manfred wahrlich nicht. Aber Manfred ließ sich zum Glück irreführen.
„Prima, Papa!“ jubelte er. Da steht es ja: „‘Volkspark‘. Also steigen wir jetzt in die S 21, was immer das auch ist, und schwuppdiwupp sind wir da.“
Dumm war Manfred wahrlich nicht.
Nach ein paar Stationen mit der S-Bahn stand die Familie auf der Schnackenburgallee. Genauer gesagt: Sie versuchte, dort zu stehen. Tatsächlich nämlich wurde sie herumschubst von tausenden von Menschen, die etliche Gemeinsamkeiten hatten: Sie waren jung und männlich, trugen trotz der sommerlichen Wärme Mützen und Schals in Weiß und Blau, grölten laut und unmelodisch im Chor und waren nicht mehr nüchtern, ein Zustand, den sie durch exzessive Benutzung zahlloser Bierflaschen und -dosen zu vertiefen versuchten. Alle strömten in dieselbe Richtung, und die kleinen Bären konnten sich ihrem Sog nicht entziehen. Sie wurden einfach mitgerissen.
Alle drei hatten Mühe, nicht in Panik zu geraten. Bären sind nun einmal gemütliche Leute, die alles Laute verabscheuen und die Langsamkeit lieben. Zudem haben sie gelernt, den Menschen aus dem Weg zu gehen, um ihre Ruhe zu haben. Aber hier konnten sie niemandem aus dem Weg gehen, es gab einfach keinen Platz dafür. Es gab noch nicht einmal genügend Platz, um zu sehen, wohin sie gedrängt wurden.
Tumu griff mit der rechten Pfote nach Bärdel und suchte mit der linken nach Manfred. Gut, hier mußten sie sich wohl erst mal eine Weile mitziehen lassen, bis sich irgendwann eine Chance ergab, sich aus dem Pulk zu lösen. Währenddessen aber wollten sie sich wenigstens nicht trennen lassen.
Bärdel drückte ihre Rechte beruhigend, aber ihre Linke blieb leer. Wo war Manfred?
„Halt!“ sagte Tumu.
„Das geht leider gerade nicht“, versuchte Bärdel zu scherzen.
„Es muß aber“, meinte Tumu, und Bärdel hörte aus ihren Tonfall, daß es ernst war. „Manfred ist weg!“
„Heilige Tussi“, murmelte Bärdel. Ein Mensch hätte jetzt vermutlich ‚Scheiße‘ gesagt. Und dann seufzte er: „Also los, kugeln!“
Bären verfügen über eine wirkungsvolle Technik, die dazu geeignet ist, selbst eine Stampede zu überleben. Sie rollen sich zusammen und spannen all ihre Muskeln an. Auf diese Weise können sie alle Tritte und Püffe überstehen, ja, sie können sich, während die Büffelherde oder was auch immer über sie hinwegstapft, sogar noch langsam vorwärtsbewegen. Ganz ohne blaue Flecke geht es dabei jedoch nicht ab. (Evolutionsbiologisch ist nicht ganz klar, wozu diese seit Urzeiten vorhandene Fähigkeit der Bären dient. Bären, Büffel und überhaupt alle Tiere sind einander immer klug aus dem Weg gegangen. Früh eine Fähigkeit zu entwickeln, für die erst in einer späten Phase der Evolution – nämlich mit dem Auftauchen des Homo sapiens sapiens – Bedarf besteht, widerspricht allen Grundsätzen des Darwinismus. Kennten Theologen das Problem, würden sie sich sicher damit beschäftigen.)
Bärdel und Tumu kugelten. Die Menschen über ihren angespannten Körpern fluchten über die Hindernisse, über die sie stolperten, und versetzten ihnen manchen schmerzhaften Tritt mit stahlbewehrten Stiefelspitzen, aber sie kamen voran. Nach wenigen Metern lagen sie vor einem viereckigen Loch. Vorsichtig hob Bärdel den Kopf.
Tumu tat es ihm nach.
„Ob Manfred da reingefallen ist?“ fragte sie.
„Möglich. Er kann aber auch abgedrängt worden sein, bevor du ihn anfassen konntest.“
„Nein. Er ist da unten. Ich spüre das!“
Bevor Bärdel eine Chance hatte, etwas zu sagen oder zu tun, war Tumu in das Loch gesprungen. Er schob sich ein Stück vor und lauschte in den schwarzen Schacht hinunter. Nichts. Was sollte er tun?
Er holte tief Luft und sprang hinterher.

Nur zwei oder drei Meter mußte er in freiem Fall verbringen, dann traf sein gut gepolsterter Hintern auf Beton. Auf einer steilen schiefen Ebene sauste er abwärts. Wo würde er landen? Wahrscheinlich in der Kanalisation. Vorsorglich hielt er sich die Nase zu. Einerseits war das eine scheußliche Idee – Bären haben einen hochentwickelten Geruchssinn, und Manfred, Tumu und er würden Wochen brauchen, um ihren Pelz so gründlich zu säubern, daß sie sich selbst wieder riechen konnten. Andererseits würden sie mit Hilfe der Kanalratten auch wieder aus dem stinkenden Verdauungstrakt der Stadt herausfinden. Aber wenn seine Vermutung stimmte, müßte er eigentlich Verwesungsgeruch wahrnehmen – und das war nicht so. Stattdessen sah er einen hellen Lichtschein.
Bruchteile von Sekunden später landete er unsanft, aber unverletzt. Vor ihm standen Tumu und Manfred.
„Tussi sei Dank,“ murmelte er und rappelte sich auf. „Konntest du denn nicht aufpassen?“ raunzte er Manfred an. „Wo sind wir hier überhaupt?“
„Ich habe aufgepaßt, aber jemand hat mich geschubst, und da bin ich gefallen. Wo wir sind, weiß ich nicht. Gerade als ich anfangen wollte mich umzusehen, kam Mama, und direkt danach bist du runtergepurzelt.“
Fast schämte Bärdel sich ein bißchen: Die sachliche Antwort seines Sohnes war viel bärischer als sein eigenes unbeherrschtes Verhalten. Aber auch Bärenvätern fällt es schwer, sich zu entschuldigen, und deshalb meinte er nur: „Na, dann wollen wir mal sehen, wie wir hier wieder rauskommen!“

Eine Untersuchung ihrer Umgebung machte die drei Bären auch nicht schlauer. Über ihnen war die Schwärze des Schachtes, durch den sie heruntergefallen waren. Ein kühler Luftzug wehte sie von oben an. Sie befanden sich in einem schmalen Tunnel, dessen Ende nicht zu erkennen war. Wandten sie sich nach links, kümmte er sich nach rechts; schauten sie nach rechts, nahmen sie eine Linkskrümmung wahr.
„Möglicherweise eine kreisförmige Anlage,“ stellte Tumu fest, und ihre Begleiter nickten. Eine ,Anlage‘ war es zweifellos. Auf dem Boden des Gangs waren Schienen installiert. In der Nähe der Wand verlief eine wenige Zentimeter dicke Leitung, die aber nur über kurze Strecken sichtbar war. Viereckige und sechseckige Kisten in Rot, Blau und Gelb waren in kurzen Abständen über die Leitung gestülpt. Auf einem Bord kurz unter der Decke gab es eine Ansammlung von Kabelsträngen.
Falls Tumus Vermutung von einer kreisförmigen Anlage stimmte, dann waren Leitung, Kisten und Kabel ,innen‘. ,Außen‘ an der Wand hingen Kästen, die nichts zeigten außer einem Schlüsselloch und einer in den Gang gestülpten kleinen Glasblase.
„Komische Gegend!“ meinte Manfred. „Hast du so was schon mal gesehen, Papa?“
Bärdel hätte gerne ,Ja‘ gesagt, denn er hatte viel gelesen und war durchaus eitel, obwohl er es ungern zugab. Aber hier mußte er passen.
„Nie,“ gab er zu. „Und ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung, wozu das hier dient. Aber eines ist klar: Menschen haben das gemacht. Manfred, unser Wochenendausflug wird erfolgreich. Wir lernen was über den Menschen!“
„Super!“ jubelte Manfred. „Laßt uns anfangen! Ein Gang ist dazu da, erforscht zu werden!“
Es schien völlig egal, in welche Richtung sie gingen, und deshalb folgten Tumu und Bärdel ihren Sohn, als er sich nach links wandte. Etwa hundert Meter wanderten sie geradeaus, dann machte der Gang eine Rechtskurve. Abgesehen von der Krümmung änderte sich an der Umgebung nichts.
Psychologisch verhalten sich Bären in einigen Beziehungen nicht anders als Menschen, auch wenn sie grundsätzlich vorsichtiger sind. Beide Spezies gewöhnen sich schnell an unbekannte Umgebungen und schließen aus der momentanen Abwesenheit von Gefahr auf deren Nichtexistenz.
Schon nach wenigen Minuten schlenderten die Drei durch den Tunnel, als seien sie zu Hause in Bärenleben, und unterhielten sich lautstark. Manfred genoß das Abenteuer, und Bärdel war sich inzwischen sicher, daß sie sich in einer ringförmigen, also überschaubaren Anlage befanden. Es galt nur noch, einen Ausweg zu finden – mit oder ohne Kanalratten. Tumu aber hatte sich einen Rest Skepsis bewahrt, sie lauschte nach wie vor mit aufgestellten Ohren auf ungewohnte Geräusche. Sie tat gut daran.
„Pssst!“ zischte sie plötzlich. Menschenmänner hätten das vermutlich als weibliche Hysterie abgetan und sich nicht darum gekümmert, aber Bärdel und Manfred blieben sofort wie versteinert stehen. Tumu legte die Pfote auf die Schnauze, dann legte sie sich selbst auf die Schienen. Die Vibration war deutlich, und jetzt hörten auch die Männer ein leises Sirren.
„Es kommt jemand!“
Sie konnten nicht ausmachen, in welche Richtung sich das Schienenfahrzeug bewegte, aber letztlich war das auch egal: Wenn es weiterfuhr, mußte es in einem Ring irgendwann bei ihnen vorbeikommen. Sie schauten sich um: Die Eltern auf der Suche nach einem Fluchtweg, Manfred auf der Suche nach einer Waffe. Manfred wurde fündig: Neben einem sechseckigen blauen Kasten lag ein Schraubenzieher. Tumu und Bärdel aber suchten vergeblich: Rechts und links waren nur türenlose Wände, und auf dem weit hinter ihnen liegenden Weg, auf dem sie hereingekommen waren, konnten sie nicht zurück.
„Na“, meinte Tumu ruhig, „dann bleibt uns nichts anderes übrig. Maßnahme Streichholz! Manfred, leg den blöden Schraubenzieher wieder hin!“
Bären können nicht nur beim Kugeln ihre Körper vor Knüffen und Püffen bewahren, sie können sich auch perfekt tarnen, indem sie sich lang und starr machen. Schon so mancher Jäger hat sie in dieser Pose für einen dicken Ast gehalten und ist achtlos auf der Pirsch an ihnen vorbeigeschlichen. Bis zu diesem Augenblick hätten die Bären sich allerdings nicht träumen lassen, daß sie diese Fähigkeit eines Tages brauchen würden, um als ein Kabel zu erscheinen.
Manfred hüpfte mühelos auf das Bord kurz unter der Decke, Bärdel half Tumu mit der altbekannten Räuberleiter-Technik und kletterte dann selbst hinterher. Sie streckten sich und verwandelten sich in ,Streichhölzer‘. Nur die Augen schienen noch zu leben.
Hier oben auf der Kabelablage konnten sie das Vibrieren der Schienen natürlich nicht mehr wahrnehmen, aber das Sirren wurde deutlich lauter. Etwas näherte sich.
Jetzt erst bemerkten sie, daß das Gefährt auf den Schienen nicht ununterbrochen unterwegs war, sondern zwischendurch stoppte. Nicht nur einmal, sondern häufiger. Als das Geräusch näher kam, hörten sie auch Laute in den Pausen. Es waren immer die gleichen: Zwei dumpfe Geräusche, ein metallisches Klicken, Scharren, dann wieder ein Klicken, und nach einer kurzen Pause abschließend wieder die beiden dumpfen Töne.
Erst als ihr ,Besucher‘ in Sichtweite war, konnten sie sich einen Vers darauf machen, wenn sie auch überhaupt nicht verstanden, was da vorging. In einem schienengeführten Elektrokarren saß ein Mann mit einem roten Schutzhelm auf dem Kopf. Immer, wenn er auf der Höhe eines Kastens an der Außenwand war, stoppte er sein Gefährt. Er stieg aus, ging zu dem Kasten, steckte einen Schlüssel hinein, drehte ihn und zog ihn wieder heraus. Wenn er das getan hatte, leuchtete die Glasblase an dem Kasten grün auf. Anschließend blickte der Mann sich aufmerksam um, bevor er zu seiner Elektrodraisine zurückging, und dann begann das Ganze von vorn.
Die Bären ließen ihn passieren und lösten sich erst aus ihrer Streichholzpose, als er außer Sicht- und Hörweite war.
„Was sollte das denn?“ fragte Manfred. Aber hierauf wußten auch seine Eltern keine Antwort und zuckten nur die Schultern. Letztlich hielten sie die Ereignisse für harmlos. Ihre Kenntnisse der menschlichen Konventionen sagten ihnen, daß grüne Lämpchen „keine Gefahr“ bedeuteten. Vielleicht hätten sie sich gewundert und wären unruhig geworden, wenn sie hätten bemerken können, was auf der anderen Seite des Ringes geschah.
Das Elektrovehikel war an einer Gittertür in der Außenwand angekommen. Der Fahrer stieg aus, ging durch die Tür nach draußen und verschloß sie hinter sich. Er wurde erwartet. Vier Männer in ebenfalls roten Schutzhelmen standen auf der anderen Seite. Sie hatten auch Schlüssel in der Hand. Fast zeitgleich steckten alle fünf ihre Schlüssel in fünf verschiedene Kästen und drehten sie. Fünf grüne Lämpchen leuchteten auf. Die Männer blickten einander befriedigt an und stellten ein leuchtend rotes Schild vor die Tür, bevor sie sich entfernten.
Doch davon wußten die Bären nichts.

Nach der Störung setzten sie ihren Erkundungsgang fort. Nichts hatte sich geändert, außer daß an der Außenwand jetzt ab und zu eine Glühbirne hinter grünem Glas brannte. Gespannt steuerten sie auf die nächste Kurve zu: Ob sich dahinter wohl etwas ändern würde?
Neugierig pirschte Manfred vorweg. Bärdel hatte ihm versprochen, daß sie etwas über die Menschen lernen würden, und er wollte der erste sein, der das Neue entdeckte. Das gelang ihm eher, als ihm lieb war. Etwas hob ihn plötzlich von den Füßen und ließ ihn mit unwiderstehlicher Gewalt auf einen gelben Kasten zusausen. Unsanft rumste er dagegen und blieb daran kleben. Obwohl er ein mutiger Jungbär war und Selbstbeherrschung gelernt hatte, konnte er nicht verhindern, daß er zuerst „Scheiße“ sagte und dann „Hilfe“ rief.
Tumu wollte ihm sofort nacheilen, aber Bärdel erwischte sie noch gerade rechtzeitig am Nackenpelz.
„Stop!“ sagte er. „Manfred hängt fest, aber sonst scheint ihm nichts zu fehlen. Vielleicht kriegen wir ihn zusammen los. Wenn du ihm allerdings nachläufst und auch von diesem merkwürdigen Kasten angezogen wirst, weiß ich nicht, ob ich euch beide werde befreien können. Also laß uns erstmal nachdenken.“
‚Nachdenken‘ hieß primär, Manfred zu befragen. Er berichtete das, was sie zum großen Teil selbst sehen konnten: Der gelbe Kasten hielt ihn am Hinterteil fest. Arme und Beine konnte er frei bewegen, aber auch mit der größten Anstrengung konnte er sich nicht von der Metallkonstruktion abstemmen.
„Manfred“, fragte Tumu, und ihre Stimme klang, als ob sie sich an etwas erinnere, „was hast du am Hintern?“
„Eigentlich nichts“, bekam sie zur Antwort. Die Stimme klang kleinlaut. „Nur den Schraubenzieher, den ich vorhin gefunden habe.“
„Wirf ihn weg!“ befahl Tumu.
Manfred begann sich zu winden. Es ist nicht leicht, einen zwanzig Zentimeter langen Gegenstand aus der Kimme zu entfernen, wenn beide Arschbacken fest an der Wand kleben. Tumu beobachtete seine vergeblich erscheinenden Bemühungen. Sie schienen aussichtslos. Sie setzte sich in Bewegung, um ihm zu helfen.
„Halt!“ befahl Bärdel.
Zornig blitzte Tumu ihn an. Welch herzloser Vater! Wie konnte er die Leiden seines Sohnes verlängern wollen! Sie beschloß, seinen Befehl zu ignorieren.
„Halt!“ Dieses Mal klang es so energisch, daß selbst Tumu einhielt. Aber sie spürte, daß ihre angestaute Aggression sich in einer Schimpfkanonade entladen mußte. Sie holte tief Luft, aber Bärdel kam ihr zuvor.
„Zum dritten Mal: Halt! Wenn es dieser Schraubenzieher ist, der Manfred an der Wand festhält, dann haben wir es mit Magnetismus zu tun, und wenn du ihn anfaßt, dann hängst du vielleicht genauso fest wie er. Er muß es allein schaffen!“
Tumu erinnerte sich an die Menschenmärchen von Sindbad dem Seefahrer, in denen der Magnetberg eine große Rolle spielte, und verstand. Sie blieb stehen.
Manfred, der den Dialog seiner Eltern verfolgt hatte, begriff. Er mußte seinen Körper so bewegen, daß er den Kontakt zu dem metallenen Schraubenzieher verlor. Angesichts seiner gegenwärtigen Position hieß das: Er mußte an dem gelben Kasten senkrecht hochrobben.
Er versuchte es. Es war gar nicht so schwer, wie er gedacht hatte. Immer wenn ihn die Kräfte verließen, konnte er sich auf ,seinem‘ Schraubenzieher ausruhen, den er nach jedem Klimmzug ein Stückchen tiefer spürte.
Bärdel beobachtete sein Fortkommen genau. Als er schätzte, daß Manfred sich beim nächsten Aufwärtszug von dem Schraubenzieher lösen würde, kommandierte er:
„Zieh! Und spring!“
Manfred tat, wie ihm geheißen, und landete sicher auf dem Boden des Ganges. Einsam klebte der Schraubenzieher an dem gelben Kasten.
„Puh“, sagten alle Drei wie aus einem Mund. Die Ohrfeige, die Manfred erwartet hatte, blieb ihm erspart – seine Eltern waren viel zu erleichtert, um ihn zu bestrafen. Ein neues Abenteuer ihres vorwitzigen Sohnes wollten sie allerdings nicht riskieren. Manfred bekam die strikte Anweisung, hinter seinen Eltern zu bleiben, und da ihm der Schreck noch in den Knochen steckte, hielt er sich sogar daran.

Vorsichtig tappte jetzt Bärdel voran. Dichtauf folgten Tumu und Manfred – allerdings nicht auf Plüschfühlung. Zwar hatte jetzt keiner von ihnen mehr etwas Metallenes an sich, aber vielleicht gab es vor ihnen noch eine unbekannte Gefahr, die alles erfaßte, was miteinander Kontakt hatte.
Sie befanden sich in einer starken Krümmung des Ganges. An der Einrichtung hatte sich nichts verändert. Vor ihnen allerdings schien die Sonne aufzugehen. Ein gleißender Lichtschein drang hinter der nächsten Biegung hervor. Bärdel ließ sich davon wenig irritieren: Licht, dachte er, kann mir nichts anhaben. Ungeschützt trat er in den vollen Strahl.
Nein, vor ihm ging nicht die Sonne auf. Vor ihm erstrahlte ein Stern, tausendmal heller und farbenprächtiger als die harmlose, ferne kleine Sonne. Er leuchtete nicht nur in dem Gelbweiß des heimischen Gestirns, sondern in allen Farben des Regenbogens und noch in vielen mehr, für die Bärdel keine Namen gewußt hätte, selbst wenn er lange Zeit gehabt hätte, sie zu suchen.
Aber er hatte keine Zeit. Der Lichtstrahl war nicht nur unbeschreiblich schön und farbenprächtig, er war auch unerträglich heiß. Bärdel spürte, daß sein Plüsch in Flammen aufgehen würde, wenn er hier auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu lange verharrte. Wohin?
Zurück konnte er nicht. Tumu stand ihm fast auf den Hinterpranken, und ebenso dicht hinter ihr war vermutlich Manfred. Der Gang war so eng, daß alle drei hätten zurückgehen müssen, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen. Erklärungen, Befehle? Dauert alles viel zu lange. Umrennen? Funktioniert nicht.
Bärdel spurtete los – und war verschwunden.

Tumu erstarrte. Eben waren sie noch vorsichtig, aber gleichmäßig langsam vorwärtsgetrottet, und plötzlich war Bärdel weg. Manfred, der nichts sehen konnte, stupste sie ungeduldig in den Rücken.
„Was ist los?“
„Papa ist weg!“
Manfred schossen Gedanken über hysterische Frauen durch den Kopf, die er aber wohlweislich für sich behielt.
„Das kann doch gar nicht sein! Laß mich mal sehen.“
In ihrer Verwirrtheit unternahm Tumu nichts dagegen, daß Manfred sich an ihr vorbeidrängelte. Tatsächlich – kein Bärdel, nur ein sehr heller Lichtschein hinter der nächsten Kurve. Vorsichtig ließ er sich nach Art der Bärenvorfahren auf alle Viere nieder, schob sich langsam vorwärts und steckte den Kopf um die Ecke. Blitzschnell zog er ihn wieder zurück.
„Was ist da?“ wollte Tumu wissen.
„Licht. Und viel Hitze.“ Manfred hielt seinen heißen Kopf in den Tatzen. Wenn sein Vater da vorne war, war er entweder verbrannt, oder er hatte einen Ausweg gefunden. Aber es gab doch keinen Ausweg aus diesem Gang… Also mußte Bärdel in Flammen aufgegangen sein.
Haltlos begann Manfred zu weinen: „Mama, Papa ist tot! Und wir sind hier gefangen!!“
Tumu nahm ihn in den Arm. Zwar hatte auch sie Angst, aber die war nicht stark genug, zwei ihrer wesentlichen Fähigkeiten zu zerstören: Intuition und Denkfähigkeit. Sie ahnte, was ihrem Sohn durch den Kopf schoß.
„Der Gang muß einen Ausgang haben. Woher sollte sonst vorher der Mann gekommen sein, der mit dem Schienenfahrzeug unterwegs war? Glaubst du, der fährt hier immer im Kreis? Und wenn Papa verbrannt wäre, würden wir es riechen – verbrannter Plüsch stinkt entsetzlich!“
Manfred schämte sich – er hatte die Nerven verloren, und das vor einer Frau! Aber insgeheim war er stolz auf seine Mutter. Er wischte sich die Augen trocken und nickte.
Tumu sah, daß er wieder imstande war zu denken.
„Was genau hast du gesehen?“ wollte sie wissen.
„Der Gang da vorne krümmt sich immer weiter nach rechts. Irgendwo da vorne ist eine Lichtquelle, die strahlt stärker als zehntausend Sonnen. Und sie ist so heiß, daß…“
„Stop!“ sagte Tumu. „Wenn die Lichtquelle rechts ist und Papa nicht verbrannt ist – was er nicht ist – dann muß er nach links gelaufen und ihr ausgewichen sein. Nach links oder vielleicht auch geradeaus – jedenfalls immer an der linken Wand lang. Da muß ein Ausgang sein!“
Manfred nickte. In wortlosem Einverständnis machten beide kehrt und gingen zehn Schritte zurück. Dann drehten sie sich wieder um. Tumu faßte Manfreds rechte Hand und stellte sich schräg vor ihn. Gleichzeitig spurteten sie los.
Der Lichtstrahl machte sie blind, sobald sie in ihn eintauchten, aber Manfred hatte in dem jetzt etwas breiteren Gang zu seiner Mutter aufgeschlossen und leitete sie, indem er seine linke Pfote an der Wand entlanggleiten ließ. Blitzschnell durchquerten sie so die gefährliche Strahlung. Da Tumu ihn mit ihrem Körper abschirmte, bemerkte Manfred kaum etwas davon, Tumu dagegen hatte das Gefühl, halbseitig gegrillt worden zu sein.

„Da seid ihr ja endlich!“ Die Worte waren dürr, aber aus Bärdels Ton sprach unendliche Erleichterung. Zärtlich breitete er die Arme aus, aber Tumu wehrte ab.
„Später! Jetzt müssen wir erstmal sehen, wo wir gelandet sind!“
Die Bären standen in einer Art geradem Stichkanal, in dem es unnatürlich, aber nicht unerträglich warm war. Das tödliche Licht hinter ihnen drang hier nicht hinein. Vor ihnen war der Gang verschlossen, aber das war nur eine Art Fliegengitter ohne Schloß, einseitig an einem Scharnier befestigt.
„Na, dann wollen wir uns mal britisch verhalten“, meinte Bärdel.
„Hä?“ machte Manfred.
„Forward ever, backward never!“ schmunzelte sein Vater, ging voran und öffnete das Gitter.

Unbehelligt gelangten die Drei hindurch und kamen in eine große, mit häßlichen Dingen vollgestellte Halle. Kisten, Kästen, Apparaturen mit Skalen, Monitore und Schreibtische waren auf viele containerartige Gehäuse verteilt. Der Platz für all diese Geräte schien nicht auszureichen, so daß manche auf Emporen installiert waren, zu denen Treppen führten. Das sagte ihnen ein erster Orientierungsblick, dann aber fiel ihr Augenmerk auf das, was sie unmittelbar vor sich fanden.
Ein Mensch saß in seinem Gehäuse an seinem Schreibtisch und manipulierte die Schalter und Drehknöpfe etlicher Geräte.
„Oh!“ sagte Tumu. Sie war überrascht, so plötzlich vor einem Menschen zu stehen, und hatte den Laut nicht unterdrücken können.
„Ja, ja, da staunen Sie!“ antwortete der Mensch, ohne sich umzudrehen. „Ist schon phantastisch, was wir hier machen. ‚Zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält.‘ Bald wissen wir’s. Glauben Sie bloß nicht, daß meine Forschung im Infrarotbereich dabei unwichtig ist. Alles ist wichtig. Ich meine festgestellt zu haben, daß Viren gerade bei diesen Wellenlängen…Moment mal!“ Er starrte auf seine Skalen, drehte wild an seinen Knöpfen. „Schade, doch nicht! Und ich dachte gerade…“ Er seufzte. „Meistens wollen die Teilchen anders als ich. Die Theorie ist gut, aber die Praxis funktioniert nicht. Haben Sie irgendwelche Fragen?“
Er wandte sich seinen Besuchern zu. Sein Blick traf auf eine Gruppe von drei vor Furcht erstarrten Plüschbären. Er strich sich über die Stirn, dann blickte er auf die Uhr.
„Sechs,“ murmelte er. „Jetzt kommen doch gar keine Besucher. Ich sollte doch mal eine Pause machen – wenn man anfängt, Plüschbären zu sehen, ist es höchste Zeit dafür.“
Sprach‘s, stand auf und ging.

„Und jetzt?“ fragte Manfred.
„Gehen wir“, antwortete Bärdel. „Ich kann mich den Worten dieses Herrn nur anschließen: Es ist höchste Zeit dafür.“
Unbehelligt spazierten die Bären durch die Halle und fanden den Ausgang. Unbehelligt gingen sie weiter über eine große Freifläche und fanden ein Tor. Als sie es passiert hatten, drehten sie sich um und lasen das Schild, das am Eingang prangte: Deutsches Elektronen Synchroton (DESY).

„Was war das denn nun?“ fragte Manfred, als sie nach kurzer U-Bahnfahrt wieder im Zug nach Bärenleben saßen und darauf hofften, daß niemand kam, um ihre nicht vorhandenen Fahrkarten zu kontrollieren.
„Hast du doch gelesen: Das war Daisy!“ scherzte Tumu.
„Danke! Wir waren also beim Gänseblümchen auf der Wiese, und vermutlich hat da auch noch ein Hasi gehockt, und ein Mädchen namens Petra oder Doris hat die Gänseblümchen gepflückt. Verarschen kann ich mich selber!“
„Drück ich nicht so vulgär aus!“ rügte Bärdel. „Wir wissen auch nicht, was das war. Aber wir haben bestimmt wieder etwas über den Menschen gelernt. Wir wissen nur noch nicht, was. Kommst du morgen mit in die Bibliothek?“
„Klar!“ Manfred stimmte begeistert zu.

 

Weihnachtsmärchen

„Papa„, sagte Manfred an einem Herbstabend, als die Bärensippe wie üblich in der Dämmerung zum Geschichtenhören zusammengekommen war, „erzähl uns heute doch das Märchen von Weihnachten!“
Aber Bärdel weigerte sich.
„Das ist kein schönes Märchen. Das ist eine Kriminalstory und ein Politthriller. Dabei kann man nur eine Gänsehaut kriegen. Nein, das mag ich Euch nicht erzählen.“

Manfred hatte zwar einigen Respekt vor seinem Vater, aber er wagte dennoch, ihm zu widersprechen.

„Weihnachten muß aber doch was Schönes sein! Du hast mir selbst erzählt, daß die Menschen sich auf Weihnachten freuen. Für viele ist es das schönste Fest des Jahres. Also kann es doch nichts Grausames sein. Bitte, erzähl doch!“

Auch die anderen waren jetzt neugierig geworden und drängten Bärdel zu beginnen.

„Also gut,“ seufzte er, „aber macht mich nicht dafür verantwortlich, wenn Ihr heute Nacht Albträume habt!“

„Es war einmal ein kleines Land, das von einer Großmacht besetzt war. Diese Macht wollte ganz genau wissen, was in ihrem Reich los war, und ordnete deshalb eine Volkszählung an. Das Ganze ist schon ziemlich lange her, und deshalb ist das Verfahren auch anders, als es in Dehland vor ein paar Jahren war. Man bekam nicht einfach einen Fragebogen, den man zu Hause ausfüllte und dann zum Amt für Statistik zurückschickte. Nein, man mußte sich persönlich an seinem Geburtsort melden.“

„Ganz schön umständlich!“ warf Tumu ein.

„Ja, umständlich und lästig. Und beschwerlich. Stell Dir mal vor, Tumu, Du solltest im neunten Monat zu Deinem Geburtsort trotten! Solche armen Frauen gab es natürlich auch – sie mußten allerdings nicht zu ihrem eigenen Geburtsort, sondern zu dem ihres Mannes. Schließlich galten sie als sein Eigentum.“

Bärdel sah, daß Tumu tief Luft holte, um eine geharnischte feministische Erklärung abzugeben. Deshalb fuhr er schnell fort – das Märchen von Weihnachten war schrecklich lang, und er wollte sich nicht schon am Anfang dauernd unterbrechen lassen.

„Das war damals halt so. Manche Orte waren wegen der Volkszählung hoffnungslos überfüllt, Hotels und Fremdenzimmer waren ausgebucht, und viele Menschen, auch hochschwangere Frauen, fanden nur notdürftig Unterkunft. Von einer, Maria hieß sie, wird erzählt, daß sie in Bethlehem ihr Kind in einem Viehstall zur Welt bringen mußte.“

„Das ist ganz schön traurig und zeugt nicht gerade von bärenmäßigem Umgang der Menschen miteinander, aber wo ist dabei der Krimi?“

Die Frage kam aus dem Hintergrund der Höhle, von daher, wo die ganz alten Bären lagerten.

„Der Krimi kommt gleich. Oder besser: der Politthriller. Die Großmacht hatte in den von ihr besetzten Gebieten Marionettenherrscher eingesetzt. Die hatten natürlich politisch nichts zu sagen, aber sie lebten in Reichtum und machten deshalb, was die Besatzer verlangten. Zu dem König‘ unseres kleinen Landes kamen in den Tagen der Volkszählung drei Besucher. Da sie von hohem Rang zu sein schienen, wurden sie sofort empfangen und bewirtet. Was sie wollten, erzählten sie sofort: Sie suchten den neuen König des Landes und fragten, wo er zu finden sei. Sie behaupteten, eine Vision gehabt zu haben – das müssen wohl Gurus oder Sektenführer gewesen sein.“

„Jetzt wird’s spannend!“ sagte Manfred und griff sich einen Zweig Holunderbeeren, von dem er genüßlich eine nach der anderen abzupfte.

„Ja, jetzt wird’s spannend. Aber paß bloß auf, daß Dir der Appetit nicht vergeht. Der König‘ hatte noch nie etwas von einem neuen König‘ gehört, aber er spürte sofort die Bedrohung. Vorsichtig horchte er seine Besucher aus, und die erzählten ihm, daß sie nach einem Neugeborenen suchten. Daraufhin befahl er kurzerhand, alle Säuglinge in seinem Land umzubringen.“

„Das muß die Volkszählung aber heftig durcheinander gebracht haben,“ murmelte Manfred und futterte die nächste Beere.

„Verrohte Jugend!“ schimpfte Tumu. „Kann Dich denn nichts erschüttern? Das waren doch Kinder!“

„Menschenkinder.“ Mehr sagte Manfred nicht.

Tumu beherrschte sich. Ein pädagogisches Gespräch mit ihrem Sohn war unbedingt notwendig, konnte aber warten. Jetzt sollte Bärdel weitererzählen.

„Und was passierte mit Marias Kind?“ fragte sie.

„Das wurde natürlich gerettet. Sonst wüßten wir ja auch nichts von ihm. Die Eltern des kleinen Jesus bekamen Wind von der Mordaktion und konnten ins Nachbarland fliehen. Dort blieben sie, bis sich alles wieder beruhigt hatte.“

„Bekamen sie politisches Asyl?“ wollte Manfred wissen. Offenbar hatte er sich vorgenommen, den heutigen Erzählabend nach Kräften in die Länge zu ziehen.

„Nein, so etwas gab es damals noch nicht. Sie müssen Geld gehabt und als Touristen gereist sein. Die Überlieferung ist da übrigens widersprüchlich: Jesus‘ Vater soll ein einfacher Handwerker gewesen sein und konnte sich bestimmt keine Urlaubsreise leisten. Wie dem auch sei: Angeblich wurde das Kind geboren und als einziges seines Landes gerettet. Das ist das Märchen von Weihnachten.“

Von allen Seiten erhob sich Protest.
„Das kann doch nicht alles sein!“

„Und deshalb feiern die Menschen Weihnachten?“

„Den Menschen ist ein einzelnes Kind doch völlig egal!“

Bärdel seufzte. Er hatte es geahnt. Sein Versuch, die Sache einfach darzustellen, mußte scheitern.
„Es war so, wie ich es erzählt habe. Es gibt da nur noch eine Kleinigkeit: Manche Menschen glauben, daß dieses Kind Jesus der Sohn Gottes war – oder ist.“

Geburt Jesu - Stundenbuch des Duc de Berry
Ein noch lauterer Sturm der Entrüstung brach los.

„Welcher Unsinn!“

„Wie kann ein Gott einen Sohn haben?“

„Wen hat er denn gefickt?“ Das war Manfred, zum Glück so leise, daß selbst Tumu es nicht hörte.

Energisch wehrte Bärdel ab.
„Nein, nein und nochmals nein. Wenn Ihr eine theologische Diskussion führen wollt – bitte, ohne mich. Hier interessiert nicht, ob die Menschen etwas Vernünftiges glauben, sondern daß sie es glauben. Basta!“

Jetzt brummten alle zustimmend. Als Märchenerzähler hatte Bärdel recht.

„Und?“ fragte Manfred. „Wie geht die Story weiter?“

„Wieso?“ antwortete Bärdel möglichst unschuldig. „Das Märchen von Weihnachten ist zu Ende.“
„Papa!“ sagte Manfred. „Kann ja sein, daß das Weihnachtsmärchen zu Ende ist. Aber Du kannst uns doch nicht hier sitzen lassen mit einem frisch geborenen Gottessohn! Da muß doch noch was kommen – Wunder, Seelenwanderung, Nirvana…“

Obwohl Manfred noch ein junger Bär war, stimmten ihm jetzt auch die ganz alten zu.
„Erzähl weiter!“ tönte es von allen Seiten.

„Also gut.“ Bärdel atmete tief durch. „Jesus war ein ziemlich normales Kind: Er hatte Freunde, er spielte mit Matsch, er spielte mit Tieren, er ärgerte seine Eltern ziemlich kräftig, und er riß ihnen auch aus, als er zwölf war. Seine Eltern erwischten ihn auf der Trebe, als er gerade ernsthaft mit Intellektuellen diskutierte – er muß entweder sehr intelligent oder altklug gewesen sein. Später aber lernte er brav von seinem Vater dessen Handwerk. Man weiß nichts Besonderes von ihm, bis er ungefähr dreißig Jahre alt war.
Da flippte er aus. Er radikalisierte sich und begann zu agitieren. Ein paar Leute brachte er auf seine Seite, während er sich von seinen Eltern entfremdete. Er hatte keine richtige Ideologie, aber worauf er hinauswollte, das war irgendwas zwischen Anarchie und Kommunismus. Er muß viel Charisma gehabt haben, denn es wird tatsächlich davon berichtet, daß er Wunder vollbracht habe.“

„Bestimmt hat er aus Brombeeren Brombeerwein gemacht!“ Natürlich war das Manfred.

„Nein, Du Naseweis, aber angeblich aus Wasser Wein. Allerdings war die Gesellschaft, die das behauptet hat, schon vor dem Wunder‘ ziemlich besoffen…
So verrückt und harmlos das Ganze eigentlich war, für die Mächtigen im Lande war er eine explosive Mischung aus Karl Marx und Ron L. Hubbard. Er mußte weg. Man engagierte einen V- Mann, der ihn ans Messer lieferte, machte ihm einen Schauprozeß, der Hitler oder Stalin alle Ehre gemacht hätte, und verurteilte ihn zu einer grausamen Todesstrafe. Unmittelbar nach dem Urteil wurde er exekutiert.“

Bosch-Der Kreuzgang
„Das ist aber eine fürchterliche Geschichte,“ meinte Tumu. „Erst sterben alle anderen seinetwegen, und dann stirbt er auch noch!“

„Und was ist jetzt mit Gottes Sohn?“ wollte eine dicke Bärin wissen.

Bärdel hatte geahnt, daß ihm an diesem Abend nichts erspart bleiben würde.

„Jesus ist gestorben, aber angeblich wieder auferstanden. Sein Grab soll leer gewesen sein, und frühere Bekannte von ihm behaupteten, ihn nach seinem Tod quicklebendig auf der Straße getroffen zu haben.“

„Was soll denn der ganze Zirkus?“ Dem alten Bären, der diese Frage stellte, war anzuhören, daß er in seinem langen Leben noch nie so viel Unsinn gehört hatte.

„Manche Menschen behaupten, alles sei Gottes Plan gewesen. Gott habe seinen Sohn auf die Erde geschickt, damit die Menschen, also Gottes Geschöpfe, ihn töten. Durch seinen Tod habe Jesus die Menschen von ihrer Sünde erlöst, die sie von der Urmutter der Menschen geerbt hätten.“

Die Bärenhöhle erzitterte. Kein Erdbeben war die Ursache, sondern homerisches Gelächter. Sie brauchten lange, um sich zu beruhigen. Immer wieder fing einer von neuem an zu kichern oder zu prusten, und er wirkte ansteckend wie ein Lachsack.
Auch nachdem die Lachorgie verebbt war, kehrte nicht die gewohnte Ruhe ein.
Statt ruhiger Schnarchgeräusche erfüllten Seufzer, Angstschreie oder Heiterkeitsausbrüche die Schlafhöhle.
Bärdel hatte recht gehabt: Das Märchen von Weihnachten ist eine Garantie für Albträume.

 

Der dicke Mann

Es war einmal ein dicker Mann, der rauchte mit Leidenschaft Zigarren (N.B.: Die Geschichte der Zigarre findest Du in Kulles Dissertation). Das hatte er nicht immer tun können: Als er heranwuchs, herrschte in seinem Land Hunger, und es gab bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Männer mit und ohne Uniform erschossen und erschlugen einander. Man nannte das Wahlkampf. Als diese Zeit vorbei war, sorgte ein kleiner Mann mit einem Schnauzbart dafür, daß viele Menschen plötzlich verschwanden und die übrigen in Ruhe leben und arbeiten konnten – weil sie das konnten, kümmerten sie sich nicht um die Verschwundenen. Das dauerte aber nur ein paar Jahre. Danach fing der kleine Mann einen großen Krieg an, und an dessen Ende lag alles in Schutt und Asche.

Der dicke Mann war damals ganz dünn und hatte Hunger wie alle anderen auch. Aber er verbrachte seine Zeit nicht nur damit, Lebensmittel zu besorgen, sondern er dachte auch über etwas nach. Wie konnte man erreichen, daß es nie mehr zu Verhältnissen kommt, wie er sie erlebt hatte?

Als er jung gewesen war, hatten zwei Männer behauptet, eine Antwort auf diese Frage zu wissen. Ein Herr Schmidt aus England sagte, der Markt regle alles zum Besten aller, und ein Herr Marx aus Deutschland vertrat genau den entgegengesetzten Standpunkt.

Er war mit keiner Antwort zufrieden.

Er suchte nach einem Mittelweg.

Und er hatte Glück.

Obwohl er im Morgent(h)au unterwegs war und mit nichts Gutem rechnete, fiel ihm wie dem Sterntalermädchen ein großer Geldsegen in den Schoß. Diesen Schatz verstreute er über den Schutt und die Asche der Nachkriegszeit, und siehe, neues Leben wuchs aus den Ruinen. Fabrikschornsteine begannen zu rauchen, und in den Fabriken arbeiteten entlassene Soldaten. Häuser wurden wieder aufgebaut, und nach Feierabend kauften die Arbeiter Tapeten und Linoleum für ihre neuen Wohnungen.

Geld heckte Geld. Die Taschen der Fabrikbesitzer und Bauherren füllten sich. Freude herrschte unter ihnen, und sie lobten den dicken Mann, dessen Schatz die Grundlage für ihren neuen Reichtum war.

„Halt!“ sagte da der dicke Mann. „Es ist schön, daß ihr gut verdient, aber ihr sollt nicht alles von eurem Gewinn behalten dürfen. Wohlstand für alle! Auch eure Arbeiter, auch die Alten, auch die Arbeitsunfähigen sollen auskömmlich leben können. Ich will nämlich nicht, daß es noch einmal zu einem Bürgerkrieg kommt, wie ich ihn in meiner Jugend erlebt habe.“

Die Fabrikbesitzer und Bauherren guckten skeptisch. Da flüsterte der dicke Mann, der sich unbeobachtet wußte, ihnen noch zu: „Und ich will auch nicht, daß sich die Ideen eines gewissen Herrn Marx durchsetzen.“

Das überzeugte seine Zuhörer.

Es fiel den reichen Herren leicht, aus ihren gefüllten Taschen ein wenig abzugeben. Jedes Jahr wurde ihr Schatz größer. Immer mehr Fabrikschornsteine rauchten, und die Arbeiter kauften inzwischen nicht nur Tapeten und Linoleum, sondern auch Teppiche, Kühlschränke und sogar Autos.

Eines allerdings störte die Herren ein wenig: Der dicke Mann hatte etwas dagen, daß sie untereinander ihre Fabriken und Baufirmen aufkauften. Er wollte so, wie er sagte, „Marktmacht“ verhindern. Nun gut. Sie zuckten nur die Schultern und schlossen eben, solange sie den dicken Mann noch fürchten mußten, ihre Verträge heimlich ab. Wie konnte er nur so dumm sein und glauben, sich einem Gesetz des Marktes entgegenstellen zu können?

Der dicke Mann hatte es nicht nur mit den großen Herren der Wirtschaft zu tun, sondern auch mit den kleinen Leuten. Die liebten ihn, denn sie glaubten es ihm zu verdanken, daß sie in ihren Wohnungen auf Teppichen gingen und im Auto zur Schicht fuhren. Sie wählten ihn deshalb immer wieder an die Macht, und so hatten auch die Wirtschaftsherren – zumindest öffentlich – Respekt vor ihm.

Der dicke Mann war es zufrieden und blies aus seiner Zigarre formvollendete Rauchringe in die Luft.

Die Wirtschaftsherren schlossen heimlich weiter Verträge miteinander und warteten auf ihre Stunde.

Die Stunde kam.

Die Bilanzbuchhalter waren bereit.

Ihr Material war perfekt: Sinkendes Wirtschaftswachstum, steigende Energiepreise, geringere Exporterfolge. Eine Hiobsbotschaft jagte die nächste. Die Buchhalter waren gut geschult und errechneten rote Zahlen. Es gab nichts mehr zu verteilen. Sagten die Bilanzen.

Der dicke Mann mußte ihnen glauben. Er steckte in der Zwangsjacke. Viele Arbeiter waren entlassen worden und drohten, ihn nicht wiederzuwählen. Er wollte aber wiedergewählt werden. So erlaubte er den Wirtschaftsherren Zusammenschlüsse, weil ihm gesagt wurde, nur so seien weitere Entlassungen zu verhindern. Prompt folgten den Firmenhochzeiten weitere Entlassungen.

„Was soll ich denn jetzt noch tun?“ rief der dicke Mann verzweifelt.

„Du mußt deine Politik ändern!“ riefen ihm die Wirtschaftsherren zu. „Wohlstand für alle – was für ein Unsinn! Vielleicht könnte es gehen – wenn unsere Kosten niedriger wären. Alles wird von uns finanziert: der Lebensstandard der Arbeitslosen, der Rentner, und so weiter. Befreie uns davon, und wir können wieder Arbeiter einstellen!“

Der dicke Mann glaubte ihnen nicht recht, aber er hatte keine Wahl. Er tat, was sie wollten. Trotzdem wählten ihn die Arbeiter nicht wieder, denn es ging ihnen immer schlechter.

Wenn er jetzt durch die Straßen ging, versteckte er sich, anders als früher, hinter einer dicken Wolke Zigarrenrauch. Er wollte nicht erkannt werden, und er wollte auch nicht so richtig sehen, was sich ihm da demonstrativ und bescheiden zugleich entgegenreckte.

„Arbeitslos und obdachlos. Ich habe Hunger.“

Um sich vor dem Elend zu schützen, das ihn umgab, kaufte sich der dicke Mann eine Zeitung und begann zu lesen.

„Neue Produktion von Mercedes im Elsass“

„Bremer Vulkan meldet Konkurs an“.

Der dicke Mann nahm seine letzte Kraft zusammen und bat die Wirtschaftsherren des Landes zu einem Champagnerfrühstück. Zwar war er nicht mehr Regierungschef, aber er baute darauf, daß seine Bekannten kamen, und er hatte recht.

Als Begrüßung sagte er nur: „Prost!“, was alle Anwesenden zunächst verwirrte, dann aber erfreut zum Trinken animierte. Die meisten tranken ihr Glas auf ex, auch der dicke Mann. Da er am vorigen Tag nichts gegessen und in der darauffolgenden Nacht kaum geschlafen hatte, war er sofort ziemlich angeschickert. Auch auf viele Wirtschaftsherren wirkte der Alkohol. So waren alle ungewöhnlich ehrlich zueinander.

„Warum macht ihr das?“ fragte der dicke Mann alle, auf die er zusteuerte. Er steuerte übrigens auf alle zu.

„Rendite.“

„Gewinn.“

„Dividende.“

Der dicke Mann war nicht dumm. Er wußte, was hinter all diesen schönen Begriffen steckte: Geld.

Er startete einen letzen Versuch: „Und die Sozialbindung des Eigentums?“

Offenbar ging es seinem Gesprächspartner gerade schlecht, denn er antwortete nicht verbal, sondern mit einer akustisch deutlichen Verdauungsstörung.

Der dicke Mann verstand. Er verließ die Gesellschaft und erschoß sich mit seiner Zigarre.

Null Sekunden später war er im Raum der Nichtlebenden. Er hatte das dringende Gefühl, sich erholen zu müssen.

„Darf man hier rauchen?“ fragte er.

„Klar!“ erhielt er zur Antwort. Ein Pykniker mit wallender Mähne und Rauschebart hatte das gesagt. Der dicke Mann hielt es für höflich, sich vorzustellen.

„Ich bin…“

„Ich weiß“ kicherte der andere, „ich weiß, wer Sie sind. Entschuldigen Sie, aber so was Komisches…“

Und das Kichern wurde zu einem schollernden Gelächter, das durch die Äonen hallte.

 

Markt und Sozialstaat

Du sollst begehren Deines Nächsten Markt
„Papa, ich les‘ da gerade ein Buch…“

„Sehr gut, mein Sohn!“ Bärdel war hoch erfreut, daß sein in der Regel nichtsnutziger Sproß sich einmal einer sinnvollen Tätigkeit hingab. „Du mußt viele Bücher lesen, wie jeder von uns, damit wir die Menschen besser verstehen.“

„Das ist es ja“, seufzte Manfred, „ich versteh es nicht.“

„Worum geht’s denn?“

„Es heißt: ‚Markt und Sozialstaat‘. Und darin steht, daß der Sozialstaat am Ende ist, weil der Markt nicht behindert werden darf. Da ich aber weder weiß, was ‚Markt‘ noch was ‚Sozialstaat‘ ist, kapier ich überhaupt nichts.“

Bärdel lächelte nachsichtig. Da er stunden- und nächtelang mit Kulle diskutiert hatte, wußte er natürlich über alles Bescheid, was irgendwie mit Ökonomie zusammenhing.

„Das ist eigentlich ganz einfach,“ erklärte er deshalb. „Der Markt ist definiert als Ort der Austauschbeziehungen von Waren, die ihren Wert nur dort zu realisieren vermögen. Marktwirtschaft ist ergo immer anarchisch – was übrigens nichts mit wahrer Anarchie zu tun hat. Da der Kapitalismus die Tendenz hat, zu einem weltumfassenden System zu werden…“

Manfred unterbrach ihn. „Entschuldige, Papa, aber ich verstehe immer weniger. Vielleicht kannst Du mir das ja morgen erklären. Ich suche mir jetzt erst mal ein paar Brombeeren.“ Und er trollte sich.

Am nächsten Tag erklärte Bärdel seinem Sohn überhaupt nichts. Auch nicht am übernächsten und an den Folgetagen. Er erklärte nichts, weil ihm bewußt geworden war, daß er nichts erklären konnte. Und gleichzeitig hatte er erkannt, daß das, was Manfred wissen wollte, eigentlich die ganze Sippe wissen müßte. Er sann darüber nach, wie das zu bewerkstelligen war.

Endlich fiel ihm eine Lösung ein, aber er fühlte sich dabei nicht wohl in seiner Bärenhaut. Das Problem, um das es ging, konnte nicht einfach nur erklärt, es mußte erfahren werden. Und dabei wußte er zweierlei nicht: Würden alle Bären mitmachen, wie es erforderlich war? Und, viel gravierender: Wie würde das Experiment ausgehen?

Bärdel verzichtete darauf, eine außerordentliche Bärenversammlung einzuberufen, sondern wartete, äußerlich gelassen, das nächste ordentliche Treffen ab. Nur nicht den Anschein erwecken, daß etwas Besonderes vorging! Jede Nacht beobachtete er in langen schlaflosen Stunden den Himmel und zählte die Tage: bis zum Vollmond, dem traditionellen Datum aller Bärenmeetings.

Auch als es dann soweit war, ließ er sich nichts anmerken. Bei dem einzigen und immer behandelten Tagesordnungspunkt „Spiele“ meldete er sich als letzter.

„Ich möchte Euch ein Spiel vorschlagen!“

Zufrieden brummten die Alten, und die Jungen schlugen übermütige Purzelbäume. Genau das war es, was sie sich gewünscht hatten. Bären lieben nichts mehr, als Spiele zu spielen.

„Was ist es? Erzähl! Endlich mal wieder! Toll! Jetzt kommt Leben in die Bude! Wir werden unseren Spaß haben! Worum geht es?“

Alle riefen durcheinander.

„Das ist ein ganz besonderes Spiel“, erklärte Bärdel und fühlte, wie unter seinem Pelz eine Gänsehaut über ihn kroch. „Ein geheinmisvolles Spiel. Seine Besonderheit besteht darin, daß keiner von Euch die Spielregeln kennt. Erst am Schluß werdet Ihr sie erfahren. Macht Ihr trotzdem mit?“

Er hörte ein skeptisches Brummen aus der Frauenecke, aber das wurde schnell übertönt. Allgemein setzte sich Zustimmung, ja Begeisterung durch.

„Wann fangen wir an?“ „Ja, Wann?“ wurde Bärdel von allen Seiten gefragt.

„Morgen!“

Die erste Hürde war genommen.

Am nächsten Morgen brummten alle im Bärental durcheinander. Ungeduldig wurde Bärdel erwartet. Schließlich erschien er und wurde sofort wieder bedrängt: “Geht‘s jetzt endlich los?“

„Komm, fang schon an!“

Bärdel hob die Hand, und augenblicklich breitete sich erwartungsvolle Stille aus.

„Ich werde Euch in vier Gruppen einteilen. Wer zu welcher Gruppe gehört, wird das Los entscheiden, ich habe das vorbereitet. Die Mitglieder der Gruppe I werden die Höhlenbesitzer, wer in der zweiten Gruppe ist, verfügt über die Brombeeren. Gruppe III hat gar nichts, und Gruppe IV ist dafür verantwortlich, daß alles funktioniert.“

Ein Sturm der Entrüstung wollte losbrechen, aber noch einmal gelang es Bärdel, mit erhobenem Arm Stille herzustellen.

„Noch etwas: Ich habe Euch gestern gesagt, daß niemand von Euch die Regeln dieses Spiels kennen wird, bevor es zu Ende ist. Das iat auch richtig. Eine einzige Regel aber müßt Ihr vorher kennen und auch unbedingt beherzigen: Keiner von Euch darf ohne Gegenleistung auf etwas verzichten, das er hat.“

Jetzt waren die Bären wirklich nicht mehr zu bremsen.

„Wieso sollen einzelne Gruppen das alleinige Recht auf etwas haben?“

„Warum hat eine Gruppe gar nichts?“

„Es ist unbärisch, für alles eine Gegenleistung zu verlangen!“

Wild schrien sie durcheinander, und Bärdel ließ sie sich austoben. Als es etwas ruhiger geworden war, sagte er – und tat dabei, als sei er völlig desinteressiert: „Ich dachte, Ihr wolltet spielen! Ich zwinge Euch doch zu nichts. Wenn Ihr nicht wollt, lassen wir es…“

Die Taktik war klug gewählt. Zwar blieb ein unterschwelliges Brummen hörbar, aber darüber erhoben sich mehr und mehr fordernde Stimmen und Gelächter.

„Na klar, wir wollen spielen! Laßt uns losen! Wir werden schon unseren Spaß haben! Und wenn nicht – aufhören können wir immer!“

„Hoffentlich“, dachte Bärdel, doch er ließ sich nichts anmerken.

„Na gut, dann zieht Eure Lose!“

Niemand dachte sich etwas dabei, als sich herausstellte, daß die alten Bären durchweg zu Höhlenbesitzern geworden waren, während die Jungen sich als Habenichtse entpuppten. Auch Manfred gehörte zu dieser Gruppe. Bärdel hatte Fortuna ein wenig beeinflußt. Schließlich meinte er zu wissen, was kommen würde – kommen mußte.

„Na dann viel Spaß“, wünschte er allen, als die Rollen verteilt waren. Dabei lächelte er freundlich und unschuldig.

Nur Kulle sah, daß er sich das Lächeln aufzwang. Na klar – Kulle war natürlich eingeweiht. Bärdel hatte ihn als Berater für seine Planungen herangezogen, und er fürchtete auch, ihn zu brauchen, wenn sein Spiel aus dem Ruder lief – was fast zwangsläufig war. Offiziell aber war Kulle Mitspieler wie jeder andere – und er hatte, wen wird es überraschen, ein Los als Mitglied der Koordinatorengruppe gezogen.

„Vielen Dank, vielen Dank!“ riefen die Bären. „Aber – was sollen wir denn jetzt machen?“

„Das werdet Ihr schon merken!“ sagte Bärdel.

Diese verwünschte Gänsehaut – er wurde sie einfach nicht mehr los.

Die Bären trollten sich. Nach einiger Zeit des unkontrollierten Herumtobens wurden sich zumindest einige ihrer Spielrollen bewußt: Die Höhlenbesitzer fegten ihre Wohnungen, legten frisches Gras für ein Lager aus und begaben sich dann zur Ruhe, und die Herren der Brombeeren schlugen sich in ihren Hecken den Wanst voll, häuften noch einen Vorrat für später auf und pennten dann ebenfalls. Anders die Mitglieder der Gruppe III: Sie wußten eigentlich nicht, was sie tun sollten. Also spielten sie herum und wollten schließlich schlafen. Vorher aber wollten sie, was alle Bären wollen, bevor sie sich zur Nachtruhe begeben: essen.

Also machten sie sich auf in Richtung Brombeerhecken. Geschützt von ihrem dicken Bärenfell, ließen sie sich von den Dornen nicht stören. Die Zweige zerknackten, das Laub raschelte laut, als sie in das Dickicht eindrangen. Sie machten so viel Lärm, daß die Brombeerenbesitzer erwachten.

„He, was macht Ihr denn da?“

„Blöde Frage!“ schmatzten die „Diebe“. „Essen!“

„Aber das dürft Ihr nicht! Das sind unsere Brombeeren!“

„Wieso das denn? Ihr spinnt ja!“ grunzten und riefen die empörten Esser durcheinander.

Ja, wieso eigentlich? Das wußten die Brombeerenbesitzer auch nicht so genau. Aber sie konnten sich auf Formalitäten berufen: „Wir spielen doch Bärdels Spiel!“

„Blödes Spiel!“ rebellierten die andren. „Wir haben Hunger!“

Nachdenkliches und zum Teil auch zustimmendes Brummen erhob sich unter den Herren der Brombeeren, aber schließlich erinnerte sich einer von ihnen an die Regel, die Bärdel so bestimmt verkündet hatte: „Keiner von euch darf ohne Gegenleistung auf etwas verzichten, das er hat!“

Und er sagte: „Nein!“

„Was ‚Nein'“, fragten die anderen, die eben wieder zu fressen beginnen wollten.

„‘Nein‘ ist’Nein‘. Es ist mir egal, ob ihr Hunger habt oder nicht. Wenn ihr etwas von unseren Brombeeren haben wollt, müßt ihr uns etwas dafür geben.“

Es herrschte verblüfftes Schweigen. Hauptsächlich deshalb, weil zum ersten Mal, seit sie denken konnten, ein Bär einem anderen erklärt hatte, daß es ihm gleichgültig sei, wenn es ihm schlecht gehe. Aber auch, weil die Hungrigen nicht wußten, was sie jetzt tun sollten.

„Ja, und was sollen wir jetzt machen?“ fragte schließlich einer. „Was sollen wir denn tun, damit wir essen dürfen?“

Diese Frage überforderte die Brombeerbesitzer zunächst. Sie schwiegen und dachten nach, suchten nach Lösungen. Ja, was? Sie könnten die anderen Purzelbäume schlagen lassen, sich ein Brombeersoufflé bereiten lassen, sie zwingen, ihnen die Brombeeren zu pflücken und ins Maul zu schaufeln…alles Unsinn. Unsinn, und doch nicht. Denn als sie diese an sich nutzlosen Gedanken wälzten, wurde den Klügeren unter ihnen bewußt, daß sie etwas hatten, was sie bisher nicht kannten. Weil sie es nicht kannten, fehlte ihnen der Begriff dafür. Die Menschen nennen es Macht. Anderen etwas befehlen können, das ist Macht.

Endlich entdeckte einer einen praktischen Aspekt. „Besorgt uns einen Schlafplatz!“ sagte er. „Wir haben die Brombeeren, aber die erste Gruppe hat die Höhlen. Platz darin werden sie uns ohne Gegenleistung nicht geben. Wenn ihr das schafft, dürft ihr euch den Bauch vollschlagen.“

Wider Erwarten war es leicht, mit diesem Problem fertigzuwerden, zumindest prinzipiell. Zuerst hatten die Habenichtse vor, allesamt zu den Höhlen zu ziehen, um deren Besitzern ein Brombeerabendmahl anzubieten – gegen die Bereitstellung von Schlafplätzen. Dann aber kam der Älteste unter ihnen auf die Idee, daß die Höhlenbesitzer einen solchen massenhaften Aufmarsch als Angriff werten könnten – man sollte lieber eine Delegation schicken, schlug er vor. Sein entsprechender Vorschlag wurde einstimmig angenommen, und weil er den Einfall gehabt hatte, wurde er allein als Delegation bestimmt.

Also marschierte er zu den Höhlen, entbot einen höflichen Abendgruß und unterbreitete sein Angebot: „Ihr seid doch bestimmt hungrig nach diesem langen Tag. Ich mache Euch deshalb ein Angebot: Wir bringen Euch Brombeeren zum Essen, wenn ihr…“

Er stockte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er sich seine Strategie nicht gut genug überlegt hatte. (Wie sollte er auch? Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Bären im Umgang mit Bären noch nie eine Strategie gebraucht.) Wenn… Wenn was? Was sollte er fordern? Schlafplätze für die Brombeerherren? Das wäre gerecht gewesen, denn sie waren diejenigen, die die Brombeeren zur Verfügung stellten. Andererseits: Stellte nicht Tussi die Brombeeren zur Verfügung? Und: Auch seine Spielgruppe, die Habenichtse, brauchte einen geschützten und warmen Schlafplatz. Aber – konnten sie ein Anrecht darauf geltend machen? Vielleicht, weil er den – das – die – vermittelt hatte?

Die Vokabel, nach der er vergeblich suchte, hieß: Handel. Den Menschen war sie völlig geläufig. Die Bären würden sie rasch lernen.

„Brombeeren sind keine schlechte Idee,“ brummte die Höhlenälteste. „Aber du hast deinen Satz nicht zu Ende geführt. Wenn was?“

„Wenn ihr uns Schlafplätze zur Verfügung stellt!“

Er hatte Glück. Die alte Bärin war gutgläubig und naiv und dachte nicht über seine vage Formulierung nach. „Einverstanden – kommt ruhig!“

Als er zufrieden zu den Brombeerhecken zurücktrottete, merkte er, daß er vielleicht zu viel Erfolg gehabt hatte.

Die Brombeerherren würden Brombeeren abgeben und einen Schlafplatz dafür bekommen.

Die Höhlenbesitzer würden Höhlenplatz abgeben und dafür Brombeeren bekommen.

Die Habenichtse würden nichts abgeben – logisch, sie hatten ja auch nichts -, aber dafür sowohl einen Schlafplatz als auch Essen erhalten.

Ob das auf die Dauer gutgehen konnte?

Er hatte recht mit seinen Befürchtungen. An diesem und an drei weiteren Abenden hielten sich Brombeerherren, Höhlenbesitzer und natürlich die glücklichen Habenichtse an die von ihm getroffene Vereinbarung.

Am vierten Morgen brachte ein Gespräch zwischen der Höhlenältesten und einem Brombeerenbesitzer, der sich in der Höhle vertrödelt hatte, die Wende.

„Ach,“ stöhnte die Älteste, während sie mit gebücktem Rücken den Schmutz der Nacht auskehrte, „für die paar Beeren jeden Abend müssen wir ganz schön viele Gäste beherbergen! Ich komme gar nicht an gegen all den Dreck!“

Stimmt! schoß es dem Brombeerherren durch den Kopf. Nicht nur wir schlafen hier, sondern auch die Horde dieser an sich nutzlosen Habenichtse. Und nicht nur die Höhlenbesitzer leiden unter ihnen, sondern auch wir. Wir müssen sie schließlich mit unseren Beeren durchfüttern.

„Paß auf,“ sagte er langsam, während er noch überlegte. „Ich habe eine Idee. Ab heute Abend schlafen nur noch wir, die Brombeerherren, bei euch. Du wirst also weniger Arbeit haben. Und ihr Höhlenbesitzer habt davon noch einen Vorteil: Wir werden euch mehr Brombeeren bringen als bisher.“ Er hatte blitzschnell gerechnet: Es gab doppelt so viele Habenichtse wie Höhlenbesitzer, es kostete ihn also nichts, großzügig zu sein. „Einverstanden?“

Natürlich war die alte Bärin einverstanden. Bärdels Spiel war ihr als äußerst dumm erschienen, und sie hatte sich nicht sonderlich um die Regeln gekümmert. So war ihr nicht klar, welche Konsequenzen diese Vereinbarung für die Habenichtse hatte: Sie saßen auf der Straße. Ohne Nahrung, ohne Obdach.

Als die Habenichtse am Abend zu den Brombeerhecken kamen, wurde ihnen die neue Lage mitgeteilt. Ohne zu zögern, hatten alle Brombeerherren die neue Idee gutgeheißen. Niedergeschlagen zogen die Habenichtse von dannen. Ihr Ältester aber, ihr ehemaliger Delegierter, schäumte vor Wut. Brüllend rannte er in den Wald und hinterließ eine Spur geknickter Büsche, abgerissener Zweige und zerquetschter Blätter.

Wut ist gut, um sich abzureagieren, allein – sie führt nicht zu Lösungen. Das merkte auch unser Delegierter, als er erschöpft auf einer Lichtung zusammensank, um wieder zu Puste zu kommen. Was tun? Da er einerseits bärisch sozialisiert war und andererseits Lenin nicht kannte, kam er nicht auf die Idee, die Revolution auszurufen. Wieder zu den Habenichtsen zurückkehren? Was sollte er mit denen anderes tun, als gemeinsam zu hungern und zu frieren! Bei den Brombeerherren oder den Höhlenbesitzern betteln gehen? Das mußte vergeblich sein, denn da gab es Bärdels Spielregel. Wen gab es denn noch?

Plötzlich schoß es ihm durch den Kopf: Wo war eigentlich die Gruppe IV geblieben? Die, die alles koordinieren sollte? Dieses sogenannte Spiel lief jetzt schon seit vier Tagen, aber von dieser Gruppe hatte sich noch kein Mitglied blicken lassen. Er beschloß, sie zu suchen – für irgendetwas mußten sie schließlich nutze sein.

Aber wo sollte er suchen? In Richtung Mittag oder Mitternacht, Morgen oder Abend? Da er erschöpft war und sich nicht entscheiden konnte, beschloß er, erst mal ein Nickerchen zu machen – vielleicht würde ihm ein Traum eine Idee eingeben.

Wenn Bären zu schlafen beschließen, pennen sie sofort ein. Und wenn sie träumen wollen, dann klappt das auch immer. Unser Delegierter träumte von einer kleinen Blumenwiese inmitten von grünen Birken und Buchen (das war die Lichtung, auf der er eingeschlafen war) und von einem Wind, der sich plötzlich erhob und ihn kräftig zauste. Der Sturm war so stark, daß er davon erwachte.

Als er sich auf den Rücken wälzte und sich die Sandmännchenscheiße aus den Augen rieb, merkte er, daß der Sturm kein Sturm gewesen war. Noch immer hatte eine mächtige Pranke seine Schulter gepackt und rüttelte ihn ordentlich durch.

Die Pranke gehörte zu Kulle.

„Meinen brüderlichen Bärengruß!“ sagte er. „Gehe ich recht in der Annahme, daß du Hunger und Durst hast? Da, bedien dich!“ Dabei wies er auf ein nett arrangiertes Mahl aus saftigen Äpfeln, Wurzeln und Pilzen. Zum Dessert gab es sogar eine halbe Honigwabe.

Sein Gegenüber vergaß für ein paar Minuten alle eigentlich selbstverständliche Bärenhöflichkeit und aß erst mal. Um ganz ehrlich zu sein: Er fraß. In Sekundenschnelle verschwanden alle Leckereien in seinem Schlund. Erst als er sich danach die Schnauze wischte, erinnerte er sich wieder an seine Erziehung. Es kam ihm aber nicht in den Sinn, daß Kulle Bärdels Spielregel verletzt hatte – sonst hätte er nämlich nichts zu futtern bekommen.

„Entschuldigung. Danke. Ich hatte wirklich Hunger. Woher hast du das alles?“

Kulle schmunzelte. „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure kleine Brombeer- und Höhlenwelt sich träumen läßt…Aber lassen wir das. Wir haben uns nur ein bißchen umgetan. Komm mit zu uns, dann kriegst du noch mehr!“

„Gerne!“ sagte der Habenichts. Aber dann zögerte er. „Die…die anderen Habenichtse haben bestimmt genausoviel Hunger wie ich. Könntest du nicht auch sie…?“

Kulle weigerte sich. „Zwei oder drei Tage werden sie auch allein durchhalten. Und danach ist das Spiel, so wie es jetzt läuft, ohnehin zu Ende.“

Obwohl er die Antwort nicht verstand, gab der Habenichts-Delegierte sich damit zufrieden. Kulles Aussagte lockte: „…dann kriegst du noch mehr!“

Die Koordinatoren-Gruppe hatte sich unmittelbar nach Spielbeginn weit von den anderen entfernt. Sie suchte ihre eigene Nahrungsbasis- und hatte sie gefunden, wie das Menu, das Kulle auftischte, beweist. Zwei Dinge hatte sie allerdings nicht, und die Bären vermißten sie schmerzlich: Brombeeren, ihre Lieblingsspeise, fehlten. Noch schlimmer aber war, daß sie nicht über einen warmen und trockenen Schlafplatz verfügten. Nachts kuschelten sie sich unter dichten Büschen aneinander und versuchten sich gegenseitig Wärme zu spenden.

Ohne Kulle hätten sie sich vermutlich anders verhalten, wahrscheinlich ähnlich wie die Habenichtse. Als er ihnen aber klargemacht hatte, daß die Brombeerherren und die Höhlenbesitzer bald meinen würden, ohne die Habenichtse auszukommen, waren sie seinem Vorschlag gefolgt. Sie waren zwar nicht zufrieden mit ihrem augenblicklichen Leben, aber Kulle hatte ihnen versprochen, daß es nur wenige Tage andauern würde.

Die Bären hatten ihre Erfahrungen mit Kulle: Er konnte stundenlang reden, ohne gefragt worden zu sein. Wenn er aber nichts oder nichts Genaueres sagen wollte, dann war auch nichts aus ihm herauszuholen. Und: Meistens hatte er recht.

Also fügten sie sich und warteten ab.

Auch diesmal bestätigte sich Kulles Prognose. Sieben Tage lang führten die Bären der Gruppen I und II ein Leben in Brombeersaus und Höhlenschmaus, aber dann verbreitete sich Unmut. Langweilig und gleichförmig war ihr Leben, und ungesund dazu: Die eintönige Kost begann sie krank zu machen, der Bärendurchfall, verursacht durch Beerendiät, grassierte. Außerdem vermißten viele von ihen Freunde und Verwandte.

Deshalb berief die Höhlenälteste eine Versammlung ein.

„Ich habe euch einen Vorschlag zu machen,“ begann sie. „Am liebsten würde ich sagen: Wir suchen jetzt die anderen, und dann ist Schluß mit diesem dämlichen Spiel, vor allem mit Bärdels blöder Regel! Da wir uns aber darauf eingelassen haben, müssen wir wohl weitermachen. Also: Wir malen jetzt große Reklametafeln. Darauf schreiben wir: Wir tauschen!“

Verständnisloses Gemurmel antwortete ihr. Tauschen? Was sollte das denn bedeuten? Sie kannten das Wort nicht.

Geduldig erklärte die Alte: „Wir dürfen doch nicht ohne Gegenleistung auf das verzichten, was wir haben. Also werden wir für Brombeeren und warme Schlafplätze von den anderen etwas verlangen. Dafür habe ich mir gerade das Wort ‚tauschen‘ ausgedacht.“ (Wie gut, daß sie gerade auf diese acht Buchstaben gekommen war, denn so haben die menschlichen Leser dieses Märchens sofort verstanden, was sie meinte.) Jetzt begriffen auch die Bären.

„Gar keine schlechte Idee.“ „Endlich Schluß mit dem flüssigen Bärendreck.“ „Ich habe schon lange Appetit auf Pilze.“ „Und ich auf Honig!“ „Hmmm, Honig!!“

Die Zustimmung war einhellig, und alle machten sich auch gleich an die Arbeit. Die Idee mit den großen Reklametafeln verwarfen sie allerdings schnell, soviel Aufwand wollten sie nicht treiben. Es war doch viel einfacher, das Angebot mit ihren scharfen Klauen in die Baumrinde einzuritzen. Sie verteilten sich im gesamten Bärental, und bald stand unübersehbar in Augenhöhe an allen dicken Bäumen: WIR TAUSCHEN!

Nach dieser anstrengenden Arbeit zogen sie sich zu Brombeerhecken und Höhle zurück und warteten. Dabei träumten sie von den Genüssen, in denen sie bald schwelgen würden.

Sie mußten lange träumen. Es passierte nämlich nichts. Falsch, natürlich geschah etwas: Hummeln und Bienen summten und besorgten die herbstliche Honigernte, Fliegen schwirrten um die Bären herum und kitzelten sie, Libellen zickzackten in der Spätseptembersonne über den Teich, in verwelkten Blüten wuchsen Früchte und bildeten Samen. Aber niemand passierte. Niemand kam vorbei und wollte tauschen.

„Ich will Honig!“ begann ein Bär schließlich zu jammern. „Warum kommt niemand und bringt welchen zum Eintauschen, zum Beispiel gegen einen Schlafplatz?“

„Weiß ich auch nicht!“ „Vielleicht sind sie woanders.“ Unwilliges Gebrumm von allen Seiten. Einer probierte sogar einen müden Scherz: „Vielleicht haben sie das Lesen verlernt.“

Bei diesem Satz setzte sich einer der Brombeerherren kerzengerade auf und schlug sich so schallend vor die Stirn, daß auch alle anderen aus ihrem Dämmerzustand erwachten.

„Natürlich!“ rief er. „Sie können zwar lesen, aber sie verstehen nicht. Wir haben es zuerst doch auch nicht verstanden. ‚T-a-u-s-c-h-e-n‘ – was bedeutet das denn?“

Jetzt ging allen ein Licht auf. Sie mußten ihre Botschaft deutlicher gestalten. Seufzend erhoben sie sich – das bedeutete noch einmal Arbeit.

Jeder Bär trottete zu den Bäumen, die er bereits bearbeitet hatte, und schrieb unter die allgemeine Botschaft, was seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprach.

Und so war der Wald nach einiger Zeit voll von unterschiedlichen Angeboten, zum Beispiel:

GEBE SCHLAFPLATZ GEGEN HONIG.

 BIETE BROMBEEREN, SUCHE NÜSSE

ICH WILL PILZE, GEBE BROMBEEREN.

SUCHE NÜSSE, BIETE SCHLAFPLATZ.

 

Kurze Zeit später war es vorbei mit der Ruhe am Rastplatz der Brombeerherren und Höhlenbesitzer. Von allen Seiten strömten die Habenichtse herbei, beladen mit Köstlichkeiten. Ein wildes Durcheinander begann.

„Welcher Bär hat Brombeeren und sucht Nüsse?“

„Ich suche Nüsse, ich biete aber einen Schlafplatz.“

„Das interessiert mich im Moment nicht.“

Ich habe Brombeeren, hat jemand Nüsse?“

„Ich will Brombeeren, ich habe aber Pilze.“

„Ich möchte aber Nüsse.“

„Und ich möchte keine Brombeeren, sondern einen Schlafplatz.“

So ging es endlos weiter. Jeder Bär hatte etwas und wollte etwas, aber kaum einer fand den entsprechenden Partner.

Wieder war es die Alte, die Höhlenälteste, die eine Lösung fand. Energisch klatschte sie so lange in die Pranken, bis das Stimmengewirr verstummte und sie sich Gehör verschaffen konnte.

„Bären,“ brummte sie, „so geht es offenbar nicht. Wenn wir denn schon tauschen müssen – sowieso eine bescheuerte Idee -, dann brauchen wir dazu Regeln, so wie es aussieht. Zum Beispiel muß jeder einen Tauschpartner finden können. Am besten wäre es, wenn jeder mit jedem tauschen könnte. Dazu müssen wir irgendetwas finden, was wir gegen alles tauschen können. Das kann dann als Vermittler dienen, um das nächste Ding einzutauschen, das wir wirklich brauchen.“

Die Bären waren durch diese Ausführungen intellektuell sichtlich überfordert, und sogar unter ihren dichten Pelzen war zu erkennen, daß sie die Stirnen krausten. Kulle aber, der sich heimlich angeschlichen hatte und die Versammlung belauschte, rieb sich erfreut die Pranken: Im Prinzip war soeben im Bärental die allgemeine Warenform erfunden woden. Er würde Bärdel umgehend informieren. (Seit Beginn des Spiels hatte Bärdel sich mit heftiger Migräne in den hintersten Winkel von Bärental verzogen.)

Die Alte erklärte weiter, und allmählich begriff die Versammlung. Man mußte einen Platzhalter finden, der jederzeit gegen jedes andere Gut eintauschbar war.

„Gute Idee!“ lobten sie. „Aber was nehmen wir?“

„Ich schlage das Anrecht auf einen Höhlenschlafplatz vor,“ antwortete die Alte. „Jeder will nämlich in der Höhle schlafen, man muß den Schlafplatz nicht mit sich herumschleppen, und er verdirbt nicht. Was haben wir Praktischeres?“

Da niemandem etwas Besseres einfiel, wurde der Vorschlag angenommen.

Sie verabredeten, daß eine oder mehrere Handvoll Nahrungsmittel dem Anrecht auf einen Schlafplatz entsprechen sollte.

Da es eine annähernd gleich große Zahl von Brombeerherren und Höhlenbesitzern und eine doppelt so große Anzahl von Habenichtsen gab, rechneten sie sich schnell aus, daß jeder von ihnen satt werden und einen Schlafplatz haben würde, wenn Brombeerherren und Habenichtse pro Tag zwei Hände voll Nahrungsmittel und die Höhlenbesitzer eine Handvoll sammelten und dann tauschten.

Zufrieden gingen sie auseinander.

Ein paar Tage lang funktionierte das Abkommen, dann aber fingen einige Höhlenbesitzer an zu maulen.

„Schließlich haben wir das Monopol auf die Höhlen!“

„Das was?“

„Na ja, niemand außer uns kann das wichtigste im Bärenleben zur Verfügung stellen: einen gemütlichen, warmen Schlafplatz.

„Und?“

„Dafür sollten wir uns besser bezahlen lassen!“

„Was heißt: bezahlen?“

„Wir sollten mehr dafür verlangen!“

Auf der nächsten Versammlung der Höhlenbesitzer wurde hitzig über dieses Thema diskutiert. Die Höhlenälteste argumentierte heftig gegen eine ‚Preiserhöhung‘, wie das neuerdings genannt wurde, aber sie unterlag. Im Laufe von Bärdels Spiel hatte sich die Mehrheitsmeinung gegen die Weisheit durchgesetzt. Nichts gegen Demokratie, aber wenn sie von egoistischen Interessen geleitet wird, kann manches schiefgehen.

Die Höhlenbesitzeregoisten setzten sich also durch und verkündeten: „Ab sofort hat nur Anrecht auf einen Schlafplatz, wer drei Hände voll Nahrungsmittel abliefert.“ Daß die Höhlenbesitzer von dieser Regelung ausgenommen waren, veröffentlichten sie vorsichtshalber nicht.

Zähneknirschend unterwarfen sich Brombeerherren und Habenichtse ihrem Diktat. Den Brombeerherren fiel das noch vergleichsweise leicht: Sie brauchten nur ihre Hecken abzugrasen. Schaudernd aber dachten einige von ihnen an den nahenden Winter: Was sollte werden, wenn sie keine Früchte mehr zur Verfügung hätten? Schon sahen sie sich als Habenichtse, den ganzen Tag auf Achse, immer auf der Suche nach Nahrung.

So ging es den Habenichtsen in der Tat: Sie machten sich die Pfoten schmutzig beim Durchwühlen der Erde nach Wurzeln, sie riskierten, sich beim Pilzesammeln zu vergiften, sie rissen sich die Tatzen auf beim Nüsseknacken, und immer wieder mußten sie sich von wütenden Bienen und Hornissen beim Honigsammeln zerstechen lassen.

Aber noch ertrugen sie die neuen Bedingungen.

Noch. Denn die neuen schlechten Bedingungen galten nicht lange. Die Höhlenbesitzer, oder zumindest deren Mehrheit, schienen unersättlich. Plötzlich verkündeten sie, für einen Schlafplatz seien künftig vier Hände voll Nahrungsmittel erforderlich. Brombeerherren wie Habenichtse saßen auf einmal in einem Boot: Das konnten sie nicht schaffen.

Auch verstanden sie die Höhlenbesitzer nicht: „Was wollen die denn mit dem ganzen Zeug? Soviel kann man doch gar nicht fressen!“

Aber sie hielten sich nicht mit der Analyse eines kranken Verstandes auf. Es galt, ihr eigenes Problem zu lösen. Was sollten sie tun?

Lethargisch lagen sie im Bärenwald herum, knabberten an ihrem Honig, ihren Wurzeln oder Pilzen, ihren letzten Brombeeren. Schaudernd dachten sie an die bevorstehende kalte Nacht. Ihnen fiel kein Ausweg ein. Manche versuchten einzuschlummern, um der bösen Welt zu entkommen.

Aber alle schreckten auf, als der Wald plötzlich lebendig zu werden schien. Eine Horde näherte sich und stampfte rüchsichtslos durchs Unterholz. Dazu brummte etwas, und das klang sogar melodisch. Wortfetzen ließen sich vernehmen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit…“

Die Koordinatorengruppe kam!

Sie brachte nicht nur Gesang mit, sondern auch das beste Honigsoufflé, ausreichend für alle, das Habenichtse und Brombeerherren jemals gegessen hatten.

Lange schmatzte und schmauste die Gruppe, und als sich auch der letzte den allerletzten süßen Tropfen vom Maul geleckt hatte, richteten sich aller Augen erwartungsvoll auf Kulle. Der verstand die stumme Aufforderung und ließ sich nicht lange bitten.

„Brüder Bären,“ rief er, während er seine Fliege zurechtzupfte und kämpferisch den rechten Arm hob, „Brüder Bären, was ist aus uns geworden? Unsere Gemeinschaft ist zerbrochen, nur der Besitz zählt noch. Wo ist unsere sprichwörtliche Bärensolidarität geblieben? Sie ist dahin! Was hat sie zerstört? Ihr denkt jetzt sicher, daß die Höhlenbesitzer in ihrer unersättlichen Gier nach unseren Pilzen, Wurzeln, Beeren und unserem Honig die Schuldigen sind.“

„Klar sind sie das!“ „Sie beuten uns aus!“ „Schau dir meine kaputten Pfoten an!“ „Nieder mit den Höhlenbesitzern!“

Die Zurufe kamen von allen Seiten. Kulle hatte Mühe, wieder Ruhe herzustellen.

„Ich kann euren Zorn gut verstehen, Brüder, aber die Höhlenbesitzer sind nicht schuld.“

Um einem neuen Sturm der Entrüstung vorzubeugen, sprach Kulle schnell weiter: „Was ist wirklich schuld? Ich will es euch sagen. Eigentlich ist es auch ganz klar. Schuld sind nicht die Höhlenbesitzer, schuld ist Bärdels Spielregel.“

Er erntete verblüfftes Schweigen. Aber er wußte, sie würden ihm recht geben. Der Redestil Stalins, gespickt mit rhetorischen Fragen, auf die der Redner immer selbst gleich die Antwort gab, war erprobt und wirkungsvoll. Außerdem stimmte der Inhalt seiner Aussagen.

Es gab noch nicht einmal eine Diskussion. Irgendwo hinten brummte jemand: „Scheiß Regel.“

Aus einer anderen Ecke wurde ihm geantwortet: „Scheiß Bärdel!“ Und zuerst murmelnd, dann laut und immer lauter bildete sich ein Sprechchor:

NIEDER MIT BÄRDEL! NIEDER MIT BÄRDEL! NIEDER MIT BÄRDEL!

Schreck durchzuckte Manfred, aber er wußte, jetzt hatte es keinen Zweck, sich zu wehren, Er konnte nur hoffen, daß Kulle alles in den Griff bekam.

Dieses war der gefährlichste Moment des ganzen Spiels, vor dem auch Kulle gewaltige Angst gehabt hatte. Es gelang ihm jedoch, seine Unsicherheit zu überspielen. Er wartete einfach ab, bis sich die Versammlung genügend heiser gebrüllt hatte.

Scheinbar beiläufig sagte er: „Brüder Bären, ihr verwechselt da etwas. Nicht Bärdel ist schuld, sondern die Regel, die er uns gegeben hat. Und, genaugenommen sind wir alle schuld, weil wir diese Regel akzeptiert haben. Das Ergebnis ist, daß wir jetzt in der Tinte sitzen und die Höhlenbesitzer im Warmen.“

Sofort schlug die Stimmung um.

NIEDER MIT DEN HÖHLENBESITZERN! schallte es jetzt. Und schnell pflanzte sich ein Ruf fort, den Manfred gefunden hatte:

VERTREIBEN WIR SIE! VERTREIBEN WIR SIE!

Wieder wartete Kulle ab, bis der Bärenzorn sich ausgetobt hatte. Genau im richtigen Moment aber, als die Versammlung gerade aufbrechen wollte, um ihre Forderung in die Tat umzusetzen, hielt er sie zurück.

„Halt! Wollt ihr Gleiches mit Gleichem vergelten?“ Er haßte diese Jesus-Christus-Attitüde, und wäre das hier kein Spiel gewesen, wenn auch ein sehr riskantes, hätte er anders gesprochen. Aber man durfte die Dinge nicht so weit auf die Spitze treiben, daß ein bärisches Leben im Bärental hinterher nicht mehr möglich sein würde. Außerdem war jetzt nach Bärdels Anliegen der zweite Teil des Spiels an der Reihe: der Sozialstaat. Ihre Lektion in Sachen Freier Markt‘ konnte als abgeschlossen betrachtet werden. Aber es tat ihm in der Seele weh, daß er eine revolutionäre Situation nicht ausnutzen konnte.

Die Bären waren stehengeblieben.

Kulle wiederholte seine Frage: „Wollt ihr Gleiches mit Gleichem vergelten? Wollt ihr die Höhlenbesitzer in die Kälte hinaustreiben, unter der ihr seit Tagen gelitten habt? Nein, sie sollen ihren warmen Schlafplatz behalten können. Aber wir wollen auch einen Platz in der Höhle!“

Die Bären murrten, weniger, weil sie rachsüchtig waren, sondern weil sie nicht wußten, wie das erreicht werden könnte. Sie bombardierten Kulle mit Fragen.

„Wir gehen zu den Höhlen und belagern sie,“ erklärte Kulle. „Kein Höhlenbesitzer darf rein oder raus. Und zu essen bekommen sie natürlich auch nichts. Jedenfalls solange nicht, wie sie unsere Forderungen nicht erfüllen.“

Jubel brach los. Ohne weitere Diskussion trotteten die Bären davon, Richtung Höhle. Aber am Anfang des Demonstrationszuges gab es einen Tumult, der Zug stockte. Manfred war die Ursache, er stand wie ein Fels in der Brandung mitten im Weg. Knüffe und Püffe der anderen störten ihn nicht.

„Wartet doch mal!“ sagte er. „Wir belagern die Höhlen, bis unsere Forderungen erfüllt sind. Schön. Aber – was sind denn unsere Forderungen?“

Seufzend kehrten die Bären wieder um. Schade, sie hatten sich so darauf gefreut, den Bären loszumachen. Aber Manfred hatte recht – vorher mußten sie klären, was sie eigentlich wollten.

Ein langes Palaver begann. Habenichtse, Brombeerherren und auch die meisten Mitglieder der Korrdinatorengruppe spürten, daß sich das Machtgleichgewicht in den letzten Stunden zu ihren Gunsten verschoben hatte, und das wollten viele von ihnen ausnutzen. Sollten doch künftig die Höhlenbesitzer täglich vier Handvoll Nahrung beschaffen! Deshalb mußte Kulle immer wieder geduldig seine Jesusfrage stellen.

Schließlich einigten sie sich auf Folgendes:

Alle sammeln Nahrung. Die Höhlenbesitzer brauchen aber nur halb so viel zu arbeiten wie die anderen und bekommen dennoch doppelte Rationen. Dafür werden die Höhlenbesitzer verpflichtet, Kranke und Alte mit durchzufüttern und ihnen natürlich auch einen Schlafplatz zu gewähren.

Mit diesen Forderungen zogen sie schließlich davon und begannen ihre Belagerung.

Für sie war die Besetzung des Eingangs ein fröhliches Fest, das drei Tage dauerte. Die Nächte allerdings wurden immer unangenehmer – der Winter nahte. Aber sie ließen sich gegenüber den Höhlenbesitzern nichts anmerken und fraßen in Sicht der Höhleneingänge ununterbrochen die herrlichsten Bärenleckereien. Wenn drinnen ein Knurren ertönte, lachten sie einfach nur. Das Knurren wurde immer lauter – es kam aus den leeren Mägen der Höhlenbesitzer.

Am Morgen des vierten Tages wankte die Alte heraus. Sie überbrachte die Kapitulation. Alle Bedingungen wurden angenommen.

Sie beschränkte sich auf das Nötigste. Daß die Höhlenbesitzeregoisten zu feige gewesen waren, selbst mit den Besatzern zu verhandeln, verschwieg sie. Sie war eine anständige Bärin. Aber Kulle dachte sich sein Teil und nahm sie schweigend in den Arm.

Obwohl die anderen den Grund dafür nicht kannten, war das das Signal für eine allgemeine Versöhnung.

Sie lebten jetzt friedlich zusammen. Aber eines störte sie doch erheblich: Immer noch mußten sie dieses fürchterlich umständliche Tauschritual vollziehen. Manchmal hatten sie das Gefühl, daß ihnen kein anderer Bär gegenüberstand, sondern daß sie es mit einer Handvoll Nüsse oder Pilze zu tun hatten.

Kulle, der den Ausweg aus dem großen Streit gewiesen hatte, genoß bei ihnen hohen Respekt. Sie fragten ihn, was sie tun könnten, um diese Regel loszuwerden.

Kulle zuckte die Schultern: „Schafft sie doch einfach ab! Es ist genug Nahrung und genug Schlafplatz für alle da. Warum also tauschen?“

„Aber Bärdel hat doch…“

„Bärdel hin, Bärdel her. An sinnlose Regeln sollte man sich nicht halten. Wir sollten auf unserer nächsten Versammlung beschließen, das Spiel zu beenden.“

Und so geschah es. Alle waren damit zufrieden, am meisten aber die ehemaligen Höhlenbesitzer – sie hatten soviel Nahrungsmittel bekommen, daß manche von ihnen vor lauter Fett schon richtig kurzatmig geworden waren.

Als der Beschluß gefaßt war, erhob sich die alte Bärin.

„Bären,“ rief sie, „ihr wißt, daß Reden nicht meine Stärke ist. Aber jetzt muß ich etwas sagen. Ihr habt alle gehört, wie ich während dieses Spiels immer wieder auf Bärdel und seine bescheuerte Regel geschimpft habe. Und das aus vollem Herzen. Dazu stehe ich auch heute noch. Aber ich habe aus dieser Regel viel gelernt. Ihr bestimmt auch. Daß man nämlich nicht bärisch miteinander umgehen kann, wenn einigen etwas gehört, was andere nicht haben. Daß dann Habsucht und Gier entstehen. Und Haß und Neid. Und Gleichgültigkeit. Dann sieht man nicht mehr den Bären im anderen, sondern sieht nur noch auf das, was er in der Pranke hält. Auch, wenn verhindert wird, daß manche Bären zu stark ausgenutzt werden.“

„Vielleicht sollten wir das ja lernen…“ murmelte Manfred vor sich hin. Plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Natürlich!

Unter den erstaunten Blicken aller Anwesenden stürmte er los, hinaus in den dunklen, schwigenden Nachtwald.

„Papa!“ brüllte er, so laut, daß die Käuzchen und Eulen glaubten, taub werden zu müssen. „Papa!!!“

Bärdel hatte nach wie vor Migräne, und so zersprang ihm fast der Kopf von dem Geschrei. Sich zu stellen war immer noch besser, als diesen Lärm länger auszuhalten, und so kam er aus seinem Versteck.

Ungestüm umarmte ihn Manfred und keuchte, völlig außer Atem: „Papa, komm nach Hause. Ich glaube, keiner ist dir mehr böse. Alle haben viel gelernt. Ich auch: Ich glaube, ich weiß jetzt, was mit Marktwirtschaft‘ und mit Sozialstaat‘ gemeint ist. Aber warum der Sozialstaat angeblich am Ende ist und die freie Marktwirtschaft wieder eingeführt werden muß, weiß ich noch nicht. Spielen wir das im nächsten Spiel?“

„Um Tussis Willen, nein!“ stöhnte Bärdel und hielt sich seinen schmerzenden Kopf. „Dieses Spiel hat mir völlig genügt. Laß dir das alles in einer stillen Stunde von Kulle erklären. Aber ich komme jetzt nach Hause. Tumu hat sicher ein paar Aspirin für mich und kann mir den Rücken kraulen. Ich habe ihr viel zu erzählen…“

Bevor Vater und Sohn einträchtig nach Bärenleben zurückwanderten, holte Bärdel noch schnell eine besonders leckere Honigwabe aus einem Versteck. Die war für Kulle.

Nicht als Tauschobjekt, sondern als Dank.

Wahrnehmung

In der sanft gewellten norddehländischen Endmoränenlandschaft gaben sich Bärdel und Kulle einer eigentlich sehr unbärischen Beschäftigung hin: Sie gingen spazieren. Lange trotteten sie schweigend nebeneinander her und setzten nur Fuß vor Fuß.

Endlich sagte Bärdel in einem Tonfall, der sich zwischen Brummen und wohligem Seufzen nicht entscheiden konnte: „Ist es nicht schön?“

Das war eine rhetorische Frage, und Bärdel hätte darauf keine Antwort erwarten dürfen. Er wünschte sich aber eine Bestätigung und war deshalb beleidigt, als Kulle nicht reagierte. Etwas schärfer wiederholte er: „Ist es nicht schön?“

Trotz seines aggressiven Tones dauerte es eine Weile, bis Kulle sich regte. Und die Antwort befriedigte Bärdel überhaupt nicht.

Kulle murmelte nämlich unverbindlich und unbestimmt: „Ich weiß nicht…“

„Du weißt nicht?“ Bärdel war selbst nicht klar, wieso seine Stimmung so jäh umschlug. Eben noch war er friedlich durch die Hügel gewandert und hatte den Sommer genossen, und plötzlich war er wütend.

„Wieso weißt du nicht? Du brauchst dich doch bloß umzusehen!“

Kulle war sehr sensibel, und Bärdels Stimmung übertrug sich sofort auf ihn. Aber er beherrschte sich mit Mühe: „Du hast recht, ich brauche mich bloß umzusehen. Ich sehe eine für Norddehland typische Julilandschaft. Das Wintergetreide ist schon abgeerntet, das Sommergetreide braucht noch eine oder zwei Wochen. Auf Hügelkuppen oder in zu feuchten Niederungen wächst Wald oder Buschwerk. Am Feldrain blühen Kamille und die zweite Margueritengeneration zwischen etlichen grünen Wildkräutern. In 500 Metern Entfernung verläuft eine wenig befahrene Landstraße, der Verkehr ist kaum zu hören.“

Die akribische Beschreibung machte Bärdel nur zorniger.

Bevor er explodieren konnte, winkte Kulle ab.

„Werd jetzt bloß nicht wütend. Ich weiß, das ist nicht das, was du willst. Ich hab das alles auch nur gesagt, um mich selbst zu vergewissern. Um mir klar zu machen, was ich sehe. Aber: Ich weiß nicht, ob das, was ich sehe, ist. Und deshalb kann ich nicht einfach sagen, daß ich’s schön finde.“

Das reichte, um Bärdel eine Weile zu beschäftigen. Erst nach hundertundsieben weiteren Metern konnte er fragen: „Du weißt nicht, ob es das gibt, was du siehst?“

„Ungenaue Rückfrage,“ replizierte Kulle. „Vielleicht hast du Recht: Es gibt das nicht, was ich sehe. Oder was wir sehen. Allerdings halte ich Solipsismus für eine blöde Theorie.“

Bärdel öffnete dem Mund, um sich nach der Bedeutung des schwierigen Fremdworts zu erkundigen, aber Kulle redete ohne Pause weiter: „Möglicherweise sehen wir aber etwas, das ist, auch falsch.“

Bärdel merkte, das lief auf eine ernsthafte Diskussion hinaus, und deshalb löste sich seine Aggression in Luft auf.

„Wieso?“ fragte er ernsthaft interessiert.

„Wieviele Sinne hast du?“

Die Gegenfrage hätte Bärdel beinahe wieder in Rage gebracht, aber er beherrschte sich und antwortete brav.

„Ich kann riechen, sehen, hören, fühlen und schmecken. Apropos schmecken und sehen – komm, da vorne sind noch ein paar späte Himbeeren!“

Kulle ließ sich verführen. Natürlich schmeckten die sonnenwarmen Beeren hervorrragend, und bevor er sie mit der Zunge zu süßem duftendem Brei zerdrückte, liebkoste er im Mund jede einzelne Frucht und ertastete die samtig weiche Oberfläche. Das überzeugende sensorische Erlebnis verbesserte seine argumentative Situation nicht gerade. Bärdel spürte, daß er an Boden gewonnen hatte.

„Siehste!“ sagte er nur.

Aber so schnell gab Kulle sich nicht geschlagen, zumal die gerade genossene Portion Fruchtzucker seinem Gehirn zu rascherer Aktivität verhalf.

„Was?“ fragte er nur und schmunzelte.

Bärdel war verwirrt: „Na, ist doch klar. Die Himbeeren haben prima geschmeckt, also gibt es sie, und es gibt sie so, wie wir sie wahrnehmen.“

„Vermutlich gibt es sie,“ gab Kulle zu. „Wenn nicht, lebten wir in einem ziemlich komischen Wahrnehmungsuniversum. Schließlich scheißen wir als Ergebnis unseres Konsums irgendwann den Bärendreck wieder aus, und die Doppelillusion von Nahrungsaufnahme und Defäkation wäre in der Tat ziemlich starker Tobak. Stärker als die beste Zigarre.. „Aber woher wissen wir, daß die Himbeeren gut schmecken?“

Wieder spürte Bärdel, daß sein Geduldsfaden sich spannte und zu reißen drohte. Seine bemüht ruhige Antwort wurde durch einen grollenden Unterton beherrscht. Er beschränkte sich auf einen Nebensatz:

„Weil ich sie gerade gegessen habe!“

„Wo ist der Himmel?“ fragte Kulle.

Das warf Bärdel völlig aus dem Gleis. Was sollte das denn jetzt wieder? Wollte Kulle eine theologische Argumentation? Oder eine astronomische? Er schaute hoch und beobachtete eine Weile die Gebirge weißer Cumuli, die majestätisch langsam gen Osten segelten.

Eine Wolke grinste ihn an wie ein Clownsgesicht. Bärdel beschloß zum zweiten Mal an diesem Nachmittag, sich nicht aufzuregen.

„Oben,“ sagte er knapp.

„Das sehe ich auch so“, meinte Kulle.

Bärdel entspannte sich – endlich fand dieses Gespräch wieder vernünftige Bahmen.

„Aber das war nicht immer so,“ fuhr Kulle fort.

Bärdel spürte, wie sich seine Nackenmuskeln gegen seinen Willen verhärteten.

Zum Glück sprach Kulle sofort weiter: „Als wir geboren wurden, waren unsere Augen und unser Sehnerv noch nicht an diese Welt angepaßt. Wir sahen alles auf dem Kopf. Das Empfinden der Schwerkraft bringt Babys dazu, ihre visuellen Sinne auf eine praktischere Norm umzustellen. Das dauert nur ein paar Stunden. Aber Fakt ist: Ursprünglich sehen Babybären die Welt so, wie es erwachsene Bären als verkehrt bezeichnen würden. Was ist denn nun „verkehrt“? Unser physiologisch ausgebildeter Sinn oder die pragmatische Anpassung an die Umwelt?“

Weil Bärdel durch diese Ausführungen völlig überrumpelt war, konnte Kulle ungestört weiterreden.

„Und jetzt nimm die Himbeeren. Wir lieben sie, sie schmecken uns. Sie duften herrlich, ihr Geschmack kitzelt unseren Gaumen. Das ist das subjektive Bärenempfinden. Beeren allgemein scheinen unserem Metabolismus gut zu bekommen. Das ist, soweit ich das beurteilen kann, die objektive Gegebenheit. Also ist folgender Sachverhalt denkbar: Himbeeren stinken entsetzlich und schmecken scheußlich. Weil wir sie aber aus physiologischen Gründen brauchen, haben wir ihren Geruch und Geschmack pragmatisch umdefiniert. Genauso, wie wir unseren Gesichtssinn vom Kopf auf die Füße gestellt haben. Und deshalb sage ich: Ich weiß nicht, ob das, was ich sehe, höre, schmecke, fühle und rieche, überhaupt ist oder so ist, wie ich es wahrnehme.“

Bärdel war weiterhin baff und brauchte eine lange Pause, um sich zu sammeln. Schließlich fragte er, und sein sonst so sonorer Bärenbaß wackelte dabei hörbar:

„Willst du damit sagen daß Tumu möglicherweise nicht schön ist, wie sie mir erschent, sondern häßlich?`Daß ich ihr Äußeres nur ‚pragmatisch umdefiniert‘ habe?“

„Genau!“ bestätigte Kulle fröhlich, denn Bärdel hatte seinen Gedanken erfaßt.

Seine Freude sollte nicht lange dauern. Auf Bärdels Stirn schwoll eine Ader, die nur äußerst selten sichtbar wurde. Mit erhobenen Pranken stürzte er auf Kulle los.

Kulle machte sich dünn, und so sausten Bärdels geballte Fäuste wirkungslos rechts und links an ihm vorbei. Verblüfft starrte Bärdel auf seine in der Luft baumelnden Tatzen.

„Siehst du, auch das bestätigt meine Theorie. Vielleicht nehmen wir die Wirklichkeit nicht so wahr, wie sie ist; aber auf jeden Fall mit Verzögerung. Unsere Sinne sind ganz schön träge.“ Kulle war furchtlos stehengeblieben, denn er wußte, daß Bärdel einem neuen interessanten Gedanken nicht widerstehen konnte.

„Stimmt!“ gab der denn auch zu. Seine Aggression war verflogen.

In stillschweigender Übereinkunft setzten beide endlich ihren Spaziergang fort. Irgendwann sagte Bärdel bittend:

„Meine Äußerung über Tumu bleibt aber unter uns, oder?“

„Klar!“ lächelte Kulle. Er wußte, wie unangenehm die sonst so umgängliche Bärenfrau werden konnte.

Wieder folgte eine lange Pause.

Kurz bevor sie an der Kreuzung wieder nach Bärenleben abbiegen wollten, stellte Bärdel seine letzte Frage: „Ist es wirklich unmöglich zu wissen, was ist?“

„Das ist eine hochinteressante Frage. Ich lese gerade eine Menge Menschenbücher darüber. Die Marxisten waren lange Zeit der Meinung, unsere Wahrnehmung entspreche der Wirklichkeit. ‚Widerspiegelung‘ nannten sie das. Aber das waren Menschen der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, optimistisch wie alle damals. Auch die Physiker haben sich lange dagegen gesträubt, daß sie manche Dinge nicht erkennen und dementsprechend auch nicht berechnen können. ‚Gott würfelt nicht‘, hat Albert Einstein geschimpft. Und Sartre hat Jahre später behauptet, die Wahrheit sei ein Objekt unendlicher Annäherung. Er dachte also, man könne ihr näher kommen, werde sie aber nie erreichen.“

„Menschenbücher! Menschengeschwätz!“ grollte Bärdel. „Soll ich dir sagen, worin die Wahrheit und die Wahrnehmung der Menschen bestehen? Sie machen kaputt, was sie wahrnehmen, sie zerstören alles – auch sich selbst, Tussi sei Dank! Sie behaupten, sie schützten das Leben, und bringen allen den Tod. Ihre Physiker spielen mit der Natur und legen mit ihren Forschungen die Grundlage für Technologien, die Menschen nicht beherrschen können. Und was deinen Sartre angeht: Die Menschen, die das Sagen haben, haben ihre Wahrheit längst gefunden. Sogar zwei Wahrheiten: Macht und Profit!“

Sie hatten Bärenleben erreicht. Bärdel beschleunigte seinen Schritt und lief auf Tumu zu, die ihm von ferne zugewinkt hatte. Zweifellos war sie die schönste Bärenfrau der Welt.

Kulle beobachtete, wie er sie in die Arme schloß. Er schmunzelte und wandte sich nach links, seiner Höhle zu. Viele Menschenbücher warteten dort auf ihn.

Bärdel meets Smokey

Smokey

Seit die Bären in Dehland internationale Zeitungen
lasen, fühlten sie sich zwar besser informiert
als vorher, aber auch gleichzeitig unwohl. Sie wußten
jetzt täglich etwas über Ereignisse – fast
– überall in der Welt, aber sie konnten nicht
beurteilen, ob das Dargestellte auch stimmte. Vielleicht
logen die Journalisten ja?
Deshalb beschlossen sie, daß zumindest einer von
ihnen eine Auslandsreise machen sollte.
Natürlich drängelte Kulle sich vor: Er wies
auf seine Wandererfahrungen -vgl. „Die Lehre“
und seine wissenschaftlichen Verdienste – vgl. „Kulles
Doktorarbeit“
und „Kulles Habilitationsschrift“ – hin, aber
die Bären lehnten ihn höflich, wenn auch
deutlich ab. Sie wünschten sich jemanden, der
beobachtete und nicht gleich interpretierte. Ihre Wahl
fiel auf Bärdel.
Bärdel aber winkte ab.
„Vielen Dank für den Brombeerblätterkranz.
Aber so etwas ist viel zu teuer. Unser Geld brauchen
wir für andere Dinge.“
Bärdel verstand zunächst nicht, warum der
versammelte Stamm als Reaktion auf seine Ablehnung
freundlich grinste, aber eine alte Bärin löste
das Rätsel.
„Das Problem der Finanzierung ist gelöst.
Du hast nämlich gewonnen. Herzlichen Glückwunsch
zur Teilnahme an einer Marlboro-Erlebnisreise!“
Mit diesen Worten drückte sie Bärdel einen
Prospekt in die Hand.
„Ein junges Abenteurerteam – Raften – Mountanbiking
– Klettern – Trecking…“
Bärdel murmelte die wesentlichen Stichworte vor
sich hin, bevor er die Broschüre unmutig wegwarf.
„Ihr erwartet von mir doch nicht, daß ich
solchen Quatsch mitmache?“
„Natürlich nicht“, beruhigte ihn die
Bärin. „Aber der Gewinn dieser merkwürdigen
Erlebnisreise dürfte deine hauptsächlichen
Kosten decken, zum Beispiel den Flug nach Amerika und
zurück. Sobald du dort bist, kannst du dich auf
bärische Weise selbständig machen. Jedenfalls
dachten wir uns das so.“
„Und dann?“ fragte Bärdel.
„Dann nimmst du mit den amerikanischen Bären
Kontakt auf, und dann werden wir sehen, was wir lernen
können.“
Bärdel sah seiner Frau tief in die Augen.
„Tumu?“
„Geht schon in Ordnung“, sagte Tumu. „Die
Reise dauert ja nur drei Wochen.“
„Gut!“ nickte Bärdel. „Ich mach’s.“

Die zehn Tage, die ihm bis zum Antritt der Reise verblieben,
versuchte Bärdel zu nutzen: Er wollte sich über
die amerikanischen Bären informieren. Aber die
Literatur gab da wenig her; allerdings stolperte er
häufig über einen Namen: Smokey the bear.
THE bear? DER Bär?

Smokey

Das war offenbar eine bedeutende Persönlichkeit.
Er würde versuchen, diesen Bären zu treffen.

Das Marlboro-Abenteurerteam, in das Bärdel auf
diese Weise geriet, bestand aus zwanzig jungen Menschenleuten,
die ihrem Erlebnisdrang zunächst dadurch Ausdruck
verliehen, daß sie auf dem Flug nach Amerika
im Halbstundentakt Bierdosen leerten. Ein Flug von
Frankfurt nach Phoenix in Arizona dauert an die elf
Stunden. Die wachsende sogenannte Fröhlichkeit
der sogenannten Abenteurer zeigte sich darin, daß
Bärdel beständig jemand kräftig auf
die Schultern haute und ihm dabei erklärte, angesichts
seiner kräftigen Figur sei er bestimmt Freeclimber.
Schon nach drei Stunden hatte Bärdel die Nase voll,
aber es sollte noch schlimmer kommen.
Phoenix mitten im Juli entpuppte sich als feuchtheiße,
stinkende Monsteragglomeration. Bärdel hätte
sich am liebsten sein Fell ausgezogen, wenn er nur
gekonnt hätte. Was die äußeren Umstände
anging, wurde der Aufenthalt aber bald wenigstens ein
bißchen erträglicher: Marlboro hatte für
vermutlich teures Geld komfortable Hotelzimmer mit
Air condition vorgebucht. Leider aber gab es keine
Einzelzimmer. Bärdel mußte sich ein Doppelbett
mit einem jungen Mann teilen, der Bierdunst um sich
verbreitete, dauernd kicherte und ständig vor
sich hin lallte:“Mein Gott, hast du viele Haare!“
Das reichte. Bärdel machte sich selbständig.
Auf Futter konnte er eine Zeitlang verzichten, aber
etwas zu trinken würde er brauchen. Suchend schaute
er sich um. Wasser gab es am Waschbecken, aber wie
sollte er es transportieren? Zufällig fiel sein
Blick auf den Camelback seines Zimmergenossen – das
war genau das Richtige! Moralische Skrupel schob er
beiseite: Natürlich war das, was er vorhatte,
ein Eigentumsdelikt, aber jeder Bärenrichter hätte
geurteilt, daß es sich hierbei lediglich um Mundraub
handelte. Er füllte den Trinkrucksack und machte
sich davon.
Nach einem langen Marsch durch den schwülwarmen
Großstadtdschungel stand er in der Wüste.
Wüste mit allem, was dazugehört. Kein Wasser.
Dürre Büsche. Und Kakteen satt.
„Was soll ich bloß hier?“ fragte er
sich. „Ein Platz für Bären ist das nicht
gerade! Und ausgerechnet hier soll Smokey wohnen?“
Aber pflichtbewußt erinnerte Bärdel sich
an seinen Auftrag.
„Na gut, ich werde es wenigstens versuchen!“
Und er trottete los. Vorsichtshalber blieb er auf der
Straße, denn er hatte zu recht großen Respekt
vor Kakteenstacheln.
Schon nach 35 Minuten passierte das Aufregende: Er grüßte
ihn! Smokey the Bear! Zwar teilte er Bärdel nur
mit, daß er Waldbrände verhüten solle
und daß wegen der anhaltenden Dürre die
Feuergefahr heute extrem hoch sei, aber ihm war vollkommen
klar: Das war keine spezielle Botschaft an ihn, sondern
an die Masse der dummen Menschen: „Schmeißt
keine Kippen aus dem Auto!“ Eigentlich war die
Nachricht ja auch bescheuert: Waldbrände verhüten,
und das in der Wüste! Wo gab es hier denn Wald?
Hinter dieser vordergründigen Mitteilung aber
erkannte er den wahren Sinn: „Bär sucht Bär!“

Smokey

Bärdels Stimmung wandelte sich jäh, und in
ihm jubelte es: Amerika, Land der unbegrenzten Möglichkeiten!
Wie schön bist du! Sogar Kontaktanzeigen von Bär
zu Bär hast du in deinem Programm!
Augenscheinlich hatte er die Wüste völlig
falsch eingeschätzt. Hier gab es nicht nur Kakteen,
sondern auch Artgenossen, die zudem noch über
subtile Kommunikationsfähigkeiten verfügten.
Dieser Intelligenz mußte er sich gewachsen zeigen.
Aber wie?
Wie und wo sollte er Smokey treffen? Einfach stehenbleiben
und hoffen, daß er vorbeikam? Hier schien niemand
vorbeizukommen, jedenfalls nicht jetzt in der Nacht.
An der nächsten Tankstelle fragen: „Haben
Sie vielleicht Smokey gesehen?“ Das war vermutlich
zu gefährlich – in den USA gab es bestimmt auch
psychiatrische Kliniken für Bären, die sich
nach Bären erkundigten. Also mußte er auf
eigene Faust weitersuchen. warten und die Augen offenhalten.
Er wanderte den ganzen Tag lang und traf unterwegs nur
eine Klapperschlange und einen Skorpion. Beide wußten
nichts von Smokey. Sie schienen ihn überhaupt
nicht zu kennen. Abends landete er auf einem Rastplatz.

Die Amerikaner sind saubere Leute, und für die
Riesenmengen Müll, die sie produzieren, haben
sie überall Abfallkörbe aufgestellt. Normalerweise
jedenfalls. Hier allerdings hatten sie die Mülleimer
aufgehängt, und das auch noch schräg. Ein
schwerer Deckel verschloß jeden einzelnen. Bärdel
kombinierte und schloß messerscharf: Das war
eindeutig eine anti-bärische Maßnahme. Seine
Artgenossen sollten keine Chance haben, die süßen
Colareste aus den Dosen der Menschen zu schlürfen.
Die Chancen, Smokey oder zumindest irgendeinen Bären
hier zu treffen, standen gut.
Bärdel machte ich es sich nach Maßgabe der
Wüstenmöglichkeiten bequem und wartete auf
die Nacht.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit wurde der Rastplatz
lebendig. Krallen scharrten schrill auf dem Blech der
Müllcontainer, und Deckel rollten polternd herunter.
In Bärdel keimte Hoffnung. Als er sich das Ganze
von nahem besah, mußte er allerdings feststellen,
daß nicht Bären dafür verantwortlich
waren. Was er zu Gesicht bekam, war eine Horde von
Waschbären.
Natürlich hatte Bärdel noch nie Waschbären
zu Gesicht bekommen, aber er hatte einiges über
sie gelesen. Der Literatur zufolge sindWaschbären,
abgesehen von den meisten Menschen, die unangenehmsten
Zeitgenossen, die es gibt. Sie sind ja auch keine Bären.
Nie können sie ernst sein. Wenn man etwas von
ihnen will, wird man auf den Arm genommen. Und dauernd
denken sie nur ans Fressen.
Er hatte aber keine Wahl. Irgend jemand mußte
ihm helfen, und außer ihnen war niemand da.
Nach allen Regeln der Bärenhöflichkeit näherte
er sich dem lärmenden Haufen, stellte sich vor
und fragte, ob ihn jemand zu Smokey bringen könne
oder zumindest wisse, wo er zu finden sei.
Anscheinend hätte er nichts Dümmeres machen
können. Die Waschbären brachen in ein homerisches
Gelächter aus, kugelten kichernd durcheinander
und konnten sich schier nicht wieder fassen.
Bärdel nahm alle seine Geduld zusammen und wartete
– irgendwann mußte ihnen die Lachpuste doch ausgehen.
Nach einer halben Stunde hatten sie sich soweit organisiert,
daß sie im Kreis um ihn herumtanzten und einen
Rundtanz-Singsang anstimmten:
„Smokey ist überall…“
„…also auch hier…“
„…oder irgendwo…“
„…oder nirgendwo…“
„…oder nur im Kopf…“
„…von nem dummen Tropf.“

Sie wurden immer übermütiger und zogen ihren
Kreis immer enger. Der Singsang nahm an Tempo zu.
Bärdel wurde schwindlig, in ihm drehte sich alles,
und auf einmal stand Smokey vor ihm. Verblüffenderweise
war er noch nicht einmal überrascht, allerdings
ein wenig irritiert. Genauso wie auf dem Plakat trug
Smokey einen albernen Hut – der stand ihm gar nicht,
fand Bärdel. Warum setzte er ihn nicht ab, jetzt,
bei einem privaten Treffen?
Smokey grinste freundlich und macht eine einladende
Geste: „Jetzt zeige ich dir mein Reich!“
Bevor Bärdel fragen konnte, wie er das machen wollte,
merkte er, daß er flog. Erklären konnte
er sich das nicht. Beherrschte Smokey die Grundregeln
der Levitation? Träumte er nur? „…oder
irgendwo…oder nirgendwo…oder nur im Kopf…“
summte es in ihm. Egal. Den „dummen Tropf“
blendete er erstmal aus seinem Bewußtsein aus.
Er landete sanft. Noch leicht schwindlig von der Reise
schüttelte er sich, um nüchtern zu werden,
und sah eine Traumlandschaft.
Ein azurblauer See lag inmitten vielfarbiger Hügel.
Das Wasser war klar und durchsichtig, es lud zum Trinken
ein. Die Ausmaße des Gewässers waren von
dem Ort aus, an dem er stand, nicht erkennbar – es
gab zahlreiche Buchten und Wasserzungen. Wald und Buschbewuchs
zog sich die Hänge hinauf, das dunkle Grün
der Pflanzen sprenkelte und verdeckte die Rot- und
Brauntöne der Erde.
Der See selbst war belebt. Hausboote ankerten irgendwo
am Ufer oder tuckerten gemächlich über das
Wasser, und ab und zu zischte ein Motorboot vorbei.
Seine Heckwelle aus weißem, aufgewühltem
Wasser sah gut aus und blieb erhalten, als es schon
lange hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden
war.
„Whow!“ sagte Bärdel. Das schien ihm
amerikanisch angemessen, zumindest in den Grenzen seiner
englischen Sprachkenntnisse.
Smokey lächelte geschmeichelt. „Schön,
daß es dir gefällt“, sagte er. „Das
habe ich gemacht. Zusammen mit den Menschen.“

Während der Inhalt der Aussage allmählich
in Bärdels Hirn sickerte, ging ihm auf, daß
Smokey deutsch sprach.
Ein amerikanischer deutschsprechender Bär? Das
war fast so wahrscheinlich wie eine eierlegende Wollmilchsau.
Wieder erinnerte ich mich an den Vers:…“nur
im Kopf…“.
Was er allerdings augenblicklich im Kopf hatte, waren
hauptsächlich Fragezeichen. Er verdrängte
sie.
„Du hast das gemacht?“ Es gelang ihm, die
Frage im Ton höflichen Erstaunens zu formulieren.
„Wie hast du das geschafft?“
„Na ja.“ Smokey wand sich ein wenig. „Ganz
allein habe ich das nicht gemacht. Die Menschen wollten
es. Sie haben einen Damm gebaut, der den Fluß
aufgestaut hat. Das Ergebnis siehst du hier: diesen
wunderschönen See, der allen zur Erholung dient.
Aber ohne mich hätten sie es nicht geschafft.
Ich habe ihnen nämlich gesagt, wo die Canyonwände
so stabil sind, daß sie den Damm halten werden,
und ich habe sie darüber informiert, wer gegen
das Projekt sein wird.“
Allmählich wurde Bärdel wach im Kopf.
„Was war denn hier vorher? Und wer war gegen das
Projekt?“
„Na ja, vorher war hier eben ein Canyon. Eine Schlucht,
durch die der Fluß durchgerauscht ist. Im Frühjahr
mit viel Wasser, sonst eher mit wenig. Pflanzen und
Tiere haben hier gelebt, die damit fertigwurden, und
sonst niemand. Kurz gesagt: Hier war nutzlose Wüste.“
Bärdel fand es sehr sympathisch, daß hier
keine Wüste mehr war. Statt der trockenen Wüstenluft,
die aus allen Saunen der Welt zu stammen schien, strich
eine angenehm kühle Brise über das Wasser.
Aber Smokey hatte seine Frage nur zur Hälfte beantwortet.
„Und wer war gegen das Projekt?“
„Ein paar spinnerte Naturfreaks. Die wollten nicht,
daß hier die Zivilisation einzieht. Waren wohl
für die Verewigung der Steinzeit und gegen Städte
mit Klimaanlagen.“
Bärdel aus dem kühlen, nassen Dehland erinnerte
sich an seine Ankunft: Lärm und Gestank aus unzähligen
Auspuffrohren. Das Geratter von Klimaanlagen. Ein angenehm
gekühltes Hotelzimmer.
„So etwas wie Phoenix?“
Smokey haute ihm begeistert seine Pranke auf die Schulter.
„Volltreffer! Ohne diesen See gäbe es Phoenix
nicht! Er produziert die Elektrizität für
Hunderttausende von Menschen. Komm, ich zeig’s dir!“
Hinter der nächsten Bergflanke präsentierte
er Bärdel das Wunderwerk. Elegant schwang sich
ein Betondamm von Hang zu Hang. Auf einer Seite blaute
der See. Auf der anderen, viele Meter tiefer, wand
sich ein schmales Rinnsal durch eine steile Schlucht.
Bärdel mußte sich große Mühe geben,
seine nächste Frage ganz harmlos klingen zu lassen.
Sicher, der See war schön, auf den ersten Blick.
Aber was war er mehr als der Garant eines Krebsgeschwürs?
Daran sollte ein Bär mitgearbeitet haben? Und
auch noch stolz darauf sein?
„Dann gäb’s also ohne dich auch Phoenix nicht?
Weil du alles projektiert hast?“
Sie waren langsam auf dem Damm entlanggeschlendert und
jetzt am Ende angekommen. In der Sonne glitzerte ein
Schild: „Prevent bushfires!“ Smokey gab es
offenbar häufiger. Diesmal konnte es sich nicht
um eine geheime Botschaft für Bärdel handeln;
schließlich hatte er Smokey schon getroffen.
In ihm wuchs ein Verdacht.
Bärdel war ein durchaus normaler gemütlicher
Bär, aber wenn er wütend wure, wurde er richtig
cholerisch. Und jetzt war er wütend. Er baute
sich vor Smokey auf und brüllte:“Welche Rolle
spielst du hier eigentlich?“
Smokey wich zurück. Er stand vor seinem Portrait
auf dem Schild und ging rückwärts, die Fäuste
zur Verteidigung erhoben – Bärdel mußte
einen ziemlich bedrohlichen Eindruck machen.
„Tu mir nichts! Ich spiele überhaupt keine
Rolle. Jedenfalls keine aktive. Ich bin das Alibi.
Der Bär, das ist Natur. Ursprüngliche, unverfälschte
Natur. Dahinter verstecken die Menschen alles, was
sie machen. Ich sorge dafür, daß alles so
aussieht, als sei es in Ordnung.“
Während er sprach, wich er immer weiter zurück.
Bärdel folgte ihm in gleichbleibendem Abstand.
Plötzlich wurde Smokey durchsichtig, seine Konturen
verschwammen, er verschwand im Schild.
Zum ersten Mal in seinem Leben spuckte Bärdel einen
anderen Bären an. Er traf auch. Eine weiße,
blasenwerfende Flüssigkeit tropfte langsam vom
Blech. Vom Blech – nicht vom Bären.

Smokey

Die Anstrengung war sehr groß. Bärdel wurde
übel und schwindelig, er erbrach sich in den See,
und dann wurde er ohnmächtig.

Als er allmählich zu sich kam, hörte er nur
zwei dauernd wiederholte Worte: „Dummer Tropf,
dummer Tropf…“
Die Stimme kannte er gut; sie gehörte Tussi. Tussi, eine Froschgöttin, lebt am Gorillasee,
wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hat. (vgl. „Grimmis
Buch vom Gorillasee
„.)
„Na, wieder wach, Alter?“ begrüßte
sie ihn. „Wird auch höchste Zeit. Hab schließlich
noch was anderes zu tun – am Gorillasee und sonst überall
in der Welt und der Galaxis. War mir aber eine Freude,
dich zu retten. Hätte nicht gedacht, daß
du so blöd bist. Hättest mehr trinken müssen,
viel mehr trinken, und ein bißchen essen hätte
auch nicht geschadet.Typischer Fall von Dehydrierung.
Aber naja – bist eben kein Frosch. War ein Tussimobiltransport,
gerade rechtzeitig. Hier bist du in Bärenleben.
Laß dich gesundpflegen. Man sieht sich. Bis die
Tage!“
Und sie verschwand. Bärdel wurde gesund. Als er
sich genügend erholt hatte, machte er als erstes
einen Ausflug in die nahegelegene Kleinstadt und klaute
dort für Tussi eine Flasche ihres Lieblingsgetränks
– Champagner.
Danach erzählte er Tumu, was er erlebt hatte, und
ein paar Abende später berichtete er der gesamten
Sippe. Als sich die Unruhe nach seinem Report gelegt
hatte, sagte er:
„Ich weiß nicht, was ich auf dieser Reise
gelernt habe. Betrogen werden kann man jedenfalls überall.
Und eines weiß ich bestimmt: Eine Marlboro-Erlebnisreise
will ich nie wieder gewinnen!“

Die Lehre

 

Es war einmal ein Bär namens Kulle, der war sehr belesen. Er war nicht nur belesen, er war auch klug: Er verknüpfte die Elemente seines Wissens miteinander und zog aus allem die richtigen Schlußfolgerungen.

So etwas ist bei den Bären nicht verboten. Zwar schreiben und drucken sie selbst keine Bücher, das tun nur die Menschen. Aber manchmal, das wissen sie, faßt sogar ein Mensch ein paar vernünftige Gedanken. Warum sollten sie davon nicht profitieren? Sie schätzen es sehr, wenn ein lesender Bär an ihren abendlichen Gesprächsrunden teilnimmt, neue, ihnen bisher fremde Ideen einbringt und sie darüber nachdenken und diskutieren können.

Kulle aber war bei ihnen unbeliebt. Er beschränkte sich nämlich keineswegs auf die Rolle, die sie von ihm erwarteten. Auch tagsüber meinte er ihnen dauernd erzählen zu müssen, was er wieder Neues gelernt hatte. Das ärgerte sie, weil sie sich deshalb nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnten. Und abends gab er sich nicht damit zufrieden, einfach mitzureden, sondern wollte sie ständig belehren und behauptete, immer recht zu haben.

Lange erduldeten sie diesen Zustand, aber irgendwann fanden sie ihn unerträglich. Heimlich beratschlagten sie und teilten dem überraschten Kulle dann ihren Entschluß mit:

„Du solltest Lehrer werden!“

„Oh,“ sagte Kulle.

Es war klar, daß er damit nicht gerechnet haben konnte. Bei den Bären gab es nämlich keine Schulen – Schulen betrachteten sie als Entfremdung (übrigens eine Vokabel, die Kulle ihnen beigebracht hatte). Alles, was Jungbären lernen mußten, erfuhren sie im täglichen Leben mit der Sippe. Schulen gab es nur bei den Menschen.

Kulle fügte sich in sein Schicksal und machte sich auf die Wanderschaft. Er ging westwärts und stieg dabei bald über einen Gebirgszug, den die Menschen das Erzgebirge nannten. Auf der anderen Seite kam er in der Ebene in eine große Stadt. Sie hieß Chemnitz, behaupteten die Ortseingangsschilder, aber Kulle glaubte das nicht so recht: Diese Stadt entsprach den Bildern, die er von einem Ort namens Karl-Marx-Stadt aus Büchern kannte.

Schon in einem Vorort stieß er auf eine Anlage, die eine Schule sein mußte: flache Gebäude mit großen Fensterflächen in den Wänden, ein großer asphaltierter Hof, auf dem sich viele junge Menschen aufhielten. Hastig packte Kulle sein einziges Gepäck aus – ein langes, kariertes Stoffband. Geschickt legte er es sich um den Hals und knüpfte eine kunstvolle Schleife. Diese Krawatte mußte als Tarnung reichen – er hoffte, daß er jetzt wie ein Mensch aussah.

Mutig betrat er das größte Haus, fand schnell die Schulverwaltung und stand im Sekretariat.

„Guten Tag,“ sagte er, „ich bin Lehrer und suche eine Stelle.“

Mißtrauisch betrachtete ihn die Sekretärin.

„Russisch?“ fragte sie.

Kulle wußte nicht so recht, was sie meinte, da er aber sicher war, daß er kein russischer Bär war, antwortete er: „Nein.“

„Na, dann will ich’s mal wagen,“ sagte die Frau. „Ich melde Sie der Direktorin.“

Kulle durfte durch eine weitere Tür treten, wurde begrüßt und sollte sich setzen. Im letzten Moment reagierte er richtig: Er hockte sich nicht wie gewohnt auf den Boden, sondern brachte sich vorsichtig auf einem wacklig wirkenden Stuhl unter – ihm war schließlich klar, daß er nicht ganz leicht war.

„Sie suchen eine Stelle?“

„Ja, eine Stelle als Lehrer.“

„Welches Fach oder welche Fächer unterrichten Sie?“

Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Was konnte damit gemeint sein? In welcher Schublade er unterrichtete? Oder: Welche Schublade er unterrichtete? Das konnte es nicht sein. Er beschloß, „Fach“ mit „Gegenstand“ zu übersetzen. Welche Dummheit: Wußten die Menschen denn nicht, daß es keine „Gegenstände“ gab, sondern daß auf der Welt alles mit allem zusammenhing? Aber jetzt war keine Zeit für solche grundsätzlichen Überlegungen. Er wollte schließlich hier angestellt werden.

Was konnte er am besten? Was war sein „Fach“? Eigentlich war alles Naturwissenschaft oder Politik – aber auch das ließ sich nicht so richtig trennen. Er spielte Vabanque – etwas anderes blieb ihm auch gar nicht übrig.

„Politik,“ murmelte er.

„Politik?“ Die Direktorin schien ihm nicht zu glauben. Also hatte er bestimmt etwas falsch gemacht. Aber nun mußte er bei seiner Aussage bleiben.

„Ja, Politik,“ bestätigte er.

„Wundervoll!“ jubelte die Direktorin. „Wissen Sie, daß Sie der erste Politiklehrer in diesem Bezirk sind? Und das an meiner Schule! Sie können sofort anfangen – am besten gleich morgen!“

Kulle fiel ein Stein vom Herzen. Er wußte nicht warum, aber er hatte offenbar einen Volltreffer gelandet. Er bedankte sich und verabschiedete sich höflich, holte sich seinen „Stundenplan“ ab (Was das wohl wieder war?) und verschwand für eine Beerenmahlzeit in den Wäldern.

Die Direktorin war nicht minder erleichtert. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sie vor lauter Begeisterung nicht nach den Zeugnissen des neuen Kollegen gefragt hatte.

„Wir werden als einzige den Plan erfüllen,“ murmelte sie vor sich hin. Als ihr bewußt wurde, was sie gesagt hatte, korrigierte sie sich:

„Wir werden als einzige die Unterrichtsverpflichtung im Fach Politik abdecken!“

Seinem „Stundenplan“ hatte Kulle entnommen, daß er um 8.00 Uhr mit dem Unterricht anfangen sollte. Solche Zeitangaben scherten ihn wenig – Bären werden mit dem Aufgang der Sonne aktiv und ziehen sich spätestens bei Sonnenuntergang zum Plaudern zurück. Natürlich hatte er keine Uhr. Da es Sommer war, kam er zwei Stunden zu früh zur Schule. Um sich zu beschäftigen, las er obskure Dinge, die im Lehrerzimmer herumlagen – „Schulverwaltungsblatt“, „Terminplan“, „Mitteilungsbuch“ und dergleichen mehr. Er gewann den Eindruck, daß die Menschen perfekt darin waren, sich Korsetts anzulegen, ohne es zu bemerken.

Endlich war es soweit. Er fand seine „Klasse“ und sah sich zwanzig ungefähr achtzehnjährigen Menschen gegenüber. Er betrachtete sie, und sie schätzten ihn ab. An ihm konnten sie als hervorstechendes Merkmal nur seine Schleife registrieren, er aber sah viel mehr: Markenjeans, Markenschuhe, teure Jacken, die lässig über Stuhllehnen baumelten, T-Shirts, Sweatshirts und Pullover mit aufdringlich schreienden Markennamen. Hier lag ein Taschenrechner, dort wollte ein Walkmann wieder in Betrieb gesetzt werden.

Statt einer Begrüßung sagte er: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung'“.

Er erntete verblüfftes Schweigen.

„Stimmt!“ sagte schließlich eine kleine Dicke.

„Wieso?“ fragte ein langer Dünner.

„Na, ist doch klar!“ antwortete die Dicke. „Seit wir hier den Kapitalismus haben, gibt es jede Menge Waren. Und jeder, der viel von dem Zeug hat, das man kaufen kann, gilt als reich. Alles andere zählt nicht. Capito?“

„Aber das ist doch ungerecht!“ rief eine Dritte.

„Wieso?“ fragte ein Vierter.

„Ist doch klar!“ sagte die Dritte. „Mein Vater ist arbeitslos, meine Mutter schon lange, wovon sollen wir uns also all die Waren kaufen können, die uns reich machen?“

„Das verstehe ich,“ meinte der Vierte. „Warum können denn nicht alle reich sein?“

Ich wag’s,‘ sagte sich Kulle.Das scheinen ganz intelligente Menschen zu sein.‘

Und er zitierte aus dem Kopf:

„Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt, wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer also diese Reservearmeee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizille Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.“

„Was soll das denn heißen?“ fragte der Dünne.

„Diesmal hab ich’s kapiert, glaube ich,“ sagte die Vierte. „Das Kapital will Profit, sonst nichts. Folglich steigert es die Arbeitsproduktivität, ersetzt also Menschen durch Maschinen. Die noch gebrauchten Menschen müssen immer mehr malochen, und alle anderen werden arbeitslos. Im Kapitalismus geht das gar nicht anders.“

Zum ersten (und auch zum letzten) Mal in seiner Lehrerrolle verhielt Kulle sich angemessen: Er gab der Vierten im Kopf eine „Eins“. Und nebenbei fragte er sich, warum der Autor, den er gerade zitiert hatte, sich nicht genau so einfach hatte ausdrücken können wie seine Schülerin.

„Und? Was können wir dagegen tun?“ wollte die Dicke wissen.

Kulle wartete und hoffte, daß jemand aus der Klasse die naheliegende Lösung fand. Aber es herrschte Schweigen.

Also mußte er ihnen helfen.

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein…“

Bei dem Wort „Revolution“ runzelten viele Schüler die Stirn. Verunsichert brach er ab. In der letzten Reihe meldete sich eine junge Frau.

„Ja?“ fragte Kulle.

„Sagen Sie mal, Herr…“

„Oh, Entschuldigung,“ sagte Kulle. „Kulle.“

„Sagen Sie mal, Herr Kulle, wen zitieren Sie da eigentlich dauernd?“

Kulle war verdattert. Diese Frage hatte er in dieser Stadt nicht erwartet. Tatsächlich schien es niemand zu wissen, alle Schüler schauten ihn neugierig an.

„Karl Marx natürlich,“ sagte er also schulterzuckend.

Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen. Dann brach ein Tumult los. Alle schrien durcheinander.

„Raus hier!“

„Wohl von der Stasi übriggeblieben, was?“

„Du liebst uns wohl alle?“

„Kommunistensau!“

„Hau ab!“

Kulle folgte der Aufforderung. Ihm war nicht ganz klar, was da schiefgelaufen war, aber hier war seines Bleibens nicht länger. Kopfschüttelnd lief er durch Karl-Chemnitz-Marx-Stadt und strandete an einem riesigen Marmorsockel. Als er den Kopf hob, sah er, daß der Kopf ihn ansah.

„Wieso sind die Menschen hier so blöd?“ fragte Kulle den Kopf.

Der Kopf antwortete nicht und starrte finster in visionäre Fernen.

Da machte Kulle sich auf die Wanderschaft. Er ging auf die Suche nach Menschen, die klug waren und verstanden, was in ihrer Welt vor sich ging.

Wir wollen hoffen, daß er noch lebt und inzwischen seßhaft werden konnte. Aber wahrscheinlich zieht er noch immer umher.

Menschenliebe


Außergewöhnliches Beispiel von Menschenliebe bei wilden Tieren
 

Erinnert ihr euch an Bärenleben? Richtig, das ist jenes kleine dehländische Dorf…

Einige Zeit nach dem Atomabenteuer hatten die Bewohner von Bärenleben wieder ein Problem. Diesmal litten sie nicht an Nahrungsüberfluß, sondern an Mangel. Wahrscheinlich denkt ihr jetzt, die Beeren wären jetzt kleiner gewachsen als normal, aber das ist falsch. Alle Früchte hatten die Größe, die sie haben sollten. Eigentlich gab es auch genug von ihnen. Nur: Sie wurden abgeerntet, bevor die Bären sich über sie hermachen konnten. Und nicht nur das: Auch das trockene Holz, unter dem im Herbst die Pilze so prächtig gediehen, verschwand wie von Geisterhand. Von den wenigen Pilzen, die trotzdem sprossen, ganz zu schweigen.

Bärdels Sohn – Tumu und er hatten ihn Manfred genannt – war inzwischen zu einem kräftigen Jungbären herangewachsen. So ein geheimnisvoller Vorgang – das war etwas für ihn! Gut im Unterholz verborgen, legte er sich auf die Lauer. Er brauchte nicht lange zu warten. Schon kurz nach Einbruch der Dämmerung näherten sich graue Schatten und begannen ihre Ernte. Sie sammelten alles, was der Wald zu bieten hatte, steckten die Beeren in mitgebrachte Beutel, luden das Holz auf kleine zweirädrige Wägelchen, ja, sogar Gras schnitten sie ab und stopften es in grobe Jutesäcke.

Eigentlich hatte Manfred vorgehabt, die Diebe gehörig zu erschrecken, so daß sie nicht den Mut haben würden, jemals wiederzukommen. Trotz des schlechten Lichtes erkannte er jetzt jedoch, daß die Störenfriede Menschen waren. Menschen – so dicht bei Bärenleben! Die durfte er nicht auf sich aufmerksam machen – er hätte damit alle verraten. Behutsam, ohnen einen Laut, schlich Manfred zurück.

Natürlich war es längst ordentliche Bären-Schlafenszeit, aber trotzdem weckte Manfred das gesamte Dorf. Er fand, die Angelegenheit sei dringlich genug. Und richtig: Nach dem ersten Gebrumm und Gemurr über die ungehörige Störung kam niemand auf den Gedanken, ihn zu schelten. Aufgeregt redeten alle durcheinander: “Menschen sollen auf einmal Beeren sammeln?“

„Und Holz?“

„Vielleicht wollen sie ein Haus bauen?“

„Ein Haus aus Abfallholz – das glaubst Du doch selbst nicht!“

„Kann es sein, daß sie die gesunde Ernährung entdeckt haben?“

„Für gesunde Kost gehen sie ins Reformhaus, nicht in den Wald!“

Sie kamen nicht recht voran. Bald breitete sich ratloses Schweigen aus.

Schließlich sagte eine Bärin: “Damals, als die Beeren zu groß waren und wir so viel Unglück hatten, sind die Männer Bücher holen gegangen und haben nachgelesen, woran alles lag.“

„Das ist eine hervorragende Idee,“ meinte Bärdel. „Aber vielleicht kann es diesmal weniger gefährlich werden. Ich glaube nicht, daß wir wie beim letzten Mal stehlen müssen. Wenn sich etwas bei den Menschen verändert hat, dann steht es bestimmt in den Zeitungen.“

„Ach, und die bekommst Du umsonst?“ wollte ihn sein Nachbar verspotten.

„In der Tat,“ brummte Bärdel gemütlich und grinste. „In jeder öffentlichen Menschenbibliothek. Darf ich gehen?“

Er durfte.

Bärenkenner wissen, daß Bären sich ohne Schwierigkeiten als Menschen tarnen können. Unerkannt wanderte er also in die nächste Kreisstadt und machte es sich im Lesesaal der Bibliothek bequem. Zeitungen gab es hier wirklich zur Genüge. „WILD“ schob er schnell wieder in den Ständer zurück: Daß der Kanzler am anderen Ende der Welt Milliardenaufträge für die heimische Industrie zu ergattern versuchte und daß die Gewerkschaften unverschämte Lohnforderungen stellten, hatte mit seinem Problem nichts zu tun. Oder doch? Jedenfalls versuchte er es erst einmal mit anderen Blättern und fand mehr:

Arbeitslosenzahl auf Rekordhöhe
Zahl der Sozialhilfeempfänger innerhalb von zehn Jahren vervierfacht

Minister kündigt Kürzung des Arbeitslosengeldes an

Wirtschaftswachstum geht am Arbeitsmarkt vorbei.
Das war es also! Bevor er wieder nach Hause marschierte, schlug er im Lexikon unter „Sozialhilfe“ und „Arbeitslosengeld“ nach. Vergnügt pfiff er auf dem Heimweg vor sich hin.

In Bärenleben wurde er gespannt erwartet.

„Was ist denn nun los?“ Alle bedrängten ihn.

„Kein Grund zur Panik!“ schmunzelte Bärdel. „Ich bringe gute Nachrichten. Die Menschen haben keine Arbeit mehr, und also auch kein Geld. Es ist Schluß mit dem Konsumterror und der Technik – das können sie sich nicht mehr leisten. Sie kehren zurück zur Natur – bald werden sie wieder leben wie wir, als Jäger und Sammler!“

Nach dem ersten überraschten Schweigen öffnete Manfred gerade den Mund, um einen Jubelschrei auszustoßen, da sagte Tumu ganz leise:

„Sammeln tun sie ja jetzt schon – unsere Beeren, unser Holz, unsere Pilze. Und wen werden sie morgen jagen? Uns!“

Während der absoluten Stille, die danach eintrat, wurde jedem Bewohner von Bärenleben klar, daß das Dorf wieder mal ein Problem hatte. Ein größeres, als bisher angenommen. Ein sehr großes.

An den geruhsamen täglichen Bärenrhythmus oder gar an Schlaf war nicht mehr zu denken. Alle Dorfbewohner beratschlagten in Permanenz.

Schon bald war ihnen klar, daß sie, um die Menschen von sich abzulenken, gerade das brauchten, was sie überhaupt nicht hatten: Geld. Pläne der Jungbären, Blüten zu drucken, wurden schnell verworfen: Solche Fälschungen flogen immer auf, und dann war Bärenleben erst recht preisgegeben. Aber was sonst tun? Sie diskutierten hin und her, kamen aber zu keinem Ergebnis.

Nach einigen Tagen, als alle schon vor Schlaflosigkeit rotgeränderte Augen hatten, sagte Bärdel mit Galgenhumor:

„Ich habe mal von Tieren gehört, denen es sehr schlecht ging. Ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn. Sie sagten sich: Laßt uns in die Welt ziehen; etwas Besseres als den Tod werden wir allemal finden. Sie fanden es tatsächlich – sie überwältigten eine Räuberbande und bedienten sich von deren Beute. Jetzt bitte ich euch: Laßt mich in die Welt ziehen! Ich will versuchen, etwas Besseres als den Tod für Bärenleben zu finden.“

Tumu weinte zwar bitterlich, aber natürlich ließen sie ihn gehen – sie wußten nicht, was sie sonst machen sollten.

Bärdel wanderte durch Dehland. Überall das gleiche Bild – Menschen ohne Arbeit. Untätig, mit der Bierdose in der Hand, oder auf Nahrungsmittelsuche. Einmal roch er an den Resten des Inhalts einer Konservendose, die ein Mensch gerade leergegessen und danach weggeworfen hatte. Ihm wurde übel. „Kittekat“ sagte das Etikett.

Er probierte verschiedene Türen aus. Beim Sozialamt kam er gar nicht dazu, das Elend der Menschen zu schildern – man warf ihn nach den ersten Sätzen hinaus. Pfarrer hörten ihm in der Regel geduldig zu, seufzten dann , wiesen auf Kollekten für caritative Zwecke hin und murmelten etwas von der schwierigen Finanzlage der Kirchen in der Gegenwart. Bürgermeister bekamen nach der Erwähnung des Wortes „Sozialhilfe“ hektische rote Flecken im Gesicht. Minister erläuterten ihm ausführlich das Budgetdefizit, und der Oppositionsführer sprach von der Notwendigkeit einer langfristigen Konsolidierung. Gewerkschafter hörten ihn geduldig an, wiesen dann auf den Mitgliederschwund hin und schoben ihm ein Beitrittsformular über den Tisch.

Erst zum Schluß traute er sich zum Arbeitgeberverband. Die Arbeitgeber waren an allem schuld, sagte ihm sein Gefühl. Warum also sollten gerade sie helfen?

Es war gar nicht so leicht, dort zu einem wichtigen Menschen zu gelangen. Da war der Pförtner, der ihn nicht hineinlassen wollte. Die Dame am Empfang in der imposanten Eingangshalle. Und schließlich die Sekretärin.

Alle hatten von ihm wissen wollen, „in welcher Angelegenheit“ er „vorstellig werde“. Er hatte etwas Undeutliches gemurmelt und dabei immer nur das Wort „Schutz“ deutlich ausgesprochen. Verblüffenderweise reichte das – er wurde überall durchgeschleust.

Endlich saß er einem Herrn gegenüber. Der Herr trug einen dezenten Anzug mit einer noch dezenteren Krawatte und einem ganz dezentem Hemd. Viel imposanter als der Herr war für Bärdel aber der Schreibtisch, der sich zwischen ihnen befand. Er war riesig groß und fast leer – fast. Auf ihm befanden sich lediglich eine lederne Schreibtischgarnitur, ein silbergerahmtes Foto und ein kleiner Plüschteddy. Der war Bärdel sofort sympathisch. Unwillkürlich nahm sein Äußeres ein wenig mehr von seiner Bärenidentität an.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte der dezente Herr.

„Ich bin vom Tierschutzverband,“ sagte Bärdel, ohne lange nachzudenken.

„Fast habe ich mir das gedacht!“ lächelte der Herr. „Verzeihen Sie, aber Sie sehen ja selbst beinahe aus wie ein Bär. Sicherlich geht es Ihnen um den Schutz bedrohter Tierarten? Wir von der chemischen Industrie sind jederzeit bereit, hierzu unseren Beitrag zu leisten.“

In Bärdels Kopf wirbelte es. Bedrohte Tierarten? Bären waren bedroht! Nur kein Hinweis auf Bärenleben! Chemische Industrie? Was machen die? Öl, Chlorchemie, Medikamente, Kosmetik…das war`s!

„Nein,“ sagte er und versuchte, ebenso dezent zu lächeln wie sein Gegenüber, „wir starten gerade eine Kampagne gegen den Mißbrauch von Labortieren. Sie wissen ja…“

„Natürlich weiß ich,“ sagte der dezente Herr und öffnete eine Schreibtischschublade. Ein Scheckbuch lag auf einmal in seiner Hand. „Wieviel?“

„Das liegt bei Ihnen,“ sagte Bärdel.

Der Herr verwechselte Bärdels Offenheit mit raffiniertem Verhandlungsgeschick.

„Gut.“ sagte er. „Ich mache Ihnen folgendes Angebot. Ich schreibe Ihnen einen Scheck über zehn Millionen DM. Der Verband der chemischen Industrie startet in allen überregionalen Tageszeitungen einen Anzeigenkampagne, die zu Spenden für bedrohte Tierarten aufruft. Sie stellen sich als Fotomodell für diese Kampagne zur Verfügung. Das kostet Sie nur einen Fototermin, den wir sofort arrangieren können. Sie verzichten im Gegenzug auf jegliche Angriffe gegen die chemische Industrie.“

„Gemacht!“ sagte Bärdel.

„Dann geben Sie mir Ihre Kontonummer, damit die eingehenden Gelder transferiert werden können.“

„Das mache ich morgen,“ stammelte Bärdel. „Ich rufe Sie an.“

Ungeduldig ertrug Bärdel es, daß zwei Fotografen um ihn herumwieselten und ihn aus allen nur denkbaren Perspektiven aufnahmen. Er mußte nämlich dringend nach Hause – also, eigentlich nicht nach Hause, aber in das Menschendorf, das am nächsten an Bärenleben lag. Dort gab es eine Bank. Dort mußte er ein Konto einrichten. Mindesteinlage: fünf Mark. In den nächsten Tagen würden Millionen auf dieses Konto fließen, aber ohne diese fünf Mark würde es kein Konto geben.

Im Vorzimmer erzählte er der Sekretärin etwas von Rosen, die er noch besorgen müßte, und einem Blumenladen, der keine Kreditkarten akzeptierte. Er bekam von ihr 50 DM und bat sie, diesen Betrag von seinem Guthaben abzuziehen. Morgen würde er eins haben.

So erschloß Bärdel eine Geldquelle. Nicht nur die versprochenen zehn Millionen DM der chemischen Industrie wurden auf das von ihm eingerichtete Konto eingezahlt, dazu kamen unzählige Spenden. Nicht immer wurden die Spenden einfach per Überweisung getätigt, oft erhielten die Bärenlebener Schecks, denen lange Briefe beigelegt waren. Daraus ließ sich ersehen, daß viele Menschen vor Mitleid mit den armen Labortieren überquollen und ihre letzten Pfennige opferten, um ihnen zu helfen.

Die Bären schüttelten ihre großen Köpfe. Sie verstanden das nicht. Mußte man nicht zuerst dem eigenen Volk helfen? Gab es nicht genug arme Menschen?

Aber letztlich konnte ihnen das egal sein. Sie halfen sich selbst. Den Armen, die Beeren lasen, Holz abfuhren und Pilze sammelten, gaben sie von ihrem Geldreichtum. So konnten die Menschen wieder einkaufen gehen. Und die Bären hatten wieder genug zu essen.

Sie plünderten ihr Spendenkonto bis auf die letzte Mark. Die aber blieb stehen. Für alle Fälle…

 

Die Sägebande

Die Sägebande
Kennt Ihr Dehland? Nein? Macht nichts. Ihr habt wenig verpaßt. Früher war Dehland einmal sehr schön, und ab und zu erinnern sich auch seine heutigen Bewohner daran. Sie werden dann wehmütig und singen ein Lied, das mit den Versen beginnt:
„Kein schöner Land in dieser Zeit,
als hier das unsre weit und breit…“

Ihr merkt, das ist ein schlechter Reim. Aber der Liedanfang verrät uns nicht nur etwas über die mangelnde Dichtkunst der Einwohner von Dehland, sondern auch etwas ber ihren Hochmut. Sie hielten sich und ihr Land schon immer für etwas Besseres, und das tun sie noch heute.

Natürlich leben in Dehland viele verschiedene Tiere, aber „die“ Bewohner sind Menschen. Sie glauben, ihr Land völlig unter Kontrolle zu haben. Ab und zu denkt der eine oder andere von ihnen zwar daran, daß es zum Beispiel viel mehr Ameisen als Menschen gibt – das fällt ihm vielleicht auf, wenn seine Zuckerdose in der Küche leergefressen ist, weil er vergessen hat, sie zuzumachen. Aber dann verwendet er Insektenspray und erinnert sich nicht weiter an diesen für ihn unappetitlichen Zwischenfall. An die sogenannten „Nutztiere“ verschwendet kaum ein Mensch jemals auch nur einen Gedanken. Er nimmt es als ganz selbstverständlich, daß er täglich Hähnchenschenkel, Schweineschnitzel oder Rindersteak essen kann. Dann gibt es noch die Haustiere, die absoluten Untertanen der Menschen: Apportiert der Hund nicht immer wieder den Zweig, den Herrchen oder Frauchen weggeworfen haben? Streicht die Katze nicht liebesuchend um die Füße der Menschen, die ihr Obdach gewähren? Schnurrt sie nicht dankbar, wenn ihr die Kehle gekrault wird? Weil sie so gehorsam sind, geben die Menschen in Dehland ihren Haustieren stets das leckerste Futter, und weil das so teuer ist, haben sie, wenn sie vom Einkaufen kommen, für den Bettler an der Ecke auch nicht einen Groschen mehr übrig.

An wildlebende Tiere, mit denen sie nicht in Berührung kommen, denken die Menschen überhaupt nicht. Sie glauben nämlich, es gäbe sie nicht. Das ist fast richtig – es gibt kaum noch welche.

Ganz Dehland ist von den Menschen besetzt. Ganz Dehland? Nein – in einem kleinen dehländischen Dorf…

In einem kleinen dehländischen Dorf namens Bärenleben wohnten sie seit Jahrhunderten, die Braunbären. Sie wußten, daß es die Menschen gab, aber die Menschen wußten nichts von ihnen. Das war auch gut so. Wäre es anders gewesen, hätten die Menschen bestimmt längst mit ihren tödlichen Waffen Jagd auf sie gemacht. Die Bären ihrerseits ließen die Menschen in Ruhe, solange sie genug zu fressen hatten – und das war eigentlich immer der Fall.

In diesem Sommer gab es überhaupt keinen Grund, sich mit den Menschen anzulegen. Es war ein wahres Wunder: Alle Beeren waren doppelt oder sogar dreimal so groß wie in den Jahren davor, und sie schmeckten süß und saftig. Die Sträucher schossen empor, daß es die reine Pracht war, und versprachen für das nächste Jahr eine noch bessere Ernte.

Die Dorfsippe schlemmte und mästete sich, so daß die Muskeln anschwollen und die Bäuche sich rundeten. Dabei hielt sich auch Bärdel, ein kräftiger Jungmann, nicht zurück. Er pflückte Handvoll um Handvoll, aber jede dritte Ernte reichte er weiter an Tumu, seine derzeitige Gespielin. Die war nämlich schwanger und kam mit ihrem eindrucksvoll dicken Bauch nicht mehr so gut in die Beerenhecken rein. So sorgte er dafür, daß sie kräftig wurde und hoffentlich ein gesundes Kind zur Welt bringen konnte.

Bären sind diskrete Leute, und deshalb sprach im Dorf niemand über Tumus Schwangerschaft. Dennoch wußte jeder: Da stimmte etwas nicht! Wann war jemals eine Bärin schwanger geworden, um ihre Jungen im Herbst zur Welt zu bringen? Kurz vor dem Winterschlaf, so daß sie keine Zeit mehr hatten, sich den notwendigen Speck für die lange Ruhephase anzufressen? Wer sollte für die Babys sorgen und sie säugen, wenn sie alle schliefen, weil sie schlafen mußten? Nein, das sah nicht gut aus…

Die Sorgen der Sippe waren nur allzu begründet. Tumu kam im November nieder. Ihre Zwillingskinder – ein Junge und ein Mädchen – waren mißgebildet. Eines hatte kein Gehirn, dem anderen fehlten Arme und Beine. Beide starben sofort nach der Geburt.

Tumu war unendlich traurig und weinte, bis ihr die Tränen ausgingen. Bärdel versuchte sie zu trösten, wenn er bei ihr war, und weinte nur heimlich, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Gut, daß es November war – der Schlaf nahm sie endlich in die Arme und half ihnen vergessen.—

Der Winter verging. Im März wurde der Schlaf der Bären flacher, sie begannen wieder, die Außenwelt wahrzunehmen. Immer öfter stieß Tumu Bärdel an, der neben ihr lag:

„Dreh Dich doch mal auf die Seite! Du schnarchst ja, als ob Du einen Wald zersägt hast! Hast wohl geträumt, Du wärst Holzfäller, was?“

Bärdel fühlte sich zwar im Schlaf gestört, aber zu seiner Freude bemerkte er auch, daß Tumu wieder in der Lage war, so etwas wie einen Scherz zu machen. Irgendwann, als er durch die dauernden Ermahnungen munter genug geworden war, begann er zu kuscheln, und sie liebten sich. Danach stand Tumu ganz selbstverständlich auf und fing an, nach frischen Märzbecherwurzeln zu graben. Die neue Saison begann.

Obwohl Bärenfrauen mindestens genauso klug sind wie Bärenmänner, sind sie nicht „emanzipiert“. Sie haben kein Interesse an endlosen Diskussionen, sie lieben das Leben und sorgen dafür, daß es weitergeht – das heißt, sie spielen mit ihren Kindern, bis die groß genug sind, um sich alleine zurechtzufinden, und setzen neue in die Welt. Im normalen Bärenleben ist das eine durchaus vernünftige Einstellung, aber auch in komplizierten Situationen?

Bärdel fand, daß sie sich jetzt in einer komplizierten Situation befanden. Man mußte nachdenken, und das ging allein weniger gut als in der Gemeinschaft. Warum waren die Beeren im letzten Sommer so unnatürlich groß gewesen? Würden sie es wieder werden? Warum hatte Tumu eine so außergewöhnliche Schwangerschaft gehabt? Hing das zusammen? Konnte sich das wiederholen?

Er traf sich also mit seinen Freunden, um über diese Probleme nachzudenken. Sie saßen im Kreis. Sie kauten auf den letzten zähen Schneebeeren herum, die der Winter übriggelassen hatte. Dabei dachten sie intensiv nach.

„Die Beeren waren viel zu groß.“

„Tumus Schwangerschaft war unnatürlich.“

Nur diese beiden Sätze fielen. Dann herrschte Stille. Wäre jetzt ein Mensch vorbeigekommen, so hätte er gewiß gedacht, daß sie schliefen, denn sie hatten die Augen geschlossen. Menschen halten das Schweigen nicht aus, es sei denn, sie schlafen. Sie nutzen jede Pause, um sie mit akustischem Müll zu füllen.Wenn es still ist, beginnen sie, hektisch auf ihren Stühlen hin und her zu rutschen oder mit den Augen den Himmel zu suchen, den sie schon längst nicht mehr sehen können, weil sie überall Betondecken eingezogen haben.

Bären dagegen lieben die Stille und nutzen sie. Für sie ist es selbstverständlich, einen Gedanken erst zu äußern, nachdem sie sich alle möglichen Konsequenzen überlegt haben, die daraus resultieren könnten. Das klappt meistens, aber nicht immer.

Schließlich begannen sie zu sprechen:

„Das hat es noch nie gegeben.“

„Wir waren nicht die Ursache, denn wir haben gelebt wie immer.“

„Also war es Gaia.“

„Oder die Menschen.“

Sie näherten sich dem Problem anaytisch. Gab es gehäufte Erdbeben? Klimaveränderungen? Schwankungen des Sonnenwinds?
Nicht, soweit sie es beurteilen konnten.

Was also dann?

„Seit sechs Jahren gibt es westlich von uns so ein großes Bauwerk in Eiform..“

„Fast direkt unter unserem Dorf liegt eine Kaverne, die wird seit Jahren heftig ausgebaut..“

„Sie bauen da auch eine riesige Lagerhalle…“

„Die Eisenbahngeleise sind verstärkt worden, als erwarteten sie Transporte mit großen Lasten…“

Wieder versanken sie in Schweigen. Sie mußten es nicht aussprechen: Natürlich waren die Menschen an den Veränderungen schuld. Aber wieso? Wie sollten sie das herausfinden?

Menschen hätten diese Frage in den Vordergrund gestellt, aber die Bären dachten pragmatisch. Den Grund für das Handeln der Menschen konnte man immer noch herauskriegen. Zuerst aber mußten sie gestoppt werden.

„Die Menschen“, sagte Bärdel nach einer weiteren langen Denkpause, „sind hoch entwickelt. Sie nennen das Technik. Sie können sich über weite Entfernungen miteinander verständigen. Und sie haben Hilfsmittel, um schwere Dinge zu bewegen. Da sollten wir ansetzen.“

„Gut, aber wie?“ fragte die Runde.

„Laßt mich nur machen“, antwortete Bärdel geheimnisvoll. „Ich schlafe heute nacht im Wald, das wird schon helfen.“

Er erinnerte sich an die Nächte im Vorfrühling. “ Du schnarchst ja, als ob Du einen Wald zersägt hast“, hatte Tumu ihm vorgeworfen. Er würde es den Menschen schon beweisen, daß er sägen konnte!

Abends ging er allein in den Wald. Er suchte sich zum Schlafen eine Stelle aus, an der es nur wenige Bäume gab. Stattdessen überragten ihn fünf Telegraphenmasten, zwei Hochspannungsmasten und drei Oberleitungsmasten einer Eisenbahnlinie. Er legte sich auf den Rücken und nahm sich ganz fest vor, auch so liegenzubleiben. Dann zählte er schrecklich viele Bäume, um besser einschlafen zu können. Dabei stellte er sich vor, er sei ein berühmter Holzfäller, und bald schon schnarchte er gleichmäßig und durchdringend.

Die Sonne ging gerade auf, als er erwachtete. Er blinzelte in den Himmel und sah zehn Silhouetten, die sich schwarz vor blau abzeichneten. Es hatte nicht geklappt. Woran konnte das liegen? Natürlich – allein war er zu schwach! Die Telegraphenmasten waren mächtig dick, und die anderen Träger waren nicht aus weichem Holz, sondern aus viel härterem Stahl! Er untersuchte alle sorgfältig und mußte enttäuscht feststellen, daß keiner auch nur den kleinsten Kratzer zeigte. Wer konnte da helfen? Nachdenklich ging er nach Hause und grübelte dort den ganzen Tag.

Bis zum Abend hatte er die Lösung gefunden. Gemeinsam würden sie stark sein. Er führte seine Freunde zu seiner einsamen Schlafstelle, ohne ihnen genau zu verraten, was er vorhatte. Er machte nur vage Andeutungen wie: „Alleine schaff ich´s nicht…“

Dann gab er ihnen genaue Instruktionen:

„Also, ihr legt euch alle hier hin, und zwar auf den Rücken. In jedes Nasenloch stopft ihr euch eine Schlehenbeere, so daß ihr durch den Mund atmen müßt. Und dann schlaft ihr. Ich bleibe wach und passe auf, daß auch alles klappt.“

In Wahrheit hatte Bärdel keine Zweifel daran, daß sein Plan funktionieren würde, aber er wollte unbedingt zusehen, wie all die stolzen, von Menschen gefertigten Masten in sich zusammenbrachen, zerstört vom Chorgeschnarche seiner Freunde. Die atmeten so laut, daß er sich selbst schließlich Schlehenbeeren in die Ohren stopfte, weil er das Getöse nicht mehr ertragen konnte. Immer wieder sah er hoffnungsvoll zu den Masten hinüber. Doch die rührten sich nicht.

Oder doch? Endlich begannen sie sich zu winden, sie rissen sich aus ihren Verankerungen, vollführten wilde Tanzsprünge, schwangen sich in die Luft und zerbröselten dort in Millionen von kleinsten Teilchen. Bärdel stimmte ein wildes Freudengeheul an – und erwachte. Seine Freunde umringten ihn und betatzten ihn beruhigend: „Alles in Ordnung, Du hast nur schlecht geträumt!“

Nichts war in Ordnung. Höhnisch blickten Telegraphen-, Hochspannungs- und Oberleitungsmasten auf ihn herunter. Ihm war zum Heulen zumute.

„Was hast Du denn eigentlich vorgehabt?“

Und er erzählte. Keiner konnte sich so recht erklären, warum sein Plan nicht geklappt hatte. Es klang alles ganz einleuchtend.

Schließlich sagte der Jüngste in der Runde: „Wiederhol doch noch mal genau, was Tumu damals gesagt hat!“

„Du schnarchst ja, als ob du einen Wald zersägt hast! Hast wohl geträumt, Du wärst Holzfäller, was?“

„Das ist es,“ jubelte der Kleine. „Als ob! Aber wir haben es nicht wirklich getan! Zum Sägen braucht man Sägen, nicht nur Schnarchen!“ und leise fügte er hinzu, was er in der Bärenschule gelernt hatte: „Das war nur ne Metapher von Tumu.“

Den letzten Satz hörten die anderen vor Aufregung schon nicht mehr. Sie brauchten Sägen! Sie würden Sägen haben! Sie würden ihre Sägen nehmen und alles Schlechte in Stücke schneiden, das die Menschen in die Welt gebracht hatten. Vor lauter Seligkeit begannen sie spontan zu singen:

„Kommt, laßt uns alle sägen,

das gibt nen großen Segen.“

Jetzt ist es also doch rausgekommen: Bären reimen manchmal genauso schlecht wie Menschen.

Nach dem Ende des Liedes brummten alle ganz unbärisch undiszipliniert durcheinander.

„Woher kriegen wir Sägen?“

„Wir bauen welche.“

„Im nächsten Ort ist ein Baumarkt, der hat alles, was wir brauchen.“

„Schön, und wir bezahlen mit Bärendreck, oder wie?“

„Den überfallen wir!“

„Wir drohen ihnen!“

„Wir bieten ihnen Honig zum Tausch.“

Nur mühsam beruhigten sie sich und begannen, ernsthaft Pläne zu schmieden. Natürlich brauchten sie Sägen und anderes Werkzeug, und selbstverständlich würden sie alles stehlen müssen. Die Menschen akzeptierten nur Geld, und das hatten sie nicht; alles, was sie besaßen, waren nahrhafte Dinge. Zuerst aber würden sie etwas anderes stehlen: Bücher. Das war Bärdels Idee:

„Wir wissen zu wenig über das, was die Menschen Technik nennen. Bestimmt ist etwas Gefährliches dabei. Denkt an Tumus Fehlgeburt!“

Schon an übernächsten Tag stand es groß in “

WILD. DIE ZEITUNG FÜR DEHLAND“:
TECHNISCHE UNIVERSITÄTSBILBIOTHEK AUSGERAUBT!
NEUE STUDENTENREVOLUTION WEGEN SCHLECHTER STUDIENBEDINGUNGEN?
Die Bären hätten sich schlappgelacht, wenn sie das gelesen hatten. Aber sie lasen ganz etwas anderes, sie quälten sich durch Stöße von Fachliteratur und wollten oft beinahe verzweifeln.

„Was für eine Formel ist das denn schon wieder?“

„Wer kann mit erklären, was der Unterschied zwischen Uran 235 und Uran 238 ist?“

Fragen über Fragen.

Allmählich aber nahmen die Fragen ab; stattdessen fanden sie Antworten.

„Das Ei müssen wir in Ruhe lassen, das strahlt. Am besten wäre es, es zu begraben.“

„In der Höhle unter uns liegen schon Abfälle aus dem Ei, die sind auch hochgefährlich.“

„Radioaktive Strahlung verursacht genetische Schäden.“

Nur mit Mühe konnte Bärdel seine Fassung bewahren. Tumu! Seine und ihre Kinder! Und die Menschen nannten das ganz kalt „genetische Schäden“. Ob die kein Herz hatten? Auf diese Frage fand er keine Antwort.

Sie wußten jetzt, wo sie ansetzen mußten, ohne sich selbst zu gefährden: bei den Transportwegen. Als hätten sie nie etwas anderes getan, räumten sie in einer mondlosen Nacht den Baumarkt in ihrer Nachbarschaft aus. Obwohl sie sehr wählerisch waren, keuchten sie schwer bepackt unter der Last von Drahtscheren, Bolzenschneidern, Wurfankern, Kettensägen und vielem mehr nach Hause. Und wieder hatten sie keine Chance, ihre Publicity zu genießen und über „WILD“ zu lachen:

IST DER YETI UNTER UNS?
 

RÄTSELHAFTE SPUREN BEI EINBRUCH IN BAUMARKT!

Sie schliefen nämlich vor, um bei ihren kommenden Aktionen frisch und fit zu sein.

„WILD“ hatte in den kommenden Wochen viel zu berichten.
ABGESÄGTER HOCHSPANNUNGSMAST LEGT ZUGVERKEHR LAHM!

BRÜCKENPFEILER ANGESÄGT – FERNSTRECKE AUF MONATE BLOCKIERT!

SÄGESPUREN AM ATOMKRAFTWERK!

HAT DER YETI EINE SÄGE?

IST ULRIKE MEINHOF EIN SÄGEZOMBIE?

NEUER ANSCHLAG DER SÄGEBANDE – WANN KÖNNEN WIR WIEDER RUHIG SCHLAFEN?

Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, verschwanden die Schlagzeilen. Hatten Bärdel und seine Freunde aufgegeben? War Winterschlafzeit? Natürlich nicht – Bären geben nicht auf, wenn sie sich einmal etwas vorgenommen haben, und es war Juni.

Vom ersten Anschlag an hatte die Polizei der Menschen fieberhaft nach den Attentätern gesucht – fieberhaft, aber zunächst vergeblich. Sie wußten eben nichts von Bärenleben, und sie fanden es auch jetzt nicht. Allmählich aber gingen ihnen Täter in ihr Fahndungsnetz, und es wurden von Tag zu Tag mehr. Die Polizisten verhafteten Menschen, und nach der Verhaftung verhörten sie sie. Alle diese Verhöre verliefen ähnlich.

„Zu welcher Gruppe gehören Sie? Wer ist Ihr Auftraggeber?“

„Ich gehöre zu keiner Gruppe. Ich habe keinen Auftraggeber.“

„Also gut: Warum verüben Sie Sabotage?“

„Ich zerstöre nur, was mich zerstört. Haben Sie im letzten Sommer nicht auch gemerkt, daß Obst und Gemüse viel zu groß gewachsen ist? Mir ist ganz schlecht davon geworden, und ich habe Ausschlag gekriegt. Meine Nichte ist an Leukämie gestorben. Meine Nachbarin hatte eine Frühgeburt.“

Keiner leugnete. Alle bekannten sich stolz zu ihren Aktionen und bedauerten nur, nicht früher damit angefangen zu haben – erst die Aktivitäten der Sägebande hatten sie ermuntert, selbst aktiv zu werden.

Zuerst verboten die Mächtigen den Zeitungen, über Anschläge zu berichten. Sie dachten: Das, was nicht in „WILD“ steht, geschieht auch nicht. Aber so dumm wie sie waren die einfachen Menschen nicht: Sie wollten leben, und also machten sie weiter. Bald stand in Dehland kein Mast mehr, es fuhr kein einziger Zug. Selbst die Autobahnen waren zersägt – kein Schwertransport konnte hier noch durchkommen. Da merkten die Mächtigen allmählich, daß sie nicht so mächtig waren, wie sie gern sein wollten. Endlich mußten sie sich entschließen zu handeln – sie wollten ja schließlich wiedergewählt werden.

ATOMKRAFT IST POLITISCH NICHT DURCHSETZBAR,
so stand es eines Tages in „WILD“. Und was heißt das? Ganz einfach: Die Kaverne unterhalb von Bärenleben wurde mit Kaliabfall verfüllt. Das Atomkraftwerk wurde mit einer tausend Meter dicken Erdschicht bedeckt, so daß ein riesiger Berg entstand, auf dem man im Winter auch in der dehländischen Tiefebene skifahren konnte.Am Südhang wurde ein Solarkraftwerk gebaut. Allmählich wurden Beeren, anderes Obst und Gemüse wieder kleiner, und die Krankheiten verschwanden.

Vier Jahre nach den Sägebanden-Abenteuer brachte Tumu ein gesundes Bärenkinderpaar zur Welt. Bärdel freute sich so bärisch, daß er fast schon wieder Telegraphenmasten zersägt hätte – aber das war jetzt ja nicht mehr nötig. Und die gesamte Bärensippe lachte sich in die Tatzen und feierte mit beim rauschenden Geburtsfest. Aber Menschen hatten sie dazu nicht eingeladen, dazu waren sie zu vorsichtig – man weiß nie, was denen so alles einfallen kann. Besser, wenn sie nicht wissen, wo Bärenleben liegt…


Wenn euch dieses Märchen gefallen hat, empfehle ich eines, das direkt an diese Geschichte anschließt. Es handelt sich um die Geschichte von dem

Außergewöhnlichen Beispiel von Menschenliebe bei wilden Tieren.

 

Die Konferenz


 

Die Konferenz
Es war einmal ein ganz normaler Tag auf der Erde. Überall überprüften hunderttausende Sekretärinnen und Sekretäre in zehntausenden von Büros am Morgen ihren Terminkalender. So auch Oso Ursa. Sie war Chefsekretärin bei der Berliner Vertretung der UAO und Streß gewohnt. Deshalb ließ sie sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als ihre Notizen sie daran erinnerten, daß in zwei Tagen der internationale Kongreß der UBO beginnen würde. Im Global Village waren solche Treffen Routine, aber dennoch gab es noch einiges zu organisieren.

Die Hauptarbeit war zum Glück schon getan. Zimmer in den ersten Hotels am Platze waren reserviert, Teilnehmer, die sich betrügerisch hatten einschmuggeln wollen, hatten höflich formulierte Absagen erhalten. Am Abschlußkommunique der Konferenz arbeitete eine Expertenkommission seit fünf Wochen. Was blieb, war die Sorge für die Bequemlichkeit und das leibliche Wohl der Delegierten.

„Ursa von der UAO Berlin, Guten Morgen. Ich brauche übermorgen zehn Ersatzbrillen in verschiedenen optischen Stärken, zwei mindestens sieben Meter hohe Bäume im Konferenzsaal, zwanzig Kilo gemischte Lebendinsekten, so viel lebende Robben, wie Sie in der kurzen Zeit auftreiben können, etliche Fäßchen Honig und eine Tonne Laub und Gras. Ach ja, und Bambus – die Konferenz soll drei Tage dauern, also dürften einhundertzwanzig Kilo genügen. Die Rechnung schicken Sie bitte wie üblich an die UAO-Verwaltung.“

„Danke für den Auftrag, Frau Ursa. Wird alles wie gewohnt prompt erledigt!“

Befriedigt legte der Juniorchef der Firma IWIUB (Ihr Wunsch ist uns Befehl) den Hörer auf und rieb sich die Hände. Es war eine richtige Entscheidung gewesen, ein Serviceunternehmen für die Erfüllung ausgefallener Wünsche zu gründen, als die UAO beschloß, Berlin zu ihren Hauptsitz in Europa zu machen. Diesmal schien eine merkwürdige Versammlung bevorzustehen – Robben vielleicht? Ob die Insekten fraßen? Aber das konnte ihm letztlich egal sein, er wollte nur genug Geld verdienen, um möglichst bald seine erste Filiale in Bern zu eröffnen. Jetzt aber an die Arbeit! Er wählte sich ins Netz ein und begann zu faxen.

„Meine Damen und Herren, liebe Freunde! Ich begrüße Euch zur dritten ordentlichen Konferenz der UBO und hoffe, daß wir erfolgreiche Arbeit leisten werden!“

Allmählich erstarb das Summen und Brummen der informellen Gespräche im Saal. So konnte die Präsidentin ungehindert weitersprechen.

„Wir alle wissen, welch hohes Ziel wir uns gesteckt haben: Die Zukunft soll von internationaler Zusammenarbeit und nicht von nationalen, ethischen oder weltanschaulichen Gegensätzen geprägt sein. Jedem von uns ist aber leider auch bewußt, daß unsere ersten beiden Zusammentreffen uns noch nicht zum erwünschten Ziel gebracht haben. Deshalb haben wir, wie Ihr Euch sicher erinnern werdet, zur Vorbereitung dieser Konferenz regionale Konsultationen vereinbart, um noch bestehende unterschiedliche Sichtweisen abzubauen. In diese Konsultationen sollten auch VertreterInnen der UIO und der UMmO einbezogen werden, da die Interessen von einigen von uns die ihren unmittelbar tangieren. Ich hoffe, daß diese Verständigungsversuche Erfolg gehabt haben, und bitte um Berichte.“

Als einziger meldete sich daraufhin ein Delegierter aus Nordkanada. Die Präsientin versuchte ihn zunächst zu ignorieren, aber da sonst niemand das Wort ergreifen wollte, mußte sie ihn schließlich doch offiziell wahrnehmen.

„Bitte, sprich!“

„Wir haben mit den Vertretern gesprochen, die uns die UMmO geschickt hat“, röhrte er.

Ein leises Raunen ging durch den Saal. Der riesige Delegierte benahm sich äußerst unhöflich: Er hatte die Versammlungsteilnehmer nicht angemessen angesprochen, er gestikulierte so ausgreifend, daß seine Nachbarn rechts und links erschrocken auszuweichen suchten, aber trotzdem noch kräftige Backpfeifen einstecken mußten, und er hatte ersichtlich kein Mundspray benutzt – sein schlechter Atem voller Verwesungsgestank erfüllte den gesamten Saal.

„Die UMmO war nicht verhandlungsbereit,“ fuhr er ungerührt fort. „Wir haben ihnen eine Lösung auf Kontingentbasis angeboten und vorgeschlagen, einen Teil unserer Bedürfnisse mit Pisces zu befriedigen – unser Angebot war 50%, also sehr großzügig, aber sie haben abgelehnt.“

Hinter seiner Glaswand auf der Pressetribüne machte sich der Korrespondent der UFO mit grimmiger Miene Notizen.

„Da sie sich uneinsichtig gezeigt haben und wir ziemlichen Hunger hatten, haben wir sie ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt.“

Krachend ließ der Abgeordnete sich auf seinen Sitz zurückplumpsen.

Der Präsidentin blieb keine andere Wahl – liebend gern hätte sie jetzt die Diskussion eröffnet, aber der erste Tagesordnungspunkt lautete nun einmal „Berichte“.

„Wird weiterhin das Wort gewünscht?“

Der Abgeordnete aus Sri Lanka hob die Hand. Als einziger. Oh Gott, dachte sie.

„Bitte, sprich!“ sagte sie.

Eine zierliche Gestalt erhob sich. Der Asiate hatte bestenfalls ein Viertel der Körpermasse des Kanadiers, aber er trat nicht weniger energisch auf.

„Ich kann den Worten des Kollegen – bei aller notwendigen Abstraktion – nur zustimmen. Wir haben VertreterInnen der UIO sowohl nach Colombo als auch nach Kalkutta eingeladen und ihnen klarzumachen versucht, daß wir gezwungenermaßen auf ihre Dienstleistungen angewiesen sind. Auch sie waren uneinsichtig, vor allem die Abgesandten der staatenbildenden Spezies.“

Der Ceylonese bemerkte nicht, daß der Korrespondent der UIO es auf der Pressetribüne nicht mehr ausgehalten hatte und jetzt direkt über seinem Kopf kreiste. Deshalb sprach er ruhig weiter: „So haben auch wir sie ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt.“

Äußerlich ruhig setzte er sich, lächelte und ließ sich nicht anmerken, daß ihn eine Biene ins Innenohr gestochen hatte.

Zwei Arme stachen in die Luft. Immerhin, dachte sie, jetzt kommen die Egoisten, nicht mehr die Imperialisten. Welch Fortschritt! Sie erteilte das Wort, obwohl nicht ganz korrekt, zuerst der Vertreterin Chinas. Schüchtern lächelte diese und begann zu lispeln.

„Liebe Freunde, wir konnten leider keine bilateralen oder multilateralen Verhandlungen führen, weil unsre Nahrungsgrundlage zu schmal ist. Ihr alle kennt das Bambusproblem…“

Während sie sprach, war die Delegierte immer leiser geworden und das Murmeln im Saal immer lauter. Natürlich kannten alle das Bambusproblem – sie versuchte jetzt zum dritten Mal, es darzulegen. Niemand wollte es mehr hören. Und währen sie verschüchtert in ihren Sessel zurücksank und weiter vor sich hin murmelte, erhielt der Chef der chilenischen Delegation das Wort. Er war kleiner als die Chinesin, aber deutlich energischer.

„Delegierte!“ sagte er. „Wir haben, wie Ihr alle wißt, keine Probleme mit der UIO oder der UMmO, auch nicht mit der UFO, die nach den Worten des kanadischen Kollegen durchaus ihre Interessen tangiert sehen könnte, aber wir haben optische Schwierigkeiten. Wir sind nun mal kurzsichtig und brauchen Sehhilfen, sonst sehen wir unsere Nahrungsblätter vor lauter Wald nicht. Deshalb konnten wir auch zwischen den Sitzungen nicht verhandeln oder zu vermitteln verhelfen – wir sind einfach zu blind! Deshalb appellieren wir, wie schon wiederholt, nochmals an diese Konferenz, uns…“

Wieder hörte niemand mehr zu. Der Chilene blieb unbeirrt stehen und redete weiter, obwohl die Präsidentin bereits einer anderen Delegierten das Wort erteilt hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht nur einen Seh-, sondern auch einen Hörfehler.

„Kolleginnen und Kollegen;“ zirpte eine glockenhelle Stimme. Ich danke Euch für die Einladung zu dieser Konferenz und für Eure Aufmerksamkeit! Wie Ihr sicher alle wißt, lebt mein Volk überall auf dieser Welt und hat deshalb keine regionalen Interessen zu berücksichtigen. Deshalb kann ich vielleicht zwischen Euch vermitteln. Ich möchte Euch sagen: Seht doch nicht alles so verkniffen! Lebensfreude ist die wahre Freude! Taumelt von Blume zu Blume, von Genuß zu Genuß! Trinkt Nektar, riecht, begattet Euch! Dann könnt Ihr ruhig sterben – und sicher sein, daß Euch im nächsten Jahr die Wiedergeburt erwartet! Denn die Philosophie…“

Ein Tumult brach los.

„Pfui, sexuelle Libertinage!“

„Olfaktorischer Absolutismus!“

„Das ist eine Verletzung meiner religiösen Überzeugungen!“

„Wer ist diese Frau überhaupt?“

„Woher kommt sie?“

„Die ist doch nicht echt!“

„Die ist doch nicht echt!“

„Die ist doch nicht echt!“

Vergebens läutete die Präsidentin ihre Glocke, aber sie konnte nicht verhindern, daß die Delegierten drohend auf die zierliche Sprecherin eindrangen und ihr die Maske vom Gesicht rissen. Mit Mühe und Not konnte die Spinnerin flüchten. Sie flatterte hoch und fand ein offenes Deckenlicht. Obwohl der Feind entkommen war, brach im Saal eine herzhafte Keilerei aus. Die Präsidentin mußte die Saaldiener rufen – kräftige Burschen aus Nordamerika, die die Ordnung mit Ohrfeigen, Knüffen und Püffen rasch wieder herstellten.

Als endlich Ruhe herrschte, sagte die Präsidentin tonlos: “Ich vertage die Sitzung auf morgen.“

Mühsam gelang es ihr, Haltung zu bewahren, bis sie die Tür ihres Büros erreicht hatte. Drinnen aber brach sie in Tränen aus. Diese Konferenz würde scheitern, sie mußte scheitern!

Und alle würden ihr vorwerfen, versagt zu haben. Schon meinte sie die höhnischen Stimmen zu hören: „Typisch Quotenfrau! Das kommt davon…Frauen sind dazu da, die Brut aufzuziehen, und nicht dafür, Diplomatie zu betreiben – das können wir Männer nun mal besser.“

Elend war ihr zumute, und sie fror entsetzlich – wie kalt war es in diesem Saal gewesen, zwar nicht physisch, wohl aber psychisch: klirrend kalt.

Es klopfte. Schnell wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Hoffentlich war das nicht der brutale Kanadier – oder die weinerliche Chinesin – oder…

„Herein!“

Oso Ursa trat ein.

„Guten Abend“, sagte sie geschäftsmäßig. „Ich dachte, Du hättest vielleicht noch etwas für mich zu…“ Ihr Blick fiel auf die Präsidentin. „Was ist denn mit Dir los? War es so schlimm?“

Der künstlich aufgebaute Panzer zerbrach.

„Es war noch schlimmer“, schluchzte sie. „Und ich friere schrecklich!“

Oso widerstand dem Impuls, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Gegenüber einer Präsidentin gehörte sich das einfach nicht.

Betont gleichgültig sagte sie:

„Dann koche ich Dir erst mal einen Bärentraubenblättertee – das fehlte gerade noch, daß Du mitten in der Konferenz eine Blasenentzündung kriegst. Und beim Tee kannst Du mir alles erzählen, wenn Du magst!“

Natürlich mochte die Präsidentin. Während sie berichtete und ihren Tee trank, beruhigte sie sich allmählich. Oso hörte aufmerksam zu.

„Gut, für die Spinnerin kannst Du nichts. Das ist ein altes Problem: Seit es unsere Konferenzen gibt, gibt es auch Entristen – wir hatten schon Raupen, Hunde, Halbaffen und sogar Krebse. Die tarnen sich häufig so gut, daß sie erst während der Konferenz entlarvt werden – oder gar nicht. Die Sehstörung der Lateinamerikaner kriegen wir in den Griff – ich habe bei IWIUB verschiedene Brillen bestellt, und Nachlieferungen sind in kürzester Zeit möglich. Morgen früh kannst Du da also einen Erfolg verkünden…Aber der Kanadier und der Typ aus Sri Lanka – dazu fällt mir erstmal nichts ein.“

Der Präsidentin ging es schon wieder so gut, daß sie analytisch denken konnte. Aber sie wollte das nicht allein tun, sie brauchte die Versicherung durch Worte. So begann sie ein eigentlich überflüssiges Frage- und Antwortspiel.

„Beide sind Carnivoren?“

„Ja.“

„Das heißt, ihre Physiologie ist auf tierische Nahrung angewiesen?“

„Ja. Ja und nein. Vor langer Zeit hat sich der Kanadier anders ernährt. Vegetarisch. Von unserem asiatischen Verwandten mit den langen Lippen und den Schlappohren wissen wir dagegen nichts.“

„Warum hat sich der Kanadier anders ernährt?“

„Klimawechsel.“

„Warum wissen wir nichts von den Lippenverwandten?“

„Das hängt zusammen mit der europäischen Kolonialpolitik. Als die Engländer in 18. Jahrhundert…“

„Schon gut, ich weiß Bescheid“, unterbrach sie die Präsidentin.
„Als die Engländer im 18. Jahrhundert nach Indien kamen, haben sie uns erschossen, anstatt mit uns zusammenzuleben. Wir waren also auf der Flucht, und sie haben keine wissenschaftlichen Untersuchungen angestellt. Das hilft uns aber auch nicht weiter…“

Eine lange Pause folgte.

„Danke!“ sagte die Präsidentin schließlich. „Du hast mir wirklich geholfen. Würdest Du jetzt bitte für mich eine Konferenzschaltung veranlassen? Ich glaube, ich sollte einige Leute trotz der späten Stunde aus dem Bett, aus dem Baum oder aus dem Bau holen.“

Oso Ursa ging, und nur wenige Minuten später erhellten sich zahlreiche Monitore im Büro der Präsidentin. Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und drückte dann auf den Einschaltknopf. Oh weh – ihre Gesprächspartner sahen weit weniger freundlich aus! Auf einem zweigeteilten Bildschirm summte rechts ein zorniger Bienenschwarm, während links ein nicht weniger wütendes Ameisenvolk durcheinanderwimmelte. Der Ceylonese lächelte arrogant und wischte sich lässig mit seiner langen Zunge eine Hornisse in den Mund, die sich verzweifelt zu wehren versuchte. Eine Robbenmutter schluchzte verzweifelt und streckte ihr anklagend ein Junges entgegen, dem die rechte Flosse fehlte. Und der Kanadier gähnte so hingebungsvoll, daß sein eindrucksvolles Gebiß den gesamten Schirm ausfüllte.

Am liebsten hätte die Präsidentin sofort wieder ausgeschaltet, aber sie nahm all ihren Mut zusammen. Zuerst das kleinere Problem, sagte sie sich. Ganz ruhig bleiben. Wenn es nicht klappt, kann ich mir immer noch einen Mann suchen und in aller Ruhe Junge aufziehen. Es gibt da ein paar wunderschöne Ecken in den Rocky Mountains, wo ich schon immer mal…

Sie verbot sich die Träumerei und konzentrierte sich.

„Guten Abend, liebe Freundinnen und Freunde“, sagte sie betont munter. „Ich bitte Euch, die späte Stunde zu entschuldigen. Aber es wäre doch schön, wenn wir unsere UBO-Konferenz morgen harmonisch weiterführen könnten und der internationalen Öffentlichkeit einig gegenübertreten. Deshalb habe ich zwei Konfliktparteien hier versammelt. Wir sollten darauf verzichten, nochmals unsere Standpunkte darzulegen – die Fronten sind allen klar. Ich will versuchen, zwischen Euch zu vermitteln.“

Bewußt überhörte sie das Gemurmel, das aus verschiedenen Lautsprechern quoll: „Vermitteln…unmöglich…fressen…gefressen werden“. Unbeirrt fuhr sie fort: „Zuerst habe ich eine Frage an unsere Insektenfreundinnen: Wie hoch ist Eure Vermehrungsrate?“

Aufgeregt begannen die Bienen zu tanzen, während die Ameisen sich zu zweit oder in größerem Kreis zu olfaktorischem Meinungsaustausch trafen. Wenig später kamen die ersten Rückmeldungen: „Ziemlich hoch…Unsere Königin hat letztes Jahr 29000 Eier gelegt…Unsere noch mehr…“ Majestätisch bewegte die Bienenkönigin ihren schweren Hinterleib, und sofort trat Ruhe ein. Gewichtig sagte sie: „Je nach Spezies verschieden. Die Mittelwerte dürften sich zwischen 50 und 50000 bewegen.“

Die Präsidentin holte tief Luft, bevor sie zu ihrer zweiten Frage ansetzte. Scheinbar beiläufig erkundigte sie sich: „Was würde wohl passieren, wenn Ihr keine natürlichen Feinde hättet?“

Wieder setzte aufgeregte Aktivität ein, bis alles schlagartig zum Stillstand kam und eine unnatürliche Stille eintrat. Eine vorwitzige Jungbiene wurde mit ihrer Erkenntnis nicht recht fertig und versuchte deshalb zu witzeln: „Wir wären endlich genug, um alle Lippenbären totzustechen.“ Aber niemand lachte. In das Schweigen hinein sprach wieder die Bienenkönigin:
„Ich verstehe.“ Jeder hörte, wie schwer ihr die folgenden Worte fielen: „Wir wären zu viele.“

Erleichtert atmete die Präsidentin aus. „Zu diesem Ergebnis bin ich auch gekommen“, sagte sie, als bedeutete diese Erkenntnis gar nichts. „Euer genetisches Programm setzt die Existenz von Freßfeinden voraus, und zur Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts müßt Ihr das akzeptieren, so schmerzvoll es für Euch auch sein mag. Aber natürlich können wir versuchen, zu Modalitäten zu kommen, die Euch übergroßen Schmerz ersparen. Es würde die Barentsburger Konvention über die unveräußerlichen Tierrechte verletzen, solltet Ihr weiterhin gezungen sein zuzusehen, wie geliebte Schwarm- oder Stammesmitglieder aus Eurer Mitte gerissen werden. Vermutlich wäre es das Beste, wenn Ihr künftig einen kleinen Prozentsatz Eurer Eier und Larven für die Alimentation der Lippenbären zur Verfügung stellen würdet.“

„Einverstanden, einverstanden“, grunzte der Ceylonese entzückt. Junges Fleisch – das war die Lieblingsspeise aller Lippenbären, aber bisher war es schwer gewesen daranzukommen, weil Eier und Larven so gut behütet waren.

„Gut“, sagte die Bienenkönigin zögernd und deutlich weniger begeistert. „Das könnte eine Basis für eine langfristige Einigung sein. Über Quoten muß natürlich noch verhandelt werden. Wir werden versuchen, das bilateral zwischen UIO und UBO zu regeln.“

„Geschafft“, dachte die Präsidentin. „Aber freu Dich nicht zu früh – die nächste Hürde ist nicht so leicht zu nehmen!“

Wie recht sie hatte!

Schon gröhlte der Kanadier los: „Jetzt reicht´s mir aber! Ich schwitze hier schon seit einer halben Stunde! Ameisen und Bienen interessieren mich überhaupt nicht! Was soll ich hier eigentlich?“

Gleichzeitig mit ihm greinte die Robbenmutter: „Wann wird endlich dieser Schlächter und Mörder verurteilt?“

Die Präsidentin dankte dem Himmel für ihr Stichwort.

„Du schwitzst?“ fragte sie freundlich. „Ja, warum denn?“

„Siehst Du blöde Kuh denn nicht…“, polterte er los, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig. „Frau Präsidentin“, fauchte er süffisant, wie vielleicht auch Baribals wie Du wissen, haben Eisbären ein dickes Fell.

„Ich muß meine Unkenntnis leider eingestehen“, erwiderte sie liebenswürdig. „Ich weiß recht wenig von Eisbären. Habt Ihr das dicke Fell schon immer?“

Der Kanadier ließ sich becircen. Es war äußerst selten, daß einmal jemand Interesse an Eisbären zeigte – die meisten Zeitgenossen, ob Bär oder nicht, suchten schleunigst das Weite, wenn sie einen auch nur von ferne sahen.

„Seit ich lebe jedenfalls“, brummte er. „Und meine Mutter hatte es auch. Aber es gibt Eisbärenmärchen, die sagen, daß es einmal anders war. Unser Fell war graubraun, nicht weiß, und es war viel dünner. Die Märchen sagen auch, daß unsere Welt damals nicht weiß war, sondern in den hellen Monaten grün.“

„Märchen sind schön“, murmelte die Präsidentin verträumt. Wenn jetzt nur nicht die Robbenmutter dazwischenfunkte! Zum Glück verhielt sie sich still. „Bären brauchen Märchen!“ Nein, erzähl ihm jetzt nichts von der Theorie von Charles Bärenheim! Sie wagte den Sprung: „Manchmal erzählen Märchen auch etwas, was wahr ist…“

„Blödsinn!“ knurrte der Eisbär gefährlich laut. „Märchen sind etwas für kleine Kinder und Grimmbären!“

„Aber nein“, schnurrte die Präsidentin verträumt. „Märchen erzählen von Veränderungen, und Veränderungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Soll ich Dir mal eine Veränderung zeigen, die wahrscheinlich iin den nächsten Jahrzehnten stattfinden wird?

Der Kanadier hielt zwar wirklich nichts von Märchen, aber wie alle Bären war er schrecklich neugierig. So winkte er mit seiner Riesenpranke gnädig Zustimmung: „Wenn´s denn sein muß…“

Sofort drückte die Präsidentin einen Knopf und ließ einen 45-Minuten-Film ablaufen. Man sah Wald, der abstarb, Berge, die ins Rutschen gerieten, Flüsse, die im Sommer trockenfielen und im Winter zu wenig Platz hatten für die Wassermassen, die sie transportieren sollten, und Inseln, die im Meer versanken. Es gab keine Bilder aus Grönland oder Nordkanada, aber trotzdem begriff der Eisbär die Botschaft.

„Das alles kann in den nächsten Jahren passieren?“

„Ja. Es muß nicht, aber es kann.“

„Warum?“

„Klimaveränderung.“

„Ursache?“

„Menschliche Mißwirtschaft.“

Lange Pause.

„Was bedeutet das für mich?“

„Es wird wärmer werden in Deinem Lebensraum – so warm, wie es früher schon einmal war, vielleicht auch noch wärmer. Du solltest versuchen, Dich anzupassen!“

„Das heißt – dünneres Fell?“

„Auch.“

„Was noch?“

„Es wird Pflanzennahrung für Dich geben – wie früher.“

Noch einmal lehnte sich der Eisbär auf. „Grünfutter? Nie!“

Jetzt aber war die Robbenmutter in ihrem Element. Sie hatte aufmerksam zugesehen und zugehört , außerdem wußte sie sich in sicherer Entfernung von ihrem Feind.

„Denk doch erst mal nach, Du Dummkopf! Ist doch arktisklar, daß Du eigentlich kein richtiger Fleischfresser bist. Darf ich Dich daran erinnern, wie oft Du Krämpfe und Dünnschiß – Verzeihung: Diarrhöe – hattest, nach einer fetten Robbenmahlzeit ? Gib`s doch zu: Immer dann hast Du Dich nach einem saftigen Grasbüschel gesehnt, zum Entspannen und zur Darmreinigung – es gab nur keins in all dem Schnee und Eis…“

Dumpfe Erinnerungen tauchten im Kopf des Kanadiers auf, aber er gab ihnen keinen Raum, sondern wehrte sich.

„Selbst wenn Ihr recht hättet – diese Veränderungen kommen nicht von heute auf morgen. Was sollen wir in der Übergangszeit fressen?“

Zufrieden schaltete sich die Präsidentin wieder ein. „Niemand will Euch verhungern lassen, und Euer Metabolismus braucht Zeit zur Umstellung. Auch hier wird verhandelt werden müssen, aber das kann nur Erfolg haben, wenn willkürliche Übergriffe Eurerseits in Zukunft unterbleiben. Wie ich heute von Dir in der Konferenz gehört habe, habt Ihr bereits einen potentiell erfolgversprechenden Versuch unternommen, nämlich die UFO in Eure Überlegungen einzubeziehen. Eure Herangehensweise war allerdings äußerst ungeschickt – in diesem kleinen Kreise darf ich das sagen, es bleibt alles unter uns. Trotz der exorbitanten Überfischung der Meere durch die Menschen haben einige Fischarten noch überproportionale Reproduktionsraten aufzuweisen – mittelfristig könnte sich Euer Problem so lösen lassen, bevor Ihr zu einer wirklich weltverträglichen Lebensweise zurückkehrt. Was hältst Du davon?“

„Na ja“, brummelte der Eisbär überrumpelt. „Ich muß mal darüber nachdenken.“

„Tu das“, sagte die Präsidentin zufrieden. Und allen sagte sie: „Die Videokonferenz ist beendet.“

Die Konferenz dauerte noch zwei wenig aufregende Tage lang und erschöpfte sich weitgehend in Geschäftsordnungs- und Antragsdebatten. Für die Leitung der nächsten turnnusmäßigen Sitzung wurde die Präsidentin nicht wiedergewählt – sie habe die Versammlung nicht souverän genug geleitet, war die Meinung der meisten Delegierten. An ihre Stelle trat ein Kragenbär aus dem Himalaya, der sein Halsfell eindrucksvoll bedrohlich aufplustern konnte.

Das Abschlußkommuniqué lautete:

Die 25. ordentliche Konferenz der United Bears Organisation hat ihre Ziele uneingeschränkt erreicht. Dank der Einsicht der Delegiertengruppen aus Kanada und Indien und aufgrund der Kooperationsbereitschaft der United Insects Organisations und der United Mammals Organisation wurden letters of intent formuliert, die in absehbarer Zeit der parlamentarischen Verabschiedung zugeführt werden dürften. Erstmalig vereinbarte Gespräche mit der United Fisch Orgnisation haben bereits stattgefunden und versprechen allseits zufriedenstellende Ergebnisse.

 

…. und sein Nachfolger

Kulles Vorlesung
Bestimmt erinnert ihr euch daran, daß es einem Menschen auf der Welt gibt, der nicht nur weiß, wo das Beerental genau liegt, sondern der auch erlebt hat, wie es dort zugeht. Richtig – der Kanzler. Er hatte sich nach seinem bärigen Abenteuer nur noch gesund ernährt – abgesehen von dem einen oder anderen Glas Champagner, aber das ist ja, wie man in vielen anderen Märchen lesen kann, letztlich auch Medizin -, war viel Fahrrad gefahren und so sehr alt geworden. Aber eines Tages stand Freund Hein auch auf seiner Türschwelle, und der Kanzler ließ sich friedlich davonführen. „…. und sein Nachfolger“ weiterlesen

Der Kanzler

baum

Es war einmal ein Kanzler, der war der mächtigste Mann in seinem Land. Und weil er so mächtig war, hatte er Angst vor allen Menschen. Deshalb versuchte er, sich vor ihnen zu schützen: Wenn er unterwegs war, benutzte er immer ein großes gepanzertes Auto mit kugelsicheren Scheiben, er ließ sich von Killern bewachen – die nannte man vornehm „Bodyguards“ -, und überdies begleitete ihn stets eine Polizeieskorte. „Der Kanzler“ weiterlesen

(Weih)-Nacht

Bosch-Die Kreuztragung
Es war einmal ein Bär, der liebte Märchen über alles. Am meisten mochte er das Märchen von Weihnachten, das seine Großmutter ihm immer erzählt hatte, als er noch ganz klein war. Es war ein Menschenmärchen, aber das störte ihn überhaupt nicht.

In diesem Märchen war immer alles ganz dunkel, denn es herrschte tiefster Winter. Der Mond schien hell, und unter seinen Strahlen erglänzte der Schnee, der das Land mit einer dicken Decke einhüllte. Eisig kalt war es, und die wenigen Menschen, die draußen zu tun hatten, beeilten sich, wieder ins Warme zu kommen, in die heimeligen Häuser. Dort bullerten die Öfen, eine Tanne stand dort mit aufgesteckten Lichtern, und die Menschen standen oder saßen darum herum und sangen melodische Lieder. Sie freuten sich über diesen Tag und liebten einander, und um sich das zu zeigen, machten sie einander Geschenke – selbstgestrickte Pullover oder Socken zum Beispiel, eine Stichsägearbeit oder sonst irgendeine Bastelei.

Der Bär hatte immer bedauert, daß er das nicht miterleben konnte. Denn seine Großmutter hatte ihm erzählt, daß Weihnachten eigentlich gar kein Märchen sei, sondern Wirklichkeit – Wirklichkeit für die Menschen. Für Bären dagegen, die Winterschlaf hielten, würde Weihnachten immer ein Märchen bleiben. Dachte der Bär.

Seinen Wintereinkauf erledigte der Bär immer Ende Oktober. Ja, auch die Bären waren modern geworden und verließen sich immer weniger allein auf den angefressenen Winterspeck. Eine zusätzliche Konserve, eine Wolldecke – dadurch konnten die Schlafmonate in der kalten Höhle viel angenehmer werden. Geld mußte man dafür natürlich haben, aber das war seit einiger Zeit kein Problem mehr. Seit die Grenzen zu den östlichen Ländern geöffnet worden waren, konnte man Automaten ohne Probleme wertlose Zloty andrehen, und gefälschte Kreditkarten gab es auch massenhaft. Natürlich mußte man sich als Mensch verkleiden, aber das war leicht. Da die Menschen die Bären seit Jahrtausenden ermordeten oder als Circusclowns mißbrauchten, hatte der Bär bei solchen Tarn- und Täuschungsmanövern keinerlei moralische Skrupel.

Er hatte einen ruhigen Herbsteinkaufstag erwartet, aber er hatte sich getäuscht. Zwar schien die Sonne vom strahlend blauen Himmel, nachdem die Morgennebel sich aufgelöst hatten, aber kaum hatte er das erste Kaufhaus betreten, schallten ihm ungewohnte Klänge entgegen. Menschliche Singstimmen waren mit sanfter Musik unterlegt, und als er genau hinhörte, verstand er auch den Text:

„Süßer die Kassen nie klingeln,
als zu der Weihnachtszeit.“

Weihnachtszeit? Aber es war doch erst Ende Oktober, noch nicht einmal Zeit für den Winterschlaf! Irritiert ging er weiter.

Schon nach wenigen Schritten aber kam er nicht mehr voran, denn er steckte in einem Menschengedränge. Alles wimmelte um Verkaufsstände mit Plastiktannen, Engelspüppchen, Lametta in Weiß, Gold, Rot und Blau, Glaskugeln, Plastikadventskränzen und Kerzen in allen denkbaren Farben.

Er versuchte zu flüchten, aber in der nächsten Abteilung war es auch nicht besser: Hier schienen die Menschen die letzte Schlacht um die letzten Süßigkeiten zu schlagen. Es mußten wirklich die letzten sein, entschied der Bär, nachdem er einen Blick auf das eine oder andere Preisschild geworfen hatte.

Ein paar Meter weiter wanderten überwiegend ältere Frauen durch eine Ausstellung von Puppen. Oh, wie lieb sahen die aus! Lange Kleider trugen sie und aufgesteckte Zöpfe, manche hielten auch eine kupferne Bratpfanne in der Hand. Zur Illustration und vollkommenen Illusion war der altertümliche Herd mit den Feuerringen auf der Platte gleich nebenan aufgebaut. Verzaubert wiegten die Kundinnen die Puppen im Arm und träumten ein paar Sekunden, bis ein Blick auf das Preisschild sie veranlaßte, die Plastikgeschöpfe wieder in ihr Regal zurückzusetzen.

Den Bären schauderte es, und er flüchtete aus dem Kaufhaus. Draußen atmete er tief durch. Die frische Luft tat gut. Froh hob er die Augen zum Himmel.

Hoch über der Straße waren Männer damit beschäftigt, viele elektrische Lampen zu installieren.

Neben sich belauschte er unfreiwillig Gespräche:

„Ein Diamant ist wirklich unvergänglich…“

„Du kannst mir glauben, Nerze werden heutzutage artgerecht gehalten…“

„Ich weiß wirklich nicht, was ich meiner Mutter schenken soll…“

„Hör endlich auf zu quengeln…“

„Das ist zu teuer, das ist er mir nicht wert…“

Beinahe wäre er über die Beine eines Mannes gestolpert, der auf der Erde saß, auf dem kalten Betonboden, mit dem Rücken an ein Schaufenster gelehnt, in dem warme Männerpullover ausgestellt waren. Der Mann hatte ein Schild vor sich aufgestellt. „Ich habe Hunger“, stand darauf.

Der Bär hatte nichts, was er ihm hätte anbieten können. Seine falschen Zlotys mochte er ihm nicht zumuten.

Er mochte auch sich selbst nichts mehr zumuten.

Weihnachten? Weihnachten??

Er wünschte, er könnte neun Monate lang Winterschlaf halten. Und er wünschte, die Menschen könnten es auch.

Auf jeden Fall beschloß er, nicht mehr im Oktober bei den Menschen einkaufen zu gehen, sondern schon im September.

Auf dem Heimweg schoß ihm die Frage durch den Kopf, ob das auf die Dauer reichen würde.

 

Grimmis Buch vom Gorillasee

Col 1

Inhaltsangabe


Dino
 


There was a Gorilla
whose name was Vanilla

He lived in the wood

near Nottinghamshrood!

Vanilla hatte eine ganz besondere Geschichte. Seine Mutter hatte ein Gorilla-Ei gelegt, also ganz so, wie es gorillös normal ist. Es war so, wie Gorillas es immer machen, wenn man von dem brutalen Silberrücken absieht, der ihr Ei vergewaltigt hatte.

Das ist zwar eine andere Geschichte und liegt auch schon lange zurück, aber vielleicht hängt es mit diesem unerfreulichen Erlebnis zusammen, daß das Ei-Innere sich nicht ganz vorschriftsmäßig gorillös entwickelte. Schaut euch doch das Ergebnis an, das sich nach der Eierinnenleben-Wachsezeit von zwei Jahren, zwei Monaten und zwei Tagen durch die Eierschale gearbeitet hat!

Gorilla-Mammi war ob ihres mißratenen Saurierkindes ganz schrecklich traurig. Das guckte derweil freundlich vor sich hin und dachte an seine
Zukunft, die es sich ganz lebhaft ausmalen konnte….

Auch Gorilla-Mama dachte an die Zukunft, allerdings mit Schrecken. Was würde Onkel Albert sagen, wenn der Termin gekommen war, den Nachwuchs der Sippe vorzustellen? Hohngelächter würde über Sie hereinbrechen, und alle würden sie mit verfaulten Bananenschalen bewerfen, sie und ihr Baby. Immerhin schien sie im Moment sicher zu sein, Dino wedelte freundlich mit einem Palmenzweig, statt sie aufzufressen.

Vorsichtshalber legte sie ihm noch ein Bündel Bananen hin, bevor sie ihn verließ. Auch wenn es gefährlich sein mochte, das Monster alleinzulassen – sie mußte unbedingt zur Gorillahexe. Wenn jemand einen Ausweg wußte, dann sie.

Nach 2 Stunden, 2 Minuten und 2 Sekunden durch den Nebelwald kam sie an ihrem Ziel an. Während sie der Gorillahexe von ihren aufregenden Erlebnissen erzählte, wurden die Furchen auf deren Stirm immer tiefer. „Das ist ein schwierges Problem“, sagte sie, „aber ich glaube, wir können es lösen“. Sie beugte sich zu ihr und flüsterte ihr das Rezept (1) ins Ohr…….

Mama verstand zwar überhaupt nichts, aber sie tat, wie ihr geheißen war. Nach langem Warten auf die madegassische Caravelle an der Küste und einem Rückweg voller Gefahren kam sie nach 2 Jahren, 2 Monaten und 2 Tagen wieder zu Hause an.

Dino war gewaltig gewachsen, aber er tat ihr nichts, sondern schwenkte immer noch freundlich seinen Palmenwedel. Er begrüßte sie mit einem großen Schmatz – Iiih Gorilla, war der feucht und kalt und glitschig. Na, das würde sich ja hoffentlich bald ändern!

Sie kochte einen großen Topf Bananenwein (2), den Dino gierig schlürfte. Unmittelbar danach fiel er in tiefen Schlaf – zum Glück auf die Seite. So konnte sie alle seine Körperöffnungen erreichen und mit Vanillestangen zustopfen. Eine Stange nur noch war übrig. Gerade hatte sie sie essen wollen – Gorillas mögen Vanille sehr – als Dino einen satten Bananenweinfurz ließ. So steckte sie ihm die letzte Stange auch noch in den Arsch und hoffte, nun würde alles gutgehen. Erschöpft schlief sie ein und träumte einen schrecklichen Alptraum, in dem sie fast von Sauriern aufgefressen wurde.

Ein sanftes Streicheln weckte sie, und eine tiefe gorillöse Stimme sagte: „Mama“.

Beglückt schloß sie ihn in die Arme, und als der Junge dem Silberrückenrat vorgestellt wurde, erhielt er auf ihren Vorschlag hin den Namen Vanilla.


 

Der Gorillasee

 


Nach seinen Startschwierigkeiten wuchs Vanilla zu einem ganz normalen Gorillakind heran: Mit zwei Jahren verprügelte er alle Schimpansen, mit drei alle Orangs, und mit vier wagte er auch schon mal einen Scheinkampf mit den alten Silberrücken. Zu Mama, der er ab und zu immer noch nachlief und sich mehr und mehr einbildete, ihr Beschützer zu sein, war er dagegen vorschriftsmäßig liebevoll. Darüber, daß er – anders als alle anderen Gorillas – nicht gern an Vanillestangen knabberte, machte er sich keine Gedanken. Mama verlor darüber kein Wort und lächelte nur ab und zu in sich hinein. Sie war es zufrieden, daß Vanilla voll und ganz damit beschäftigt war, sich seine Gorillawelt zu erobern.

Jeden Tag, wenn die anderen Hordenmitglieder behäbig in ihren Blätternestern faulenzten und das Mittagessen verdauten, machte er sich zu einem Ausflug auf und erforschte die Umgebung. So lernte er den Urwald kennen: Er stand stundenlang vor riesigen Bäumen und versuchte zu schätzen, wie hoch sie wohl waren (Gorillas können schlecht klettern, deshalb konnte er das nicht selber ausmessen), kostete den Geschmack ihrer Blätter (wobei ihm oft übel wurde, ohne daß er wußte, warum (Herr Skinner hätte ihm etwas von trial and error erzählen können, aber Herr Skinner war gerade nicht im Gorillawald), schnupperte hingebungsvoll an Orchideen und spielte selbstvergessen mit bunten Schmetterlingen (die hätten ihm viel erzählen können, aber sie waren meist zu eingebildet, um mit Gorillas zu reden, weil sie die für blöd hielten).

Immer weiter zog er seine Kreise, und nach fünf Ausflugsmonaten und fünf Ausflugstagen entdeckte er etwas völlig Neues. Es war nicht grün wie der Wald, nicht violett wie die meisten angeberischen Orchideen, nicht farbenfroh wie die taumelnden Schmetterlinge. Es war blau. Blau wie der Himmel über dem Gorillawald am Vormittag und am Nachmittag (mittags regnete es immer, und dann war der Himmel grau), nur dunkler. Viel dunkler, und deshalb viel blauer.

Da Vanilla so etwas noch nie gesehen hatte, näherte er sich sehr vorsichtig. Mama hatte ihm gesagt, er solle aufpassen: Es gebe Menschen in der Nähe, und Menschen seien eine Gefahr für Gorillas. Vielleicht waren Menschen ja dunkelblau und riesig, lagen auf dem Boden und waren ganz flach, nur mit leichten Kräuseln?

Er blieb vorsichtig in Deckung und stieß seinen Kampfschrei aus – nichts rührte sich. Nur ein Schmetterling flog vorbei und kicherte leise. Ganz dicht schwebte er über dem Dunkelblauen davon. Nein – von einem Schmetterling konnte sich ein aufstrebender Gorilla doch nicht beschämen lassen! Vanilla stürzte ihm hinterher und erwartete den Angriff des Dunkelblauen, bereit zu sterben.

Aber es gab keinen Angriff, der Dunkelblaue wich zurück, ließ ihn ein – und doch nicht, da war er wieder, er umschloß Vanilla, war aber nicht zu fassen. Nur ganz langsam konnte der Gorilla sich noch bewegen. Wütend versuchte er, den feigen Feind, der sich nicht zum Kampf stellte, zu fassen zu kriegen. Er tauchte in ihn ein und suchte ihn – und plötzlich bekam er keine Luft mehr. Das war es also – sein Feind wollte ihn erdrosseln! Er mußte entkommen!

Er tappte unbeholfen vorwärts, abwärts, schließlich aufwärts – endlich! Er nahm zunächst einen tiefen Luftzug und öffnete dann die Augen – das Dunkelblaue hatte seinen Kopf freigegeben und hielt seinen Körper noch gefangen, tat ihm aber nichts. Komisch. Schon wollte er sich wieder heldenhaft in den Kampf stürzen, als es über ihm zum zweiten Male höhnisch kicherte: der Schmetterling.

Hau ab, hier ist es gefährlich„, schrie Vanilla ihm zu.

Du bist vielleicht blöd, das ist doch nur ein See.“ lispelte der Schmetterling zurück.

Ein See?“ fragte Vanilla verständnislos. „Was ist denn das?

Aber der Schmetterling war schon davongeflogen.

Obwohl Vanilla nichts begriffen hatte, hatten ihn die Worte des Falters ein wenig beruhigt, und er beschloß, sich erstmal zurückzuziehen, einen Bananenjoint (3) zu rauchen und dabei seine Lage in aller Ruhe zu überdenken. Aber schon mußte er sich eines neuen Angriffs erwehren: Ein feuchtes Etwas hockte plötzlich auf seinem Kopf, hopste auf und ab und beschimpfte ihn fürchterlich:

Du blödes pelziges Vieh, ein See ist ein See ist ein See! Und hier wohne ich! Und jetzt mach Dich endlich vom Acker, bevor Du noch mehr von meinen Kindern zertrampelst. Kehrt marsch! Quaaak!“

Fürchterlich erschrocken gehorchte Vanilla dem Befehl, ohne nachzudenken. Er hatte Kinder umgebracht, er war ein Mörder! Der Gorillasheriff würde ihn holen, und bestimmt würde er dazu verurteilt werden, nie wieder eine Banane essen zu dürfen. Blind vor Entsetzen tapste er laut heulend aus dem Wasser und wagte erst am sicheren Ufer, sich umzudrehen. Wenigstens entschuldigen wollte er sich. Aber bei wem?

Auf einem Teichrosenblatt hockte ein großer grüner Frosch und beobachtete ihn, ohne zu blinzeln.

Ich…ich wollte wirklich nicht…„stammelte Vanilla. „Ich…

Quaak, ist ja schon gut. Ich hab ein paar tausend Kinder, Du Pelzmonster wirst uns also nicht so ohne weiteres ausrotten können. Aber ich wohne hier, daß Du`s weißt! Und wenn Du das nächste Mal vorbeikommst, dann klopf wenigstens vorher da drüben am Uruburubaum an – ich suche mir meine Besucher nämlich gerne aus. Vielleicht erlaube ich Dir dann auch wieder zu baden – es bekommt Dir scheint`s ganz gut, jedenfalls stinkst Du jetzt schon wesentlich weniger als vorher, hihi. Ich heiße übrigens Tussi.

Sprach`s und hüpfte mit einem eleganten Satz ins Wasser.

Vanilla plumpste verblüfft auf sein dickes Gorillahinterteil und starrte lange auf die sich kräuselnde Seeoberfläche, ehe er sich aufrappelte und langsam nach Hause trottete, um alles seiner Mama zu erzählen.

Ob Vanilla wohl Prügel bekommen wird?


 

Gorilla Vanilla und der Holzfäller

 


Ihr dürft Euch freuen – Vanilla passierte gar nichts. Mama war nämlich eine kluge Gorillafrau und vertrat ein Erziehungskonzept, das bei den Gorillas schon seit Jahrtausenden gilt, bei den Menschen dagegen immer noch nicht anerkannt ist: Jedes Kind muß seine eigenen Erfahrungen machen. Trotzdem ärgerte sie sich insgeheim ein wenig, daß sie Vanilla nie von Tussi und ihrem See hatte erzählen dürfen, aber das verriet sie ihrem Sohn nicht. Alle erwachsenen Gorillas kannten selbstverständlich den See und seine Froschmutter; sie betrachteten den See auch als Teil ihres Reviers und nannten ihn den Gorillasee. Das hatten sie aber Tussi nie erzählt – sie wußten, wie böse die Fröschin werden konnte, und sie schätzten ihren Rat, denn Tussi hatte ihnen in brenzligen Situationen schon oft aus der Klemme geholfen.

Mama beschränkte sich darauf, Vanilla zum x-ten Mal zur Vorsicht zu ermahnen und ihm zum y-ten Mal einzuschärfen, ja einen großen Bogen um die gefährlichen Menschen zu machen. Und weil er immer noch ganz schwarz um die Nase war (so ist das bei Gorillas, wenn sie einen leichten Schock erlitten haben), backte sie ihm zum Trost einen Bananenkuchen . Statt des Vanillezuckers, den die anderen Gorillafrauen zum Süßen benutzten, verrührte sie eine Handvoll Urwaldrosinen in den Teig.

Einige Tage später wachte Vanilla morgens von einem fürchterlichen Geräusch auf. „Klong“ hörte er, und noch einmal „Klong“. Nachdem er sich die Gorillasandmännchenscheiße aus den Augen gerieben hatte, lauschte er konzentriert: „Klong, klong, klong, klong“. Ein Takt Pause. Und dann wieder: „Klong, Klong, Klong, Klong“.

Vanilla war sehr ärgerlich wegen dieser Störung und verzichtete sogar auf sein Bananenmusfrühstück. Zuerst wollte er diesem unerträglichen Krach ein Ende setzen. Er trabte durch den Urwald, Kurs Süd-Süd-West, immer dem Klong nach.

Nach einer halben Stunde stand er vor einem merkwürdigen Bild: Ein gorillaähnliches Wesen mit einem scharfen Werkzeug, das es mit beiden Händen hielt, bearbeitete den Stamm eines Uruburu-Baumes und versuchte, eine tiefe Kerbe hineinzuschlagen.

Aber der Kerl war kein Gorilla – dafür hatte er viel zu schmale Schultern, zu kurze Arme und vor allem – Vanilla schauderte es, und er konnte nur mit Mühe seinen Fluchtinstinkt unterdrücken – fast gar keine Haare. Nur ganz oben auf dem Kopf trug er ein Büschel von haarähnlichem Wirrwar – aber das konnten eigentlich keine Haare sein. Jedenfalls hatte Vanilla noch nie einen Gorilla mit roten Haaren gesehen.

Noch etwas verwirrte Vanilla: Der Typ hatte einen merkwürdigen Unterleib. Von den Füßen bis zur Hüfte sah seine Haut zerknittert und glatt gleichzeitig aus. Das wichtigste aber war: Er hatte keinen Schwanz. Wie eine Frau sah er allerdings auch nicht aus…


Wie ein Blitz schoß es durch Vanillas Kopf: Das muß ein Mensch sein! Aber das war doch eine Witzfigur – ein Wesen ohne Teil und ohne Schultern! Mama hatte mal wieder heftig übertrieben mit ihren Schilderungen von der Gefährlichkeit der Menschen!

Vanilla war sich völlig sicher, daß er mit diesem merkwürdigen potenzlosen Tier spielend fertig werden könnte, er beherrschte sich jedoch und erwürgte den Menschen nicht sofort mit einer Liane. Stattdessen erinnerte er sich an seine Kenntnisse der Menschensprache (Mama hatte darauf bestanden, daß er sie lernte) und fragte:

„Entschuldigen Sie, ich möchte ja nicht stören, aber was machen Sie denn da?“

Der Mensch warf einen kurzen Blick über die Schulter und sagte: „Ich fäll den Baum, du dummes Vieh“.

Vanilla war verletzt: Welchem Banausen war er da begegnet! Dieser Mensch beherrschte noch nicht einmal die simpelsten Regeln der Kommunikation! Dennoch unternahm Vanilla einen weiteren Vorstoß und suchte all seine Höflichkeit zusammen:

„Ich möchte Ihnen gewiß nicht zu nahe treten, aber dieser Baum, den Sie gerade abhacken, trägt köstliche Früchte, und seine Blätter schmecken mir vorzüglich. Könnten Sie ihn nicht stehen lassen?“

„Nein“, sagte der Mensch und hackte weiter.

Vanilla beherrscht sich immer noch und fragte höflich: „Warum nicht?“

Von der Antwort, die der Mensch stoßweise von sich keuchte, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, verstand Vanilla nur Bruchstücke:

„Arbeitsplatz…Familie…ernähren…Tropenholz…Fensterrahmen…Schrank-wände…Welthandel…“

Vanilla verstand nur „Familie“ und „ernähren“. Genau darum ging es ihm ja auch – er wollte seine Mama und sich weiterhin vom Uruburubaum ernähren können. Es schien also eine Verständigungsmöglichkeit mit diesem Menschen zu geben – man mußte ihm nur alles ganz ausführlich erklären.

Vanilla stapfte näher, um mit diesem Menschen nun endlich mal vernünftig zu reden – und rannte in die offene Axt. In seiner Schulter klaffte eine große offene Wunde.

Er blutete. Er dachte nicht mehr an Lianen, mit denen er Menschen erwürgen könnte. Er dachte überhaupt nicht mehr. Er rannte. Er rannte davon vor einem Monstrum. Er wollte zu Mama. Er hoffte, er würde es noch schaffen.

Aber er war zu verwirrt, um noch Berechnungen anzustellen: Er lief nicht nach Nord-Nord-Ost, sondern nach Süd-Nord-West. Blindlings stampfte er vorwärts, raffte die Lianen zur Seite, patschte durch tiefe Sumpflöcher und bumste immer mal wieder gegen einen dicken Baum. Eine Blutspur markierte seinen Weg, und obwohl er nicht wußte, was mit ihm geschah, merkte er doch eins: Er wurde schwach und schwächer. Schließlich half es ihm auch nicht mehr, sich auf allen vier Gorillabeinen vorwärts zu tasten – Bananen kreisten in seinem Kopf, ihm wurde gelb vor den Augen, und er sank bewußtlos zu Boden.

Alles Schlechte hat sein Gutes: Vanilla träumte einen wunderschönen Traum.

Tausende kleine vierfüßige grüne Bananen tanzten um ihn herum, eine riesengroße grüne Oberbanane mit kugelrunden Augen und einem breiten Mund heilte seine Wunde, und seine Mama hatte seinen Kopf in ihren Schoß genommen, flüsterte ihm tröstende Worte zu und flößte ihm die Bananenarznei8 gegen alle Übel ein.

Selig rutschte Vanilla aus diesem Traum in einen erholsamen Tiefschlaf, aus dem er nach einer Gorillaewigkeit erwachte. Vorsichtig blinzelte er mit dem linken Auge in den Urwaldabend. Zuerst meinte er, immer noch bewußtlos zu sein oder zu träumen, denn sein linkes Auge sah grüne Bananen. Auch mit dem rechten Auge wurde es nicht besser, er sah die Bananen jetzt nur dreidimensional.

Allmählich fiel ihm allerdings auf, daß mit diesen Bananen irgend etwas nicht stimmte: Es war doch merkwürdig, daß Bananen Kulleraugen, vier Füße und einen Schwanz hatten. Außerdem hatte er noch nie erlebt, daß Bananen auf ihm herumkrabbelten, in seine Ohren schauten und in seine Nasenlöcher zu kriechen versuchten.

Angesichts dieser verwirrenden Umstände hatte er gerade beschlossen, noch eine Runde zu schlafen und danach vielleicht einen klareren Kopf zu haben, als sich Tussis Froschgesicht vor seine Augen schob.

„Na, du Stinker, ausgeschlafen? Haben dich meine Kleinen wieder wachgekitzelt?“

Bevor Vanilla irgend etwas Unverständliches stammeln konnte, spürte er Mamas festen Griff und sah ihre zornig blitzenden Augen.

„Du bananenwürdeloses ungezogenes Balg! Ist dir eigentlich klar, daß ich fast wieder zur Gorillahexe hätte laufen müssen, wenn Tussi nicht gewesen wäre?“

„Jetzt ist keine Zeit für gorillösen Familienstreit“, unterbrach Tussi sie energisch. „Wir müssen jetzt sehen, wie wir auf elegante Weise mit diesem Urwaldkiller fertigwerden. Ich hab da so`ne Idee….. Laßt mich mal kurz mit meinen Kinderlein reden.“

Tussi quakte kurz, woraufhin alle grünen Bananen – das waren gar keine grünen Bananen, sondern Froschkinder, genannt Kaulquappen, erklärte Mama Vanilla zwischendurch – zu Tussi gehüpft kamen, auf sie sprangen und über ihr einen grünen , wimmelnden, lebendigen Froschberg bildeten. Wenige Sekunden lang quakte es vielstimmig und in allen Tonlagen aus diesem Froschhügel, bis ein einhelliges höhnisches Kichern erscholl.

„Los Kinder, gehen wir,“ kommandierte Tussi, “ aber ihr“, sagte sie zu Mami und Vanilla „bleibt hier – oder zumindest hundert Meter hinter uns, damit ihr uns nicht die Tour vermasseln könnt.“

Vanilla ließ sich von Mama an die Hand nehmen und folgte mit ihr dem Heer der Frösche. Der Urwald schien noch grüner als sonst zu sein und zu leben: Mit Riesensätzen hüpfte Tussis Kampfschar in die Richtung, aus der Vanilla gekommen war, und bald vernahmen alle wieder das „Klong, klong, klong, klong“. Wenig später sahen sie auch den Menschen, dessen Axt sich schon tief in den Uruburubaum hineingearbeitet hatte.

„Psst, Kinder, jetzt ganz leise,“ flüsterte Tussi, „und verteilt euch gut!“ Selbst für Vanillas geübtes Gorillaauge schien es, als seien die Frösche plötzlich verschwunden. Nur hier und da bewegte sich ein Blatt, nur ab und zu blitzte eine weißer Froschbauch auf.

Den Menschen allerdings schien nach kurzer Zeit etwas zu irritieren. Als er zu einem neuen, gewaltigen Hieb ausholte, glitschte ihm der Axtstiel aus der Hand, und er vermochte nicht, sein Werkzeug wieder zu ergreifen – es flutschte davon, als sei es lebendig. Und der Mann konnte plötzlich nicht mehr stehen, dauernd fiel er um, als versuchte er, auf Schmierseife zu gehen.

Nun gibt es im Urwald bekanntlich keine Schmierseife, wohl aber, wie Vanilla bei ganz genauem Hinsehen erkannte, Froschschleim – Tussi und ihre Riesenfamilie hatten alles rund um den Uruburubaum in eine riesige Rutschbahn verwandelt.

Das Fluchen des Holzfällers, der vergeblich versuchte, sein Gleichgewicht wieder zu gewinnen, wurde plötzlich von Tussis Kommandoschrei übertönt: „Quaaaaaaaaaak!!!!!“

Der Himmel verdunkelte sich. Eine grüne Wolke erhob sich aus dem Unterholz, aus Büschen, aus Urwaldriesen und Schlinggewächsen und formierte sich zu einem riesengroßen Frosch, zweimal so groß wie die höchsten Bäume. Fasziniert warf Vanilla den Kopf zurück und blinzelte zu Tussi auf, die ganz oben auf der Familienpyramide thronte. Der Mensch dagegen genoß das Schauspiel keineswegs, sondern wand sich verzweifelt auf dem glitschigen Boden und versuchte zu fliehen.

So leicht aber sollte er nicht entkommen. Mit einer Stimme, die alle nur denkbaren Urwaldgeräusche in sich vereinte, erklärte Tussi ihm, daß er sich in eigenem Interesse besser nie wieder am Tussisee und im Gorillawald sehen ließe.

„Und jetzt hau ab, du schwanzloser Kerl, und bau deine Fenster in Zukunft aus kanadischer Kiefer!“

Der Monsterfrosch gab dem Holzfäller einen Fußtritt, der ihn in hohem Bogen aus dem Wald entfernte.

Mama und Vanilla waren ganz gerührt und fragten, wie sie ihr danken könnten.

„Da man nich` für,“ sagte Tussi, „aber wenn ihr unbedingt wollt, eine Flasche von der Witwe wäre nicht schlecht.“

Das allerdings verstanden weder Mama noch Vanilla.

Versteht Ihr das?


 

Bobbo

 


Nach dem aufregenden Holzfällerabenteuer mußte Vanilla sich noch lange schonen und von Mama pflegen lassen – die Schulterwunde, die die Axt ihm geschlagen hatte, heilte nur langsam, obwohl sie sorgfältig mit Tussi-Spezial-Heilbrei (4) behandelt wurde. Vanilla fügte sich geduldig in sein Schicksal, ließ sich Mamas mit Liebe und Fantasie bereitete Bananen-Krankenkost (5) schmecken und döste stundenlang behaglich im Schatten von Uruburu-, Arabara- und Oroborobäumen vor sich hin. Manchmal versuchte er, scherwiegende Probleme zu lösen, und beschäftigte sich mit der Frage, warum es im Gorillawald keine Erebere- und Iribiribäume gab, aber das wurde ihm meist schnell zu anstrengend, und er beschäftigte sich mit sich selbst.

Er zupfte an Lianen, die ihm vor die Augen hingen, er zupfte an Grashalmen, er zupfte an seinem Fell, bis es angenehm kitzelte und ein bißchen ziepte, er zupfte an seinen klitzekleinen Brustwarzen, bis sie größer wurden und zu seiner Überraschung ein völlig neues, wohliges Gefühl in seinen Oberschenkeln verursachten, und er zupfte an seinem Teil. Das wuchs beim Zupfen auch, merkte er, und das Gefühl, das dabei entstand, fand er fast noch angenehmer als die Brustwarzen-Wachse-Wirkung. Einmal überraschte ihn Mama beim Spielen mit sich selbst, und er schämte sich ein bißchen vor ihr, ohne zu wissen warum, aber Mama schmunzelte nur, strich ihm sanft über Kopf und Schwanz und fragte, ob es nett sei. Gorillamütter wissen nämlich, was gut für die Entwicklung einer ausgeglichenen Persönlichkeit ist – in der Gorilla-Schwangerenberatung wird seit Jahrtausenden die Lehre eines legendären Gorillas namens Adorno (6) weitergegeben, der herausgefunden hat, daß Sexualunterdrückung die Entwicklung der autoritären Persönlichkeit begünstigt.

So wuchs Vanilla überall dort, wo es wichtig war, und seine Wundränder wuchsen auch zusammen. Mama konnte beruhigt zusehen, wie er allmählich wieder auf die Beine kam und begann, seine Urwaldkreise zu ziehen.

Vanilla merkte selber, wie schwach er war, und begann, seine Kräfte zu trainieren. Das machte er aber nur ganz heimlich, weit weg von allen anderen an seinem Urwald-Lieblingsplatz, weil er nicht wollte, daß jemand sah, wie tolpatschig er noch war. Er machte Kniebeugen, hüpfte auf und ab, vorwärts und rückwärts, nach rechts und links, begann ein intensives Baumstamm-Hantel-Trainung und übte Klimmzüge und Bauchwellen. Zuerst kniff er bei seinen Übungen die Augen fest zusammen, weil sie so anstrengend waren, aber bald hatte er so viel Kraft gewonnen, daß er nebenbei den Schmetterlingen zugucken konnte. Die kicherten auch schon gar nicht mehr über ihn, weil er sich inzwischen wieder gorillös-elegant bewegen konnte.

Am fünfzehnten Tag seiner aktiven Rekonvaleszenz, zwei Astbreiten vor Sonnenhöchststand, entdeckte er auf einmal, daß jemand einen Spiegel vor ihm aufgestellt hatte. Er wunderte sich nicht weiter darüber, sondern freute sich über den Service – wahrscheinlich hatte Tussi mal wieder einen ihrer Tricks getrickst. Wie man sieht, ist es ein dummes Vorurteil zu glauben, Affen könnten sich nicht in einem Spiegel erkennen – Gorillas zumindest sind so selbstverliebt, daß sie immer zuerst glauben, sich selbst zu sehen, wenn sie einem schönen Gattungsgenossen begegnen.

Vanilla fand es nett, einem jungen, kräftigen Vanilla beim Sport zuzusehen. Er plusterte seine Muskeln auf, gestaltete seine Übungen besonders akzentuiert und freute sich darüber, wie gut im Spiegel alles klappte . Wirklich – er war schon wieder richtig attraktiv!

Da seine Begeisterung über sich selbst ihn voll in Anspruch nahm, litt jedoch seine Konzentration – nach einem kräftigen Anlauf erwischte er den Ast, den er für einen Klimmzug angepeilt hatte, nicht, sondern rutschte ab und purzelte gar nicht elegant zu Boden. Sein Spiegelbild aber blieb hängen – Moment mal, sein Spiegelbild? Gebildet durch Mamas exzellenten Physikunterricht wußte er, daß eine simple Reflexion sich solche Extravaganzen nicht erlauben durfte. Das war also gar kein Spiegelbild – das war ein anderer Gorilla, ein frecher Eindringling, ein Peeping Tom!

Wutentbrannt füllte Vanilla seine Lungen mit Luft für seinen Spezialkampfschrei und wollte auf den Fremden losstürmen, als der sich locker von dem Ast fallen ließ, an dem er immer noch hing, sanft in den Knien nachfederte und freundlich sagte: „Bei allen Tussis, Du bist aber gut in Form! Du hast mich weidlich schwitzen machen. Wie wärs, wenn wir künftig immer zusammen trainieren? Ich heiße übrigens Bobbo.“

Vanilla hatte zwar den zweiten Satz von Bobbo nicht verstanden – er sollte erst später erfahren, daß Bobbo aus Literatien stammte, wo die Gorillas immer so geschwollen daherredeten, weil sie sich einbildeten, von einem unendlich gebildeten Silberrücken namens Gorilla Göte abzustammen -, aber er begriff, daß der andere in friedlicher Absicht gekommen war und ihm seine Freundschaft anbot.

Warum eigentlich nicht? Es war bestimmt netter, zu zweit durch den Urwald zu tollen als allein. Alt genug schien der andere auch zu sein, jedenfalls sah sein Teil so beeindruckend groß aus, wie Vanilla es nur schaffte, wenn er ganz lange daran gezupft hatte. Wenn Mama nichts dagegen hatte…

Mama hatte nicht. Zwar runzelte sie zuerst die Stirn, als sie hörte, daß Bobbo aus Literatien stammte, weil sie meinte, daß die literarischen Gorillas unangemessen eingebildet seien. Sie drücken immer alles ganz lang und umständlich aus und kommen sich deswegen toll vor – dabei konnte man doch alles viel kürzer sagen! Die kurze und einleuchtende Theorie von Gorilla Adorno zum Beispiel hatte in Schriftform Platz auf vier Uruburublättern, in Literatien dagegen gab es einen Gorilla namens Heinrich Wirr (7) , der 400 Blätter gebraucht hatte, um dasselbe zu erklären – und dabei war es ihm noch nicht einmal gelungen, deutlich zu machen, daß er nicht einen Einzelfall abhandelte, sondern ein allgemeines Phänomen darstellen wollte.

Als sie Bobbo jedoch kennenlernte, konnte sie feststellen, daß er gar nicht eingebildet war, sondern stets höflich, charmant und zurückhaltend; nur seine Sprache war etwas ungewöhnlich. Anstatt ihr zum Beispiel einfach anzubieten, ihre Bananenbündel zu tragen, blinzelte er sie verführerisch an und sang: „Ich trage Ihre Tasch´, Madam…“ Aber das war harmloser Kinderkram.

Vanilla erhielt also die Erlaubnis, mit Bobbo loszuziehen, wann immer er wollte. Er wollte oft, und bald waren die beiden unzertrennlich. Zu ihren Lieblingsaufenthaltsorten gehörte der Tussisee. Vanilla hatte schon längst seine Angst vor dem Wasser und seinen Bewohnerinnen verloren, und Schwimmen gehörte inzwischen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Jetzt tummelte er sich zusammen mit Bobbo im Wasser. Sie schwammen um die Wette, tauchten, spritzen einander naß und freundeten sich sogar mit den Schmetterlingen an – die brachten sie auf die Idee, den Schmetterlingsstil auszuprobieren.

Tussi störte sie nie, sondern sandte ihnen nur ab und zu einen freundlichen Quak-Gruß von ihrem Lieblingsfelsen aus. Nervig waren dagegen Tussis Kinder – die wollten ständig, daß die beiden Gorillas mit ihnen spielten. Aber was sollten Gorillas mit Kaulquappen anfangen, selbst wenn es sehr nette Kaulquappen waren?

Da die Affen zu blöd waren, ergriffen die Frösche die Initiative. In einer feierlichen Kaufquappenprozession tauchte eine Delegation bei Bobbo und Vanilla auf und erklärte ihnen, welches Spiel jetzt gespielt werden sollte: Das Froschkinder – Gorillakörper – Wettrennen. Das geht so (einfache Spielregel): Bobbo und Vanilla nehmen je eine Kaulquappe in den Mund. Auf Kommando wird geschluckt. Die Kaulquappen wedeln sich dann möglichst schnell durch den Affenkörper, und wer zuerst seinen Kopf aus dem Affenarsch steckt, hat gewonnen.

Bobbo war sofort begeistert, Vanilla jedoch skeptisch. Er hatte großen Respekt vor Tussi und wollte keinen Ärger mit ihr bekommen. Was war, wenn eines ihrer Kinder sich in seinem Magen verirrte und von der Salzsäure dort drinnen zerfressen wurde? Aber die Kaulquappen lachten ihn einfach aus: „Du hast ja keine Ahnung, Du Affe, wie schnell Froschkinder sind!“

Also ließ Vanilla sich auf das Spiel ein, und siehe da, Tussis kluge Kinder hatten recht. In Sekundenschnelle absolvierten sie die Wettrennen, und bevor es ihnen zu langweilig wurde, erfanden sie Varianten: Staffelläufe wurden abgehalten und sogar Mannschaftswettbewerbe organisiert, denn die Kaulquappen hatten herausgefunden, daß so ein Gorilla-Verdauungstrakt Platz für fünf Minifrösche gleichzeitig bietet.

Nicht nur den Fröschen machte das Spiel einen Riesenspaß, sondern auch den Gorillas: Es rumpelte so schön in den Eingeweiden, und der Hintern wurde ganz warm. Es war so schön, daß Bobbo seinem Wohlsein nur in literarischen Formen Ausdruck geben konnte: „Oh wie wohl ist mir mit Frö-hö-schen, mir mit Frö-hö-schen, im Darm, im Darm!“

Nach 333 Durchläufen aber gab es einen Zwischenfall – die Froschkinder waren übermütig geworden und hatten zwei Mannschaften von je zehn Kaulquappen aufgestellt. Bei der Bobbo-Equipe war alles gutgegangen , aber das Vanilla-Team steckte plötzlich fest. Das lag nicht daran, daß die Frösche sich ineinander verhakt hätten, nein, Vanilla hatte plötzlich einen Krampf im Schließmuskel. Er konnte einfach nicht lockerlassen, auch wenn er hörte, wie die Tussikinder verzweifelt und erstickt um Hilfe zu rufen begannen.

„Tussi wird mich umbringen, aber nur sie kann helfen, ich muß sie rufen“, zuckte es durch seinen Kopf, da spürte er plötzlich Bobbo neben sich, der ihn beruhigend streichelte und dabei etwas vor sich hinmurmelte. Vanilla vernahm die Laute, ohne ihren Sinn zu begreifen.

„Bring mir ein Tuch von ihrer Brust, ein Strumpfband meiner Liebeslust…“ Dagegen nahm er sehr bewußt wahr, wie Bobbos Hand sich sanft seinem Schließmuskel näherte, wie zwei Finger in ihn eindrangen, ihn weiteten und so viel Raum schafften, daß die zehn kleinen Tussikinderlein, nach Luft japsend, den Weg in den blauen See finden konnten. Nicht nur sie, sondern auch alle anderen Kaulquappen hatten zunächst mal genug von dem Spiel „Froschkinder -Gorillakörper – Wettrennen“ und suchten Zuflucht bei Tussi.

Vanilla lag erschöpft auf der Seite und furzte leise vor sich hin.

„Sind alle gerettet?“ fragte er erschöpft.

„Ja“, sagte Bobbo und kraulte ihn zärtlich im Nacken.

„Das Spiel spiele ich nie wieder“, sagte Vanilla, „mein Hintern ist heiß wie die Hölle!“

„Die Antwort hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“, flüsterte Bobbo ihm ins Ohr und …..


Coming Out


Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die beiden jungen Gorillas probierten alles aus, was zwei junge Gorillas miteinander ausprobieren können. Gorillamama besteht allerdings darauf, daß Einzelheiten hier nicht näher erläutert werden – nur aus Rücksicht auf die menschlichen Leser, versteht sich. Aus dem öffentlich-rechtlichen Gorilla-Trommelrundfunk (8) weiß sie, daß die meisten Menschen Schwule für pervers halten und Gorillas für minderwertig. Und nun erst schwule Gorillas! Mama meint, man solle den Menschen wenigstens die Einzelheiten ersparen, wenn sie denn schon so dumm sein müssen.

Natürlich waren Bobbo und Vanilla nicht nur mit Sex beschäftigt. Sie streiften durch den Regenwald, erforschten den Grund des Gorillasees und wagten es auch, den schneebedeckten Gipfel des Kalamindschiru zu besteigen. Von ihren waghalsigen Abenteuern erzählten sie aber niemandem, nur untereinander sprachen sie darüber: Wie Bobbo fast im Schlamm des Sees steckengeblieben war, wie Vanilla beinahe oben auf dem Berg in eine Gletscherspalte gefallen wäre, wie beide nur mit Mühe dem Gorilla-Yeti entkamen, der mit geblecktem Gebiß auf sie losgestürmt war…

Von ihren aufregenden Erlebnissen erholten sie sich oft bei einem Joint. Der entspannte so schön. Natürlich versuchten sie weder „H“ noch Crack. Vielleicht hätten sie es getan, wenn es im Gorillawald Chemielaboratorien oder Puddingpulver gäbe, aber diese Errungenschaften der menschlichen Zivilisation fehlen hier, Tussi sei Dank (9) .

Manchmal, besonders nach einem wunderschönen Fick mit Bobbo (Entschuldigung, Mama!) oder nach einem besonders aufregenden Ereignis, geriet Vanilla in wunderliche Zuckungen: Es begann bei den Zehen, ergriff die Unterschenkel, die Oberschenkel, die Hüften, den Oberkörper, die Arme, den Kopf. Dann schien er aggressiv zu werden, denn er griff den nächstbesten Baumstamm an, der in seiner Reichweite lag, und schien ihn zertrümmern zu wollen – aber das sah nur so aus. Er schlug rhythmisch auf ihn ein, und je mehr Anfälle er hatte, desto abwechslungsreicher und eingängiger wurden die Lautfolgen, die er produzierte.

Bobbo hatte, selig im Kiffrausch oder in postorgiastischem Dösen, diese Ausbrüche zunächst ruhig beobachtet, bis ihm beim siebzehnten Mal ein Uruburu-Sieder aufging: Vanilla trommelte! Vanilla war musikalisch!

Bei ihrem nächsten Treffen brachte er seinem Freund eine Überraschung mit. Er hatte einen Baumstumpf ausgehöhlt und ihn mit der Haut eines toten Leoparden, die er sorgfältig gegerbt hatte, überspannt.

„Gebt uns ein Lied!“ sagte er und grinste Vanilla an, aber der glotzte nur verständnislos.

Seufzend ließ Bobbo sich auf das Sprachniveau seines Freundes herab: „Hier, jetzt kannste Mucke machen!“

Vanilla war begeistert. Er trommelte los wie nie zuvor. Er hatte nie was von Percussion gehört, aber er holte alles aus dem Leopardenfell raus, was drin war. Er trommelte, bis er erschöpft einschlief.

Im Traum (10) zerriß er das Leopardenfell. Es machte ihm Spaß, und gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen. Aus der zerstörten Trommel wuchs ein Frauenkörper mit ganz langem Hals, dem er wunderschöne Melodien entlockte. Mit Kopfschmerzen wachte er auf. Die kamen, das wußte er, weder vom Sex noch vom Haschisch: Er hatte das Gefühl, Bobbo betrogen zu haben.

Vanilla wußte nicht, was er tun sollte. Mama fragen? Die wußte immer auf alles eine Antwort, aber allmählich fühlte er sich zu alt, um immer noch zu ihr zu laufen. Die Gorillahexe? Von Mama wußte er, daß es sie gab, aber er kannte den Weg zu ihr nicht. Bobbo? Unmöglich… Also blieb Tussi. Aber Tussi war immer so – – – eigenartig. Andererseits – Tussi hatte immer geholfen.

Vanilla ging zu Tussi und erzählte ihr von seinem Traum. Darauf passierte genau das, wovor er sich gefürchtet hatte: Tussi kicherte. Und dann geschah, wovor er noch mehr Angst hatte: Tussi runzelte ihre Froschstirn. War sein Fall so kompliziert? Er wagte nicht zu fragen.

„Kein Grund zur Aufregung, Stinker“, sagte Tussi. „Es handelt sich nicht um ein libidinöses Problem. Alles nur eine Frage der Materialbeschaffung. Ich denke mal, bis morgen zum Nachmittagsmittsonnenstand haben wir das bewältigt, dann darfst Du wiederkommen. Ich muß ein wenig revidieren…“ Sprach´s, hüpfte davon und ließ einen verwirrten Vanilla zurück: Jetzt redete Tussi schon genauso unverständlich wie Bobbo.

Rastlos trottete er durch den Nebelwald und merkte erst nach Stunden, daß er ständig vor sich hin murmelte: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr.“ Es war unmöglich, den Ohrwurm, den er mal von Bobbo aufgeschnappt hatte, aus dem Kopf zu bekommen, und so plapperte er ihn einfach weiter – schlafen konnte er sowieso nicht. Nach einermillionundvierhundertdreiundneunzigtausendzweihundertzweiundzwanzig Wiederholungen war endlich der nächste Nachmittagsmittsonnenstand herangekommen, und Vanilla fand sich bangen Herzens wieder am Tussisee ein. Bei den Geistern aller Silberrücken – das war ja noch schlimmer, als er befürchtet hatte! Nicht nur Tussi erwartete ihn, sondern ihre ganze Riesenfamilie, alle Kinder genau nach Größe geordnet (die Kleinsten ganz außen), säumte das Ufer.

Tussi machte es aber gar nicht feierlich.

„Tach auch“, sagte sie einfach und griff hinter sich. „Die Kiddies sind bloß alle gekommen, weil sie die Premiere nicht versäumen wollten. Hier ist also deine Frau – schlag sie, zupf sie, streichle sie nach Kräften, hihi!“

Vanilla begriff nicht, wie ihm geschah, aber plötzlich hatte er Tussis Geschenk in den Händen und tat, wie ihm geheißen. Begeistert klatschten alle Kaulquappen ihm Beifall und wiegten sich synchron mit jeder Bewegung seiner Finger hin und her. Der Funke sprang über: Vanilla arbeitete schneller, stampfte dazu hin und her, sprang auf und ab und begann schließlich zu singen:


„There was a Gorilla

whose name was Vanilla

he lived in the wood

near Nottinghamshrood!“

Die Frösche hüpften, der Urwald dröhnte, Vanilla geriet mehr und mehr in Ekstase. Er hätte wohl stundenlang weitergemacht, wäre nicht plötzlich Mama auf ihn zugestürzt. Voller Wut brüllte sie ihn an: „Du vermenschtes rücksichtsloses Kind! Was fällt Dir eigentlich ein! Von mir hast Du das nicht gelernt!“

Verschreckt ließ Vanilla seine Arme sinken und guckte Mama unglücklich an: Was hatte er denn falsch gemacht?

Schon etwas versöhnlicher grummelte Mama: „Dein Krach stört die Silberrücken beim Abendpalaver. Der Ältestenrat hat sich bei mir beschwert. Also hör jetzt auf!“

„Buh!!!“ schrien alle Tussikinder und pfiffen, was die Kiemen hergaben. Gebieterisch winkte Tussi ab. „Ach ja,“ spöttelte sie, „der Ältestenrat! Wir feiern hier die Urwaldentdeckung des Jahrhunderts, und die Herren fühlen sich beim Verdauen ihrer Uruburudesserts gestört. Na gut, für heute ist Schluß. Aber“, sagte sie zu Mama, „du kannst die Greise schon mal darauf vorbereiten, daß sie morgen früh mit meinem hochoffiziellen Besuch rechnen können. Ich werde ihnen dann mal eine kleine Vorlesung über Talente halten. Und jetzt ab ins Bett, Kinder!“

Sofort hüpften alle Kaulquappen in hohem Bogen ins Wasser, und als der letzte Schwanz verschwunden war, folgte ihnen Tussi mit einem eleganten doppelten Salto. Kopfschüttelnd trottete Mama zurück ins Gorilladorf, und Vanilla blieb verloren am Ufer zurück.

Er erschrak fürchterlich, als sich nach einer Weile eine Hand auf seine Schulter legte – Bobbo stand hinter ihm. Bobbo! Bobbo, den er betrogen hatte! Vanilla machte sich auf alles gefaßt, nur auf das breite Grinsen, das sich jetzt über Bobbos Gesicht legte, war er nicht vorbereitet.

„Affengeil, das Instrument! Und du bist auch nicht schlecht. Wenn wir das noch ein bißchen üben – ein Froschchor dazu wäre auch nicht schlecht – und natürlich brauchst du bessere Texte…Ich hab da schon eine Idee für einen Song, der Anfang geht so: „Es war einmal ein Affe, der hatt´ einen großen Floh…“ Was hältst Du davon? Wir werden DER Hit!“ Kräftig haute er Vanilla auf die Schulter und gab ihm anschließend einen Kuß: „Oh Gorilla, bin ich stolz darauf, einen Freund zu haben, der so prima Gitarre spielen kann!“

Erst am nächsten Morgen war Vanilla in der Lage, Bobbo stückweise zu erklären, warum er danach so plötzlich in Ohnmacht gefallen war.


 

The Band

 


Bobbos sorgfältig ausgearbeiteter Übungsplan – jeden Tag zwei Stunden Harmonielehre, zwei Stunden Gitarrenunterricht und zwei Stunden Gesangslehre – erwies sich als völlig überflüssig. Vanilla war einfach ein Naturtalent. Schon neun Stunden nach seinem ersten Auftritt vor der Froschfamilie stellte er sich dem Rat der Silberrücken und brillierte mit einem Text von Bobbo: „Oh, when the apes go marching in“. Die alten Herren waren begeistert und hielten sich allesamt für Affen.

Das Ergebnis des Konzerts war positiv: Vanilla erhielt, offiziell auf einem Uruburublatt-Dokument niedergeschrieben, die Erlaubnis für eine Tournee durch den Regenwald. Bobbo und 50 Tussikinder als Chor sollten ihn begleiten dürfen.

Tussi war stinksauer, als sie davon erfuhr, aber dann sagte sie zu Vanilla: „Wart` mal einen Moment.“ In einem stillen Seewinkel drückte sie 50 Eier ab, richtete sie geschmackvoll auf einem Seerosenblatt an und übergab sie dem Jungstar: „Da hast du sie, Stinker. Wenn du sie ordentlich fütterst, können sie spätestens in drei Tagen singen.“

Die Band zog davon, und der Urwald bebte. Uruburu- und Oroborobäume tanzten, Lianen verdoppelten ihr Wachstumstempo, und Epiphyten fielen massenweise zu Boden – sie hatten sich vor lauter Begeisterung nicht mehr festhalten können. Der ganze Urwald war nur noch ein einziger Vanilla-Sound.

Der ganze Urwald? Nein, mehr als das. Vanillas Rock-Funk-Punk-Sound drang weiter hinaus. Dorthin, wo die Menschen leben, die Holzfäller. Wie elektrisiert zuckten ihre Glieder, und bei 10% der Holzfäller führte das dazu, daß sie die Riesenurwaldbäume noch schneller fällten als bisher. 90% aber reagierten auf die Musik ganz anders. Sie trafen mit ihren Äxten und Sägen nicht mehr die Bäume, sondern hackten unkontrolliert drauflos und verstümmelten sich zum Teil selbst.

Den Holzfällerherren gefiel das gar nicht. Sie meinten, man müsse gegen diese Gorillaband etwas unternehmen. Aber dafür mußte man sie erst einmal kennenlernen. Was also lag näher, als Vanilla, seinen Texter Bobbo und den Froschkinderchor einzuladen? Per Urwaldfunk erreichte Vanilla ein entsprechender Vorschlag:

„Bois de Boulogne für Vanilla-Konzert reserviert STOP Gage 100 000 Francs STOP Unterkunft gesichert (zwei Zookäfige, eine Badewanne) STOP“.

Vanilla hatte immer noch große Probleme mit der ungewohnten Publicity, und er versuchte, sich Rat zu holen.

Mama blieb reserviert: „Paris! Wenn`s denn schon sein muß, dann vergiß bloß die Pariser nicht.“

Bobbo meinte: „Paris, affengeil! Ich hab da von einem Lederladen am Place Pigalle gehört…“

Und Tussi: „Zu den Menschen willst Du? Nach Paris? Da war ich auch mal. Mein Tip: Nimm Dir eine Knarre mit und bring mir auf dem Rückweg eine Flasche Schlampanski mit.“

In Vanillas Kopf wolkten Fragezeichen, aber die machten ihn nicht ängstlich, sondern nur neugierig.

Blieb das Problem: Wo war eigentlich Paris?

Bobbo mußte passen: „Ich kenne nur den Weg nach Leipzig, es ist ein klein Paris und bildet seine Leute! Irgendwo im Norden muß es sein…“

Das half Vanilla auch nicht viel weiter, aber als er auf der Suche nach dem Weg nach Paris den Nebelwald durchstöberte, fand er einen alten Atlas.

Er schlug eine Weltkarte auf und suchte am oberen Rand – Norden war oben, das wußte ein gebildeter Gorilla selbstverständlich. Leise murmelte er vor sich hin: „Kapstadt, Feuerland, Queen Victoria Land…Komisch, daß die Namen alle auf dem Kopf stehen…“

Leise kicherte es über ihm – das kannte er doch? Da machte sich wieder mal ein Schmetterling über ihn lustig! Früher hatte er sich das gefallenlassen müssen, aber der Urwaldrockkönig Vanilla ließ sich nicht mehr verspotten! Zornig sprang Vanilla auf die Füße und begann, den Schmetterling zu jagen. Der tänzelte in einem eleganten Halbkreis vor ihm davon. Vanilla folgte, und als er gerade glaubte, den Kicherer erwischt zu haben, stolperte er über eine Baumwurzel. Platsch! Wieder hockte er vor dem Atlas, und plötzlich stand die Schrift nicht mehr auf dem Kopf. Wie gut, daß ihn außer dem Schmetterling vorher niemand gesehen hatte – welch eine Blamage, das Buch verkehrt herum zu halten!

Jetzt fand er Paris ganz schnell – das war aber weit weg, stellte er fest. Wenn er da hinkommen wollte, mußte er erst durch den Regenwald, dann durch ein endloses Gebiet namens Sahara, dann über eine Meerenge, dann durch Spanien, über die Pyrenäen (ob das wohl Menschen waren? Vanilla hatte schon mal etwas von Pygmäen gehört.) und schließlich noch durch Frankreich.

Vanilla beriet sich mit Bobbo. Der zerstreute einen großen Teil seiner Bedenken: Über die Meerenge, meinte er, könne ein Gorilla ohne weiteres rüberspringen, außerdem gebe es da Säulen von einem Herrn namens Herkules, von denen könne man sich bestimmt prima abstoßen. Die Pyrenäen seien auch nicht schlimm, das seien keine Menschen, sondern ein Gebirge, und auf Befehl Hannibals seien da schon vor 2000 Jahren Elefanten rübergeklettert, und was Elefanten können, sei für Gorillas doch erst recht machbar. (Man sieht, der Schulunterricht in Literatien ist weniger der historischen Wahrheit als der dichterischen Freiheit verpflichtet.)

Sorge aber bereitete beiden die Sahara. Das ist eine Wüste, wußte Bobbo, und Vanilla schauderte es, als er erfuhr, daß es in einer Wüste kaum Wasser gibt. Für einen Nebelwaldgorilla, der der sich mehrmals täglich immer wieder am Funkeln der Regentropfen erfreut, ist schon die Vorstellung von einer solchen Gegend unerträglich.

„Gorilla, bleib bei deinen Urwaldleisten“, murmelte er vor sich hin. „Wir reisen nicht!“

Tussi aber war mit dieser Entscheidung überhaupt nicht einverstanden. „Hier wird nicht gekniffen!“ beschied sie Vanilla, „du fährst hin und bringst mir meinen Schlampanski mit, verstanden? Ihr könnt auch mein Tussimobil haben!“

Tussimobil? Weder Bobbo noch Vanilla konnten sich darunter etwas vorstellen, aber das war auch gar nicht nötig: Tussi sackte sie und ihre 50 Kinder einfach ein, programmierte den Bordcomputer auf Paris und schickte sie los.

Die Band fand sich in labilem Gleichgewicht wieder: Das Tussimobil war auf der Spitze einer gläsernen Pyramide gelandet. Der Louvre ist das Herz von Paris, hatte Tussi beschlossen, und da waren sie nun. Die Reisenden störte das gar nicht: Die Froschkinder stiegen zuerst aus und machten beim Runterrutschen das Glas schön schlüpfrig, und Vanilla und Bobbo sausten ihnen jauchzend hinterher. Die zahlreichen Menschen aber, die Zeugen der Ankunft waren, reagierten merkwürdig: Viele rannten kreischend davon und brüllten: „Der Löwe ist los!“; die anderen beschwerten sich darüber, daß wegen des Froschschleims die Glaskuppel undurchsichtig geworden war, und wollten ihr Eintrittsgeld zurück.

Mindestens so überrascht waren die Holzfällerherren. Sie hatten ihre Einladung doch erst vor wenigen Stunden abgeschickt, und nun waren die Affen schon hier! Aber Holzfällerherren sind flexibel, weil sie genug Menschen beschäftigen, die für sie denken und handeln. Bereits 22 Minuten nach der Ankunft der Band traf ein Empfangskomitee ein.

„Wie schön, daß ihr hier seid! Wir sind davon überzeugt, daß ihr die europäische Musikwelt revolutionieren werdet! Euer erstes Konzert ist für morgen angesetzt. Jetzt solltet ihr euch erstmal ausruhen – sicherlich war die Reise sehr anstrengend!“

Bobbo, Vanilla und die Froschkinder hatten die Reise überhaupt nicht als anstrengend empfunden, aber sie wollten nicht unhöflich sein und folgten der Einladung. Bobbo und Vanilla bezogen ihre Käfige, in denen ein Bananenarrangement auf sie wartete, und die Kaulquappen hüpften in die vorbereitete Badewanne.

Alles schien in Ordnung, aber nur bis zum nächsten Morgen. Bobbo meinte, daß der erste Auftritt bei den Menschen gut vorbereitet sein müsse, und er hatte deshalb eine Vormittagsprobe angesetzt. Als er aber seinen Käfig verlassen wollte, stellte er fest, daß das nicht möglich war – ein dickes Schloß versperrte den Weg in die Freiheit.

Er rüttelte an der Tür. Vergeblich. Er spähte nach oben, in der Hoffnung, aus dem Käfig herausklettern zu können. Vergeblich. Stacheldraht versperrte den Himmel. Er rief Vanilla. Vergeblich. Vanilla schlief noch und erträumte neue Melodien. Er rief die Froschkinder. Vergeblich. Keine Antwort.

Als Vanilla plötzlich aufwachte, hörte er den Text, nach dem er für seinen neuen Song gesucht hatte:

„Mein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, daß ihn nichts mehr hält.
Mir ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und außer tausend Stäben keine Welt.“

„Super, Bobbo!“ brüllte er. „Du hast´s mal wieder voll getroffen!“

„Ja, Vanilla, murmelte Bobbo, „so kann man das nennen.“

Erst allmählich begriff Vanilla, was passiert war. Die Holzfällerherren wollten sie töten, und wenn sie das geschafft hatten, konnten sie den Regenwald endlich ungestört vernichten. Konzert im Bois de Boulogne – phh! Eine Falle war das, und er, und nicht nur er, war darauf hereingefallen. Die Band mußte hier raus!

Die Holzfällerherren hatten einen Fehler begangen: Vanilla hatte seine Gitarre mit in den Käfig nehmen können. Ganz leise und vorsichtig begann er zu spielen: „Es war einmal ein König, der hatt´ einen großen Frosch..“ und genauso vorsichtig kam die Antwort: „Es war einmal ´ne Fröschin, die hatte 50 Kinder…“

Nach und nach informierten die Froschkinder Vanilla über ihre Situation. Sie hockten zusammen in einer Badewanne, in deren Abfluß ein zu kleiner Stöpsel saß – offensichtlich wollten die Holzfällerherren sie austrocknen. Die bösen Menschen wußten aber nicht, daß Frösche im Zustand der akuten Lebensbedrohung sich zu einem Kollektivhirn zusammenschließen können – und genau das taten die Kaulquappen gerade. Sie riefen ihre Mutter zu Hilfe – und sie erreichten sie.

dieseschweinemäßigen Scheißmenschen!schimpf

schimpfte Tussi und machte sich höchstpersönlich auf, um ihre Kinder und die beiden Gorillas zu retten.

Paris erlebte den kräftigsten Tornado, seit es Lutetia gibt – erstaunlicherweise wurde nur der Zoo völlig verwüstet. Alle Käfige wurden zerstört, und nach dem Abflauen des Sturms fand man die Käfigstangen verbogen als Salzbrezeln wieder. Alle gefangenen Tiere waren spurlos verschwunden.

Spurlos? Oh nein, am Tussisee trafen sich alle wieder und vergnügten sich auf der von Tussi veranstalteten Freiheitsparty. Die Fröschin freute sich zwar über ihre erfolgreiche Rettungsaktion, aber sie mußte sich beim Feiern mit Urwaldschaumwein begnügen und vermißte den aus Paris bestellten Schlampanski schmerzlich…nicht nur deshalb sann Tussi auf Rache.


 

Die Errettung der Welt

 


Mama merkte es als erste – kein Wunder, seit sie nicht mehr alleinerziehende Mutter eines nicht ganz unkomplizierten Gorillas war, hatte sie viel Zeit zu beobachten, was um sie herum vorging. Anders die anderen – die Silberrücken veranstalteten unermüdlich unendliche Palaver und brüsteten sich mit den Heldentaten ihrer Jugend voreinander, und die Band interessierte Trommeln nur in Hinblick auf Musik. Genau das aber fehlte, hatte Mama festgestellt – das tägliche Trommeln der mittäglichen Regentropfen auf das Regenwalddach.

Zuerst machte sie sich nicht allzu viele Gedanken und ging von der These aus, daß wohl ein ungewöhnlich hohes Hoch sich Zentralafrika ausgesucht haben müsse, um sich von seinen atmosphärischen Wanderstrapazen zu erholen. Als aber nach sieben trockenen Tagen die Blätter der Uruburubäume lappig wurden – und das empfand Mama als sehr ärgerlich, denn sie hatte sich vorgenommen, an diesem Tag ein Bananensoufflé in seiner Blätterhülle zu backen – ging Mama zum Tussisee. Erstens hatte sie das Bedürfnis, ihre heißen Füße zu kühlen, und zweitens wollte sie Tussi auf das Regenproblem aufmerksam machen.

„Ja, ja, wir Frauen sind doch sensibler!“ kicherte Tussi nach vielen Umarmungsbegrüßungen. „Du hast es also gemerkt, aber die Machokerle sind so blind vom Glauben an ihre männliche Bedeutsamkeit, daß sie wohl erst aufwachen, wenn die Welt untergeht. Das dauert übrigens nicht mehr lange!“

Mama war von Tussis Begrüßung so geschmeichelt, daß der letzte Satz nur langsam in ihr Bewußtsein sickerte. „Was hast du gesagt?“ fragte sie entsetzt. „Die Welt geht bald unter?“ Aber was wird dann aus dem Nebelwald, aus uns allen und vor allem aus Vanilla?“

„Keine Sorge“, zwinkerte Tussi ihr zu, „die Welt geht auch wieder auf, und keiner wird`s merken. Aber du hast ja schon was gemerkt, also werde ich dich in meinen Plan einweihen. Aber wehe, du verrätst was!“

„Ich werde schweigen wie eine Gorillafrau!“ versprach Mama, und Tussi flüsterte ihr zwei Stunden und 22 Minuten lang intensiv ins Ohr. Nicht mal die Froschkinder bekamen auch nur einen verständlichen Laut mit, obwohl sie intensiv zu lauschen versuchten.

Aufgeregt stampfte Mama danach nach Hause und backte ihr Bananensoufflé, um sich ein wenig abzulenken, aber sie war so unkonzentriert, daß sie das Backpulver vergaß. Als sie ihr Werk aus dem Erdbackofen holte, ähnelte es einem verschrumpelten Pavianarsch, und Mama warf es angeekelt weg – Gorillas mögen nämlich keine Paviane, erstens allgemein nicht und zweitens schon gar nicht als Essen. –

Nicht nur im Nebelwald hatte es aufgehört zu regnen – es regnete nirgendwo mehr auf der Erde. Der Sahara fiel es leicht, das zu ertragen – eine Wüste ist daran gewöhnt, ohne Wasser auszukommen. Anders erging es den Menschen, also den Holzfällern und ihren Holzfällerherren. Sie brauchten am Tag ungefähr vier Liter Wasser, und das war immer schwerer zu beschaffen. Dabei narrte sie der Himmel und versprach ihnen mindestens einmal täglich das ersehnte Naß: Dicke blauschwarze Wolken zogen auf, grelle Blitze zuckten, und dumpf grollte der Donner. Aber immer dann, wenn es so aussah, als müßte das Gewitter jetzt endlich losbrechen, nahmen die Wolken die Gestalt eines riesigen Frosches an, der das Firmament völlig bedeckte, und statt des Donners hörten sie eine entsetzliche Stimme:

„Ich bin der Geist, der euch verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was Mensch macht,
ist wert, daß es zusammenkracht;
Also, ihr Ärsche: Gute Nacht“!

(Wie man sieht, ist Tussi bei Bobbo in die Schule gegangen, aber man merkt auch, daß sie nur einen Schnellkurs belegt hat.)

Am fürchterlichsten für die Menschen aber war das Gelächter, das im Anschluß an diese Drohung über die Erde schallte.

In Paris entwickelten sich die Dinge so wie überall, jedenfalls im Prinzip. Nachdem die Seine ausgetrocknet war, kauften die Holzfällerherren die Champagne mit allem beweglichen und unbeweglichen Inventar, um an Flüssigkeiten zu kommen. Eine Weile hielten sie sich so mit edlem Champagner über Wasser und machten Tussi dadurch, ohne es zu wissen, noch zorniger.

Als auch diese Vorräte erschöpft waren, begannen die Holzfäller, die noch nicht vertrocknet waren, auf Befehl ihrer Herren, den Bois de Boulogne abzuholzen, um das Wasser aus den Bäumen zu pressen. Das Baumwasser sollte in Badewannen in den Herrenhäusern gesammelt werden, aber durch die anhaltende Dürre waren die Gummi-Badewannenstöpsel zusammengeschrumpft und spröde geworden, so daß die Dreiecksbadewannen und Hot Tubs unaufhaltsam leerliefen – warum sollte es den Menschen anders gehen als Froschkindern?

Nach diesem gescheiterten Projekt suchten die Holzfällerherren nach Holzfällern, denen sie befehlen konnten, für sie zu urinieren – aber es gab keine Holzfäller mehr. Alle waren irgendwann tot umgefallen und dann innerhalb von 22 Minuten zu Staub zerbröselt. Da die Herren niemals gelernt hatten, selbst zu arbeiten, blieb ihnen nur übrig, auf den Zeitpunkt zu warten, wo sie auch tot umfallen würden.

Nach 22 Monaten gab es keinen Menschen mehr auf der Erde, kein Tier lebte, keine Pflanze. –


„Weiß du, Tussi, ein bißchen anders ist es schon hier“, sagte Mama, als sie wieder mal zum Besuch am Gorillasee war. „Die anderen haben es da einfacher, weil du vor dem Umzug ihr Gedächtnis gelöscht hast. Deshalb finden sie es völlig normal, daß hier die Zeit mal rückwärts und mal vorwärts läuft, je nachdem, wie sie es gerade wünschen. Ich krieg da immer noch manchmal Schwindelanfälle – läuft die Zeit vorwärts, ist der Himmel blau, läuft sie rückwärts, ist er grün; im ersten Fall ist der Urwald dreidimensional, im zweiten hat er eine Dimension mehr – ob ich mich jemals dran gewöhnen werde?“

„Keine Sorge, kommt Zeit, kommt Gewöhnung“, antwortete Tussi. „Immerhin mußt du zugeben, daß es hier in meiner Parallel-Tachyonenwelt spannender ist als auf der versifften alten Erde. Und wir werden für Äonen unsere Ruhe haben – Prometheus spiele ich nie wieder. Der einzige Vorzug der Menschen war, daß sie Schlampanski machen konnten, aber davon habe ich auch nie genug abbekommen. Ich werd mich halt an Bananenwein gewöhnen… Was hältst du eigentlich davon, wenn wir heute abend ne Party für alle feiern? So zur Begrüßung? Ich mach die Getränke, du das Essen und die Band die Mucke!“

„Gute Idee“, sagte Mama begeistert. „Wie wär´s mit Bananencharcuterie, Bananenauflauf und zum Schluß mit einem Bananensoufflé?“

Tussi war einverstanden, und Mama sauste los zum Bananensammeln.

„Vergiß nicht, die Zeituhr auf „vorwärts“ zu programmieren“, rief Tussi ihr nach, „sonst wird das mit dem Essen nie was…“


 

Tussigödelescherbach

 


Auch eine vierdimensionale Welt mit variabler vorwärts- oder rückwärts laufender Zeit ist nicht so kompliziert, wie mensch sich das vorstellt – gorilla kommt damit glänzend zurecht. Mamas Festessen gelang hervorragend. Alle Affen fraßen sich so voll, daß sie anschließend nur mit Mühe in ihre Blätternester wanken konnten, und die Gorillas, die ihre Schlafstätten unvorsichtigerweise in der luftigen Höhe von 50 Zentimetern gebaut hatten, bezahlten ihre Tollkühnheit in der Nacht nach dem Festmahl damit, daß ihr Schlafzimmer wegen Überlastung unsanft auf den Boden krachte. Im Tussisee stieg der Wasserspiegel um 40 Zentimeter, weil jede Kaulquappe ihr Volumen verdoppelt hatte. (11) Sogar die cleveren Schmetterlinge hatten Mühe, so elegant wie gewohnt auf ihren Lieblingsblüten zu balancieren, weil sie in unbeobachteten Augenblicken reichlich vom Bananenwein genascht hatten.

Es hatte sich also im Urwald nichts geändert – wenn alle Tiere gemeinsam ein Fest feierten und die Zeit vorwärts lief, war das schon immer so gewesen. Aber – nicht immer taten alle alles gemeinsam! Und manchmal lief die Zeit nicht vorwärts…

Vanilla und Bobbo entwickelten einen großen künstlerischen Ehrgeiz. Sie waren sich dessen nicht bewußt, und wenn man sie gefragt hätte, warum sie das taten, hätten sie keine Antwort gewußt – schließlich hatten sie schon vorher einen riesengroßen Erfolg gehabt. Aber sie spürten tief in ihrem Innersten, das nur die Tiefenpsychologie (12) hätte erklären können, daß sie Tussis wegen so handelten. Irgend etwas fehlte der Fröschin, und sie versuchten, ihr das zu ersetzen.

So gut sie einander auch verstanden – beim Komponieren gingen ihre Vorstellungen oft auseinander. Vanilla ließ sich von Stimmungen und von Dope inspirieren, während Bobbo immer Stapel von Büchern mit sich herumschleppte, literarische Vorlagen zitierte und auf musikalisch-ästhetische Theorien verwies. Manchmal konnte es dabei ganz schön heiß hergehen – Vanilla klimperte einfach selbstvergessen ein Riff vor sich hin, worauf Bobbo sofort kritisierte, daß dabei zwar Zwölftonmusik angelegt, aber nicht konsequent durchgehalten worden sei, wo doch die Werke der Gorillas Berg und Schönberg zeigten, wie man das richtig mache, und auch schon bei dem polnisch-spanischen Affen Chopin sei davon etwas spürbar, obwohl der natürlich theoretisch noch gar nicht begriffen habe, was der da mache, aber kein Wunder, er war ja auch kein Afrikaner…

Als Bobbo begann, Vanilla einen Vortrag über europäisch-afrikanische Harmonielehre und die Ursprünge der Musik der zivilisierten Welt in Ägypten und Griechenland zu halten, war Vanillas Geduld zu Ende, und er begann eine ernsthafte Prügelei mit Bobbo, die zuerst zu blauen Flecken, dann zu Knutschflecken und endlich zu einem urwalderschütternden gemeinsamen Orgasmus führte. Trotz des Happyends zogen die beiden aus dieser Erfahrung eine sinnvolle Konsequenz: In Zukunft wollten sie erstmal getrennt schöpferisch tätig sein und dann in Ruhe ihre Ergebnisse miteinander austauschen.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen packte Bobbo einen Rucksack voller Bücher zusammen und stapfte tief in den Regenwald, um zu texten. Da er zwar wußte, daß er das gut konnte, aber auch glaubte, die alten Meister Literatiens nicht erreichen zu können, las er unter einem Uruburubaum erst mal stundenlang Gedichte – natürlich von Gorilla Göte, aber auch von seinen anderen literarischen Lieblingsaffen: Schiller, Rilke, George und Benn.(13) Von so viel Lyrik wurde er allmählich ganz schläfrig, das gerade aufgeschlagene Buch glitt ihm aus der Hand, er blinzelte noch ein wenig durch die Blätter in den grünen Himmel und sank dann in einen schöpferischen Schlummer.

Als er erwachte, war der Text für Vanillas neuesten Song in seinem Kopf fix und fertig, und er brauchte ihn nur noch mit einem Lianengriffel in ein großes Arabarablatt zu ritzen:

„Ein Affe auf der Wiese stand
Unschuldig noch und unbekannt;

Es war ein süßer Affe.

Da kam ein junger Gorilla hin

Mit leichtem Schritt und munterm Sinn

Dahin, dahin,

Die Wiese hin, und sang.

Ach! denkt der Affe, wär ich nur

Das schönste Männchen der Natur,

Ach, nur ein kleines Weilchen,

Bis mir Gorilla zugenickt

Und dann ein bißchen sanft gefickt!

Ach nur, ach nur

Ein Viertelstündchen lang!

Ach! aber ach! Gorilla kam

Und gar nicht sanft den Affen nahm,

Reißt auf den armen Affen.

Er sank und litt und freut` sich noch:

Und leid ich denn, so leid ich doch

Durch ihn, durch ihn,

Zu seinen Füßen doch.

 

Die letzten Verse kritzelte Bobbo hastig auf das Blatt, denn es begann bereits zu dämmern. Eilig warf er seine Bücher in den Rucksack, pflückte sich noch eine Banane als Wegzehrung – erst jetzt bemerkte er, wie hungrig ihn die schöpferische Tätigkeit gemacht hatte – und schlug den Weg nach Hause ein, wo Vanilla schon sehnsüchtig auf ihn wartete.

Vanilla hatte zum Komponieren Mamas Nähe gesucht – er liebte es, wie in seiner Kindheit ihren Geruch zu verspüren, und wenn sie beim Kochen vor sich hin murmelte, inspirierte ihn das. Und Mamas Lieblingstätigkeit hatte natürlich einen angenehmen Nebeneffekt: Gekochtes konnte man essen, und Vanilla futterte noch immer für sein Leben gern. Heute servierte sie eines ihrer Meisterwerke: Bananenkeulchen, gefüllt mit Mango-Blättermousse. (14)

Vanilla komponierte und aß, aß und komponierte. Mit seiner schöpferischen Tätigkeit, das registrierte er ab und zu aus den Augenwinkeln, schien er mal wieder den Nerv des Urwalds zu treffen: Alles, was lebte (15), zuckte im Rhythmus seiner neuen Melodie. Nach dem opulenten Essen übte er einige schwierige Stellen noch ein paarmal, bevor er sich den verdienten Verdauungsschlaf gönnte – er war so müde, daß ihn auch die Schmetterlinge, die unbedingt weiter nach seiner Mucke tanzen wollten, lange Zeit nicht wachkitzeln konnten.

Nach Stunden gelang ihnen das aber doch: Vanilla rieb sich die Augen und stellte fest, daß die Sonne schon tief am Horizont stand. Gereizt wischte er den Schmetterlingsschwarm zur Seite und hielt Ausschau nach Bobbo, aber von dem war nichts zu sehen. Um ihn war Stille, abgesehen von wohligem Grunzen: Die gesamte Gorillahorde hatte sich an Mamas Festessen gütlich getan. Es dunkelte. Vanilla begann, sich Sorgen zu machen: Er wußte, daß Bobbo sich tief in den Urwald zurückgezogen hatte. Wenn er sich nun in der Nacht verirrte? Er mußte ihn suchen gehen!

Leider schlief auch Mama tief und fest, und Tussi hockte melancholisch unter der Wasseroberfläche ihres Sees: So konnte ihn niemand aufhalten oder vor den Gefahren der neuen Welt warnen.

Vanilla brach auf. Er tauchte ein in die Nacht des Regenwaldes. Schwärze umgab ihn. Immerhin hatte er seine Gitarre mitgenommen, in der Hoffnung, daß Bobbo hören würde, wenn er spielte. Und so spielte er denn, während er ging. Der Nachteil dieses Verfahrens bestand darin, daß er sich nicht mit den Händen vorwärts tasten konnte, und so rummste er immer wieder gegen dicke Bäume und verfing sich in Lianen. Zum Glück hatte er ja gut gesessen, so daß ihn die Energie nicht verließ. Aber weil es so stockfinster war, bemerkte er nicht, daß sich um ihn herum plötzlich eine Veränderung vollzog: Blätter schrumpften allmählich und wechselten die Farbe von dunklem zu hellem Grün. Ganz junges Laub zog sich wieder in die Knospe zurück. Nachtschmetterlinge wurden starr und falteten sich zusammen, und um sie herum wuchs eine Chitinhülle. Fast unmerklich schrumpften alle Pflanzen.

Unverdrossen stapfte Vanilla vorwärts und rief Bobbo mit seiner Gitarre. Ab und zu schrie er auch:

„BOBBO!“

Endlich, nachdem er schon vierundfünfzig blaue Flecken hatte, hörte er schwach in der Ferne eine Antwort:

„VANILLA!“

Hurra, es war geschafft! Abwechselnd rufend und mit schrillen Cis-Dur-Akkorden der Gitarre bewegten sich Bobbo und Vanilla aufeinander zu. Lauter und klarer wurden ihre wechselseitigen Signale. Bald hörten sie einander so deutlich, daß sie meinten, nur wenige Meter voneinander entfernt zu sein – aber dann verloren sie einander wieder. Eben hatten sie noch miteinander in Gorillanestlautstärke reden können, und jetzt mußten sie wieder brüllen, wenn sie überhaupt noch einen Laut vom anderen wahrnehmen wollten. Was war das? Wahrscheinlich nur äffische Dummheit – sie versuchten es ein zweites Mal, ein drittes, ein viertes, schließlich hörten sie auf zu zählen. Sie liefen einfach weiter und riefen einander, die ganze Regenwaldnacht lang, bis sie beide fast gleichzeitig mit dem Kopf gegen einen niedrighängenden Ast bumsten und k.o. zu Boden gingen.

Die Sonne ging über dem Gorillawald auf. Eine ganz junge violette Orchidee blinzelte in den grünen Himmel und zog sich in ihre Knospe zurück. Vanilla und Bobbo fühlten die warmen Strahlen, drehten sich einmal um ihre Längsachse und schlugen die Augen auf. Vanilla sah Bobbo. Bobbo sah Vanilla. Beide waren genau zwei Meter voneinander entfernt.

„Wieso bist Du denn hier? Ich habe Dich die ganze Nacht lang gesucht!“ sagten sie wie aus einem Mund.

Aber dann mußten sie einander erstmal herzhaft begrüßen, und dazu brauchten sie keine Antworten, wohl aber eine halbe Stunde. Danach versuchten sie, das Rätsel zu lösen. Bobbo schlug vor, die Spuren der nächtlichen Suche zu verfolgen, und als sie das taten, stellten sie fest, daß jeder von ihnen immer denselben Weg gegangen war, und zwar in einer fast perfekten Acht – in dieser Form war das Urwaldgras niedergetrampelt. Bobbo hatte natürlich in seiner Halbstarkenzeit Karl May27 gelesen und tat sich deshalb etwas auf seine Fähigkeiten als Spurensucher zugute: Er fand heraus, daß einzelne Grashalme im Winkel von 180° zueinander standen. Beide waren also in entgegengesetzter Richtung aufeinander zugegangen und hatten sich wieder voneinander entfernt, sie hatten einen einmal eingeschlagenen Pfad nicht wieder verlassen, und sie hatten sich nicht finden können, obwohl sie einander ganz nahe gewesen waren – merkwürdig!

Bobbo und Vanilla sahen einander an und verständigten sich ohne Worte, daß sie dieses Rätsel vorerst nicht lösen könnten. Sie waren auch viel zu froh, daß sie sich wiedergefunden hatten, sie wollten sich jetzt nicht mit Problemen beschäftigen. Und beide waren neugierig: Was hatte ihre schöpferische Isolation gebracht?

„Was hast Du gedichtet?“

„Was hast Du komponiert?“

Die Fragen kamen gleichzeitig. Um auszuknobeln, wer anfangen sollte, schlossen sie eine Wette auf die nächste Flugbewegung eines gelben Schmetterlings ab, der vor ihnen herumtanzte: Würde er rechts- oder linksherum fliegen? Bobbo gewann, also mußte Vanilla anfangen.

Vanilla griff seine Gitarre und präsentierte seine Komposition von gestern. Sofort beschlich ihn ein ungutes Gefühl: Irgendwie klang alles falsch. Bobbo hielt sich schon nach wenigen Akkorden die Ohren zu. Nur mit Mühe spielte Vanilla zu Ende.

„Was hast Du denn da gemacht?“

Vanilla antwortete nicht. Seine Musik hatte für sich selbst gesprochen. Das war einfach Mist. Komisch war nur, daß gestern der ganze Urwald mit seiner neuen Komposition mitgeswingt hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr – er hatte offensichtlich versagt.

Klaglos ertrug er daher, daß Bobbo die Gelegenheit nutzte, um einen seiner Vorträge über Kompositionslehre loszuwerden – ein hochgradig verunglückter Krebsgang, so lautete das Urteil, sei Vanillas neueste Kreation. Weil es im Gorillawald keine Krebse gab, wußte Vanilla nicht genau, was Bobbo meinte, aber er akzeptierte sein Urteil: Was er da gerade vorgespielt hatte, war ganz bestimmt kein Hit!

Trotz allem behielt Vanilla seine gute Laune: Auch Naturtalente müssen mal schwache Stunden haben dürfen! Und da war ja noch Bobbo: Sicher hatte der einen so geilen Text gedichtet, daß ihm gar nichts anderes übrigblieb, als dafür eine fetzige Melodie zu schreiben.

Bobbo war durchaus bereit, das Ergebnis seiner schöpferischen dichterischen Tätigkeit zu präsentieren, aber bitte nicht gleich. Er hatte einen doppelgorillösen Hunger, und das war auch kein Wunder, denn er hatte seit Stunden – mit Ausnahme einer Wegzehrungsbanane – nichts gegessen. Als Vanilla ihm weitere Bananen anbot, weil er möglichst hier und jetzt Bobbos neuesten Text kennenlernen wollte, winkte der angewidert ab:

„Ich brauch jetzt erstmal was Warmes!“

Eigentlich eine gute Idee – auch Vanilla konnte nach der anstrengenden Nacht schon wieder einen kräftigen Appetit entwickeln. Also auf zu Mama und ihren Bananenfrühstückspfannkuchen!

Zu Hause hatte niemand ihr Fehlen bemerkt, und so gab es keine lästigen Fragen. Nachdem sie sich gestärkt hatten, konnte Bobbo sich nicht länger zieren, und er begann, seinen Text vom Arabarablatt abzulesen:

„doch Füßen seinen zu

ihn durch, ihn durch,

doch ich leid so, denn ich leid und

:noch sich freut` und litt und sank er

.Affen armen den auf Reißt

,nahm Affen den sanft nicht gar Und

,kam Gorilla !ach aber !Ach“.

„Ach!“ sagte Vanilla.

„Stimmt was nicht?“ fragte Bobbo.

„Das ist der größte Scheiß, den ich je gehört habe!“

„Wieso? Das ist eine Gorilla-Göte- Adaption!“

„Scheiß auf Gorilla Göte!“

Damit hatte Vanilla Bobbo in seinem Innersten gekränkt. Nun gut, der Text klang anders als im Urwald, als er ihn gedichtet hatte, er klang, zugegeben, wesentlich schlechter – aber das war noch lange kein Grund, Gorilla Göte in den Dreck zu ziehen.

Bobbo rastete aus. Es begann die größte Prügelei, die die Gorillahorde jemals gesehen hatte. Vanilla wehrte sich nach Kräften. Es hagelte blaue Flecken. Aber diesmal wurden aus blauen Flecken keine Knutschflecken, sondern dunkelviolette Beulen. Vanilla und Bobbo fochten einen Kampf auf Leben und Tod aus, dem Mama und die Silberrücken hilflos zusahen. Schlag folgte auf Schlag. Aber beide waren gleich stark, und bevor sie einander endgültig außer Gefecht setzen konnten, torkelten sie, beschleunigt vom letzten Schwinger, in verschiedene Richtungen in den Urwald davon.

Gelähmt vor Schrecken starrte Mama ihnen nach.

„Hilf, Tussi!“ murmelte sie.


 

Das ist ja zum Verrücktwerden

 


Zuerst aber mußte Mama sich mal erholen, und das war auch kein Fehler. Es hätte ihr nämlich gar nichts genützt, wenn sie gleich zum Tussisee gestapft wäre, um ihre Froschfreundin um Rettung zu bitten. Tussi hatte sich tief in den schlammigen Seeboden hineingewühlt und ihre Ohren erfolgreich mit Matsch verstopft, so daß sie nichts zu hören brauchte. Dort hockte sie seit Tagen und tauchte auch nicht auf, als die verzweifelte Mama sie endlich besuchte, um mit ihr zu konferieren.

„Tussi!“ rief Mama zunächst mit Normallautstärke und dann immer greller, immer schriller, bis sie sich zu einem Kreischen steigerte, das normalerweise nur die Silberrücken ausstoßen, wenn es um einen Kampf auf Leben und Tod (16) geht. Aber ihr antwortete nur die geräuschvolle Stille des Urwalds. Tussis Kinder allerdings hatten sich nicht in Schlamm und Melancholie zurückgezogen, sie hatten nur Rücksicht auf ihre Mutter genommen und sich ihretwegen dezent leise verhalten. Als sie Mama aber so herzzerreißend kreischen hörten, mußten sie sich bemerkbar machen. Wie auf Kommando bildeten sie einen Kreis am Seeufer – sie kamen aus dem Wald und aus dem Wasser, sie hatten unterschiedliche Entfernungen zurückzulegen, aber sie trafen gleichzeitig ein und arrangierten sich ästhetisch – und begannen einen Mama-Trostgesang:

„Schlaf, Mama, schlaf,

Vanilla ist ein Schaf!

Und Tussi macht bald alles heil,

dann ist das Leben wieder geil,

schlaf, Mama, schlaf!“

Der Song war selbstgemacht und erreichte deshalb nicht die ästhetische Qualität von Bobbos Libretti, aber er erfüllte seinen Zweck: Mama schlief ein. Nachdem eine Kaulquappenabordnung sich davon überzeugt hatte, daß die Gorillafrau die Tiefschlafphase erreicht hatte – sie zwickten sie dazu sanft ins linke Ohr -, begannen sie in einer Seebucht in der Nähe eine Froschkinderkonferenz.

Eine Quappe, die schon fast vier Gliedmaßen und kaum noch einen Schwanz hatte, also nahezu ausgewachsen war, übernahm die Diskussionsleitung.

„Schwestern und Brüder, Kaulquappinnen und Kaulquappen!“ rief sie in das allgemeine Quaken hinein, „ich bitte um Ruhe und Disziplin! Während der Dauer dieser Konferenz herrschen Quak- und Hüpfverbot!“

Es erhob sich kaum Protestgemurmel gegen diese Anordnung – zwar gehören Quak- und Hüpfverbot zum Schlimmsten, was werdenden Fröschen angetan werden kann, aber außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Verbote.

Das betonte auch die Vorsitzende:

„Schwestern, Kaulquappinnen! (17) Es erübrigt sich, Euch lange Vorträge zu halten. Wir alle wissen, wie ernst die Lage ist. Für die jüngsten unter Euch fasse ich das Wichtigste kurz zusammen:

Unsere Mutter leidet unter schweren Depressionen.

Unter den Gorillas ist Feindschaft ausgebrochen.

Die Urwaldkultur ist in Gefahr.

Mamas neue Welt ist zu kompliziert für die meisten Regenwaldbewohner.

Schwestern, was sollen wir tun?“

Weil zwar Quak- und Hüpf-, nicht aber Redeverbot angeordnet worden war, sprachen alle auf diese Frage hin sofort durcheinander. Nur mühsam konnte die Vorsitzende Ruhe herstellen, indem sie sich laut klatschend mit den Händen auf ihre Schallkörper schlug. Sie verzichtete darauf, der Versammlung ihr Mißfallen über den Tumult kundzutun, sondern sagte nur pädagogisch:

„Ich eröffne hiermit die Rednerliste!“

In schneller Folge wurden Vorschläge in die Runde geworfen:

„Wir suchen Bobbo und Vanilla und versöhnen sie wieder!“

„Wir tauchen in den See und kitzeln Mama so lange, bis sie lachen muß!“

„Vanillas Mama soll mal wieder ein 7-Gänge-Menü kochen, dann vertragen sich alle bestimmt wieder!“

„Gute Idee, und dazu spielen wir alte Platten von unserer Band.“

„Wir bringen dem Ältestenrat ein Ständchen und sagen ihm, daß er Ordnung schaffen soll – schließlich ist er ja für Krisensituationen da!“

Nach der ersten Brainstorming-Phase, in der nur Vorschläge gemacht wurden, begann die Kritik. Obwohl niemand es aussprach, zeigte sich in der Diskussion, welch einen riesigen Respekt die Quappen vor ihrer Mutter hatten: Kaum jemald erwärmte sich für den Vorschlag, Tussi aus ihrer selbstgewählten Isolation herauszuholen. Die Ablehnung dieser Idee begründeten sie medizinisch („Jede Krankheit braucht ihre Zeit.“) und psychologisch („Mama mußte in der letzten Zeit so viel arbeiten, daß sie jetzt unbedingt eine Ruhepause braucht.“). Den wahren Grund („Tussi wird uns fürchterlich verprügeln, uns in Stücke hacken, uns vielleicht wegdenken, wenn wir sie zur Unzeit stören.“) nannte niemand – soweit geht auch unter jungen Fröschen die Ehrlichkeit nicht.

Schließlich einigten sich die Quappen auf das, was auch den Menschen früher immer eingefallen war, wenn sie keine Lösung wußten oder zu faul waren, sich eine zu überlegen: Sie setzten eine Kommission ein.(18) Sie allerdings brauchten keine einzusetzen, denn es gab ja schon eine: Wozu existierte sonst der Ältestenrat?

Die Sprecherin der Versammlung zog zusammen mit 49 anderen (19) Auch-Schon-Fast-Fröschen zu den zentralen Gorillanestern und fand dort erwartungsgemäß den Ältestenrat versammelt. Die alten Herren hockten vorschriftsmäßig (20) im Kreis, aber schon bei der Ankunft der Delegation zeigte sich, daß sie keineswegs in der Stimmung waren, die einer fruchtbaren Verhandlung dienlich sein konnte.

„Bringt Ihr was zu essen?“ knurrte der älteste Siberrücken die Kaulquappen an.

Die Frage war nicht ungewöhnlich, aber schlimm war, daß sie sofort geäußert wurde. Nach allen Regeln der Gorilla- und Froschhöflichkeit gehört an den Anfang einer offiziellen Begegnung eine Plauderei über das Wetter, die Beschaffenheit der Uruburublätter in der Saison und die Wassertemperatur im Tussisee. Hier war also etwas faul, und die Sprecherin der Abordnung erkannte das sofort.

Diplomatisch versuchte sie, die Situation zu überspielen:

„Nein, leider nicht, aber…“

Der alte Herr ließ sie nicht ausreden.

„Dann haut ab!“ krächzte er und wollte sich drohend aufrichten. Aber es blieb beim Versuch: Er sackte kraftlos in sich zusammen. Nach einer Pause hatte er genug Energie für eine Erklärung gesammelt, die zumindest den Schein der Höflichkeit wiederherstellte: „Wir haben Hunger! Seit Stunden gab es nichts zu essen! Unsere Köchin ist spurlos verschwunden!“

Köchin??? Mama! schoß es durch die Köpfe der 50 Kaulquappen.

„Das tut uns leid“, versetzte die Delegationsleiterin. Sie hatte noch immer die Hoffnung, trotz der unglücklichen Ausgangssituation eine fruchtbare Verhandlung in Gang setzen zu können. „Mama, also, Eure Köchin, ist krank. Wir haben sie in einen Heilschlaf versetzt. Sie muß lange Zeit, also mindestens…“

Vorsichtig versuchte sie dem Ältestenrat zu erklären, daß ein Gorillaheilschlaf 50 Stunden braucht. Aber die Silberrücken hörten ihr nicht zu. Wenn sie ehrlich war, konnte sie das auch verstehen. Sie selbst konnte sich ja nicht mehr zuhören. Automatisch redete sie weiter, trotz des grauenhaften Anblicks, der sich ihr bot.

Die alten Gorillas veränderten sich. Ihre Haare, die grauen, die weißen und die noch braunen, krümmten sich nach innen. Zugleich wuchs das Fleisch nach außen. Muskeln und Fettgewebe bildeten die Körperoberfläche. Aber auch sie hatten nur wenig Zeit, sich der Sonne unter dem inzwischen grün gewordenen Himmel auszusetzen. Kaum waren sie zur Körperoberfläche geworden, zogen sie sich wieder zurück. Statt ihrer erschienen die inneren Organe. Aber auch die wurden verdrängt: Jetzt beherrschte das Skelett das Feld. Aber nicht das Skelett, wie es jeder junge Gorilla und jede Kaulquappe aus dem Anatomieunterricht kennt: Die Knochen, die eben sein sollten, waren gewölbt, was konvex sein sollte, war konkav. Und umgekehrt.

„Und deshalb müssen wir…“ erklärte sie kraftlos des falsch konstruierten Skeletten mit Fleischfüllung und blickte sich hilfesuchend zu ihren Gefährtinnen um. Aber da war niemand. Entsetzt machte auch sie kehrt und nahm, bevor sie in den Tussisee tauchte, noch einen ordentlichen Haps Teichrosenblatt (21).

—–

Was also sagt unsere Zwischenbilanz?

Die Bewohner des Tussisees schlafen.

Mama auch.

Die Silberrücken sind in einem schwer beschreibbaren Zustand.

Nur Bobbo und Vanilla könnten, falls sie sich wieder von ihrer letzten Prügelei erholt haben, noch aktionsfähig sein. Aber sie sind verfeindet.

Und der Himmel macht, was er will: Mal ist er grün, mal blau…

—–

Was machen Gorillas, wenn sie verletzt sind? Und verletzt worden sind? Klar – sie setzen sich in ein selbstgemachtes Uruburubaumblattnest und kauen ihren Körper an der Blattdiät gesund. Da das mindestens zwei Wochen dauert, heilt ihr Geist inzwischen an der Einsamkeit.

Vanilla und Bobbo waren also allmählich wieder genesen. Aber natürlich, trotz der identischen Heilmittel, auf unterschiedliche Weise. Bobbo fand, sobald er wieder einen Buchstaben vom andren unterscheiden konnte, Trost bei Gorilla Göte:

„Wie alles sich zum Ganzen webt,

Eins in dem andern wirkt und lebt!

Wie Himmelskräfte aud und nieder steigen,

und sich die goldnen Eimer reichen!“


 

Dialog

 


– Scheißemerdemiedashitmistallesschiefgelaufenmistmierdapsiakrev…

– Ist Dir nicht gut?

-Scheißeneinmiristnichtgutallesistschiefgegangenundichbinschuldundichwillniewieder

hierhochkommenundichbleibehierfürimmerundsteckedieSchwellkörperindenSchlammund…

– Ich bin der Herr, Dein Hirte.

– Was ist los?

– Ich bin der Herr, Dein Hirte.

– Das hab ich schon mal gehört.

– Dir wird nichts mangeln.

– Bescheuerter Quatschkopf, mir fehlt eigentlich alles.

– Ich weide Dich auf einer grünen Aue…

– Bisher habe ich meine Wiesen immer alleine gefunden…

– …und führe Dich zum frischen Wasser.

– Merkst Du Idiot eigentlich nicht, daß ich mitten in meinem See hocke?

– Ich erquicke Deine Seele!

– Schön – mach mal!

– Um meines Namens willen!

– Interessant. —- Wie heißt Du eigentlich?

– Ich bin der Herr, Dein Gott.

– Angenehm – ich bin Tussi, Deine Göttin.

– Falsch! Ich bin der Herr, Dein Gott!

– Typ, Du wiederholst Dich!!

– Du sollst keine andern Götter neben mir haben.

– Einverstanden – keine andern Götter neben mir!

– Du hast mich mißverstanden: neben mir!

– Das können wir jetzt wiederholen bis zum Sankt-Tussi-Tag.

– Bis zum Jüngsten Tag.

– Sag mal, wie heißt Du denn nun wirklich?

– Ich bin, der ich bin. Alle nennen mich Gott.

– Und wie bist Du zu Deinem Job gekommen, Du so-genannter Gott?

– Ein paar Jahrhunderte vor Christus…

– Wer ist denn das schon wieder?

– Mein Sohn. Ein paar Jahrhunderte vor ihm war da ein Volk, das in Anbetracht überlegener Feinde einen Motivationsschub brauchte. Deshalb hat es mich als angeblichen Siegesgaranten erfunden. Die Juden haben trotzdem häufig verloren, aber sie haben immer weiter an mich geglaubt.

– Menschen…Und wieso hast Du dann für sie einen Sohn geboren?

– Nicht eigentlich geboren. Sie haben es geweissagt: Und es wird eine Rute aufgehen…

– Rute, hihi…

– …von dem Stamm Isais; uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewigvater, Friedefürst; eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel.

– Also noch nicht mal auf den Namen konnte sich Dein Menschenvolk einigen? Und Du hast das gemacht, nur weil sie´s wollten? Mit ner Jungfrau?

– Klar, weil sie´s wollten. Was wäre ich ohne den Glauben der Menschen? Ein unangenehmes Exemplar der Gattung hat das mal auf den Punkt gebracht:

„Ich kenne nichts Ärmeres

unter der Sonn als euch, Götter!

Ihr nähret kümmerlich

Von Opfersteuern

Und Gebetshauch

Eure Majestät

Und darbtet, wären

Nicht Kinder und Bettler

Hoffnungsvolle Toren.“

Hieß, glaube ich, Goethe oder so. Wurde nicht gerettet, sondern gerichtet. Und was die Jungfrau angeht: Die Juden haben die Geschichte sowieso nicht geglaubt, sondern meinen Sohn hingerichtet, aber die Christen ein paar Jahrhunderte später…

– Stop, das wird mir jetzt viel zu kompliziert. Außerdem habe ich sowieso schon Kopfschmerzen. Also – Du bist nur virtuell?

– Ich bin, der ich bin!

– Hat die Redundanz was mit Deinem jugendlichen Alter zu tun?

– Bitte?

– Schon gut. Bisher hab ich folgendes kapiert: Du bist eine Kopfgeburt der Juden. Und so richtig erfolgreich ist Deine Story nicht. Wahrscheinlich interessiert Dich auch, wer ich bin: Tussi, Myriaden Jahre alt. Gestalt wandelbar, beliebte Inkarnation: Fröschin. Job: Arrangement des Weltalls, Behebung größerer Störungen, künstlerische Gestaltung neuer Galaxien.

– Laß mein Volk, daß es mir diene!

– Gott…

– …danke…

– …bist Du hartnäckig!

– Ich, Gott, bin ein eifersüchtiger Gott… hast Du eigentlich gar keine Fehler?

– Jede Menge!

– Ich nicht! Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige!

– Grammatisch anzweifelbare Zeitenfolge, mein Lieber! Und wie war das mit Goethe? Also gut, ich fang an. Du kannst ja offenbar keine Fehler zugeben. Ich bin in der letzten Zeit beim Galaxienbasteln zu sehr in die Details gegangen. Hab da nicht nur Sonnen und Planeten in die Gegend gesetzt, sondern sie auch mit Leben beglückt. Du weißt ja vermutlich, wie das geht: Frau nehme ein bißchen Spucke…ach nein, weiß Du ja nicht, Du bist ja selbst von der Spucke erst ausgedacht worden. Also lies mal Lem. Oder kannst Du nicht lesen? Nur diktieren? Spannendes philosophisches Problem, muß ich bei Gelegenheit mal lösen: Wie diktiert eine virtuelle Existenz? Zum Thema: Ich bin zu sehr in die Details gegangen. Habe Menschen gemacht…

– Ich auch, ich auch: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.

– Und darauf bist Du stolz?

– Und ich sah an alles, was ich gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

– Sag mal….hast Du ne Zeitrechnung?

– Vor mir sind tausend Jahre wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre!

– Schon gut, ich verstehe. Was meinst Du – ist seit Deiner Schöpfung viel Zeit vergangen?

– Ziemlich viel.

– Kannst Du Dich noch an Deine ursprüngliche Schöpfung erinnern?

– Und ich ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen. Und es ging aus von Eden ein Strom, zu wässern den Garten. Und ich nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn baute und bewahrte.

– Und? Hast Du Dir Dein Werk in der letzten Zeit mal wieder angesehen?

– Jaaa…

– Du willst wohl nicht darüber reden?

– Eigentlich nicht. Aber ich muß wohl: Ich trat an den Sand des Meers und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seine Häuptern Namen der Lästerung. Und der ganze Erdboden betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kriegen? Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott. Und ihm ward gegeben Macht über alle Geschlechter und Sprachen. Und alle, die auf Erden wohnen, beten es an.

– Mußt Du Dich eigentlich so komisch ausdrücken? Aber okay, mir scheint, wir können uns auf folgendes einigen: Die Erde ist inzwischen ziemlich Scheiße!

– Deine Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein — wie hast Du gesagt? Okay!

– Liegt Dir was an ihr?

– An der Erde?

– Woran sonst?

– Woran sonst? Darf ich Dich an Goethe erinnern? Ohne die Erde…

– ….bist Du nie gedacht, schon gut. ICH könnte schon ohne die Erde leben…sag mal, kannst Du schweigen?

– Dein Glaube hat Dir geholfen, gehe hin in Frieden.

– Ach, so machst Du das?

– So steht es geschrieben.

– Kannst Du nicht mal sprechen?

– Kaum noch – es glaubt fast niemand mehr an mich. Ich schwinde. Meine Schuld. Paulus hat alles versaut.

– Das ist mir schon wieder zu kompliziert. Ich habe auch alles versaut. Ich habe auf Schlampanski gebaut. Und mich in Murkel verliebt.

– Ich verstehe kein Wort.

– Kein Wunder.

– Meine Wege sind wunderbar…

– Hör auf zu sülzen!

– Du hast ja recht! Ob wir das gemeinsam noch mal schaffen?

– Gemeinsam? Daß ich nicht kichere! Hast Du nicht eben gerade zugegeben, daß Du impotent bist?

– Na ja…

– Wie war das vorhin: „Deine Rede sei ja, ja, nein, nein“ – von „na ja“ hast Du da nichts gesagt.

– Also – da ist vielleicht noch jemand…

– Noch ein sogenannter Gott?

– Meine Konkurrenz. Die Höllenbrut dürfte noch am Leben sein. Allerdings sind sie mir vermutlich ziemlich böse, weil ich sie in die Verdammnis verbannt habe.

– Ach, die Bande meinst Du? Nee, mein Lieber, die lassen wir gefälligst aus dem Spiel. Erstens habe ich als Fröschin was gegen Schlangen. Und zweitens kommt der Verein immer so verquast mythisch-aufklärerisch daher und verspricht ungeeigneten Subjekten die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse – und raus kommt mit großer Wahrscheinlichkeit eine Mischung zwischen Deinem Paulus und meinen Holzfällerherren.

Laß mich mal nachdenken…

Ich glaube, ich habe eine bessere Idee. Ich werde erstmal davon absehen, dich wegzudenken – wäre auch überflüssige Energieverschwendung, schließlich erledigst du dich sowieso in Kürze von allein. Andererseits bist du zwar ein bißchen komisch, aber nicht ganz unsympathisch.

Sag mal – magst du eigentlich Tiere? Plüschtiere? Und Gorillas?

– Und ich sprach: Die E rde bringe hervor lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art. Und ich machte die Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art, und das Vieh nach seiner Art, und allerlei Gewürm auf Erden nach seiner Art. Und ich sah, daß es gut war.

– Deine Redundanz solltest du dir dringend abgewöhnen, sonst überleg ich mir´s noch mal! Okay – packen wir´s an!


 

New World

 


  1. Am letzten Anfang vernichtete Tussi die vierdimensionale Erde mit der zweideutigen Zeit.
  2. Und es war ein Loch im Universum, und die Materie war über Lichtjahre zerstreut, und Tussi plante Neues.
  3. Und Tussi wandte die einheitliche Feldtheorie an und modellierte einen Planeten nach dem bewährten Gaia-Vorbild.
  4. Und Tussi betrachtete ihn kritisch, war´s zufrieden und versetzte ihn deshalb in Rotation.
  5. Und schon war der erste Erdentag geschafft.
  6. Und Tussi modellierte noch ein wenig in liebevoller Kleinarbeit, kratzte den Marianengraben tiefer aus und erhöhte den Himalaya, und schuf viele seichte Flußdeltas für riesige Froschfamilien.
  7. Und weil Tussi schneller und effektiver arbeitete als göttliche Kopfgeburten, schuf sie gleich anschließend Pflanzen, achtete auf die Artenvielfalt und siedelte das Grünzeug in funktionierenden Ökotopen an.
  8. Und Tussi setzte vom Einzeller über den Krill bis hin zum Wels und zum Walfisch alles Getier in Flüsse und Meere, was da hineingehörte, und erschuf auch fast alle Vögel. Den Storch ließ sie aus alter Feindschaft ungeboren, aber dafür begrenzte sie künftigen Froschlaich auf maximal 50 Eier.
  9. Und Tussi kreiierte die Tiere des Landes, und sie gab ihnen Lebensraum in Arktis und Antarktis, in kaltgemäßigten und warmgemäßigten Gebieten, in Tropen und Subtropen. Besondere Liebe aber verwandte sie auf die friedlichen Gorillas, die sanften Bewohner des Regenwaldes.
  10. Und Tussi sprach: Lasset uns Gorillas machen, die Wein ziehen und Schlampanski zu destillieren verstehen, auf daß sie allezeit eine zufriedene Göttin haben. Mama, die begnadete Köchin, ihre Kinder, die Silberrücken und Bobbo sollen der Kern meines Volkes sein.
  11. Und es funktionierte, und Tussi genoß den ersten Schluck ihres Lieblingsgetränks, und sie fiel vor ihrer krönenden Abschlußschöpfung in einen erholsamen Schlaf.
  12. Und Tussi rieb sich zwischen den Beinen und sagte: Lasset uns Plüschtiere machen in großer Zahl, daß sie den lebendigen Tieren in ihrer Friedfertigkeit ein dauerndes Vorbild seien, und vor allem meinen geliebten Murkel, den Plüschhund, zu unserer ekstatischen Freude bis zur nächsten Inkarnation.
  13. (13!) Und siehe, die neue Welt war sehr gut, weil es in ihr keine Menschen gab und die Bibel ungeschrieben bleiben konnte.
  14. Und alle Pflanzen und alle Tiere waren fröhlich, genossen das Leben mit leiblichen und seelischen Genüssen und liebten einander und das Leben.
  15. (Sogar Gott lebte weiter, weil er sich seinen Dogmatismus abgewöhnt hatte und Tussi deshalb ab und zu ein paar Worte mit ihm wechselte.)

Fußnoten:
1.
„Du mußt an den Hafen gehen und schauen, wann das nächste Schiff aus Madagaskar kommt. Dann kaufst Du alle Vanille, die Du Dir leisten kannst. Die nimmst Du dann und stopfst sie in alle Körper- öffnungen Deines Dinokindes. Aber Du mußt aufpassen, daß auch wirklich alles dicht mit Vanille verschlossen ist, sonst klappt es nicht.“ Zurück

2.

Man nehme:…

10 Kilo Bananen,

2 Liter vergorenen Rohrzuckersirup,
1 Prise Zimt,
2 Messerspitzen Vanille.
Die Bananen schälen und im Mixer pürieren, den Sirup dazugeben, mit Zimt und Vanille abschmecken.
Am besten schmeckt der Wein, wenn er 48 Stunden im Kühlschrank geruht hat. Falls kein Kühlschrank zur Verfügung steht, kann man dem frischen Gebräu auch einige Eiswürfel zusetzen.
Zur Herstellung von Eiswürfeln im tropischen Regenwald findet man Hinweise bei Grimma G. Gorilla: Die Küche der wahren Menschen, Verlag Waldpress, Gorillatown 1993. Zurück

3.

Bist Du ein Gorilla? Wenn ja, dann darfst Du weiterlesen.
Bist Du ein Mensch? In diesem Falle mach sofort die Augen zu und richte sie wieder nach oben!
Für alle Gorillas: Man nehme die Stiele von 5 Kilo Bananen und trockne sie in der Nachmittagsurwaldsonne. Man verarbeite das Ergebnis zu feinem Pulver und vermenge es mit einer größeren Menge von Uruburublättern.
Und dann: Roll Dir einen! Zurück

4.

Drei Teile Froschschleim und ein Teil Schlampanski – ersatzweise Bananenschaumwein – werden schaumig geschlagen; so vorhanden, füge man fünf Späne vom Schaft einer Holzfälleraxt bei . Die Paste wird auf die Wunde aufgetragen und pünktlich alle 222 Sekunden erneuert.Zurück

5.

Wichtiger Hinweis für alle KrankenpflegerInnen: Die ideale Krankenkost ist immer die, auf die der Patient Appetit hat! Zurück

6.

Quellennachweis: Gorillophilo Waldgrund Adorno: Über frühkindliches Zupfen und die Entstehung autoritärer Silberrücken; GorillaMythenpress 1277, 99. Auflage. Zurück

7.

Ohne der Gorillawissenschaft zu nahe treten zu wollen – hier ist ihr ein Übertragungsfehler unterlaufen. Der literarische Gorilla heißt tatsächlich Heinrich Vir und ist bei der deutschsprachigen Minderheit Literatiens unter dem Namen Heinrich Mann bekannt. Zurück

8.

Dort geht es zu wie bei ARD und ZDF: Man sitzt in der ersten Reihe, um schlechte Werbung für überflüssige Produkte – z. B. Instant-Bananen – zu sehen, und bezahlt dafür mit seiner guten Laune. Zurück

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Geld gibt es natürlich auch nicht! Zurück

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Näheres zur Deutung von Gorilla-Träumen findet Ihr in dem interessanten Buch: Die Freud der Gorilla, von Gorilla Freud. Dieses Buch ist im Verlag Waldpresse veröffentlicht worden und kann dort – aber nur von psychisch gefestigten Lesern – bestellt werden. Zurück

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Physikaufgabe für Genies: Wieviele Kaulquappen gibt es, wenn jede fünf Tage alt ist und der See ein Volumen von 200 000 m3 Wasser hat? Zurück

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Näheres findet sich bei Gorilla Freud. Zurück

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Wie man sieht, schützt eine literarische Bildung nicht zwangsläufig vor schlechtem Geschmack! Zurück

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Gorilla nehme: 5 kg sehr reife Bananen und verarbeite sie zu einem sämigen Brei. Die Masse mit Curry und Vanille (ersatzweise gehackte Rosinen) würzen und an einem kühlen Ort zwei Stunden ruhen lassen. Während der Ruhezeit pflücke man 1500 g Mangos – sie müssen unbedingt ganz frisch sein, vom Gebrauch von Lagerfrüchten ist abzuraten! – und sammle 350 g Uruburublätter. Fruchtfleisch und Blätter im Mörser zerstößeln, die Masse zu gorillahandgroßen Kugeln formen. Mit dem inzwischen steif gewordenen Bananenbrei ca. 2 cm dick umhüllen und 60 min im Erdofen bei mittlerer Hitze ausbacken. Auf Walderdbeerensauce servieren. Zurück

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Und das war wirklich alles: Vanilla erbrachte den Beweis für die animistische Theorie, die von den meisten Menschen immer geleugnet worden war; auch die Felsen tanzten mit! Zurück

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Das heißt, es geht entweder um ein begehrtes Weibchen oder um die Führung der Gruppe – Männer waren schon immer großzügig, wenn es um die Definition von „Leben und Tod“ geht. Zurück

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Um Zeit zu sparen und so eine schnelle Entscheidung zu ermöglichen, beschränkte sich die Vorsitzende ab hier darauf, in der Anrede nur den wichtigeren Teil der Versammlung zu nennen. Zurück

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Das geht in der Regel schief, aber wir wollen nicht vorgreifen. Zurück

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Wie schon aufgefallen sein dürfte, ist 50 bei Fröschen und Kaulquappen eine äußertst beliebte Zahl – allerdings streiten sich die Amphibienforscher noch über die Gründe dafür. Die Mehrheit der Wissenschaftler meint, es liege daran, daß Kaulquappengelege ab 50 Exemplaren eine signifikant höhere Überlebenschance haben als kleinere Laichkolonien, eine ernstzunehmende Minderheit vertritt jedoch die Position, es handele sich um eine magische Zahl. Einer Legende zufolge feiert eine mythische Froschgöttin alle 50 Jahre ihren Geburtstag. Zurück

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Selbstverständlich akzeptieren Gorillas keine Vorschriften, sondern organisieren ihr Leben anarchisch. Aber es hatte sich als praktikabel erwiesen, sich für alle Fälle zum Ratschlag ( und zum Essen) zu versammeln, wenn es nicht gerade galt, Rangkämpfe auszufechten.
Die gorillöse Heilschlafliteratur weicht von dieser Theorie, wenn auch nur geringfügig, ab. vgl. dazu Pennus Schnarchus Gorilla, Fit in 49 Stunden. Schnarch Verlag, Urwaldtown ????? Zurück

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Im Gegensatz zu vielen anderen Drogen gewährleisten Teichrosenblätter, in froscherprobten Dosen genossen, immer einen netten Trip – Horrortrips ausgeschlossen! Zurück