Mali oder die Ironie der Geschichte

“Onkel Kulle?”

Kulle

Es war ein klarer Wintertag in Bärenleben, Kulle fror in seinem braunen Pelz, denn er studierte lieber, als sich der Winterruhe in der gemütlichen Höhle hinzugeben. Na und Nuk, die Eisbärenzwillingsschwestern, lebten dagegen bei solchen Temperaturen auf – ihretwegen hätte es ruhig noch deutlich kälter sein können.

Kulle

“Onkel Kulle, dürfen wir Dich was fragen?”

Natürlich durften sie. Kulle tat nichts lieber, als Fragen zu beantworten. Je schwieriger, desto besser.

“Onkel Kulle, wir haben im Internet und in der Zeitung gelesen, dass die französische Armee in Mali einmarschiert ist. Weil da islamistische Fundamentalisten oder so den Menschen verboten haben zu singen. Oder so. Und wir verstehen das alles nicht.”

“Wisst ihr, wo und was Mali ist?”

“Ja.”

“Wisst Ihr auch, was islamistische Fundamentalisten sind?”

“Nicht so richtig.”

“Hat Atti Euch genug über Rohstoffe und Ökonomie beigebracht, so dass Ihr Euch fit fühlt?”

“Tante Atti hat uns ordentlich getriezt.”

“Und wie alt seid Ihr jetzt?”

“Wir haben nicht gezählt, ehrlich gesagt. Fünf. mindestens.”

“Gut. Dann ist es jetzt Zeit, dass Ihr etwas über Mali lernt. Und dass Ihr lernt, gegen den Strich zu denken.”

“Das zweite verstehen wir nicht, Onkel Kulle. Tante Atti hat uns nur gesagt, dass wir nicht auf den Strich gehen sollen. Denken hat sie in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.”

Gute alte Athabasca, dachte Kulle. Auf welchen Strich sollten junge Eisbärinnen in Dehland schon gehen?

“Ilam. Lami. Mila”, sagte Kulle.

“Hä?” machte Na.

“Hier zeigt sich wieder die intellektuelle Überlegenheit der Erstgeborenen!” freute sich Nuk und reckte ihre Nase in die Luft. “Das sind alles Anagramme für ,Mali‘.”

“Stimmt!” sagte Kulle. “Wer Anagramme knacken kann, der kann vorwärts und rückwärts denken, der fällt nicht auf eine falsche Reihenfolge rein und kann auch Lügen erkennen. Der kann gegen den Strich denken. Wer das kann, erkennt auch Ironie, denn Ironie arbeitet mit Falschaussagen. Ironie verkehrt Fakten in ihr Gegenteil. Das ist bestimmt neu für Euch, oder?”

“Es ist neu, Onkel Kulle.” Auch Nuk war jetzt recht kleinlaut. “Und – ist das nicht schrecklich schwer?”

Kulle schob die beiden Kinder in die Richtung der Schlafhöhle, machte selbst einen kurzen Umweg zur Küche, folgte dann und suchte ihnen allen dort ein gemütliches Eckchen. “Wird schon werden,” sagte er.

Nanuk waren begeistert über die Haselnüsse mit Fischgeschmack, die Kulle mitgebracht hatte, und erzählten beim Knabbern bereitwillig, was sie wussten.

“Und welche Regierung hat Mali?” erkundigte sich Kulle, nachdem ihnen die Puste ausgegangen war.

“Vor einem Jahr gab es einen Militärputsch. Mali ist eine Militärdiktatur.”

“Also ist die französische Armee in Mali einmarschiert, um eine Diktatur zu verteidigen?”

“Onkel Kulle, jetzt spinnst Du aber. Das kann doch nicht sein, dass…” Na hielt sich die Pfote vor den Mund, erschrocken über ihre Unhöflichkeit dem Älteren gegenüber. In Bärenleben gab man viel auf das Senioritätsprinzip.

Kulle zeigte keine Reaktion, er wartete einfach ab. Na schielte hilfesuchend zu Nuk. Aber ihre “große” Schwester ließ sie, wie so häufig, auflaufen.

Cool sagte sie: “Das kann vielleicht doch sein. Wenn die Fundamentalisten noch viel schlimmer sind als die Diktatoren.”

“Sie sind wahrscheinlich wirklich viel schlimmer”, kommentierte Kulle. “Sie haben nicht nur Musik, Tanzen und Rauchen verboten, sie verbieten allen Frauen alles, außer ihrem Mann zu gehorchen. Aber brutale Gewalt gibt es in vielen Weltgegenden, und die französische Armee lässt das genauso kalt wie die dehländische Regierung. Die hilft den Franzosen nämlich. Warum also gerade Mali?”

Na und Nuk zermalmten geräuschvoll die letzten beiden Haselnüsse. Kulle gönnte sie ihnen gerne – er bevorzugte andere Geschmacksrichtungen. Danach wurde es sehr still.

“Rohstoffe?” Kulle gab ein Stichwort.

“Na klar, Uran!” Das kam wie aus der Pistole geschossen von beiden. “Frankreich fördert Uran im Niger, das ist gleich nebenan. Frankreich lebt von Strom aus 58 Atomreaktoren, und Frankreich ist Nuklearmacht.” Nas genauere Erklärung sollte ihren Fauxpas vergessen machen.

“Gut!” lobte Kulle. “Das ist die Antwort auf die Frage nach dem ,Warum‘ des Einmarsches. Ein anderes ,Warum‘ gibt es aber auch noch: Warum sind die Fundamentalisten so gut bewaffnet, dass sie den hochgerüsteten Franzosen tatsächlich Mühe bereiten? Das steht zwar auch in den Zeitungen, aber nur in den besseren. Soll ich‘s Euch erklären?”

“Ja, bitte!” Anders als Menschenkinder konnte die Jugend in Bärenleben nie genug vom Lernen bekommen.

“Algerien liegt im Norden Malis, das wisst Ihr ja. Der Staat östlich von Algerien ist Libyen. Die Grenzen stehen in der menschenleeren Sahara weitgehend auf dem Papier. Man kann sich in dieser Wüste frei bewegen, wenn man dafür ausgerüstet ist.

Im Oktober 2011 wurde in Libyen der Diktator Muammar-el-Gaddafi gestürzt und getötet. Um seine Herrschaft zu festigen, hatte er ein riesiges Waffenarsenal angehäuft. Viele der Nomaden in seinem Land, die Tuareg, bezahlte er, damit sie für ihn kämpften. Als Gaddafi tot war, bekamen sie kein Geld mehr, aber sie wussten, wo die Waffen waren, und sie nahmen sie. Sie gingen dahin, wo man mit Kämpfen auch weiterhin überleben konnte. Zum Beispiel in Mali.

Es gibt in den nordafrikanischen Staaten auch noch andere gut organisierte Krieger, Krieger für den Islam, wie sie behaupten. Und es gibt Staaten im Nahen Osten, deren Regierungen wollen, dass der Islam siegt. Sie wollen einen Islam, der nur die eigene Religion gelten lässt und alles andere verfolgt. So ein Staat ist Saudi-Arabien. Saudi-Arabien unterstützt die Kämpfer für den Islam in Nordafrika mit Waffen.”

“Aber mit Saudi-Arabien ist Dehland doch befreundet!” Na konnte ihren Mund schon wieder nicht halten.

Diesmal nickte Kulle anerkennend. “Du hast gut aufgepasst! Dehland ist mit Saudi-Arabien so gut befreundet, dass es dem Land viele Waffen verkauft hat – Waffen im Wert von 30 Millionen Euro. Riad möchte noch viel mehr Produkte der dehländischen Rüstungsindustrie, vor allem Panzer.”

“Heißt das etwa…” Nuk unterbrach sich selbst. “Nein, das kann nicht sein!”

“Man soll auf dieser Welt nie etwas ausschließen, wenn es um Menschen geht”, kommentierte Kulle.

“Heißt das etwa, dass die französischen und vielleicht auch bald die dehländischen Soldaten gegen Islamisten kämpfen, die Waffen haben, die Dehland verkauft hat?”

“Genau das heißt es.”

“Das ist aber komisch!”

“Ja, komisch ist es schon, aber – könnt Ihr darüber lachen?”

“Natürlich nicht, Onkel Kulle!”

“Recht habt Ihr: natürlich nicht. Aber eine erste Annäherung an Ironie ist Euch gelungen: Das, was Dehland erwartet hat, nämlich dass die Saudis mit ihren dehländischen Waffen auf Sanddünen schießen oder Löcher bohren, um ihr Öl zu fördern, oder zumindest die bösen Iraner bekämpfen, ist nicht eingetreten. Stattdessen – aber das wisst Ihr ja jetzt. Das nennt man Ironie der Welt oder Ironie der Geschichte.”

“Das ist aber schwierig, Onkel Kulle!”

“Stimmt! Aber Ihr seid kluge Mädchen, Ihr seid erst fünf oder sechs Jahre – Menschenkinder verstehen Ironie erst, wenn sie doppelt so alt sind. – Und jetzt singen wir ein Lied, wenn Ihr mögt, sozusagen gegen die Islamisten, die das Singen verbieten wollen. Habt Ihr Lust?

“Au ja!”

“Schön, sagte Kulle, zückte sein Smartphone und spielte ihnen den Song vor.

He is five foot two,

And he’s six feet four,

He fights with missiles and with spears,

He’s all of thirty-one,

And he’s only seventeen,

He’s been a soldier for a thousand years.

 

He’s a Catholic, a Hindu,

An atheist, a Jain,

A Budhist, and a Baptist and a Jew,

And he knows, he shouldn’t kill,

And he knows, he always will,

Killing for me, my friend, and me for you.

 

And he’s fighting for Canada,

He’s fighting for France,

He’s fighting for the USA

And he’s fighting for the Russians,

He’s fighting for Japan,

And he thinks we’ll put an end to war this way.

 

And he’s fighting for democracy,

He’s fighting for the Reds,

He says it’s for the peace of all,

He’s the one who must decide,

Who’s to live and who’s to die,

And he never sees the writing on the wall.

 

But without him, how would Hitler

Have condemned him at Lw’ow,

Without him Cesar would have stood alone,

He’s the one, who gives his body

As a weapon of the war,

And without him all this killing can’t go on.

 

He’s the universal soldier,

And he really is to blame,

His orders come from far away, no more,

They come from here and there,

And you and me and brothers,

Can’t you see,

This is not the way we put the end to war.

 

“Das ist aber ein trauriges Lied, Onkel Kulle”, sagte Nanuk.

“Das ist es!” bestätigte Kulle.

Anmerkungen zur Demokratie

von PD Kulle

PD Kulle

Inhalt

  1. Vorbemerkung
  2. Mögliche sinnvolle gesellschaftliche Regelwerke
  3. Die identitäre Gesellschaft
  4. Die Untertanengesellschaft
  5. Die Gesellschaft konkurrierender Interessen
  6. Einige Überlegungen zur Geschichte der Demokratie
  7. Die athenische Demokratie
  8. Die römische Republik
  9. Die repräsentative Demokratie
  10. Einige Überlegungen zur Zukunft der Demokratie
  11. Conclusio

1. Vorbemerkung

Lebewesen in einer Gemeinschaft bedürfen einer Ordnung, welcher auch immer.

Wir werden im Folgenden dieses Problem im Rahmen der Fauna, insbesondere in Bezug auf Homo sapiens sapiens betrachten.

Staatenbildende Insekten lösen diese Aufgabe auf eine scheinbar einfache Weise, nämlich genetisch und durch unterschiedliche Nahrungsbedingungen: In einem Bienenvolk zum Beispiel ist klar, wer Drohne, wer Königin und wer Arbeiterin wird, wer also welche Aufgabe zu übernehmen hat und wer mit welcher Lebenserwartung zu rechnen hat. Keine der Bienen denkt über ihre Rolle nach.

Bei Lebewesen, die zur permanenten Ich-Wahrnehmung und damit potenziell zur Rollenambiguität fähig sind, eröffnen sich dagegen vielerlei Möglichkeiten, sich zu organisieren.

Sprechen wir über den Menschen.

Das Faustrecht etwa stellt eine Ordnung dar, wenn auch eine der Ordnung der unökonomischen Unordnung; es führt dazu, dass das Leben der menschlichen Individuen in einer solchen Gemeinschaft oft endet, bevor sie in der Lage waren, sich fortzupflanzen und ihre Arbeitskraft gesellschaftlich sinnvoll nutzbar zu machen.

Um das lang- oder zumindest mittelfristige Überleben einer Ansammlung potenzieller Individuen zu ermöglichen, braucht eine Gesellschaft bessere Regeln.

2. Mögliche sinnvolle gesellschaftliche Regelwerke

Auf der Basis einer prinzipiellen Entscheidung, die häufig, wie so viele wichtige andere Entscheidungen auch, “ dem Rücken der Menschen“ getroffen wird 1, können zwei antagonistische Organisationsformen entstehen: Die Gesellschaftsglieder nehmen die Gestaltung ihres Gemeinwesens selbst in die Hand, oder sie delegieren sie für eine unbeschränkte oder für begrenzte Zeit.

3. Die identitäre Gesellschaft

Wir nennen eine egalitäre Gesellschaft identitär, in der die Individuen aus wohl verstandenem Egoismus das Wohl des Gemeinwesens über ihr eigenes Wollen stellen. Es versteht sich, dass es sich insofern um eine kommunistische Gesellschaft handelt, als die Eigentumsverhältnisse aller von ähnlicher Natur sind 2. Nennenswerte Besitzunterschiede generieren Interessensunterschiede, Egozentrismen gewinnen die Oberhand.

4. Die Untertanengesellschaft

In der Untertanengesellschaft existieren mindestens zwei Klassen, Kasten, Stände – die Nomenklatur ist beliebig. Von der gesellschaftlich notwendigen Arbeit der Masse der geknechteten Untertanen lebt die parasitäre Schicht, wobei der herrschende Apparat sich gegenüber den Beherrschten in einem Individuum wie etwa einem (Erb-)Monarchen oder einem Diktator inkarnieren, aber auch als Organisation auftreten kann 3.

5. Die Gesellschaft konkurrierender Interessen

In einer solchen Gesellschaft existieren sehr unterschiedliche Besitzverhältnisse. Andererseits herrscht Rechtsgleichheit, wenn nicht für alle, dann zumindest für eine relevante Gruppe der Mitglieder der Gemeinschaft. Aufgrund der Prämisse der Rechtsgleichheit wird es ermöglicht, einzelnen Gruppen für eine festgesetzte Zeit den Auftrag zu erteilen, das Gemeinwesen auszugestalten. In der Regel wird dieser Auftrag erteilt, indem von der Gesellschaft dazu Berechtigte Repräsentanten wählen 4.

Homo sapiens sapiens bezeichnet diese politische Organisationsform als Demokratie 5.

6. Einige Überlegungen zur Geschichte der Demokratie

Gemessen an der Dauer der Existenz menschlicher Gesellschaften ist die Demokratie eine Erscheinung des letzten Augenblicks 6. Die sogenannten ersten Hochkulturen in Asien und Afrika kannten dergleichen nicht, erst in den griechischen Poleis 7 finden sich Ansätze dazu.

7. Die athenische Demokratie

Zentrales Element der Demokratie in Athen war die Volksversammlung, die um 480 v.u.Z. aus ca. 30000 Vollbürgern bestand 8. Sie tagte 40 Mal im Jahr, fällte alle Entscheidungen und stellte das oberste Gericht. Nahezu alle politischen Ämter wurden ausgelost, die Amtsdauer betrug nur ein Jahr.

8. Die römische Republik

Um 133 v.u.Z. bildeten 300.000 Patrizier und Plebejer die Volksversammlung 9. Anders als in Athen verboten sich angesichts dieser Zahl Diskussionen. Die Rolle der Beamten war wesentlich gewichtiger als in Athen, die Möglichkeit des Machtmissbrauchs schon in der Verfassung festgeschrieben: Bei Gefahr für den Staat konnte für sechs Monate ein Diktator mit unbeschränkten Vollmachten berufen werden, der ein Heer aufstellte und niemandem Rechenschaft schuldig war 10.

9. Die repräsentative Demokratie

“Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ 11

Das ist der Kernsatz der parlamentarischen Demokratie und zugleich die Bankrotterklärung der Volksherrschaft. Die Rolle des “Souveräns“ 12
in dieser politischen Organisationsform reduziert sich nämlich in der Regel darauf, in regelmäßigen Abständen die Katze 13 im Sack zu wählen: Einzelkandidaten und/oder politische Parteien, die nach der Wahl ihre politischen Sachentscheidungen nach eigenem Gusto treffen, ohne sich an Positionen halten zu müssen, die sie ggf. vor der Wahl eingenommen haben.

10. Einige Überlegungen zur Zukunft der Demokratie

Ist die Demokratie, gerade einmal zweitausendfünfhundert Jahre alt, zukunftsfähig, noch zeitgemäß oder bereits überholt?

  • Wie die Verfechter aller verschiedenen politischen Organisationsformen gehen auch die Demokratietheoretiker davon aus, dass ein Primat der Politik existiert. Angesichts der Dominanz der “Märkte“ 14 und der zunehmenden Bedeutung supranationaler Organisationen ist das zweifelhaft. Zwar lässt sich Demokratie prinzipiell auch in nach Milliarden zählenden Menschenagglomerationen organisieren, die Idee der politischen Repräsentanz wird dabei allerdings ad absurdum geführt.
  • Politische Entscheidungen in einer Untertanengesellschaft können schnell gefällt werden, demokratische Weichenstellungen bedürfen der Muße, die in Anbetracht der Informationsüberflutung, der permanenten Kommunikation und nicht zuletzt wegen des Drucks der “Märkte“ selten gegeben ist.
  • In einer ständig an Komplexität zunehmenden Menschenwelt setzen sinnvolleEntscheidungen 15 Kenntnisse und Kompetenzen voraus, über die nur wenige Spezialisten verfügen. Immer häufiger wird deshalb die Richtlinienkompenz der Politik de facto Lobbyisten oder nicht demokratisch legitimierten Kommissionen überlassen.
  • Die am häufigsten praktizierte repräsentative Demokratie hangelt sich kurzatmig von Wahltermin zu Wahltermin. Unpopuläre, wenn auch objektiv notwendige Maßnahmen unterbleiben, um die Gunst der Wähler nicht zu verlieren. Es erscheint deshalb unwahrscheinlich, dass demokratisch verfasste Gesellschaften mit der unzweifelhaft stattfindenden Klimakatastrophe werden umgehen können. Die Verwerfungen, die die Klimaveränderung mit sich bringt, werden so groß sein, dass Demokratie und Rechtsstaat in den Hintergrund gedrängt werden, vielleicht gar in Vergessenheit geraten.
  • Es gibt scheinbar überzeugende Gegenmodelle zur Demokratie, zum Beispiel die autoritär regierte, aber wirtschaftlich prosperierende Volksrepublik China 16. Der weltweit zumindest offiziell 17 die Demokratie auf dem Silbertablett vor sich her tragende Staat, die Supermacht USA, ist dagegen eifrig damit befasst, sich abzuschaffen.

11. Conclusio

Vielleicht hat der Mensch Winston Churchill Recht, wenn er sagt:

„Democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.“ 18

Wir Bären bezweifeln aus den oben genannten Gründen, dass diese Politikform Zukunftschancen hat.

Also bleibt auch hier nur:

Phhhhhhhhhfffffffffftttttt!


Fußnoten:

    1. vgl. das umfangreiche Werk von Karl Marx
    2. Genaueres findet der interessierte Leser bei Jean-Jacques Rousseau im „Contrat social“. Da ein Gemeinwesen, in dem die „volonté générale“ alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen bestimmt, zwar eine tatsächliche Volksherrschaft konstituiert, in der historischen Realität aber bisher nicht aufgetreten ist, bleibt sie im folgenden Abriss unberücksichtigt.
    3. Dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion nicht die Partei des in diesem Staat herrschenden Proletariats war, sondern die Partei der Herrschaft der führenden Clique über das Proletariat, kann leider nicht bestritten werden.
    4. Wir verzichten hier darauf, auf spezielle Charakteristika der direkten Demokratie und der Rätedemokratie gesondert einzugehen.
    5. Da heutzutage nur noch wenige Menschen des Altgriechischen mächtig sind, löst dieser Name in der Regel nicht das schollernde Gelächter aus, das eigentlich angebracht wäre.
    6. Man beachte die Doppeldeutigkeit der Formulierung.
    7. Aus dem bereits in Fußnoten 5 angeführten Grund weisen wir darauf hin, dass es sich um den Plural von „Polis“ handelt.
    8. Das waren ca. 20% der Gesamtbevölkerung. Sklaven, zugewanderte Bürger aus anderen Städten, Metöken und „natürlich“ Frauen hatten keine Partizipationsrechte.
    9. Selbstverständlich auch hier ohne Sklaven, Frauen und „Gedöns“, um einen deutschen ehemaligen Bundeskanzler zu zitieren.
    10. Es überrascht nicht, dass die Lebensdauer der res publica kurz war: Gaius Julius Cäsar (100 – 44 v.u.Z.) riss die Macht an sich. Seine Ermordung hatte keine strukturellen Veränderungen zur Folge: Aus der „Sache aller“ war die Sache eines Menschen geworden, die Sache eines vergöttlichten Kaisers.
    11. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20, Absatz 2, Satz1. Der hochgeschätzte Bert Brecht pflegte diese Behauptung mit der Frage zu kommentieren: „Aber wo geht sie hin?“
    12. Die Sprache der Politik in dieser Form der Demokratie bedient sich notwendigerweise einer Fülle von Euphemismen, um die wahren Machtverhältnisse zu vernebeln.
    13. Oder auch das Schwein, wie der Engländer sagt: to buy a pig in a poke.
    14. Der Chef sagt, er gibt demjenigen, der ihm die genaue Adresse und Telefonnummer dieser „Märkte“ nennt, eine Flasche Honigwein aus. Die Sekretärin
    15. Allerdings erweckt die Betrachtung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft berechtigte Zweifel, ob derlei Entscheidungen überhaupt möglich sind.
    16. Dass das sogenannte „Erfolgsmodell“ China aus verschiedenen Gründen in eine Sackgasse führt, kann hier nicht erläutert werden.
    17. Man sollte sich aber besser nicht mit Guantanamo und den sonstigen Aktivitäten der US-Geheimdienste beschäftigen.
    18. Rede vor dem Unterhaus am 11.11. 1947. Wir gehen davon aus, dass es sich nicht um einen Scherz zur Eröffnung der Karnevalssaison handeln sollte.

Klima und Nationalstaat

von P. D. Kulle

Inhalt:

1. Vorwort

2. Die Entstehung des Nationalstaats

3. Nationalstaat und Nationalstaaten

4. Die Klimakatastrophe

5. Conclusio

6. Nachwort

PD Kulle

1. Vorwort

Ich überlasse es dem geschätzten Kollegen Erich Kästner, die Präambel, die zugleich den Charakter eines vorläufigen Epilogs hat, zu formulieren.

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

und die Welt asphaltiert und aufgestockt,

bis zur dreißigsten Etage.

 

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht noch genau derselbe Ton

wie seinerzeit auf den Bäumen.

 

Sie hören weit. Sie sehen fern.

Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.

Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.

Die Erde ist ein gebildeter Stern

mit sehr viel Wasserspülung.

 

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.

Sie jagen und züchten Mikroben.

Sie versehn die Natur mit allem Komfort.

Sie fliegen steil in den Himmel empor

und bleiben zwei Wochen oben.

 

Was ihre Verdauung übrigläßt,

das verarbeiten sie zu Watte.

Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.

Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,

daß Cäsar Plattfüße hatte.

 

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund

Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Doch davon mal abgesehen und

bei Lichte betrachtet sind sie im Grund

noch immer die alten Affen.

 

2. Die Entstehung des Nationalstaats

Schon damals, als „die Kerls“ noch „auf den Bäumen“ „hockten“, im prähominiden Zustand also, bevor der aufrechte Gang (1)
sich als normale Fortbewegungsweise durchsetzte, gab es zweifellos Territorialkämpfe: Kämpfe um den höchsten Baum mit optimaler Lichteinstrahlung, um den Baum mit den nahrhaftesten Früchten, um den mit den größten Blättern für den Nestbau und so fort.

Allerdings hat sich dieser Kampf nicht, wie Kästner in dichterischer Freiheit behauptet, unmittelbar danach in zentralbeheizten Räumen fortgesetzt. Dergleichen gab es erstmals im sogenannten alten Rom (2) und danach nach langer Unterbrechung erst wieder im 20. Jahrhundert. Auf den Baum folgt nicht das wohltemperierte 30. Stockwerk, sondern die dunkle Höhle, die, wie auch die luftige Behausung, erobert und verteidigt werden muss: Mitmenschen, Bären und Wölfe (3) sind die häufigsten Feinde.

Ärgerlich, dass eine einmal eroberte Höhle kein sicherer Besitz des Eroberers ist: Er kann seinen Wohnort durch kein Gesetz garantieren lassen, er kann nur versuchen, ihn gegen das Recht des Stärkeren zu verteidigen.

Was tun? Eine sich anbietende Möglichkeit ist, sich mit den Nachbarn auf guten Fuß zu stellen. Das ist in der Geschichte der Menschen einmal mehr, einmal weniger gelungen. Die sardische Nuraghenkultur, in der ein Wehrturm keine zwei Kilometer vom nächsten entfernt stand, ist ein Beispiel für das Misslingen dieser Strategie, die griechischen Poleis, die, wenn sie prosperierten, sich von Stadtstaaten zu Städtebündnissen entwickelten, stehen für den Erfolg.

Schon diese beiden Beispiele zeigen: Es gilt, Raum zu gewinnen. Eigener Raum begrenzt das Territorium des vermeintlichen oder tatsächlichen, jedenfalls immer potentiellen Feindes, Raum schafft die Möglichkeit der Verteidigung, denn er bietet gegebenenfalls Platz zurückzuweichen, Raum produziert Nahrungsmittel etcetera.

Allerdings nützt der größte Raum nichts, wenn er nicht gesichert werden kann. Zur Sicherung großer Territorien braucht man bewaffnete Menschen, die entweder aus aktuellem Anlass zusammengerufen oder für den äußerst wahrscheinlichen Fall des Falles präemptiv bereitgehalten werden.

Es ist evident, dass dergleichen großräumige Aktivitäten nicht von einem höhlenbewohnenden Clan bewerkstelligt werden können, der völlig damit ausgelastet ist, die Nahrungsmittel für den täglichen Bedarf jagend und sammelnd herbeizuschaffen. Ein gesellschaftliches Mehrprodukt auf der Basis landwirtschaftlicher Produktion ist dafür erforderlich, das so groß ist, dass eine das Verteidigungshandwerk ausübende Schicht, Klasse oder Kaste von der Handarbeit freigestellt werden kann.

Wes bedarf es noch, um den Raum zu sichern? Die Bewohner angrenzender Räume müssen wissen, dass dieser Raum existiert. Man muss den Raum also wenn auch nicht mathematisch, so doch politisch-geografisch definieren. Eine solche Definition wird als Grenzziehung bezeichnet. Als Grenzen bieten sich sogenannte naturräumliche Gegebenheiten wie Flüsse oder Gebirge an, die es an sich (4) ähnlich bewaffneten Menschen aus angrenzenden Räumen erschweren, den eigenen Raum zu betreten. Es bedarf zusätzlich auch der Verständigung darüber, wo die Grenze verläuft; es bedarf also der Sprache, der Sprachgemeinschaft. Wer „Grenze“ sagt, grenzt sich gegenüber dem ab, der von der „frontière“ parliert.

Voilà, l‘état, c‘est moi (5) ; oder auch: Der Nationalstaat ist entstanden (6).

3. Nationalstaat und Nationalstaaten

Viele Nationalstaaten sind entstanden, viele Horden bewaffneter Männer (7). Innerhalb der Staaten ist der Umgang miteinander meist recht genau definiert: Es ist klar festgelegt, wer herrscht, ob zum Beispiel ein Rechtsstaat etabliert ist oder ob die herrschende Gruppe die nicht herrschende nach Gutdünken unterdrücken darf, welche Freiheiten, vor allem Freiheiten wirtschaftlicher Natur, die Bewohner (8) sich herausnehmen dürfen.

Das Recht, das zwischen Nationalstaaten herrscht, war und ist fragilerer Natur. Obwohl es euphemistisch als Völkerrecht (9) bezeichnet wird, gleicht es eher den Strukturen, die die gesellschaftlichen Beziehungen in „failed States“ kennzeichnen. Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen sind die Regel, nicht die Ausnahme, verursacht durch „nationale Interessen“. Immerhin gibt es internationale Abkommen, in denen detailliert geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen Menschen andere Menschen legal töten dürfen und was mit den nicht ganz Toten, also nur Verwundeten, zu geschehen hat (10). Man sieht: Manchmal reden Menschen sogar miteinander und kommen zu Ergebnissen.

4. Die Klimakatastrophe

Die Notwendigkeit, miteinander zu verhandeln und dabei zu Ergebnissen zu kommen, hat im Lauf der menschlichen Geschichte zugenommen. Das erklärt sich auch, aber nicht nur rein quantitativ: Für die beängstigend zunehmende Weltbevölkerung wird es immer schwerer, Konflikte zu vermeiden.

Nun basiert die Ökonomie dieser Weltbevölkerung seit der Industriellen Revolution auf der Vernutzung (11) fossiler Energieträger, was die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre auf gegenwärtig (12)
388 ppm gegenüber 270 ppm vor der IR hat ansteigen lassen. Aufgrund dessen hat bereits ein weltweiter Temperaturanstieg begonnen, der, falls keine effektiven Gegenmaßnahmen ergriffen werden, die Existenz der menschlichen Rasse gefährden dürfte (13). Das ist sogar den Menschen aufgefallen. Seit dem sogenannten Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro hat es nicht weniger als 16 (sechzehn!) Umweltkonferenzen unter der Schirmherrschaft der UNO gegeben, ohne dass ein für alle Staaten rechtlich verbindliches Abkommen geschlossen worden wäre. Und warum nicht? Weil die Regierungen der Nationalstaaten um ihre kostbaren Standortvorteile fürchten!

5. Conclusio

Nun denn, bald wird es zwar noch Standorte geben, nicht aber Vorteile. Ich verweise nochmals auf die klugen Bewertungen des Kollegen Kästner und komme wie stets zu dem treffenden Schluss:

Pfffffffftt..........

6. Nachwort

Ich danke wie immer meiner Sekretärin. Möge Tussi (14) Wunder tun und uns alle kühle Zeiten genießen lassen!



Fußnoten:

1. Wir sprechen vom aufrechten Gang nur im physiologischen, nicht im metaphorischen Sinn.

2. mit dem Hypokaustensystem

3. nota bene: in dieser Reihenfolge

4. Ich bitte den Kollegen Kant wegen dieser Formulierung um Verzeihung.

5. Manchmal ist der Chef ein wenig größenwahnsinnig, finde ich. Die Sekretärin

6. Jedenfalls ist das der Regelfall. Wie es mehrsprachige Staaten wie zum Beispiel die viersprachige Schweiz geschafft haben, mehr als ein Jahrhundert zu überleben, muss noch untersucht werden. Unsere vorläufige Hypothese ist, dass die Schweizer über ein außerordentliches Intelligenzgen verfügen.

7. vgl. ähnliches vielerorts bei Marx und Engels

8. Es wäre wahrscheinlich korrekter, die Bewohner als Insassen zu bezeichnen, allerdings ist das nicht üblich. Zu meinem Bedauern ist auch die bärische Politologie noch nicht zu dem Schluss gekommen, dass sich die menschliche Gesellschaft nur mit einer Terminologie aus dem Bereich der Psychiatrie angemessen beschreiben lässt.

9. Wenn die politische Klasse eines Staates ihrem Volk alle Rechte nimmt und andere Menschen sich darüber empören, erklärt diese Klasse, es handele sich um „innere Angelegenheiten“.

10. vgl. die „Haager Landkriegsordnung“ und die „Genfer Konventionen“

11. Ich wollte dem Chef diesen Begriff ausreden, hatte aber keinen Erfolg. Er findet ihn so schön, weil Marx ihn häufig verwendet. Die Sekretärin

12. 2010

13. Wie meine Leser wissen, bedaure ich dergleichen nicht, aber leider ist auch das Leben der Bären gefährdet.

14. Gottheit des Chefs. Die Sekretärin

(Erklärungs-)Krise

“Onkel Kulle!“

Einbärenfamilie

Nanuk sprangen pitschnass aus dem Dorfteich von Bärenleben und schüttelten sich am Ufer so erfolgreich, dass Kulle an diesem Tag auf eine Dusche würde verzichten können. Aber er liebte die Zwillinge heiß und innig und nahm ihnen nichts übel.

“Onkel Kulle, kannst Du uns was erklären?“

Da Kulle felsenfest davon überzeugt war, dass Erklärungen zu seinen Spezialitäten gehörten, sagte er natürlich sofort “Ja“ und wollte erst anschließend wissen, worum es denn gehe.

Kulle

“Wir haben gerade mit Mami im Wasser gespielt“, sagte Na.

“Dabei waren wir wohl ein bisschen wild“, gab Nuk zu.

“Jedenfalls hat Mami gesagt, sie kriegt die Krise. Und jetzt sollst Du uns das mit der Krise erklären. Bitte!“

“Aber“, stotterte Kulle, “wenn Oicy psychische Probleme hat, dann bin ich der Letzte, der sich mit so etwas auskennt. Bärdel kann bestimmt…“

“Nein, Onkel Kulle, wir meinen die andere Krise, von der alle reden, die mit dem Bruder vom Mann aus Lehm und dem Euro und den USA und so. Wir möchten nicht, dass Mami diese Krise kriegt!“

“Ihr wollt also etwas über die aktuelle ökonomische Krise wissen, ist es das?“

“Wenn Du das sagst, Onkel Kulle, dann ist es bestimmt richtig. Aber wir wollen nicht nur etwas darüber wissen, sondern alles.“

Wäre Kulle ein Mensch gewesen, hätte er jetzt “Scheiße“ gedacht. Da er aber ein Bär war, dachte er “Brombeermist“. Ausgerechnet diese Krise, die niemand wirklich erklären konnte, und er – wenn er ehrlich war – auch nicht. Er überlegte, wie er es anfangen sollte. Er überlegte lange.

Die Eisbärenzwillinge trockneten ihr Fell in der Herbstsonne, aber bald wurde ihnen das zu langweilig.

“Onkel Kulle, warum sagst Du nichts?“ fragte Nuk.

Na wollte Kulle helfen: “Wir haben bei Karl Marx gelesen, dass alle Krisen im Kapitalismus Überproduktionskrisen sind. Weil der Marktprozess nicht geplant werden kann, aber jeder Produzent den höchstmöglichen Profit erwirtschaften will, kommt es in periodischen Abständen dazu, dass die geschaffenen Werte nicht als Waren realisiert werden können. Ist das diesmal genauso?“

‘Schön wäre es‘, schoss es Kulle durch den Kopf. Dann könnte ich alles wirklich erklären. ‘Aber der Große Karl ist über hundert Jahre tot, und was der Kapitalismus sich seitdem alles ausgedacht hat, konnte er beim besten Willen nicht antizipieren.‘

“Ihr seid erstaunlich gut vorgebildet!“ lobte er. Es klang lahm. “Aber diese Kenntnisse helfen uns nicht dabei, die konkreten Probleme zu analysieren. Die sind nämlich neu.“

“Toll, Onkel Kulle! Uns interessiert immer alles, was neu ist!“

Hilfe für Kulle kam von unerwarteter Seite. Am Teichufer gegenüber schimpfte Tumu so lautstark mit Manfred, dass es unmöglich war, darüber hinwegzuhören. Ihr Sohn blieb ihr nichts schuldig und gab ebenso lärmend Contra. So hatten die Zwillinge ihre Unterhaltung, und Kulle gewann Zeit zum Nachdenken.

“Du machst das immer noch? Immer noch? Ich habe geglaubt, diese Verbrechermethode brauchten wir nur in Amerika!“

“Klar mache ich das immer noch! Denkst Du etwa, alle Technik, mit der wir hier leben, ist vom Himmel gefallen? Meinst Du, ich habe Deinen Luxusbackofen mit Programmautomatik selbst zusammengeschraubt? Und es ist keine Verbrechermethode, wenn ich Kreditkarten nutze, die mir angeboten werden. Na gut – unter falschem Namen und falscher Adresse, das gebe ich zu. Aber die Banken wollen betrogen werden, sie bieten ihre Karten an wie sauer Bier. Die müssen Geld haben wie Heu!“

,Klick!‘ machte es in Kulles Kopf. Aber er beschloss, zunächst den Mund zu halten. Vielleicht konnte er noch mehr von Manfred lernen.

“Für wie dumm hältst Du mich eigentlich?“ fauchte Tumu. “Den Banken geht es schlecht, das kannst Du jeden Tag in der Zeitung lesen.“

“Ach – und wer ist schuld daran, dass es den Banken angeblich schlecht geht? Die Banken! Die haben insolventen Kreditnehmern in den USA ihr vieles Geld hinterhergeworfen und haben sich dabei halt verspekuliert – Pech gehabt. Aber keine Sorge – schlecht geht es den Banken nicht. Die sind, wie man sagt, systemrelevant. Weil die gesamte Menschenwelt auf Pump lebt, Privathaushalte genauso wie Firmen und Staaten, funktioniert die Wirtschaft ohne Banken einfach nicht. Im Zweifelsfalle werden sie gerettet, das heißt, sie bekommen viel Geld. So viel Geld haben nur Staaten, die können es nämlich drucken.“

“Das heißt…“ Tumus Stimme war jetzt deutlich leiser.

“Das heißt, wenn ich Banken schädige, schädige ich niemanden. Jedenfalls nicht direkt.“

“Hm, vielleicht hätte ich Dir keine Szene machen sollen, mein Sohn. Und was den Backofen angeht – der funktioniert einfach hervorragend. Was hältst Du von einem Honigkuchen? Das dauert nur ein knappes Stündchen!“

“Gerne! Darf ich Dir helfen?“

Mutter und Sohn trollten sich und verschwanden in der Höhlenküche von Bärenleben.

Na und Nuk schlugen ihre Kinderaugen auf.

“Onkel Kulle, wir glauben, wir haben schon viel verstanden. Aber ein paar Fragen haben wir noch. Warum gibt es zu viel Geld auf der Welt? Wir dachten immer, es gibt zu wenig.“

“Die meisten Menschen haben zu wenig Geld, das stimmt. Aber damit der Kapitalismus funktioniert, muss es genug Geld bei den Banken geben, das sie verleihen können. Nach den Attentaten am 11. September 2001 hat die US-Notenbank die Welt mit Geld überschwemmt, weil sie eine Wirtschaftskrise verhindern wollte.“

“Und deshalb kriegt Onkel Manfred so viele Kreditkartenangebote?“

“Genau.“

“Und die Staaten, die den Banken das Geld geben?“

“Die machen Schulden und müssen dafür Zinsen zahlen. Wenn nicht sicher ist, ob sie ihre Schulden zurückzahlen können, werden die Zinsen erhöht. Das ist nicht gut für die Menschen, die in diesen Staaten leben, denn sie müssen das Geld bereitstellen, das der Staat braucht, also hohe Steuern zahlen. Vielleicht gibt es auch eine Inflation, weil viel Geld gedruckt worden ist, aber die Warenmenge nicht gewachsen.“

“Oh je, Onkel Kulle, das ist aber ganz schön kompliziert. Darüber müssen wir erst mal nachdenken. Dürfen wir zum Schluss noch eine Frage stellen?“

“Klar!“

“Wer ist der Bruder vom Mann aus Lehm? Ist das der Golem?“

Kulle griff sich an die Stirn. “Ich krieg die Krise,“ murmelte er.

Na und Nuk begriffen, dass Kulle in diesem Moment nicht antworten wollte. Fröhlich hüpften sie wieder in das kühle Wasser des Dorfteiches.

Krise

Es war ein warmer Spätfrühlingstag in Bärenleben, und es war Vormittag. Das Leben ging seinen üblichen Gang. Die Bären, das Schwein und der Frosch studierten, diskutierten, bereiteten das Essen vor, machten sauber oder betrieben Körperpflege.

Einbären

Oicy hatte sich für die Körperpflege entschieden, und das hieß für eine Eisbärin in dieser Jahreszeit hauptsächlich, der dehländischen Wärme auszuweichen, so gut es ging. Deshalb war sie in den eigens für sie und ihre Kinder erweiterten Dorfteich geglitten, hatte über und unter Wasser ihre Runden gedreht und davon geträumt, gleich gegen eine Eisscholle zu stoßen, auf der sich eine fette Sattelrobbe vergeblich zu verstecken versuchte. Aber natürlich blieb das ein Traum. Sie traf nur Ramses, der sich unter Teichrosenblättern zu verbergen versuchte und hoffte, eine Libelle zu erbeuten. Aber die klugen Libellen erspähten ihn immer rechtzeitig und bogen ab, bevor sie in seine Reichweite gerieten.

Ramses

Ramses verdrückte sich deshalb bald und hüpfte in Manfreds Hochtechnikwerkstatt. Er hatte dort einen Computerarbeitsplatz, an dem er an zwei komplexen Problemen arbeitete: Er wollte das Wetter präzise voraussagen – das war für einen Laubfrosch eine vergleichsweise leichte Aufgabe. Er wollte das Wetter aber auch beeinflussen können, und das war deutlich schwieriger. Wenigstens störte er niemanden, wenn er vor seinem Rechner hockte und versuchte, Tussis Schöpfung zu verstehen.

Mit Oicy war das anders. Als sie den Teich verließ, um zuerst nach ihren Kindern zu sehen und dann Tumu beim Kochen zu helfen, schüttelte sie sich kräftig, und es passierte das, was passiert, wenn Eisbären sich schütteln, nachdem sie gerade aus dem Wasser gestiegen sind: Aus dem dichten Pelz flogen Tropfen über Tropfen, und wer gerade in der Nähe stand, bekam eine kräftige Dusche ab.

Die Dusche erwischte die alte Bärin, die gerade vor ihrer Höhle aufräumte. Und nicht nur die Wasserdusche: Die Tropfen, die Oicy energisch auf die Reise geschickt hatte, platschten auf den trockenen Boden, lösten daraus Erdpartikel, ließen sie hochspringen und verwandelten die eben noch saubere Alte in eine über und über von Schmutz bedeckte Bärin.

“Ich krieg die Krise!” schimpfte die Alte zornig.

Oicy fühlte sich irgendwie angesprochen, wusste aber nicht recht, warum. Sie hatte sich doch ganz normal verhalten, oder? Aber helfen wollte sie schon.

“Kann ich Dir bei Deiner Krise helfen?” erkundigte sie sich freundlich.

“Bei meiner Krise? Bei MEINER Krise?” keifte die Alte. “DEINE Krise ist das! Weil bei Dir zu Hause das Eis schmilzt, bekleckerst Du mich hier in Dehland mit Wasser und Dreck, und wahrscheinlich bist Du auch für die Aschenkrise verantwortlich, die dieser Vulkan aus Island macht, aus dem Eisland also, da, wo Du herkommst.”

Oicy hatte ausgesprochen gut gefrühstückt, nämlich eine Kiste frischer grüner Heringe, in den Morgenstunden angeliefert vom Rungis-Express, und war deshalb friedlich gestimmt.

“Du hast recht, die Klimakrise ist meine Krise, aber ich bin dabei der passive und nicht der aktive Teil. Und mit dem Eyjafjallajöküll habe ich gar nichts zu tun.”

“Mit wem?”

“Mit dem Eyjafjallajökull. Das ist der isländische Vulkan, der vor kurzem ausgebrochen ist.”

Die alte Bärin überlegte, ob sie ausfällig werden sollte, weil Oicy sie jetzt auch noch mit unaussprechlichen Worten bombardierte, aber bevor sie damit zu Ende war, tauchten Bärdel und Kulle am Teichufer auf. Wie immer waren sie in ein intensives Gespräch vertieft.

Kulle und Bärdel

“Also, das mit der Krise musst Du mir bitte unbedingt erklären, und zwar ohne komplizierte Fachbegriffe!” sagte Bärdel energisch.

“Mir auch!” schloss sich die Alte nicht minder energisch an.

Kulle hatte ihr gar nicht zugehört, aber Bärdel war irritiert.

“Seit wann interessierst Du Dich für Ökonomie?” wollte er wissen.

“Für was?” Die Alte hatte allmählich die Nase voll von merkwürdigen Worten.

“Für Wirtschaft”, verbesserte sich Bärdel.

Empört stemmte die Alte die Arme in die Seiten. “Willst Du etwa behaupten, dass ich keine ordentliche Wirtschaft führe? Bei mir kann man vom Fußboden essen, normalerweise jedenfalls, wenn nicht gerade dieses ungeschickte weiße Monstrum…”

Auf Oicys Stirn zeigten sich die ersten Falten. Tiefe Falten. Sie war noch nie zornig geworden, seit sie in Bärenleben war, und das war auch gut so. Jetzt aber war sie kurz davor. Zum Glück wurde sie von Nanuk abgelenkt. Die Zwillinge stürzten auf sie zu.

“Mamimami, wir haben gerade etwas Neues gelernt! Onkel Manfred hat uns die Geschichte von Tschernobyl erklärt. Wir wissen jetzt, wann ein Reaktor kritisch wird!”

“Und wann ist das?” wollte ihre Mutter wissen.

“Wenn er zu heiß wird. Wenn man Pech hat, kommt es zu einer Kernschmelze. Dann wird die gesamte Umgebung vergiftet. Das ist dann eine fürchterliche ökologische Krise.”

“Ist eure ö-kol-ko-logische Krise dieselbe wie die von Bärdel?” fragte die Alte die Kleinen. “Bärdels Krise klang ähnlich, aber irgendwie anders.”

Na und Nuk waren von der Frage logischerweise überfordert, aber sie nutzten die Gelegenheit, um Bärdel mit Beschlag zu belegen.

“Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, hast Du eine Krise?”

“Hm, ich weiß nicht so recht,” brummte Bärdel. “Allmählich schwirrt mir der Kopf. Vielleicht bekomme ich einen Migräneanfall. Ich glaube, ich bin an der kritischen Grenze dazu.”

Die Alte, die keineswegs immer nur putzte, obwohl sie dabei oft beobachtet wurde, lernte in ihrer freien Zeit gerade Griechisch und beschäftigte sich dabei natürlich auch mit Geographie und Landeskunde. Jetzt schüttelte sie den Kopf zum zweiten Mal und verstand überhaupt nichts mehr. Konnte ein Reaktor sich aussuchen, ob er auf Kreta stand oder anderswo? Wieso glaubte Bärdel, er sei an der Grenze Kretas? Und – hatte eine Insel überhaupt eine Grenze?

Kulle hörte immer noch nicht zu. Er pflegte das, was er als ,soziale akustische Umweltverschmutzung‘ bezeichnete, stets zu ignorieren. In solchen Phasen der gesellschaftlichen Abwesenheit beschäftigte er sich, wie er fand, produktiv mit der Lösung theoretischer Probleme oder wenigstens mit deren kommunikativer Vermittlung.

Kulle und Bärdel

“Diese Krise”, sagte er jetzt, “ist eine umfassende. Es ist falsch, wenn sie allein der Ökonomie angelastet wird. Ursächlich für sie ist die Politik, oder besser gesagt, das Versagen der Politik. Die politische Klasse Europas oder meinetwegen Kerneuropas sollte also selbstkritisch eingestehen, dass eine Währungsunion ohne eine gemeinsame Währungs- und Finanzpolitik, und eben ein solches Konstrukt stellt der Euro dar, auf tönernen Füßen steht. Was ist denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt anderes als ein zahnloser Papiertiger? Die kritische Betrachtung dieser dilettantischen Konstruktion kann nur zu einem vernichtenden Urteil kommen.” Kulle holte tief Luft. “Derlei Dilettantismus lädt geradezu dazu ein, ihn auszunutzen. Wer will es den smarten Boys von den Hedgefonds, die sich im Januar oder Februar in einem New Yorker In-Restaurant getroffen haben, in dem es, Schande über die amerikanische Küche, vermutlich auch nichts anders zu essen gab als Steak oder totgebratenes Hähnchen, verübeln, dass sie auf die Idee kamen, mit vereinten Kräften gegen den Euro zu wetten? Der Erfolg spricht für sie!” “Kulle räusperte sich. “Die Krise, über die alle so entsetzt sind, ist übrigens keine Euro-Krise. Sie ist eine Schuldenkrise. Fast alle Staaten dieser Welt leben über ihre Verhältnisse, allen voran die USA. Ich bin gespannt, wann der Dollar brennt. Dann kann ich endlich meine rote Fahne aus ihrer Ecke holen. So!” sagte er triumphierend. “Noch Fragen?”

“Hast Du Kopfschmerztabletten?” Bärdel hielt sich schützend die Pranke vor sie Stirn.

“Hat das was mit mir zu tun, oder kann ich jetzt Tumu beim Kochen helfen?” wollte Oicy wissen.

“Onkel Kulle, was sind Hedgefonds?” Das waren die Zwillinge.

“Kulle, klopf mit mal den Pelz ab, damit ich wieder sauber werde. Und erkläre mir dabei: Was heißt eigentlich ,Krise‘?”

Kulle willfahrte ihr, bevor seine Situation allzu kritisch wurde.

Appetit auf Löwenzahn

Bärdel

Bärdel boxte Kulle freundschaftlich, aber durchaus energisch in die Rippen.

Kulle

„Nun komm schon hoch, Du Schlafmütze“, sagte er so laut, dass er auch beim besten Willen nicht zu überhören war. „Das neue Jahr ist schon fast wieder alt, der Tag ist schon zwei Stunden länger als zur Wintersonnenwende, und die gewendete Sonne scheint übrigens gerade. Genug der Hibernation! Lass uns spazierengehen!“

Kulle brummte ungnädig. Da er aber wusste, dass er gegen seinen energiegeladenen großen Freund keine Chance hatte, richtete er sich auf, reckte sich und steckte den Kopf aus der Schlafhöhle. Sofort zuckte er zurück.

„Spinnst Du?“ wollte er wissen. „Da draußen liegt noch Schnee!“

„Weiß ich doch,“ antwortete Bärdel seelenruhig. „Anders als der Herr Privatgelehrte bin ich nämlich schon eine Weile lang aktiv. Dehland erlebt seit Jahren mal wieder einen Winter, der den Namen auch verdient. Vielleicht ist es ja der letzte, bevor auch in Bärenleben die Palmen gedeihen. Also komm schon! Ich hab Dir sogar Schneeschuhe besorgt.“

Kulle schnallte sich zwei Apparate unter die Hinterpranken, die ihn sehr an Tennisschläger erinnerten. Es waren übrigens Tennisschläger – Manfred hatte sein Organisationstalent spielen lassen.

Draußen blinzelte er in den blauen Himmel und atmete tief durch, bevor er die ersten breitbeinigen Schritte wagte. „Ist tatsächlich eine gute Idee von Dir gewesen, die Nase aus der Höhle zu stecken,“ gab er zu. „Die Luft tut gut. Aber die Luft macht auch Hunger – ich hätte jetzt nichts gegen ein paar Löwenzahnwurzeln einzuwenden, roh oder auch gebraten!“

Loewenzahn - gewesen

„Da wirst Du noch ein paar Wochen warten müssen“, wandte Bärdel ein. „Der Löwenzahn, der bei Minusgraden im Schnee wächst, ist noch nicht erfunden.“

„Vielleicht doch. Kann sein, wir wissen es nur nicht.“

„Kaum bist Du wieder wach, versuchst Du, mich auf den Arm zu nehmen.“

„Im Prinzip ja, jetzt aber gerade nicht. Schon mal was von Monsanto gehört?“

„Ich glaube nicht. Ist das ein heiliger Berg oder so was?“

„Eher so was. Monsanto ist ein Agrarchemiekonzern, der genmanipulierte Pflanzen züchtet. Vielleicht auch anderes Genmanipuliertes, aber davon ist offiziell nichts bekannt. Belegt sind nur die Pflanzen.“

„Und warum macht das dieser Konzern?“

„Willst Du die offizielle Antwort oder die wahre?“

„Wie wär‘s mit beiden?“

„Monsanto bekämpft erfolgreich den Hunger in der Welt. Monsanto ist dafür unverzichtbar. Tatsächlich verdient Monsanto sich mit seinen Produkten dumm und dämlich. Seit 40 Jahren gibt es ein Pestizid mit dem schönen Namen ,Roundup‘. Das entsprechende Produkt in Europa vom Bayer-Konzern heißt ,Basta‘ – eigentlich könnte der Kanzler den Namen erfunden haben, weißt Du, der zweite, der mal bei uns war, noch im alten Bärenleben.

Hat er aber nicht. ,Basta‘ vernichtet ebenso wie ,Roundup‘ alle Pflanzen außer denen, die gegen es resistent sind, und das sind überwiegend genmanipulierte Pflanzen aus den Labors von Monsanto. Die Landwirte dürfen davon kein Saatgut zurückhalten, sondern müssen Jahr für Jahr neues kaufen. Von wegen Hungerbekämpfung! Hungerleider können sich kein teures Saatgut leisten, habe ich mir sagen lassen.“

„Ich glaube, ich habe davon schon mal gelesen“, sagte Bärdel nachdenklich. „Und zwar etwas Gutes, von einem Wissenschaftler.“

„Weißt Du auch, auf wessen Lohnliste dieser Wissenschaftler steht?“

„Du meinst…?“

„Ich meine erst mal gar nichts. Aber Fakt ist, dass Monsanto eine gute PR betreibt, natürlich nicht in eigenem Namen, sondern unter dem Feigenblatt wissenschaftlicher Objektivität. Tatsache ist auch, dass Regierungen und politische Parteien, vor allem in den USA, großen Konzernen traditionell gewogen sind, denn von großen Konzernen kommen große Spenden. Und die anderen Wissenschaftler, die sich gegen Monsanto aussprechen – die gibt es nämlich auch –, die werden von Greenpeace bezahlt oder von Friends of the Earth oder anderen Umweltverbänden.“

„Willst Du damit sagen, dass es keine objektive Wissenschaft gibt?“

Kulle blickte Bärdel empört an. „Natürlich gibt es eine objektive Wissenschaft – oder was meinst Du, was ich den lieben langen Tag so treibe? Aber mich bezahlt schließlich niemand. ,Wes Brot ich ess, des Lied ich sing‘ – das war schon richtig für Hartmann von Aue und Oswald von Wolkenstein…“ Kulle sah in Bärdels Augen große Fragezeichen. „…Das waren Minnesänger…und das gilt auch noch heute.“

„Entschuldige bitte“, murmelte Bärdel zerknirscht. Ich wollte Dich nicht verletzen. Am liebste würde ich Dir jetzt eine Löwenzahnwurzel anbieten, aber leider ist gerade keine da.“

„Zum Glück ist keine da!“ korrigierte Kulle. Er dreht sich um und geriet dabei auf seinen Tennisschlägerschneeschuhen beinahe aus dem Gleichgewicht. „Komm, wir gehen nach Hause. Tumu hat bestimmt noch eingelegte Wurzeln vom letzten Herbst übrig. Wie wär‘s, wenn Du Deine Frau überredetest, uns ein leckeres Frühstück zu bereiten?“

Bärdel hatte nichts dagegen.

Das Projekt der Moderne

PD im Weihnachtsmodus nach Kopenhagen

Inhalt:

  • Vorwort
  • Definition des Begriffs
  • Die neue Wirtschaftsweise und ihre Segnungen
  • Die Kosten der neuen Wirtschaftsweise
  • Die Ideologie der neuen Wirtschaftsweise
  • Die Folgen der neuen Wirtschaftsweise
  • Die Menschliche Reaktion
  • Conclusio

Vorwort


Die folgenden kurzen Anmerkungen versuchen wir, entgegen unserer sonstigen Vorgehensweise, so populärwissenschaftlich wie nur möglich zu halten1, geht es uns hic et nunc doch darum, dass uns Hu Jintao, Barack Obama, Angela Merkel und alle anderen auf den roten Teppichen und Lieschen Müller sowie Otto Normalverbraucher weltweit verstehen, wie immer sie in ihrem Land auch heißen mögen. Denn die Moderne hat uns ein modernes Problem beschert, das es selbst einem wissenschaftlich denkenden Bären unter seinem Fell heiß werden lässt. Theoretisch war uns, wie die Kenner unserer veröffentlichten gesellschaftlichen Analysen zweifellos wissen, die Vergeblichkeit allen bisherigen menschlichen Agierens stets bewusst2. Nun aber, da das Anthropozän im Begriff ist, aufgrund des Wirkens seiner Namensgeber abrupt in eine klimagewandelte Welt zu führen, ist es Zeit, den distanzierten Zynismus aufzugeben. Wo es zu heiß wird, wo der Plüsch Feuer zu fangen droht, da verpufft die Freude am Pffffffttttttt.

PD Kulle

Definition des Begriffs

Als Moderne bezeichnen wir eine extrem kurze Phase – von Epoche mögen wir kaum sprechen – der Menschheitsgeschichte, deren Ende sowohl absehbar als auch unvermeidlich ist. Wir distanzieren uns folglich von denjenigen Theoretikern, die die Moderne bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu Grabe getragen haben und behaupten, die Welt befinde sich aktuell im Stadium der Postmoderne. Erstens ist das Unsinn, und zweitens wird die Postmoderne die Menschheit eher ereilen, als ihr lieb sein kann. Denn auf die Moderne folgt die Unmoderne, der Rückfall, die Regression, das hätte auch der geschätzte Kollege Lyotard3 bemerken können.

Da der Begriff der Moderne ein Sich-Absetzen von früheren Strukturen impliziert, lehnen wir es ab, die Renaissance darunter zu fassen, die mitunter als geistesgeschichtlicher Beginn einer neuen Zeit begriffen wird. Eine Wiedergeburt als Neubeginn zu begreifen mag für Buddhisten logisch erscheinen, dem abendländisch Denkenden dagegen kann dies unmöglich einleuchten.

Die Moderne umfasst folglich jenen Zeitraum, in dem fraglos eine neue Wirtschaftsweise dominiert und angeblich neue Werte4 die alten abgelöst haben – und in dem eine Fülle neuer Probleme nicht entstand, sondern produziert wurde, die zu ihrer Vernichtung führen werden.

Die neue Wirtschaftsweise und ihre Segnungen

Der Kapitalismus hat zweifelsohne seine Schattenseiten, von denen in unseren früheren Arbeiten hinreichend die Rede war. Jetzt gilt es, das Positive hervorzuheben5.

Als letzte Stufe der auf dem Klassenantagonismus basierenden Produktionsweisen entwickelt der Kapitalismus aufgrund der ihm inhärenten Zwänge die Produktivkräfte zu einer bisher unbekannten Höhe. Da sich der Tauschwert marktförmig realisiert, muss der erfolgreiche Kapitalismus, auch wenn er die Ware Arbeitskraft ausbeutet, eine stetig wachsende Menge allgemeinen Warenäquivalents, vulgo Geld, erzeugen und in Umlauf halten6.

Aus dem verelendeten Proletariat der industriellen Revolution entwickelte sich in den sogenannten Industrieländern während einiger Generationen eine große Masse abhängig beschäftigter, bisweilen arbeitsloser, immer aber mit einem Minimum an Kaufkraft ausgestatteter Konsumenten. Sie verdanken ihre Existenz den bisweilen blutigen Kämpfen der Organisationen ihrer Väter, den Gewerkschaften, der zwischenzeitlichen Existenz des Staatskapitalismus, dem gegenüber der Privatkapitalismus seine Überlegenheit wie seinen Altruismus beweisen musste, und auch dem Umstand, dass die antagonistischen Gegensätze Arbeit und Kapital als eineiige Zwillinge mit entgegengesetztem Genpool ohne einander nicht lebensfähig sind7.

Aus dem zunächst regional und national organisierten Kapitalismus wurde dank leistungsfähiger Transport- und Kommunikationsmittel binnen Jahrzehnten ein weltumspannendes System. „Die restliche Welt“, also cum grano salis etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung, ging dabei nicht leer aus. Der industrielle Kapitalismus braucht Rohstoffe, billige Arbeitskraft und Absatzmärkte, und er bediente sich. Deshalb stieg für viele Millionen von Menschen der Lebensstandard, sofern man das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als dessen Maßstab betrachtet. Auch in Hintertupfistan konsumiert man deshalb heutzutage so wertvolle Produkte wie Autos, Coca Cola und Hamburger.

Die Kosten der neuen Wirtschaftsweise

Ohne die Zufuhr von Energie lässt sich keine Arbeit verrichten8. Die Menschen nutzen die Betätigung ihrer eigenen und seit der neolithischen Revolution9 auch die tierischer Muskeln dazu. Wo ein Output ist, muss auch ein Input sein: In dem skizzierten Fall kommt, betrachtet man das Ganze unter dem Aspekt der Festkörperchemie, vorne Nahrung rein und hinten Scheiße10 raus. Der Gasumsatz besteht primär in der Vernutzung11 von Sauerstoff und der Emission von CO2, im Fall von Blähungen auch von CH412.

Mit dieser bescheidenen Energiezufuhr gibt sich die große Industrie, die ihre Maschinen antreiben muss, allerdings nicht zufrieden. Sie fand kräftigere Forces13 zunächst in der Dampfkraft, die ihr die Kohleverbrennung zugänglich machte, dann in der Elektrizität, zu deren Erzeugung ihr zusätzlich Öl und Gas dienten, und schließlich in der Kernenergie, für die Uran den Brennstoff lieferte.

Diese Energieträger sind jedoch in Tussis14 Schöpfung endlich und in naher Zukunft erschöpft – es wird bald keinen Input mehr geben können 15. Leider aber gibt es den gegenwärtigen Output: Kohle, Öl und Gas emittieren bei ihrer Verbrennung ebenfalls CO2, und davon gelangt viel mehr in die Atmosphäre als vor der Industriellen Revolution. Die von diesen fossilen Brennstoffen angetriebenen Maschinen zeitigen zwar keine Flatulenzen16, emittieren also kein CH4, wohl aber tun das die etwa eineinhalb Milliarden Kühe auf der Welt, von denen die meisten ihrer Zukunft als (Hack)Fleisch in den Mägen der kaufkräftigen Maschinenbediener harren17.

Der so gewachsene Output an CO2 und CH4 legt sich als schützende Gashülle um die Erde. Wie man aus der Geschichte weiß, ist Protektionismus allerdings keineswegs immer positiv. Die CO2– und CH4-Gase verhindern das Abstrahlen von Wärme von der Erdoberfläche.

Neben den positiven Effekten der Erderwärmung – infolge des ansteigenden Meeresspiegels werden sowohl New York als auch Miami in absehbarer Zukunft nur noch von Tauchern besucht werden können – gibt es auch bedauerliche Kollateralschäden wie das vermutliche Aussterben der Großen Höckerschrecke (Arcyptera fusca) und des Eisbären (Ursus maritimus).

Die Ideologie der neuen Wirtschaftsweise

Der ideologische Kern der säkularen Weltanschauung der Moderne lässt sich auf einen Begriff bringen: Menschenrechte. Dass alle Menschen, also nach dem Verständnis des Jahres 1776 alle weißen Männer, gleich geboren und mit gleichen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, ist eine Aussage, die in Variationen wie ein Mantra seit 233 Jahren hergebetet wird18. Das Widerkäuen hat allerdings nicht dazu geführt, den Realismusgehalt dieser Zielsetzung zu erhöhen19. Ein Blick in eine beliebige Nachrichtenquelle zeigt, dass Kriege, Vertreibung, bewusst erzeugter Hunger und Versklavung und Vergewaltigung nach wie vor auf der Tagesordnung der dem Kapitalismus verfallenen menschlichen Rasse stehen – wie sollte es auch anders sein.

Das eigentliche Problem ist damit jedoch noch nicht benannt. Der Kern der Menschenrechte und damit der Kern des menschlichen Selbstverständnisses verbietet es Homo sapiens sapiens, das Leben seiner Spezies als eine von den Rahmenbedingungen der Erde abhängige Variable zu betrachten20. Er verbietet es dem Menschen, eine effiziente Bevölkerungsplanung zu betreiben. Das Ergebnis dieses Denk- und Handlungsverbots, genährt durch mangelnde Bildung und fehlende soziale Sicherungssysteme, traditionell und/oder religiös motivierte Fruchtbarkeitswünsche, kombiniert mit medizinischen Fortschritt, der mitunter sogar die Hungerregionen Afrikas erreicht, lässt sich an Zahlen ablesen: Heute21 leben 6 825 147 000 Menschen auf unserem Planeten, und täglich kommen 227 000 dazu. Für 2050 rechnet die Statistik mit neun Milliarden.

Von den 6 825 147 000 Menschen werden 5 825 147 000 Menschen vor allem von einem Motiv getrieben: Gier. Denn die meisten heute auf der Erde lebenden Menschen haben Zugang zu Massenmedien und wissen dank deren Informationen um den materiellen Lebensstandard in den Industrieländern. Ihr Bestreben geht dahin, an diesem Luxus teilzuhaben. Das wird sich, gleichbleibende Bedingungen unterstellt, aus Gründen der Ressourcenknappheit nicht realisieren lassen. Schon heute ist der ökologische Fußabdruck der Menschen so groß, als hätten sie nicht eine, sondern vier Erden zur Verfügung.

Die Folgen der neuen Wirtschaftsweise

Die neue Wirtschaftsweise erlaubt jedoch keine gleichbleibenden Bedingungen, sondern greift tief in die Ökologie ein, wie wir gezeigt haben. Die Vernutzung22 fossiler Brennstoffe und der damit verbundene Ausstoß von Treibhausgasen hat seit dem Beginn der Industriellen Revolution weltweit, verstärkt registrierbar in den Polarregionen, zu einem Temperaturanstieg geführt, der – siehe oben – einen Klimawandel als unausweichlich erscheinen lässt.

Wir sehen nicht nur einem Anstieg des Meeresspiegels und einem dramatischen Artensterben, sondern auch dem Auftauen der Permafrostböden und der Verschiebung von Vegetationszonen ins Auge. Nicht nur die Zerstörung ganzer Küstenregionen, Flüchtlingsströme bisher nicht gekannten Ausmaßes, Hungersnöte und Wassermangel werden die Folge sein. Dazu kommt der Zusammenbruch der auf Erdöl basierenden Produktionsweise: Peak Oil, der Moment der höchstmöglichen Förderung, ist überschritten, die Vorräte gehen zur Neige.

Die Menschliche Reaktion

„Irren ist menschlich“, weiß der Volksmund, und vox populi ist bekanntlich vox dei23. „Es irrt der Mensch, solang er strebt“, wusste Goethe zu sagen, und dem können wir uns nur anschließen. Solange der Mensch nämlich nach Profit strebt und sich den Teufel24 um den kleinen Planeten schert, dem er sein Dasein verdankt, irrt er ganz gewaltig. Aber sein Freund Schiller25 ist da ganz anderer Meinung:

„Nur der Irrtum ist das Leben,

Und das Wissen ist der Tod.“ 26

Nun denn, Ihr Menschen!

Lebt und irrt und gehorcht so dem Gesetz Eurer Spezies: Wagt nicht zu wissen27, denn das wäre Euer Tod. Haltet es nur nicht mit Descartes und seinem Prinzip: „Cogito, ergo sum!“ Schon Cäsar wusste: „Er denkt zuviel, solche Leute sind gefährlich.“28

Honi soit qui mal y pense. 29

Oder gar: Honi soit qui pense?

Conclusio

Also doch: Pffffffttttttt.

Schade eigentlich. Trotz allem.

P.S.

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.


Fußnoten:

  1. Wie ich den Chef kenne, wird er das nicht schaffen. Die Sekretärin (Zurück)
  2. Wir müssen sogar zugeben, das wir das Scheitern menschlicher Versuche der Problembewältigung sogar aktiv gefördert haben. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an „Grizzys Plan“ . (Zurück)
  3. Ein französischer Philosoph, den nicht zu kennen kein Fehler ist. (Zurück)
  4. Gemeint sind ethische, nicht ökonomische. (Zurück)
  5. Huch, was ist mit dem Chef los? So kenne ich ihn gar nicht. Die Sekretärin (Zurück)
  6. „Autos kaufen keine Autos“ soll schon Henry Ford festgestellt haben. Allerdings ist Geld als Kapital auch ein Problem der Moderne, verselbständigt es sich doch immer wieder mit Hilfe der Börsen und Banken, scheint zunächst im Überfluss vorhanden zu sein und fehlt dann plötzlich auf dramatische Weise. Kurz, dem Kapitalismus wohnt der Crash inne, was für die Beteiligten ärgerlich ist, für das System aber nicht tödlich. Deshalb widmen wir diesem Phänomen lediglich eine Fußnote.(Zurück)
  7. Wusste ich‘s doch, dass der Chef das mit der Verständlichkeit nicht hinkriegt. Die Sekretärin (Zurück)
  8. Hilfe, jetzt ist der Chef auch noch unter die Physiker gegangen! Die Sekretärin (Zurück)
  9. Also seit der Mensch sesshaft geworden ist und Landwirtschaft betreibt. Die Sekretärin (Zurück)
  10. Wir hätten an dieser Stelle natürlich auch von Fäkalien sprechen können, aber schließlich haben wir versprochen, uns allgemeinverständlich auszudrücken. (Zurück)
  11. Der Chef meint damit Verbrauch. Die Sekretärin (Zurück)
  12. Der Chef meint damit Methan. Die Sekretärin (Zurück)
  13. Das ist mal wieder typisch für den Chef! Er macht es wie sein großes Vorbild Karl Marx: Wenn dem kein deutsches Synonym eingefallen ist, hat er auch einfach frech die entsprechende englische oder eine andere ausländische Vokabel in seine Texte eingesetzt, um Wortwiederholungen zu vermeiden. „Forces“ heißt schlicht „Kräfte“. Die Sekretärin (Zurück)
  14. Gottheit des Chefs. Die Sekretärin (Zurück)
  15. Der komplexen prinzipiellen philosophischen Frage, ob sich Teile von Tussis Schöpfung jemals erschöpfen können, werden wir uns ein anderes Mal widmen. (Zurück)
  16. Der Chef will sagen, dass die Maschinen nicht pupen. Die Sekretärin (Zurück)
  17. siehe oben: Hamburger (Zurück)
  18. vgl.Unabhängigkeitserklärung der USA (Zurück)
  19. Wie wir oben gezeigt haben, erzeugt Widerkäuen in der Regel einen unangenehmen Gestank. (Zurück)
  20. Säkularisierung hin oder her: der alte Adam hat die Idee der Gottesebenbildlichkeit doch herzlich gerne! (Zurück)
  21. 23.11.2009. Nachzulesen bei www.weltbevoelkerung.de (Zurück)
  22. Allerdings ist fraglich, ob man von „Nutzen“ reden sollte, wenn Öl in Ottomotoren verbrannt wird, um sich mit dem Auto von „A“ nach „B“ zu begeben. Dabei bewegt sich nämlich das Auto und nicht der in ihm sitzende Mensch, der hinter dem Steuer Kartoffelchips in sich hineinstopft und seine Adipositas päppelt. Aber das ist auch schon wieder ein anderes Problem. (Zurück)
  23. Ich bitte Tussi um Entschuldigung. (Zurück)
  24. Der Teufel ist lediglich eine plumpe christliche Erfindung, aber wegen der Sprachgewalt hat er hier seinen Platz. (Zurück)
  25. zumindest behauptet das Rüdiger Safranski (Zurück)
  26. Schiller, Kassandra (Zurück)
  27. vgl.Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? (Zurück)
  28. Shakespeare, Julius Cäsar I, 2 (Zurück)
  29. Edward III., nachdem er angeblich ein Strumpfband aufgehoben hat. (Zurück)

Nach oben!

Kulle träumt

Kulle

Kulle wälzte sich unruhig im Schlaf hin und her. Es war Februar, die Tage waren schon merklich länger geworden, die Meisen kämpften um Reviere, Schneeglöckchen hatten sich aus dem frostigen Boden gekämpft – kurz, der Frühling kündigte sich an. Und mit ihm wurde der Schlaf der Bären flacher, traumanfälliger.

Er durchstreifte eine Ebene mit sattem jungem Gras, Blumenwiesen und blühenden Obstbäumen und trottete auf ein großes Objekt zu, unverkennbar ein Artefakt, denn es war rechteckig, vielleicht sogar quadratisch. Beim Näherkommen erkannte er, wie riesig es war. Er braucht eine Ewigkeit, um es zu erreichen. Die Begrenzung bildete ein hohe Umzäunung. Er konnte nicht hineinschauen, was hauptsächlich an der Werbung lag, die die Einhegung flächendeckend zierte. „Bei uns ist es fein, kommt doch herein!“ hieß es da; auch „Komm ins Team!“ und „Spaß und Erfolg? Hier bist Du richtig!“ Es gab aber nicht nur Sprüche, sondern auch verlockende Zeichnungen und Fotos: von Golfplätzen, Tennisplätzen, berühmten europäischen Wahrzeichen und immer wieder von lachenden Kindern und Jugendlichen.

Kulle bemerkte, dass er direkt auf einen Eingang zusteuerte, obwohl es hier weder Weg noch Steg gab. Aber auch als er unmittelbar vor dem Zugang stand, war ihm der Blick nach innen immer noch verwehrt, denn die Drehtür hatte undurchsichtige Wände. Die Tür kommunizierte mit ihm, als er sich näherte – sie begann sich zu bewegen, im Uhrzeigersinn wie alle Drehtüren, dann aber ein kleines Stückchen zurück und wieder ein größeres vor. Sie schien ihn locken zu wollen.

Kulle ließ sich verführen. Er trat ein. Die Drehtür stand still und ließ sich auch mit Gewalt nicht mehr zur kleinsten Bewegung bringen. Er war gefangen.

Kulle sah Tretmühlen vor sich, nichts als Tretmühlen, alle in Rotation gehalten von Menschen, die ihre letzen Kräfte aufbrachten, um sie zu bewegen. Sie hatten nicht nur gegen die Trägheit der Maschinen zu kämpfen, sondern auch mit vielerlei Widerständen: Bücher und Hefte flogen in ihren Hamsterrädern herum, verursachten ihnen blaue Flecken und Schmerzen, und immer wieder steckten Bretter oder andere feste Gegenstände irgendwo im Getriebe und blockierten die Arbeit.

Die Zwangsarbeiter stöhnten, schrieen und baten um Gnade, aber das stieß nur auf Spott bei der Vorsteherin des – Lagers – Kulle fand dafür kein anderes Wort -, die plötzlich erschien.

„Durchhalten! schrie sie. „Ich halte schließlich auch durch, jetzt schon ein Jahr lang. Was sind dagegen eure läppischen 30 oder 35 Jährchen? Lasst uns zusammenhalten, noch mehr als bisher. Die nächsten beiden Jahre werden die schlimmsten, die wir durchstehen müssen. Und deshalb müssen wir alle unser bestes geben, auch die Weicheier – äh, die nicht so Belastbaren.“

Erst jetzt bemerkte Kulle, dass es neben den riesigen ungeschlachten trägen Tretmühlen auch kleinere gab, leichtere, in denen weniger Widerstände die Arbeit behinderten. Aber das änderte sich schlagartig.

„Simsalabim!“ rief die Vorsteherin, und sofort waren auch die kleinen Tretmühlen große Hamsterräder.

„Seht ihr,“ schrie sie triumphierend, „so schaffen wir es!“

Tatsächlich – für eine kleine Weile schien das System besser zu funktionieren als vorher, aber dann stand ein Rad nach dem anderen still.

„ICH KANN ES NUN NICHT MEHR!“ hauchte eine körperlose Stimme über das Gelände, und dann trat Stille ein. Lautlos fiel die gesamte Anlage in sich zusammen, und zum Schluss brach auch die Umfriedung nieder. Die Gegend war wieder unberührt, als hätte es dort nie etwas anderes gegeben als sattes junges Gras, Blumenwiesen und blühende Obstbäume.

Kulle wachte auf und rieb sich die Augen. Wie immer war er empört darüber, dass er seine Träume nicht steuern und oft nicht erklären konnte. So ging es ihm auch diesmal. Aber dieser Traum, da war er sich sicher, hatte etwas zu bedeuten. Irgend etwas. Er würde es herausfinden.

Geld

Um halb neun erst ging die Sonne im Dezember in Dehland auf, und acht Stunden später war sie schon wieder tief unter dem Horizont verschwunden. Ordentliche Braunbären verschliefen solche unwirtlichen Jahreszeiten weitgehend, aber Bärdel und Kulle waren dafür allmählich zu alt. Sie litten unter Schlafstörungen und zelebrierten deshalb ihre traditionellen Morgenspaziergänge auch an manchem Tag in der dunkelsten Jahreszeit.

Bärdel

Heute begann Bärdel ihren Dialog: „Kulle, was ist Geld?“

Kulle

Der kleinere Kulle schaute den größeren Bärdel an und griente: „Was, mitten im Winter willst Du philosophieren?“

„Zum Witze machen bin ich denn doch zu müde“, brummte Bärdel. „Ich habe Dir eine ökonomische Frage gestellt, eine leichte Frage, dachte ich, und sonst gar nichts.“

„Die Frage ist aber auch höchst philosophisch“, widersprach Kulle. „Die Königsfrage der Philosophie lautet doch wohl: Was ist der Mensch? Hör Dir dazu mal eine Antwort an! ‚So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt.

Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut, das Geld überhebt mich überdem der Mühe, unehrlich zu sein; ich werde also als ehrlich präsumiert; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Das Geld verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn.‘ Na?“

„Von wem ist das denn?“

„Von wem wohl – vom größten Philosophen aller Zeiten natürlich. Marx, aus den ökonomisch-philosophischen Manuskripten.“

„Gut erkannt, finde ich. Die Menschen haben Haben und und verwechseln das mit Sein. Aber Dein Meisterphilosoph war im Nebenberuf, wenn ich das so formulieren darf, doch auch Wirtschaftswissenschaftler und hat sicher auch eine ökonomische Antwort auf meine bescheidene Frage gegeben: Was ist Geld?“

„Mehrere Antworten sogar. Es kömmt drauf an, ob Geld als Geld oder als Kapital genutzt wird. Im ersten Fall haben wir den Kreislauf W – G – W vorliegen, im zweiten Fall haben wir es mit G – W – G‘ zu tun. Beide unterscheiden sich…“

„Langsam, bitte! Eins nach dem anderen!“

„Gut. Also im ersten Fall ist Geld nur ein allgemeines Warenäquivalent. Man kann den Tauschwert aller Waren in Geld verwandeln und das Geld umgekehrt in die Waren, die man haben möchte.“

„Das heißt, Geld ist ungemein praktisch. Wenn ich eine Ware A habe und eine Ware B suche, muss ich nicht ewig nach jemandem suchen, der B hat.“

„Ganz genau“, stimmte Kulle zu. „So weit, so gut. Leider hat das praktische System aber auch seine Tücken.“

Lass mich raten. Ich vermute, das Ganze geht schief, wenn es mehr Geld gibt als Warentauschwerte. Oder weniger. Richtig?“

„Richtig. Im ersten Fall gibt es Inflation, alles wird immer teurer, weil es zu viel Geld gibt. Wenn zu wenig Geld vorhanden ist, kaufen die Leute nichts, und das ist zwar gut für die Umwelt, nicht aber für die Produzenten. Sie senken deshalb die Preise, und die Menschen kaufen noch weniger, weil sie erwarten, dass in Zukunft alles noch billiger sein wird. Und schon haben wir die schönste Deflation.“ Kulle machte eine gekonnte Kunstpause. „Zumindest in der Theorie.“

„Ach, nicht in der Realität?“ Bärdel wusste genau, womit er seinem eitlen Freund eine Freude machen konnte.

„Nein, jedenfalls nicht immer. Nicht in den letzten Jahrzehnten. Ich habe keine Ahnung, wer einen genauen Überblick darüber hat, wie viel Geld es auf der Welt gibt. Vielleicht Ben Bernanke. aber auch das bezweifle ich. In Bezug auf eine Aussage sind sich alle Ökonomen gegenwärtig jedoch einig, ob sie nun Neocons sind oder Sozialisten: In den letzten 40 oder 50 Jahren ist die Geldmenge viel schneller gestiegen als das BIP. Manche gehen von einem fünffachen Wert aus, andere vom zehnfachen. Wir haben es also mit der Grundlage einer wunderschönen Inflation zu tun. Theoretisch jedenfalls.“

„Du wirst mir das bestimmt gleich erklären können.“ Bärdel mimte den Hilflosen.

„Kann ich,“ tönte Kulle, von keinerlei Selbstzweifel geplagt. „Jetzt wird der zweite Geldkreislauf interessant: G – W – G‘. Früher haben die Kapitalisten aus Geld mehr Geld gemacht, indem sie die an sie verkaufte Arbeitskraft ausgebeutet haben. Danach haben sie die Produkte zum wirklichen Tauschwert verkauft, und fertig war der Profit. Ein in der Regel maßvoller Profit, aber ein Profit. Jedoch ist das Kapital, das scheue Reh, stets auf der Suche nach mehr. ‚Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.‘ Ist natürlich auch von Marx.

Neuerdings gibt es also einen riesengroßen Luftballon voller Geld. Dieses Geld darf man nicht einfach für Dinge des täglichen Bedarfs ausgeben, denn sonst haben wir die schönste Inflation. Auch Kapitalisten kennen die ökonomische Theorie, wenigstens zum Teil. Was also sollen sie machen?“ Kulle sah Bärdel auffordernd an.

„Vielleicht spielen?“ schlug Bärdel vor. „Den Luftballon ein bisschen schubsen, mal hierhin und mal dorthin, in der Hoffnung, dass jemand reinpustet und ihn noch größer macht. Dieses Spiel beinhaltet allerdings auch das Risiko, dass jemand eine Nadel in den Ballon piekst, und dann: Pfffffftttt…“ Bärdel war sich ziemlich sicher, dass Kulle zumindest seine Lieblingsmetapher wiedererkennen und sich mit einer herzhaften Rauferei für das Plagiat ‚bedanken‘ würde, aber nichts dergleichen geschah.

„Das mit dem ‚Pfffffftttt‘ hätte glatt von mir sein können“, kommentierte Kulle anerkennend. „Im übrigen hast Du recht. Sie hatten einen Geldluftballon, eine Finanzblase, und sie haben gespielt. Haben gezockt. Haben neue sogenannte ‚Produkte‘ erfunden, in die man investieren konnte. Wie hoch wird in einem Jahr der Weizenpreis sein? Alte Idee. Aber: Wie hoch wird der Kurs der Börse in Tokio in 53 Tagen sein? Wird er im Rhythmus von zehn Tagen in den nächsten sechs Monaten steigen oder fallen? Wie hoch ist der Prozentsatz, um den er steigt? Oder fällt? Was macht er an welchen Stichtagen? Bessere Ideen, kompliziertere Ideen, neuere Ideen – riskantere Ideen.“

„Ich verstehe“, sagte Bärdel. „Glücksspiel pur. Aber Glücksspiel ist nur was für Leute, die es sich leisten können. Die meisten Menschen sind doch Habenichtse, auch in den sogenannten reichen Ländern. Hat es gereicht, nur mit den Reichen zu spielen, um genug Profit machen zu wollen?“

„Nein, hat es nicht. Die guten alten warenproduzierenden Kapitalisten haben sich in die Gewänder moderner Kredithaie geworfen und den Habenichtsen genug Geld versprochen, um endlich ihre irdischen Träume verwirklichen zu können. Dabei haben sie ihre Reißzähne natürlich versteckt – und erst später hat sich herausgestellt, dass sie gar keine hatten.“

„Zahnlose Haie? Geld für Habenichtse? Ich verstehe gerade gar nichts!“

„Das verstehe ich gut. Lass Dich entführen in das Land des Geldes, in dem auf jeder Dollarnote steht: ‚In God we trust“, in das Land der Freien, in dem jedem und allmählich auch jeder und neuerdings vielleicht sogar den Negern, die nicht mehr so heißen, weil das politisch inkorrekt ist, obwohl sie es sind, was die Statistik der Gefängnisinsassen auf den ersten Blick belegt, auch wenn der neue Präsident jetzt braun ist, in dem also Geld und Gottvertrauen für die Freien identisch sind und in dem jeder das Recht hat, sein Glück oder – je nach Übersetzung – seine Glückseligkeit zu verfolgen – und vielleicht gar zu realisieren?“

Kulle war der Zorn anzuhören, der Zorn über die Hybris der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, über die gesellschaftliche Realität der Vereinigten Staaten von Amerika und über seine eigene aktuelle Unfähigkeit, seine Kritik angemessen zu artikulieren.

„Entschuldigung!“ murmelte er. „Manchmal…“

„Manchmal verhindert alle bärische berechtigte Verachtung des Menschengeschlechts nicht, dass wir uns über den sogenannten Homo sapiens sapiens kräftig ärgern. Mach ich ja auch. Aber erklär mir die Sache bitte trotzdem“, bat Bärdel.

Kulle riss sich zusammen.

„Habenichtse haben nichts, haben kein Haben. Das wollen sie unbedingt ändern. Sie wollen ein Auto, einen Flachbildschirm, ein Haus, und alles immer im Komparativ. Haben zählt nur, wenn es größer ist als das des Nachbarn. Wie kommt man dazu, wenn man kein Geld hat? Über einen Kredit natürlich. Der Kredit kann Kreditkarte heißen oder Hypothek oder Konsumentenkredit – egal. Ein Kredit ist Geld, das man nicht hat und das man trotzdem ausgeben kann.“

„Hm“, sagte Bärdel, und jetzt war seine Nachdenklichkeit nicht gespielt. „Ich begreife, was die Habenichtse wollen – oder gewollt haben. Nein, wollen. Sie sind vermutlich unverbesserlich. Was ich nicht verstehe, ist, wer ihnen Geld geliehen hat – und warum.“

„Wer? Natürlich die Kredithaie! Und warum? Haie wollen fressen! Sie haben darauf gesetzt, ihr Geld zurückzukriegen!“

„Kulle!“ Bärdel geriet selten außer Fassung, aber jetzt war er kurz davor. „Kulle! Was ist mit Deiner Logik los? Wie bekommt man Geld von jemandem, der kein Geld hat?“

Kulle ließ sich Zeit. „Mit meiner Logik ist alles in Ordnung. Übrigens spreche ich nicht von mir. Unter welchen Bedingungen kann man Geld zurückbekommen, das man Habenichtsen zu Konsumzwecken zur Verfügung gestellt hat? Na? Wie sieht da wohl die Kredithai-Logik aus?“

„Das kann eigentlich nur klappen, wenn der Wert der Konsumgüter immer weiter steigt“, brummte Bärdel zögernd. „Aber das ist doch Unsinn. Ein Gebrauchtwagen ist weniger wert als ein neues Auto, das weiß doch jedes Bärenkind!“

„In Bezug auf Autos hast Du völlig Recht, und eigentlich sollte das für alle Waren gelten. Allerdings ist es schon wiederholt gelungen, dieses Gesetz bei Immobilien außer Kraft zu setzen – in der Vergangenheit in Japan, aktuell in Spanien, Großbritannien und, was am wichtigsten ist, in den USA. Die Häuser der Habenichtse wurden von Tag zu Tag wertvoller, und so war es den ‚Besitzern‘ ein Leichtes, eine alte Hypothek zurückzuzahlen, und zwar mit einer neuen, höheren. Von dem Zusatzgeld kauften sie sich was Schönes…und alles wäre gut, wenn das immer so weiter gegangen wäre. Ist es aber nicht. Eines Tages fielen die Preise, Schluss war mit dem Extrakonsum, und die Kredithaie sahen mit offenen Mäulern zahnlos zu, wie ihre Hypotheken sich in Luft auflösten – von Habenichtsen konnten sie nichts holen.“

„Dann ist doch endlich wieder alles gut!“ freute sich Bärdel. „Das Geld, das futsch ist, war doch sowieso zu viel, hast Du gesagt.“

„Deine Bewertung gilt für den Kreislauf W – G – W, wenn Geld nur als Tauschmittel fungiert. Hier aber bewegen wir uns in dem anderen Kreislauf G – W – G‘, es geht um Geld als Kapital. Und das ist vernichtet worden – der Horror jedes Kapitalisten. Nichts ist also gut.“

„Na und? Dann sollen die Menschen eben einen neuen Anlauf nehmen, wenn es sein muss, einen neuen kapitalistischen. Wie hast Du das vorhin gesagt: ‚ Früher haben die Kapitalisten aus Geld mehr Geld gemacht, indem sie die an sie verkaufte Arbeitskraft ausgebeutet haben. Danach haben sie die Produkte zum wirklichen Tauschwert verkauft, und fertig war der Profit.'“

„Wahrscheinlich würden die Menschen das gerne tun, aber dazu fehlt ihnen das Geld“, gab Kulle zu bedenken.

„Wieso?“ Bärdel verstand das nicht. „Es ist doch immer noch genug Geld da!“

„Geld ja, aber nicht genug. Nach dem Flop mit den Hypotheken leiht nämlich niemand niemandem mehr was, aus Angst, sein Geld nicht zurückzubekommen. Du siehst, das Hegelsche Pendel schlägt zu.“

Bärdel wusste nichts von einem Hegelschen Pendel, und dass ein Pendel zuschlagen konnte, war ihm auch neu, aber er hatte begriffen, dass es um Kredite ging. „Wer will oder muss sich denn jetzt nach all dem noch Geld leihen?“ fragte er verwirrt.

„Na, die Produzenten natürlich“, antwortete Kulle und pflückte eine einsame Hagebutte, die er im ersten Morgenlicht erspäht hatte, von einem Strauch. „In Dehland sind die produzierenden Betriebe im Schnitt nur zu 20% eigenkapitalfinanziert, wusstest Du das nicht?“

„Willst Du damit sagen…“ Bärdel war so perplex, dass er gar nicht auf die Idee kam, sich auf die zweite sichtbare Hagebutte zu stürzen, obwohl die Früchte der Heckenrose zu seinen Lieblingsspeisen gehörten. „Willst Du damit sagen, dass ein neuer Wirtschaftsanlauf auch nur auf Pump möglich ist?“

„Exakt!“ Kulle stimmte heiter zu und pflückte sich die zweite Hagebutte. Als er die Fruchtschale zusammendrückte und zum Platzen brachte, entstand ein leises ‚Pfffffftttt‘.

„Meine Tussi!“ flüsterte Bärdel.

Augenleben

Wie alle Bärenlebener schätzte Tumu Marx‘ ideales Lebensmotto: morgens Sammler, nachmittags Fischer, abends kritischer Kritiker zu sein, und natürlich hielt sie sich nicht sklavisch an dessen Reihenfolge. Heute hatte sie sich am helllichten Vormittag in die Bibliothek begeben, um nach geeigneten Gutenachtmärchen für die Eisbärenkinder zu suchen. Nanuk waren zwar sehr intelligent und wussten dank Attis und Kulles Bemühungen auch schon sehr viel, aber oft waren sie noch die reinsten Kindsköpfe.

Tumu

Unter den Stichworten „Bärenmärchen“ und „Bärengeschichten“ fand sie im elektronischen Katalog „Stories of Winnie-the-Pooh“ und rief den Text auf. Bald musste sie laut lachen: Der Mensch, der das geschrieben hatte, kannte sich mit Bären gar nicht schlecht aus! Der wusste zum Beispiel. dass Bären fast immer an Honig denken, wenn sie zum Beispiel ein Summen hören oder eine Biene sehen. Schmunzelnd wollte Tumu Winnie beim Erklettern einer hohen Eiche verfolgen, weil er in ihrem Wipfel einen Bienenstock vermutete, als sie plötzlich mit dem rechten Auge nur noch Farben sah. Schönste Regenbogenfarben. Aber eben keinen Bildschirm mehr, keine Buchstaben, keine Bibliothek.

Sie kniff das rechte Auge zu. Links war alles, wie es sein sollte.

Sie blinzelte mit beiden Augen. Öffnete sie. Rechts blieb der Regenbogen.

Sie bekam Angst.

Einäugig fand sie den Weg ins Labor. Alle nannten die Höhle, in der Manfred unumstrittener Herrscher war, so, aber eigentlich war sie seine Kommandozentrale. Sein Bärenlebener Technikzentrum. Und sein Lagerplatz für alles das, was er irgendwann einmal an sich gebracht, wofür sich aber bisher keine Verwendung hatte finden lassen.

Manfred

„Manfred!“ Tumu stieß sich wegen ihrer ungewohnt eingeschränkten Sicht schmerzhaft die Schulter an der Wand. „Au!“

„Mama, was ist los?“

„Ich habe da noch was, warte mal,“ murmelte Manfred, nachdem Tumu mit ihrer kurzen Erklärung fertig war. Er war ein Sammler. Nie hatte er sich damit zufrieden gegeben, nur das zu erwerben – was immer erwerben auch heißen mochte -, was er unmittelbar verwenden konnte. ,Man kann ja nie wissen‘ war sein Motto – und jetzt machte es sich bezahlt. Er kramte im Hintergrund seiner Schatzkammer herum, kam mit einem riesigen Karton wieder zum Vorschein und begann auszupacken.

„Das dauert jetzt noch einen Moment“, sagte er. „Ich muss erst mal die Betriebsanleitung lesen. Aber das hier ist genau das, was wir brauchen: Augendiagnostik mit Gesichtsfeldmessung und etlichem anderem Schnickschnack.“

Tumu setzte sich und schloss die Augen. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich: Die Regenbogenfarben tanzten weiter. Die Angst tanzte mit.

„Okay, Mama“, sagte Manfred schließlich. „Komm mal her. Jetzt finden wir raus, was mit deinen Augen los ist!“ Zehn Minuten später stand sein Urteil fest: „Im rechten Auge hast Du einen großflächige Netzhautablösung. Das muss umgehend operiert werden. Sonst verlierst Du Dein Augenlicht. Du musst ins Krankenhaus.“

Plötzlich war Tumu völlig ruhig. Sie akzeptierte das Urteil. In Zukunft würde sie also auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. Nun gut. Bären waren sowieso kurzsichtig, allesamt. Bären waren Nasentiere. Ihre Nase funktionierte ausgezeichnet. Sie würde zurechtkommen.

„Nein, das muss ich nicht. Wir dürfen das nicht riskieren. Vielleicht merken die Menschen nicht gleich, dass ich eine Bärin bin, aber später werden sie mich verfolgen mit ihren Rechnungen und Nachuntersuchungen. Sie werden Bärenleben finden, und dass das nicht passieren darf, brauche ich Dir nicht zu erklären.“

Manfred nickte. Dann schüttelte er den Kopf. „Aber, Mama…“

“Jetzt halt mal die Klappe, Jungstinker! Und mach uns hier bitte Platz! Deine kluge Mutter hat völlig recht. Ich kann Eure ganze Mischpoke schließlich nicht dauernd durch die Gegend transportieren. Aber eine kleine Netzhautfestklebung sollten wir mit Bordmitteln schon hinkriegen, hihi! Erstmal brauchen wir einen ordentlichen Operationstisch.“

Tumu hörte ein Summen und Brummen, ein Schwirren und Sirren, ein Sausen und Brausen. Mit dem gesunden Auge sah sie, dass die Luft zu tanzen begann. Aus allen Richtungen kamen Blattschneiderbienen, Blutbienen, Buntbienen, Düsterbienen, Erdbienen, Filzbienen, Fleckenbienen, Furchenbienen, Glanzbienen, Graubienen, Harzbienen, Holzbienen, Hosenbienen, Hummeln, Kegelbienen, Kuhhornbienen, Kraftbienen, Kurzhornbienen, Langhornbienen, Löcherbienen, Maskenbienen, Mauerbienen, Mörtelbienen, Pelzbienen, Sandbienen, Sandgängerbienen, Sägehornbienen, Schenkelbienen, Scherenbienen, Schienenbienen, Schlürfbienen, Schmalbienen, Schmuckbienen, Schwebebienen, Seidenbienen, Spiralhornbienen, Steinbienen, Steppenbienen, Steppenglanzbienen, Trauerbienen, Wespenbienen, Wollbienen, Zottelbienen und Zweizahnbienen angeflogen. Aller Wachsdrüsen arbeiteten auf Hochtouren.

Tumu und Manfred trauten ihren Augen nicht, Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Insekten ein Wachsbett modelliert hatten, in dem das Basrelief einer liegenden Tumu ausgespart worden war. Nach einem abschließenden Kontrollflug brumselte eine dicke Hummel als letzte davon.

„Danke, KInder! Ihr habt was bei mir gut! Und nun, meine Liebe – mach es Dir im OP gemütlich!“

Natürlich hatte Tumu Tussis Stimme schon beim ersten Mal sofort erkannt. Alle Angst war verflogen. Wenn Tussi etwas in die Hand nahm, brauchte niemand sich mehr Sorgen zu machen, und schon gar keine Bärin in Bärenleben. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, legte sie sich auf und in das Kunstwerk der Bienen. Es schmiegte sich perfekt an ihren Körper.

„Alles klar, wie ich sehe. Entspann Dich. Entspann Dich wirklich – die besten Operateure der Welt sind eben nicht Säuger, sondern Krabbeltiere – wahrscheinlich ist das für Dich gewöhnungsbedürftig. Aber alles mit Tussi-Garantie!“

Tumu lächelte, allerdings nur zwei Sekunden lang. Dann spürte sie, wie es auf ihrem Gesicht krabbelte. Es mussten viele sein, auch wenn ihr klar war, dass jeder – jede – jedes – oh, fiel ihr ein, eigentlich wusste sie nichts von Krabbeltieren, noch nicht mal etwas über deren Geschlecht – sechs Beine hatte. Oder sogar acht, falls es Spinnen waren. Oder Dutzende, wenn es sich um Tausendfüßler handelte.

„Gaaanz ruhig!“ kommandierte Tussi. „Zu Deinem rechten Auge ist gerade eine Eliteeinheit roter Waldameisen unterwegs. Sie werden sich unter Deinem Auge versammeln, und dann werden sie Dich alle gleichzeitig beißen – Ameisensäure ist ein perfektes Anästhetikum! Vom Rest der Operation wirst Du nichts mehr spüren.“

Manfred bekam große Augen, biss sich aber auf die Zunge. Tussi wusste immer, was sie tat, beruhigte er sich. Oder versuchte es wenigstens.

Tumu registrierte ein Ende des Krabbelns und bekam gleich danach einen ordentlichen Stich versetzt – oder wohl eher einen Biss, wie Tussi gesagt hatte.

„Und jetzt“, verlangte Tussi, „machst Du Deine Augen zu. Vor allem das rechte. Nicht erschrecken – ich helfe in bisschen nach!“

Tumu erwartete einen kühlen Froschfinger auf ihrem Gesicht, aber stattdessen verspürte sie pelzige Wärme über dem rechten Auge und roch etwas – Sumpf und Moschus.

„Das ist Freundin Bisamratte“, informierte sie Tussi. „Ihre Geruchsdrüsen harmonieren perfekt mit der Wirkung der Ameisensäure. Sie wird ein paar Minuten da hocken bleiben, bis die Betäubung richtig wirkt. Manchmal seid Ihr Säuger eben doch zu etwas zu gebrauchen. Aber danach übernehmen die wirklichen Künstler. Die Operation werden Blattschneiderameisen durchführen – sie sind gerade aus Lateinamerika eingereist. Die machen Dein Auge erst mal kaputt, wie Du Dir denken kannst, und implantieren Dir eine neue Linse. Die alte taugt nämlich nicht mehr viel. Die Linse hat mir eine Freundin geschenkt. Ich kenne sie zwar noch nicht lange, denn sie ist ziemlich jung, keine dreitausend Jahre, schätze ich, aber ich halte sie für vertrauenswürdig. Sie ist eine Redwood aus Nordkalifornien und produziert glasklares Harz, das schnell zu Bernstein erstarrt. Danach musst Du bloß noch zusammengenäht werden. Diese verantwortungsvolle Aufgabe übernimmt Meisterin Kreuzspinne, berühmt für ihre Fußfertigkeit und ihren extrafeinen Klebfaden. Der Weberknecht assistiert ihr natürlich. Du darfst derweil träumen – von süßen Kaulquappenkindern zum Beispiel. Aber vermutlich ziehst Du stinkende kleine Bären vor – chacun à son goût, wie der französische Frosch sagt. Und jetzt geht‘s los!“

Tumu überließ sich willig ihren Operateuren, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Sehnerv ein aufregendes Eigenleben beginnen würde. Kaum war ihr Auge weg‘, wie sie den ersten Schritt des Eingriffs für sich übersetzte, da entfaltete sich eine Farbenpracht, wie sie sie noch nie zu sehen bekommen hatte. Sie verzichtete darauf, irgend etwas steuern zu wollen, und überließ sich dem Geschehen. Irgendwann setzten sich die Farben zu Bildern zusammen.

Eine Decke aus Geldscheinen, überwiegend Dollarnoten, lag locker auf dem Globus. Anfangs war sie dünn, reichte nicht aus, um den Erdball zu bedecken, bekam immer wieder Löcher, wurde notdürftig geflickt. Dann aber gewann sie an Fülle und Fläche, wurde flauschig wie ein Bett aus Eiderdaunen, bedeckte mit der Ausnahme Afrikas alle Kontinente, füllte sich prall und praller, schien ihre Hülle sprengen zu wollen. Sie wurde lebendig, hob sich in die Höhe, wollte sich losreißen, kam aber nicht fort. In geringem Abstand von der Erdoberfläche schwoll sie immer weiter und weiter an. Sie wurde so dick, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie platzen würde.

Sie platzte. Geldscheine taumelten durch den Weltenraum, verglühten in den Sternen, verschwanden in unendlichen Weiten. Ein Jammergeschrei erhob sich auf der Erde, die die Sonnenstrahlen endlich wieder erreichten. Verkrüppelte menschliche Wesen, bleich wie Höhlenbewohner, reckten ihre mageren Arme suchend in den Himmel und versuchten gleichzeitig, sich vor dem Licht zu schützen.

Tumu schüttelte nicht unwillig den Kopf, denn erstens war der perfekt in den Bienentisch eingepasst, und zweitens hätte sie nie gewagt, die delikate Arbeit der Meisterin Kreuzspinne und ihrer Mitoperateure zu gefährden. Sie verscheuchte den Traum, ohne sich zu rühren, und beherzigte Tussis Empfehlung. Die neueste Weltwirtschaftskrise lag ihr momentan weitaus ferner als zum Beispiel Na und Nuk und Gute-Nacht-Geschichten für die Kinder. Winnie-the-Pooh fiel ihr wieder ein und seine Vorliebe für Honig. In Bärenleben, beschloss sie, würden alle Gerichte künftig nur noch mit Kunsthonig zubereitet werden. Nie mehr würde sie zulassen, dass Bienen bestohlen wurden.

„Lobenswerter Vorsatz!“ kommentierte Tussi. „Wir sind übrigens fertig mit der Behandlung. In ein paar Tagen kannst Du wieder ordentlich sehen und den Kleinen Geschichten vorlesen. Ich werde mich übrigens dazu einladen – Geschichten von Bären von sehr geringem Verstand gehen mir runter wie Honig – pardon, wie Kunsthonig natürlich, hihi! Und jetzt wird geschlafen.“

Krise? Welche Krise?

Kulle

“Onkel Kulle, Onkel Kulle! Wir haben heute die Zeitung gelesen!“

Kulle war vertieft in den dritten Band der “Theorien über den Mehrwert“ und wurde vom Überfall der Eisbärenkinder völlig überrascht.

Na und Nuk

“Schön“, murmelte er zerstreut. “Aktuelle Bildung ist immer gut. Aber der sinkende Fall der Profitrate…“

“Oh, Onkel Kulle, liest Du auch gerade Zeitung?“ erkundigte sich Na.

“Unsinn. Ich lese Karl Marx.“ Zum Beweis hielt Kulle ein dickes blaues Buch in die Höhe. “Das ist ein Standardwerk und schon etwas älter als die Zeitung von heute.“

“Dann ist entweder die Zeitung von heute ziemlich veraltet, oder Dein Karl Marx war ein Hellseher“, bemerkte Nuk naseweis. “Denn wir haben eben erfahren, dass die Profite von vielen Banken mehr als sinken. Und das führt dazu, dass ihre Rate – oder ihr Rating oder so – sich verschlechtert. Wir haben das alles nicht so richtig verstanden. Deshalb sind wir hier – Du kannst uns das doch bestimmt erklären, oder?“

Geschmeichelt klappte Kulle den Band 26.3 der gesammelten Werke von Marx und Engels zu. “Ich kann es ja mal versuchen“, sagte er gespielt bescheiden. Und dann dachte er ziemlich lange nach. Denn es war gar nicht so einfach, jungen Eisbärinnen eine Subprimekrise zu erklären.

“Also…“ begann er schließlich.

“Ja?“

“Also … Ihr wollt ein Haus bauen …“

“Wollen wir gar nicht!“

“Stellt Euch vor, Ihr wollt ein Haus bauen…“

“Warum sollen wir uns das vorstellen?“

Kulle begriff, dass er mit Betroffenheitspädagogik nicht weiterkam.

“Viele Menschen in den Vereinigten Staaten wollten ein Haus bauen oder kaufen, um darin zu wohnen. Menschen brauchen eine Wohnung, das wisst Ihr doch, nicht wahr?“

Nanuk nickten – endlich redete Onkel Kulle vernünftig.

“Aber die meisten hatten dafür nicht genug Geld. Deshalb liehen sie es sich.“

“Wer ist denn so blöd, Menschen Geld zu leihen, die kein Geld haben? Bären bestimmt nicht!“

“Nein, Bären bestimmt nicht. Wir Bären haben ja auch kein Geld, und das ist gut so. Aber Menschen, die Geld haben, leihen Menschen Geld, denen Geld fehlt. Sie wollen das Geld natürlich zurückhaben, und zwar in Raten. Sie leihen den geldlosen Menschen also nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Und die Zeit lassen sie sich in Geld bezahlen. Das nennt man Ratenzahlungen.“

“Das verstehen wir. Menschen, die jetzt kein Geld haben, haben später ein bisschen Geld. Und noch ein bisschen. Und von dem bisschen zahlen sie das geliehene Geld zurück. Und die Zinsen.“

Kulle schmunzelte. “Na, Ihr habt‘s begriffen. Alles völlig unproblematisch!“

“Falsch, Onkel Kulle!“ Nuk hüpfte aufgeregt auf und ab. “Was ist, wenn die geldlosen Menschen auch später geldlose Menschen bleiben? Dann haben die Menschen, die ihr Geld verliehen haben, auch kein Geld mehr. Alle haben dann kein Geld mehr!“

“Ganz einfach!“ Kulle gab sich gelassen. “Dagegen sichern sich die Geldverleiher ab. Die Geldlosen mussten natürlich Schuldscheine unterschreiben. Diese Schuldscheine verkauften die Geldverleiher weiter. So…“

“Entschuldigung, Onkel Kulle!“ Es war offensichtlich, dass Na versuchte, höflich zu bleiben, obwohl es ihr schwerfiel. “Onkel Kulle, solche Schuldscheine kauft doch keiner!“

“Doch!“ sagte Kulle und klappte sein Buch endgültig zu. Er begriff, dass er noch viel würde erklären müssen. “Doch! Denn die Verkäufer sagten den Käufern, dass nur einige der geldlosen Menschen bezahlen werden, aber nicht alle. Sie sagten aber nicht, wie viele. Deshalb machten sie für die Schuldscheine einen Sonderpreis. Aber wenn dann keiner der geldlosen Menschen Geld hätte, wäre auch dieser Sonderpreis zu hoch. Und jetzt hätte auf einmal der Käufer der Schuldscheine kein Geld mehr. Und wenn der Käufer eine Bank wäre, dann hätten deren Kunden auf einmal kein Geld mehr, denn das Geld einer Bank ist das Geld ihrer Kunden. Dann wäre die Bank pleite. Aber eigentlich wären deren Kunden pleite.“

“Gemein!“ sagten Nanuk im Chor und mussten danach erstmal nachdenken.

“Etwas verstehe ich noch nicht, Onkel Kulle“, sagte Nuk nach einer Weile. “Warum haben die Banken geglaubt, dass die geldlosen Menschen nicht geldlos bleiben? Warum haben sie angenommen, dass sie ihre Kredite zurückzahlen können?“

“Eine sehr gute Frage!“ lobte Kulle. “Dazu braucht man eine Blase. Besser noch sind mehrere Blasen.“

Nanuk sagten nichts und fragten nichts, stattdessen wurden sie rot. Über Körperfunktionen redete man in Bärenleben gewöhnlich nicht, und für Sexualität, darin waren sich die Erwachsenen bisher einig gewesen, waren die Zwillinge zu jung. Kulle aber merkte nichts, sondern redete einfach weiter.

“Von einer Blase, besser einer Spekulationsblase spricht man dann, wenn alle Beteiligten davon ausgehen, dass die Preise in die Höhe gehen. In unserem Fall sollten die Preise für Immobilien in den USA weiter steigen, und das taten sie wirklich. Ein geldloser Eigenheimbesitzer, der in einem 40.000-Dollar-Haus wohnte, fand sich ein paar Jahre später in einem 80.000-Dollar-Domizil wieder. Er war also um 40.000 Dollar reicher, zumindest auf dem Papier. So löste er seine alte Hypothek aus und nahm eine neue auf. Die bekam er locker, denn sein Haus war ja viel wert. Und mit dem neuen Geld konnte unser Eigenheimbesitzer viel konsumieren: Autos kaufen, reisen … was Menschen eben so machen, wenn sie zu viel Geld haben.

Unser Eigenheimbesitzer heißt Joe Sixpack, in Deutschland hieße er Michel, in England John Bull…“

“Onkel Kulle!“ Nanuk klangen wirklich empört. “Onkel Kulle, was sind das denn für Leute?“

Kulle schlug sich vor die Stirn. “Entschuldigung, Symbolik haben wir euch ja noch nicht beigebracht. Also, in der politischen Rhetorik..“

“In der politischen was?“

“Ich hätte besser sagen sollen in der politischen Symbolik..“

“In was?“

Kulle gab vorerst auf. Zu den Abstrakta kommen wir besser später‘, murmelte er vor sich hin und sagte dann laut: “Das sind nur Namen für den Durchschnittsbürger. So was wie Eisbär Mustertier‘.“

Na und Nuk sahen Kulle schweigend an, ihre Mienen zwei große, geschwungene Fragezeichen.

Kulle riss sich zusammen. “Zurück zum Thema!“ verkündete er. “Die Eigenheimbesitzer haben Geld ausgegeben, das ihnen nicht gehörte, das freute die Konsumgüterindustrie; häuserlose Menschen wollten ebenfalls ein Eigenheim besitzen und nahmen dafür Hypotheken auf, und Baufirmen haben Eigenheime gebaut, denn die Nachfrage danach war offensichtlich da, und schiefgehen konnte dabei nichts, dachte man, denn Häuser wurden immer wertvoller. Drücke ich mich jetzt verständlich aus?“

Nanuk nickten begeistert.

“Ganz hervorragend, Onkel Kulle!“ lobte Nuk. “Und Du weißt bestimmt auch schon, dass wir jetzt wissen, was dabei nicht klappen kann!“

Kulle erwartete mitnichten, dass ein anderer als er komplizierte ökonomische Zusammenhänge bereits in diesem Stadium der Problemdarstellung durchschauen könnte, aber er ließ sich nichts anmerken. Schließlich war er Pädagoge genug, um die Kleinen nicht zu enttäuschen.

“Ich ahne da etwas,“ lächelte er. Ihm würde schon etwas einfallen, um die zwangsläufig falsche Analyse der Kleinen gleichzeitig zu loben und zurechtzurücken.

Na sah Nuk, die Erstgeborene, auffordernd an, und Nuk erklärte nur allzu gerne.

“Irgendwann gab es vermutlich mehr neu gebaute Häuser als nachfragende Menschen. Da Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen…“

“Kulle wand sich und hielt demonstrativ sein blaues Buch in die Höhe.

“…jedenfalls in bestimmten Grenzen…“

Kulle ließ das Buch wieder sinken.

“…dürften die Häuserpreise gesunken sein. Niemand hat mehr die neuen Häuser gekauft, und die Besitzer der älteren Häuser konnten sich kein neues Geld durch neue höhere Hypotheken beschaffen. Also haben sie ihre Schulden nicht getilgt – das haben sie vermutlich sowieso nicht getan -, aber jetzt haben sie auch keine Zinsen mehr gezahlt. Und damit saßen nicht nur die Baufirmen in der Tinte, sondern auch die Hypothekenbanken. Und alle, die die schlechten Schuldscheine der Hypothekenbanken gekauft haben.“

Jetzt hielt Na es doch nicht mehr aus, dass Nuk alle Lorbeeren allein einsammelte.

“Wir haben gelesen, wie die Hausbesitzer ohne Geld heißen, Onkel Kulle: Ninjas!“

Kulle atmete tief durch. Nuks Vortrag hatte ihn beeindruckt, aber Nas Bemerkung gab ihm Gelegenheit dazu, sich das nicht anmerken lassen zu müssen.

“Kleine Na!“ rügte er sanft. “Harmlose amerikanische Hausbesitzer sind doch keine japanischen Partisanenkämpfer!“

“Das habe ich auch nicht behauptet, Onkel Kulle,“ widersprach Na. “Amis lieben Abkürzungen, das weißt Du doch. Zum Beispiel ‚Dinks‘: double income, no kids‘. Und ‚Ninja“ steht für ’no income, no job or assets‘.“ Na dachte einen Moment lang nach: “Was machen die denn jetzt, die Ninjas, wenn sie ihre Zinsen nicht zahlen können? Die Bank droht ihnen doch bestimmt, sie vor die Tür zu setzen, oder?“

“Natürlich tut die Bank das, kleine zweitgeborene Na.“ Nuk nutzte wie immer jede Gelegenheit, um ihre paar Sekunden mehr Lebenszeit als größere Intelligenz zu behaupten. “Aber viele Ninjas kommen der Bank zuvor: Sie ziehen einfach aus und schicken der Bank den Hausschlüssel. Damit gehört das Haus nach amerikanischem Recht der Bank – und die hat ein Problem. Was soll sie mit einem Haus, mit vielen Häusern, die niemand haben will? Was ihr dagegen fehlt, ist Geld. Pleite ist sie!“

“Ihr seid wirklich kluge Kinder!“ lobte Kulle aufrichtig. “Die Bank ist pleite, die anderen Banken, die die schlechten Kredite gekauft haben, sind es auch. Sie brauchen Geld – aber wer leiht ihnen schon was? Jeder befürchtet, dass sie ihre Kredite ebenso wenig zurückzahlen können wie die Ninjas‘. Ihre Profitrate ist gesunken, und ihr Rating ist im Keller. Da jeder mit jedem gezockt hat, ist das inzwischen weltweit zu beobachten.“

“Und was passiert jetzt, Onkel Kulle?“

“Uns passiert gar nichts. Aber den Menschen – ich sage nur pffffft‘!! Das sage ich übrigens oft als Fazit meiner wissenschaftlichen Werke – bei Gelegenheit dürft ihr sie mal lesen!“

“Machen wir, Onkel Kulle!“

“Danke, Onkel Kulle!“

Die beiden tobten davon, und Kulle griff schmunzelnd zu seiner unerwartet aktuellen Lektüre.

Konsequenz


Bärdel saß gemütlich in der Aprilsonne auf der Erde und schaute den ersten Löwenzahnblättchen beim Wachsen zu. Er bleib nicht lange ungestört. In der Ferne hörte er fordernde Rufe: “Onkel Bärdel! Onkel Bärdel!“ Die hohen Stimmchen gehörten Na und Nuk. Er hatte die beiden Kleinen gerne um sich, aber er erleichterte ihnen die Suche nicht: Mochten sie ihn selber finden!

Na und Nuk

Da die Zwillinge empfindliche Nasen hatten, entdeckten sie Bärdel schnell. Er nahm sie in die Pranken, knuffte sie herzhaft, was ihnen ein entzücktes Quieken entlockte, und bot ihnen zarten Löwenzahn als Delikatesse an.

Nuk wehrte ab: “Danke, Onkel Bärdel, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wir kommen wegen etwas Wichtigem!“

Bärdel steckte sich das wohlschmeckende Grünzeug ins eigene Maul, kaute genüsslich und erkundigte sich: “Und das wäre?“

“Du musst uns helfen, die Welt untergehen zu lassen,“ erklärte Nuk, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Da Bärdel das anders bewertete, verschluckte er sich heftig, rang nach Luft und erholte sich erst allmählich von seinem Erstickungsanfall, nachdem die Schwestern ihm kräftig auf den Rücken geklopft hatten. “Die ganze Welt oder nur die Erde?“ erkundigte er sich danach.

“Die Erde reicht,“ antworteten Nanuk im Chor.

“Und warum möchtet Ihr das, wenn ich fragen darf?“

“Du darfst immer fragen, Onkel Bärdel. Tante Atti und Onkel Kulle haben gesagt, wir seien ihnen immer herzlich willkommen, wenn wir etwas wissen möchten, aber zur Schule zu gehen brauchten wir ab sofort nicht mehr. Wir wüssten jetzt eine Menge, und wir hätten auch gelernt, wie wir uns noch fehlendes Wissen beschaffen könnten. Na ja, und daraufhin haben wir uns klargemacht, was wir wissen. Und als wir damit fertig waren, haben wir beschlossen, dass es am besten ist, wenn…“

“Schon gut, schon gut!“ unterbrach Bärdel. “Was wisst Ihr denn?“

“Wir wissen viele schöne Dinge, zum Beispiel in Mathe und Physik, und viele scheußliche. Die scheußlichen haben wir in Geschichte und Politik gelernt. Also in Menschenkunde. Die Menschen haben nichts Besseres zu tun, als sich zu vermehren und sich gegenseitig umzubringen. Das Umbringen ist übrigens nicht effizient genug, die Menschen werden immer mehr. Sie sind kurz davor, auch noch die letzten Rohstoffe auszubeuten und das Klima so zu verändern, dass nicht nur wir Eisbären, sondern auch sie selbst und andere Tiere und Pflanzen nicht mehr auf der Erde leben können. Und deshalb haben wir uns überlegt, dass ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende.“ Als eingespieltes Team hatten Na und Nuk immer abwechselnd einen Satz gesagt. jetzt schauten sie Bärdel erwartungsvoll an.

“Das klingt wohl überlegt!“ kommentierte Bärdel. “Und warum soll ich Euch beim Untergang der Erde helfen?“

“Wir … wir wissen nicht, wie wir das anstellen sollen,“ gestanden die Kleinen.

“Nun, in dieser Beziehung kann ich Euch durchaus Vorschläge machen. Aber erst müsst Ihr mir genauer sagen, welches Ziel Ihr anstrebt: Soll die Erde in Trümmerstücke zerlegt werden? Oder reicht es, wenn die Menschen von ihr verschwinden?“

Na und Nuk waren sich wie immer einig: “Es reicht, wenn die Menschen von ihr verschwinden.“

“Dazu fällt mir eine gute Methode ein. Nein, keine Seuche, auch das aggressivste Virus arrangiert sich irgendwann mit seinem Wirtstier, weil es selbst überleben will. Ich schlage einen Krieg vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Einen Atomkrieg. Der kann ruhig lokal begrenzt sein – zur Produktion eines nuklearen Winters und zur Zerstörung der Ozonschicht reicht so etwas aus. Hetzt also zum Beispiel Indien und Pakistan aufeinander, was nicht schwer fallen sollte, und ihr habt, was Ihr wollt. Die Menschen haben nichts mehr zu essen und sterben an Krebs wie die Fliegen. Ist das nach Eurem Geschmack?“

“Super, Onkel Bärdel!“ jubelten Nanuk. “Das ist genau das, wonach wir gesucht haben. Danke! Wir sausen jetzt schnell zu Onkel Manfred ins Computerzentrum und schauen, ob wir die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan stören können. Bis bald!“

Aber bevor sich die Kleinen davonmachen konnten, bremste Bärdel sie. “Immer langsam mit den jungen Eisbärinnen!“ schmunzelte er. “Möchtet Ihr vielleicht nicht doch ein bisschen Löwenzahn? Nein? Nun, dann lasst uns wenigstens voneinander Abschied nehmen.“

Na wunderte sich: “Aber Onkel Bärdel, Du bist doch sonst nicht so feierlich! Wir kommen bald wieder!“

Bärdel wiegte seinen dicken Kopf hin und her. “Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Auch wir werden verhungern, erfrieren und an Krebs sterben, wenn Ihr Euren Krieg macht. Ob wir uns jemals wieder sehen?“

“Oh!“ sagte Nuk.

“Wieso wir?“ fragte Na.

“Wir sind mit den Menschen genetisch eng verwandt. Was ihnen schadet, schadet uns auch.“ Bärdel ließ es dabei bewenden und verkniff sich einen Seitenhieb: Das hättet Ihr in Biologie eigentlich lernen sollen.‘

“Ja, dann…“ überlegte Nuk. Und schnell kam sie zu einem Entschluss: “Ich als die Erstgeborene beschließe hiermit, dass wir mit dem Weltuntergang noch ein wenig warten. Einverstanden, Na?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: “Onkel Bärdel, gilt Dein Löwenzahnangebot noch?“

“Selbstverständlich!“ antwortete Bärdel und schloss die Beiden in die Arme. Bärenleben und auch die Menschen hatten noch einmal Glück gehabt.

Was ist Politik (II)

Wochenlang herrschte nach der Theateraufführung von Bärdel, Kulle und Manfred für das jugendliche Publikum Bärenlebens scheinbare Ruhe. Niemand von den “Erwachsenen” bekam mit, dass sich Ramses, Piggy, Del und Nanuk regelmäßig jeden Tag trafen und hitzig miteinander diskutierten. Vor ihren Treffen verbrachten sie in der Regel lange Stunden in der Bibliothek und vor den Computern, mit denen sie im Internet recherchierten. Sie suchten nach der Formel für ein ideales gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen, wie Bärdel es ihnen aufgetragen hatte, aber sie hatten auch noch einen ehrgeizigen weiteren Plan.

“Es geht nicht!” stellte Piggy schließlich resigniert fest. “Es geht einfach nicht! Wir sind gescheitert!”

Piggy

“Nein, das sind wir nicht!” widersprach Del. “Nicht wir sind gescheitert, sondern die Menschen. Und das und die Gründe dafür kann man doch zeigen, oder?”

Del

Das sahen Piggy und die anderen ein. Sie fanden es jedoch langweilig, sich vorführen zu lassen, was sie schon selbst herausgefunden hatten. Außerdem fanden Sie, dass Bärdel und Kulle eine Belohnung für ihre Polittheatershow verdient hatten. Manfred eigentlich auch, aber der würde arbeiten müssen – sie brauchten seine Hilfe, wenn jetzt sie ein Stück inszenierten.

Manfred half den “Kleinen” gerne, und sie begannen heimlich mit den Proben. Bärdel war völlig überrascht, als er am Beginn einer Abendversammlung bestimmt, aber höflich von Nuk unterbrochen wurde.

Na Nuk

“Bitte entschuldige, Onkel Bärdel!” piepste sie. “Ich weiß, dass ich Dich eigentlich nicht stören darf. Aber heute Abend stehen keine wichtigen Entscheidungen auf der Tagesordnung, und wenn das nicht der Fall ist, erzählen wir uns sowieso nur Märchen. Anstatt das zu tun, können wir auch ins Theater gehen – wir jungen Bärenlebener haben ein kleines Stück einstudiert.”

Die Bären nahmen den Vorschlag begeistert an und gruppierten sich vor der Bühne. Na übernahm die Einführung und erklärte, worum es gehen sollte. Und dann erlosch das Licht auf dem Podium. Im Zuschauerraum war es schon lange dunkel, denn es war später Herbst.

Als die Lichter auf der Bühne wieder angingen, sahen die Zuschauer zunächst einen Stummfilm, in dem warme Farben vorherrschten. Er zeigte Menschen in einfachen Verhältnissen, die glücklich zu sein schienen, bei einfachen Tätigkeiten. Sie aßen, tranken, arbeiteten, lasen, diskutierten, schliefen, spielten mit ihren Kindern. Ab und zu diskutierten alle über das gleiche. Dann wurde die entsprechende Frage eingeblendet. “Sollen wir eine Brücke über den Fluss bauen oder darauf verzichten, weil wir damit den Lebensraum einer Fledermaus gefährdeten?” “Wollen wir genmanipulierte Pflanzen anbauen und so die landwirtschaftlichen Erträge steigern, obwohl dadurch vermutlich die Reproduktionsrate der Schmetterlinge verringert wird?” “Wollen wir ein Fastfood-Restaurant eröffnen oder eine zweite Bibliothek einrichten?”

Wann immer es galt, eine solche Frage zu beantworten, trafen sich alle Erwachsenen auf einem großen Platz. Es gab niemanden, der zu Hause blieb, außer den ganz Kranken und Schwachen. Sie diskutierten nur kurz und entschieden sich schnell: Für die Fledermäuse, die Schmetterlinge und die Bibliothek. Und: Sie entschieden immer einstimmig.

Der Film endete, und die Bären wollen schon anfangen zu applaudieren, als ein freundlich aussehender Menschenmann in altmodischer Kleidung und mit einer Perücke auf dem Kopf auf der Bühne erschien und eine Erklärung abgab:

“Wie viele schwer zu vereinigende Dinge setzt diese Regierungsform überhaupt voraus! Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder Bürger genügende Gelegenheit hat, alle anderen kennenzulernen; zweitens eine große Einfachheit der Sitten, die keine Veranlassung zu vielen schwierigen Arbeiten und Verhandlungen gibt, sodann fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte; endlich wenig oder gar keinen Luxus, denn der Luxus ist entweder die Folge des Reichtums oder macht ihn nötig; er verdirbt nicht nur den Reichen, sondern auch den Armen, jenen durch den Besitz, diesen durch die Lüsternheit; er verwandelt das Vaterland in eine Stätte der Weichlichkeit und Eitelkeit; er entzieht dem Staate alle Bürger, um die einen zu Sklaven der anderen und alle zu Sklaven des Vorurteils zu machen.”

Ramses

Hier machte der freundliche Herr eine lange Pause, die ebenso wie seine lange Rede von gelegentlichem Kichern aus dem Publikum unterbrochen wurde. Trotz aller Verkleidungskünste und Schminkbemühungen ließ sich nicht übersehen, dass der Sprecher ein grünes Gesicht hatte. Und ein grünes Gesicht hatte in Bärenleben nur einer: Ramses.

Der verkleidete Frosch schloss: “Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht.”

Er verbeugte sich tief und ging ab.

“Aber sehr wohl für Bären!” brummte ein sehr alter Bär, der sich sonst meist damit hervortat, dass er gegen alles war. Er begann, die Pranken ineinander zu schlagen, aber auch jetzt war die Vorstellung noch nicht zu Ende. Eine Melodie erklang, laut und kämpferisch, die den meisten Anwesenden bekannt vorkam. Dazu marschierten auf der Leinwand Soldaten in einem nicht enden wollenden Zug. Die Filmaufnahme war diesmal schwarzweiß. Den Text des Liedes hatte bisher niemand gekannt.


Auf, Kinder des Vaterlands!

Der Tag des Ruhms ist da.

Gegen uns wurde der Tyrannei

Blutiges Banner erhoben.

Hört Ihr auf den Feldern

Das Brüllen der grausamen Krieger?

Sie kommen bis in eure Arme

Eure Söhne, eure Frauen zu erwürgen!

An die Waffen, Bürger!

Schließt die Reihen,

Vorwärts, marschieren wir!

Damit ein unreines Blut

Unsere Äcker tränkt!

“Ich wusste gar nicht, dass die Marseillaise so einen blutrünstigen Text hat!” seufzte Tumu, “Das ist ja schrecklich!”

Wieder erschien Ramses auf der Bühne, in ähnlichem, aber in erkennbar anderem Kostüm, auch mit anderer Perücke. Er setzte sich auf einen Louis-XVI.-Stuhl und begann zu häkeln, wobei er freundlich ins Publikum lächelte.

Ramses

“Ja, schrecklich ist es, aber in revolutionären Zeiten gibt es ohne Schrecken keine Tugend, und wir leben in revolutionären Zeiten: Deshalb: Alle Verdächtigen an die Laterne, wie es früher hieß, bevor der gute Dr. Guillotin seinen humanen Tötungsapparat erfunden hat. Glauben Sie bitte nicht, dass ich mich an den Hinrichtungen berausche – ich war noch bei keiner einzigen dabei. Blut ist mir zutiefst zuwider. Aber unser Land ist entartet, und wenn diese Entartung beendet werden soll, wenn wieder Moral, Grundsätze, Vernunft, Seelengröße und Wahrheit herrschen sollen, wie es Jean-Jacques Rousseau, der Prophet des “Höchsten Wesens”, gewollt hat, dann müssen wir die Parasiten am Volkskörper ausmerzen, ausmerzen, ausmerzen!”

Der Sprecher lächelte jetzt nicht mehr, und er hatte auch aufgehört zu häkeln. Seine Miene war verklärt, und zu den letzten drei Worten hatte er begonnen, den Takt zu klatschen.

Das Licht auf der Bühne wechselte, Ramses versank im Dunklen, und die Spielzeugguillotine, die Bärdel und Kulle für ihr vorhergehendes politisches Theaterstück gebaut hatten, tauchte auf. Piggy trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf, war aber trotzdem am Ringelschwänzchen gut zu erkennen. Das Schwein agierte als Henker. Na und Nuk hatten sich rote Streifen um den Hals gemalt und spielten die Opfer. Nacheinander legten sie sich auf das Schafott, und bei jedem Händeklatschen ließ Piggy das Beil herabsausen, das aber auf halber Strecke stoppte. Die “Exekutierte” verbarg den nicht abgeschlagenen Kopf in den Armen, ließ sich von der Guillotine rollen und versteckte sich dahinter. Kaum war das geschehen, spielte der andere Eisbärenzwilling den nächsten Verurteilten. Und immer so fort.

Das wirkte so komisch, dass die Zuschauer, die zunächst betreten dreingeschaut hatten, bald das Lachen nicht mehr unterdrücken konnten. Ein erstes verschämtes Lächeln wurde zum unterdrückten Gepruste, bis sich allgemein schallendes Gelächter durchsetzte.

Die Schauspieler schafften es eine Zeitlang, diese ungebührliche Reaktion zu ignorieren. Schließlich aber platzte Nanuk der Kragen. Sie hörten auf, sich exekutieren zu lassen, und stellten sich an die Rampe.

“Ihr Ignoranten!”

“Ihr seid vielleicht blöd!”

“Das ist alles historisch verbürgt!”

“Und komisch ist das überhaupt nicht!”

“Weil nämlich Robbespierre auch ein dogmatischer Ignorant war.”

“Er hat eine gute Idee pervertiert.”

“Er hat sie nicht verstanden und hat trotzdem versucht, sie mit Gewalt durchzusetzen.”

“Und wir haben rausgefunden, dass das bei dem Menschen immer wieder passiert.”

“Zum Beispiel in der Religion.”

“Oder in der Politik.”

“Und ihr lacht darüber!!!”

Die Bären im Publikum sahen einander unsicher an. Gehörte das noch zum Stück? Natürlich waren sie alle kulturinteressiert und kannten Handkes “Publikumsbeschimpfung”. Oder war das jetzt ernst gemeint?

Ein kleiner Kopf tauchte aus dem Souffleurkasten auf und wandte sich den Zuschauern zu. “Das, liebe Bären, ist sehr ernst gemeint!” sagte Del.

Sofort kehrte Ruhe ein.

Nach wenigen Sekunden allerdings erhob sich donnernder Applaus.

Was ist Politik?

Nach ihrem Unterricht in Menschenkunde und Mathematik waren Na und Nuk nicht zu bremsen: In Physik, Chemie und Biologie eigneten sie sich die wichtigsten Kenntnisse im Pfotenumdrehen an, und danach entwickelten sie sich zu Geografie-Expertinnen. Bei den Geisteswissenschaften haperte es dagegen – die kleinen Eisbärinnen wollten nicht so recht an Literatur oder Philosophie und Geschichte heran, und selbst Kulle drängte nicht darauf, sie mit seinen ureigenen Forschungsgegenständen zu befassen.

Die Lernwilligen

Eines Tages aber geschah, was geschehen musste. Na und Nuk hatten sich das richtige Opfer ausgespäht. Sie erwischten Kulle auf seinem Morgenspaziergang und fragten: “Onkel Kulle, wir möchten gerne wissen, was Politik ist. Guten Morgen übrigens. Guten Morgen auch Dir, Onkel Bärdel!“

“Guten Morgen, Guten Morgen! Also, Politik ist…“

Bärdel und Kulle hatten gleichzeitig zu sprechen begonnen und hörten ebenso gleichzeitig auf. Sie schauten einander unsicher an.

“Also…“ machte Kulle nach einer Kunstpause einen weiteren Versuch, aber Nuk, als Erstgeborene die Mutigere, fiel ihm ins Wort.

“Onkel Kulle, wir ahnen, dass Du jetzt überlegst, welche von den Dutzenden Definitionen von Politik, die Du kennst, also welche davon Du uns jetzt als die richtige verkaufst. Das wollen wir aber gar nicht wissen. Nachgeguckt haben wir selber. Wir wollen nicht wissen, wie man Politik definieren kann, sondern was Politik ist!“

Kulle fragte: “Was meint Ihr damit?“

“Wir möchten das Sein des Seins’Politik‘ erfahren, das meinen wir damit!“ Es gelang Na ohne Mühe, ernst zu bleiben, denn sie ahnte nicht, wie fremd ihre Formulierung am Beginn des 21. Jahrhunderts klang.

“Ihr möchtet also Politik erleben – ist es das?“ vergewisserte sich Bärdel.

“Genau, Onkel Bärdel!“ jubelten die Zwillinge und sahen die alten Braunbären erwartungsvoll an.

“Ich fürchte“, brummte Kulle so leise vor sich hin, dass ihn die Eisbärenkinder gar nicht und Bärdel nur mit Mühe hören konnte, “ich fürchte, das läuft auf ein Spiel hinaus!“

“Bloß das nicht!“ flehte Bärdel. Er hatte mit Spielen so seine Erfahrungen.

Aber sein Entsetzen beeindruckte die Kinder überhaupt nicht.

“Toll!“ brüllten sie. “Wir spielen ein Spiel! Ein Spiiieell!“

Bei der Versammlung am Abend, als Bärdel den Bärenlebenern verkündete, was ihnen bevorstand, wenn sie sich auf den Wunsch von Nanuk einließen, reagierten viele ablehnend, und Tumu gehörte dazu.

“Wenn Ihr Politik spielen wollt – meinen Segen habt Ihr. Wir haben seit Deinem letzten Geburtstag eine wunderschöne Freilichtbühne neben unserer Höhle. Da könnt Ihr den Kindern vormachen, wie Politik funktioniert, und viele andere kommen bestimmt auch gerne zum Zugucken. Ein Realspiel lehne ich dagegen ab – das letzte liegt mir noch in den Knochen.“

So waren Bärdel und Kulle zum Theaterspielen verurteilt. Sie überlegten sich ein Konzept, suchten sich Manfred als Helfer und begannen mit den Proben. Schon nach ein paar Tagen kündigten sie die erste Aufführung an und erklärten, es handele sich dabei um Jugendtheater. Die Erwachsenen sollten, so wünschten sie, der Aufführung fern bleiben.

Manfred

Der Zuschauerraum war zwar nicht gut gefüllt, aber alle Jungbären der Gegend waren anwesend, und auch Piggy das Schwein und Ramses der Frosch waren gekommen, denn sie betrachteten sich in der Bärengemeinschaft immer noch als unwissend, also in gewisser Weise als jung. Da es keinen Theatervorhang gab, konnten alle beobachten, wie Bärdel die Bühne betrat. Er trug eine Krone aus Goldpapier auf dem dicken Schädel und ließ sich schwer in einen geschmückten Sessel plumpsen, der mitten auf der Bühne stand und wohl einen Thron darstellen sollte.

Bärdel wandte sich an sein Publikum: Guten Abend, junge Bären!“” grüßte er freundlich. “Ich bin Euer König. Das heißt also, ich bin Euer Herrscher. Wenn ich freundlich zu Euch bin, dann bin ich nicht einfach freundlich, sondern huldvoll. Das heißt, ich bringe Euch Wohlwollen entgegen, ich will Euch wohl. Dafür will ich von Euch Abgaben, aber die verwende ich nicht immer nur für mich alleine – wenn Ihr angegriffen werdet, will ich Euch gerne verteidigen, vorausgesetzt, Ihr helft mir dabei!“

Unruhe entstand im Publikum.

“Habt Ihr dazu etwa irgend welche Fragen?“ wollte Bärdel wissen.

“Heißt das“, erkundigte sich Del, “heißt das, dass Du als König auf unsere Kosten lebst?“

“Nein, natürlich nicht. Ich lebe auf Kosten der Gnade Gottes, ich bin König von Gottes Gnaden. Gott hat mich über Euch gesetzt, damit ich hier auf Erden seinen Willen exekutiere. Dafür geht es mir materiell ein bisschen besser als Euch, das gebe ich zu.“

Und welche Rolle spielen wir in diesem Spiel?“ fragte Del weiter.

“Na ja,“ erklärte Bärdel, “wie ich schon sagte: Ihr zahlt und kämpft im Krieg. Im übrigen gehorcht Ihr und seid fromm und dankbar dafür, dass es Euch so gut geht.“

“Das gefällt uns nicht!“ sagten Na und Nuk gleichzeitig,

“Mir auch nicht!“ rief Kulle, der jetzt auf die Bühne gelaufen kam. Er trug eine große bunte, mit Schellen besetzte Kappe. “Mit gefällt das auch nicht, weil ich nämlich der Hofnarr dieses Königs bin. Wollt Ihr wissen, was der König den ganzen Tag lang macht?“

“Jaaa!!!“ rief das Publikum.

“Am Morgen steht der König auf, am Abend geht der König zu Bett, und tagsüber langweilt er sich mit seinen Sorgen, mit seinen Dienern, seinem Gold, Silber, Samt, seiner Seide, langweilt sich mit seinen Kerzen. Sein Bett ist prunkvoll, aber man kann darin auch nicht viel anderes tun als schlafen.

Die Diener machen am Morgen tiefe Verbeugungen, jeden Morgen gleich tief, der König ist daran gewöhnt und schaut nicht einmal hin. Jemand gibt ihm die Gabel, jemand gibt ihm das Messer, jemand schiebt ihm den Stuhl zu, und die Leute, die mit ihm sprechen, sagen Majestät und sehr viele schöne Worte dazu und sonst nichts.

Nie sagt jemand zu ihm:’Du Trottel, du Schafskopf‘, und alles, was sie ihm heute sagen, haben sie ihm gestern schon gesagt.

So ist das.

Und deshalb haben Könige Hofnarren.

Die dürfen tun, was sie wollen, und sagen, was sie wollen, um den König zum Lachen zu bringen, und wenn er über sie nicht mehr lachen kann, bringt er sie um oder so.“

(Vielen Dank an Peter Bichsel. Das Zitat stammt aus: “Amerika gibt es nicht“, in: Kindergeschichten)

Bei seinen letzten Worten schleppte Kulle eine kleine Guillotine auf die Bühne, legte sich unter das Fallbeil und spielte kokett mit der Schnur.

“Lass das sein, Onkel Kulle!“ heulten Nanuk auf. Sieh lieber zu, wie wir diesen König loswerden!“

““Nichts leichter als das!“ schmunzelte Kulle, zog sich die Narrenkappe vom Kopf und setzte als Ersatz eine rote Mütze auf. “Auch ein König kann unter der Guillotine sterben.“

Bärdel zog eine jämmerliche Grimasse, nahm die Krone vom Kopf, heftete sich stattdessen eine blau-weiß-rote Kokarde hinters Ohr und hängte sich ein Schild um den Hals, auf dem “Bürger Capet“ stand.

Kulle entrollte feierlich eine Pergamentrolle und las daraus vor: “Der Nationalkonvent erklärt Louis Capet, den letzten König, der Verschwörung gegen die Freiheit der Nation und des Anschlags gegen die allgemeine Sicherheit des Staates für schuldig. Der Nationalkonvent verhängt die Todesstrafe über Louis Capet.“

“Darf ich noch beichten?“ fragte Bärdel.

“Klar!“ sagte Kulle. “Das wird sich bestimmt lohnen – Du hast ja genug auf dem Kerbholz. Aber beeil Dich damit – der erste Akt ist gleich zu Ende!“

Bärdel kniete sich hin, Manfred kam als Priester verkleidet angesaust, legte für eine Sekunde lauschend die Hand hinter sein Ohr, nickte, schlug das Kreuz über Bärdel und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Bärdel legte sich ergeben unter die Guillotine. Kulle verdeckte die Szene mit einer großen blau-weiß-roten Flagge. Im Publikum hörte man, wie das Fallbeil herabsauste und zur Ruhe kam.

“Onkel Bärdel! Bärdel!“ heulten alle auf.

Die Fahne sank in sich zusammen. Dahinter erhob sich Bärdel unverletzt. “Der König ist tot“, erklärte er, “aber der Schauspieler lebt selbstverständlich. Jetzt machen wir erst mal eine Pause, und danach dürft Ihr Euch wünschen, welche Art von Politik Ihr als nächstes vorgeführt haben möchtet. Eben seid Ihr übrigens mit der Monarchie bekannt gemacht worden, also mit der Herrschaft eines Königs, und mit der Revolution. So nennt man es, wenn eine Staatsform oder eine Regierungsform gewaltsam gestürzt wird.“

In der Pause wurde Himbeersaft serviert wie in einem richtigen Theater für erwachsene Bären, und das jugendliche Publikum diskutierte eifrig darüber, was es im zweiten Akt geboten bekommen wollte.

“Also, ich fand das gemein, was eben mit dem König passiert ist“, sagte Del. “Man sollte ihn wieder in sein Amt einsetzen und ihm sagen, dass er sich in Zukunft besser benehmen soll. Er darf zum Beispiel seinen Hofnarren nicht umbringen, nur weil er sich langweilt.“

“Das geht aber nicht!“ wandte Ramses ein. “Erstens ist der König tot, und eine Leiche als Herrscher haben sich selbst die verrückten Menschen bisher noch nicht ausgedacht. Und zweitens lässt ein Alleinherrscher seine Macht nicht beschränken, jedenfalls nicht ohne Zwang. Außerdem wäre es für uns langweilig, wenn der König wieder auferstünde – die Monarchie kennen wir doch jetzt!“

“Aber was wollen wir dann?“ fragte Piggy. “Wir kennen sonst doch nichts!“

“Das stimmt nicht ganz“, widersprach Nuk. “Ich gebe zu, dass ich noch nicht regelmäßig in der Zeitung lese, aber ab und zu werfe ich einen Blick hinein. Daher weiß ich, dass es hier in Dehland keinen König gibt. Politik muss es doch aber immer geben, oder? Das ist so, weil alle intelligenten Lebewesen – na ja, ich meine jetzt auch die Menschen – Spielregeln für ihr Zusammenleben brauchen. Ich bin dafür, dass wir uns im nächsten Akt die Art von Politik wünschen, die es in Dehland gibt.“

Na sah ihre ältere Schwester bewundernd an. “Das finde ich gut!“

Alle anderen stimmten ebenfalls zu und begaben sich erwartungsvoll wieder in den Zuschauerraum.

Die Bühne war inzwischen umdekoriert worden. An allen drei Seiten hingen große Plakate, die riesige Fotos von Bärdel, Manfred und Kulle zeigten. Auf den Postern stand außerdem noch jeweils ein kurzer Text:

“Bärdel ist Zukunft. Und Zukunft bedeutet Tempolimit.“

“Die Zukunft heißt Tempolimit mit Kulle.“

“Zukunft? Tempolimit? Manfred!“

Bärdel erschien und schmunzelte.

“Ihr seht, dass wir euch bespitzelt haben. Auch das gehört bei den Menschen zur Politik – Berufspolitiker wollen immer wissen, was das Volk denkt und wünscht. So können sie es am besten besch… – ich meine, am besten manipulieren. Ihr wollt die Politik in Dehland erleben, haben wir gehört. Das ist technisch ein bisschen schwierig, denn die Art von Politik, die in Dehland gemacht wird, nennt sich Demokratie, und daran sind viele Menschen beteiligt, jedenfalls ab und zu. Wir hier auf und hinter der Bühne sind aber nur zu dritt. Aber Ihr kennt ja Manfreds Tricks – er wird das schon schaffen.

Manfred

Hinter mir seht Ihr Wahlkampfplakate – in Dehland werden Abgeordnete, die Gesetze beschließen, nämlich vom Volk gewählt. In dem Wahlkampf, den Ihr gleich sehen werdet, spielt ein Tempolimit auf Autobahnen eine große Rolle. Lasst euch überraschen!“

Bärdel ging ab, und die Bühne wurde dunkel. Nach wenigen Sekunden aber wurden drei Filme abgespielt, die ähnliche Situationen zeigten: Unter freiem Himmel sprachen drei Redner, nämlich Bärdel, Kulle und Manfred, zu einem interessiert zuhörenden menschlichen Publikum. Die Präsentation begann als Stummfilm, aber allmählich wurde der Ton hochgefahren, und zwar so, dass man in ständigem zufälligem Wechsel einen Redner laut und die beiden anderen nur ganz leise hörte.

“…wichtig für die Menschen“… “eine wichtige Entscheidung“… “mehr als wichtig, eine wahre Richtungsentscheidung“… “denn die Zukunft“… “denn unsere Zukunft“… “unsere und vor allem die Zukunft unserer Kinder“… “verantwortungsvolles Handeln“… “Handeln aus dem Bewusstsein der Verantwortung“… “Handeln und Verantwortung übernehmen“… “Grenzen erkennen und akzeptieren“… “wir haben eine Grenze erreicht, und wir müssen akzeptieren“… “auch wenn es schwerfällt: Wir müssen erkennen“… “und deshalb fordern wir“… “und deshalb werden wir“… “und so werden wir mit aller Kraft“… “ein Tempolimit einführen“… “das überfällige Tempolimit auch in diesem unseren Land durchsetzen“… “endlich auch hier so fahren wie unsere europäischen Nachbarn: mit Tempolimit“.

Die Filme verblassten, und die Zuschauer applaudierten höflich wegen Manfreds technischer Meisterleistung, sahen einander danach aber verunsichert an.

“Ich bin mir nicht sicher“, brach Na als erste tapfer das Schweigen, “aber – haben die nicht alle dasselbe gesagt?“

Bevor jemand antworten konnte, ertönte ein Gong, und dazu erklang eine Stimme aus dem Off. “Hier ist das erste dehländische Fernsehen mit der Tagesschau.“ Eine hübsche junge Frau wurde sichtbar und verlas eine Meldung: “Am Vorabend der Wahlen zum dehländischen Bundestag haben die Spitzenkandidaten der drei großen Volksparteien auf Kundgebungen für ihre Programme geworben. Da unterschiedliche Positionen dabei nicht zu erkennen waren, rechnen Experten für den morgigen Sonntag mit einer nur geringen Wahlbeteiligung.“

“Also“, sagte Piggy und kringelte das Schwänzchen ganz eng zusammen, was ein untrügliches Zeichen von Empörung war. “Also, ich würde mich an dieser Veranstaltung auch nicht beteiligen. Was ist das denn für eine Wahl, wenn man keine Wahl hat?“

Die Tagesschau-Sprecherin wurde für kurze Zeit unscharf und und verlas gleich darauf die nächste Meldung. “Nach den ersten Hochrechnungen liefern sich die drei großen Volksparteien ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Insgesamt entfielen 90 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen auf sie. Die Wahlbeteiligung war noch niedriger als erwartet: Nur 45 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.“

Die Tagesschau-Sprecherin verschwand, und an ihrer Stelle tauchte jemand auf, mit dem wirklich niemand gerechnet hatte: Athabasca. Sie war als Professorin verkleidet und wandte sich an Na und Nuk. “Hallo, Ihr Beiden, ich wollte mich nur kurz als Eure Mathelehrerin in Erinnerung bringen. Zwei Parteien, die zusammen 60% der Stimmen erhalten haben, werden sich in ein paar Tagen zusammenschließen, um die Regierung zu bilden. So etwas nennt man Koalition. Gewählt haben nur 45% der Wahlberechtigten. Auf wie viel Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung wird sich die künftige Regierung stützen können?“

Athabaska

“Das ist doch pipileicht, Tante Atti! Auf 27 Prozent!“

“Aber das ist ja entsetzlich!“ rief Ramses.

““Nö, Onkel Ramses, das ist nicht entsetzlich, das ist richtig!“ protestierten Nanuk.

“Ja, natürlich ist das richtig, aber das ist ja das Entsetzliche. In einer Demokratie wie in Dehland leiten die Politiker ihr Recht, Gesetze zu machen und zu regieren, davon ab, dass das Volk sie damit beauftragt hat. Aber sind 27% das Volk? Welchen Rückhalt hat eine Regierung, die sich auf eine so kleine Minderheit stützt?“

“Hervorragende Frage“, lobte Bärdel, der wieder leibhaftig auf der Bühne erschienen war. “Eine solche Regierung hat in Wahrheit gar keinen Rückhalt. Aber wir wollen mal sehen, ob es den Politikern darauf überhaupt ankommt. Nach einer Bundestagswahl tritt irgendwann der neue Bundestag zusammen, das heißt, dass sich gut 600 gewählte Abgeordnete in einem Saal treffen und einen Regierungschef wählen, den Kanzler. Die Partei, die das macht, ist die Regierungspartei. Wenn eine Partei nicht ausreicht, schließen sich mehrere zusammen und bilden eine Koalition. Nachdem das passiert ist, fangen sie an, Gesetze zu machen. Dabei sind sie jetzt gerade. Sie debattieren über ein Tempolimit auf dehländischen Autobahnen. Ihr dürft zuhören.“

Wieder wurde ein Film eingespielt, der suggerierte, dass sich das Theaterpublikum auf der Besuchertribüne des Bundestages befand. Man sah von weit oben auf das Rednerpult herab, hinter dem Manfred stand.

“Als Kanzler der Bundesrepublik Dehland ist es meine Pflicht, meine Damen und Herren Abgeordneten, meine Pflicht als Regierungschef, das Wohl der Allgemeinheit im Blickfeld zu behalten. Es wäre vollkommen kurzsichtig, nur der sogenannten Umwelt zuliebe ein Tempolimit auf Autobahnen zu verhängen. Freie Fahrt dem freien Bürger! – Das ist das Motto des AD….“ Manfred verschluckte sich und trank einen Schluck Wasser aus dem frisch gefüllten Glas vor ihm. “Das Motto des adulten, also des erwachsenen Dehländers. Natürlich, meine Damen und Herren, wollen wir gute Europäer sein, und wir sind es auch. Aber wir setzen uns ein für ein Europa der Vielfalt, nicht für ein Europa der Konformität. Mit mir, und das sage ich in aller Deutlichkeit, wird es ein Tempolimit nicht geben!“

Bärdel als Sprecher der Opposition war als nächster dran.

“Ich bin betrübt“, sagte er. “Das gehört sich nicht, ich weiß. Politiker sind immer optimistisch oder geben sich zumindest so, als könnten sie das Ruder noch herumreißen, obwohl klar ist, dass sie hoffnungslos in der Minderzahl sind. Ich spiele dieses Spiel jetzt mal nicht mit, denn wir sind in einem anderen Spiel, und zudem in einem didaktischen.

Also: Ich bin betrübt. Denn meine Partei wollte – und will – ein Tempolimit, weil das nämlich aus verschiedenen Gründen vernünftig ist. Aber die Lobbies aus Autobauern und Energiekonzernen, die übrigens häufig identisch sind und sich populärer Sprachrohre wie des ADAC bedienen, die Gelder für Parteien spenden und für abgehalfterte Politiker lukrative Jobs bereit halten, diese Lobbies haben offenbar die besseren’Argumente‘. So werden wir weiterhin mehr CO2 als nötig in die Umwelt pusten und mehr Tote und Verletzte in Kauf nehmen, als nötig und vernünftig wäre.“

Der letzte Redner war Kulle.

Kulle

“Die Kulle-Partei, meine Damen und Herren, ist, wie Sie alle wissen, nicht irgendeine Partei. Wir sind die Vertreter der kleinen Leute. Wir wissen, wo das Herz des Dehländers schlägt. Wir kennen seine Sorgen, seine Nöte. Viele von uns teilen seine Biografie des Nicht-Erfolgs.

Was bleibt dem kleinen Dehländer? Er gewinnt nicht im Lotto, obwohl er das jede Woche hofft, und er kann sich das Traumhaus, in dem er gerne lebte, nicht leisten. Was er sich aber leisten kann, ist sein Auto. Nein, keinen Porsche Carrerra, noch nicht mal einen VW Touareg, aber einen kleinen Suzuki oder Skoda, vielleicht auch einen Golf. Darüber freut er sich. Das ist sein Shangri-La. Damit fährt er auf die Autobahn.’180‘ sagt der Tachodisplay, vielleicht ein bisschen weniger oder ein bisschen mehr. Und die Schilder am Straßenrand? Die sollen’130‘ sagen oder vielleicht nur’120‘? Das, meine Damen und Herren, wäre Kastration, wäre Vergewaltigung, wäre Verhinderung eines Lebensgefühls, auf das der kleine Mann in Dehland angewiesen ist wie auf das tägliche Brot – ja, vielleicht noch mehr. Ein Tempolimit auf Autobahnen ist dem Dehländer nicht zuzumuten, das ist eine schlichte, unumstößliche Wahrheit. Und deshalb, meine Damen und Herren, wird es keines geben. Mit uns nicht!“

Damit endete der Film, und die drei Schauspieler erschienen persönlich auf der Bühne und verbeugten sich. Nur Bärdel erhielt Applaus, während Kulle und Manfred kräftig ausgebuht und beschimpft wurden.

“Ihr lügt ja, wenn Ihr den Mund aufmacht!“

“Volksvertreter wollt ihr sein? Ihr vertretet doch nur Euch selber!“

“Und das große Geld!“

“Eure Demokratie gefällt uns nicht!“

Bärdel hob beschwichtigend die Pranken, und allmählich gelang es ihm, den Tumult zu beenden.

“Uns gefällt diese Demokratie auch nicht, das dürft Ihr uns glauben. Immerhin: Gegenüber der Monarchie, die wir Euch im ersten Akt gezeigt haben, hat sie einen großen Vorteil: Das Volk kann seine “Vertreter“ bei den nächsten Wahlen loswerden, wenn es das möchte, und zwar ohne Gewalt.“

Das leuchtete dem Publikum ein, aber zufrieden waren die Zuschauer dennoch nicht.

“Könnt Ihr uns denn nicht zum Schluss eine richtig gute Politik zeigen?“ fragte Del.

“Nein, denn Schluss ist jetzt. Beim nächsten Mal vielleicht. Wir werden dann nämlich das spielen, was Eurer Meinung nach richtig gute Politik ergibt. Wir sind sehr gespannt darauf, was Euch einfallen wird.“

Mathematik

Tante Atti
Nach den ersten Lernerfolgen der Zwillinge hielt Athabasca sie für wahre Genies und drängte Kulle, Na und Nuk auch in anderen Fächern als in Menschenkunde zu unterrichten. Kulle hatte nichts dagegen, zeigte als Ökonom, Soziologe und Philosoph allerdings auch kein sonderliches Interesse daran.
“Also“, sagte Atti, als die beiden kleinen Eisbärinnen sie am Beginn des nächsten Unterrichtsmorgens wissbegierig anschauten, “also, wir beginnen heute mit einem neuen Gegenstand. Er heißt Mathematik. Menschenkinder sagen auch gerne Mathe dazu. Mathe ist eine Wissenschaft, die sich mit Zahlen und Symbolen beschäftigt. Zahlen kennt ihr doch bestimmt, oder?“
Na und Nuk runzelten die Stirn, aber nur ein ganz kleines bisschen, so dass Atti die gefältelte Haut unter dem dichten Fell nicht sehen konnte. Für soo dumm konnte Tante Atti sie doch nicht halten!
Als höfliche kleine Eisbärinnen erklärten sie: “Natürlich, Tante Atti!“ Und sie begannen zu skandieren: “Eins, zwei, drei, vier…“ Bei “88“ unterbrach sie Atti mit dem Lob: “Das klappt ja schon ganz prima! Dann können wir auch gleich anfangen zu rechnen. Ich habe da eine Aufgabe vorbereitet…“
Attis Aufgabe lautete: Es gibt an einem bestimmten Ort 50 Bären und 50 Äpfel. Wie viele Äpfel bekommt jeder Bär, wenn gerecht geteilt wird?
Da Atti diese Aufgabe für leicht hielt, war sie von der Reaktion der Zwillinge überrascht. Die baten nämlich um ein paar Minuten Bearbeitungszeit.
“Wollt ihr dieses Problem etwa schriftlich bearbeiten?“ erkundigte sie sich.
“Nein, aber wir wollen darüber diskutieren, und vielleicht brauchen wir tatsächlich ein paar Notizen.“
Die Kinder sind für Mathematik wohl doch nicht geeignet, dachte Atti, als sie sich in der unerwarteten Pause in der Vormittagssonne räkelte. Aber Na und Nuk belehrten sie eines Besseren, als sie zurückkamen.
“Tante Atti, wir haben natürlich erkannt, dass du uns in eine Falle locken wolltest. Wenn alle Bären gleich viel wiegen und gleich viel Appetit auf Äpfel haben, und wenn alle Äpfel gleich groß und gleich saftig und ohne Würmer sind, oder wenn in jedem Apfel Würmer sind, die schon gleich große Teile der Äpfel ungenießbar gemacht haben, dann ist es natürlich gerecht geteilt, wenn jeder Bär einen Apfel bekommt. Aber wann ist das schon mal der Fall?“
Na Nuk
Das hätte Atti auch gerne gewusst, merkte sie jetzt. Der einzige, der in Bärenleben eine so komplexe mathematische Frage beantworten konnte, war aber Manfred, und der steckte wie üblich zwischen seinen Computerkabeln.
“Ihr habt das Problem hervorragend problematisiert“, formulierte sie unbeholfen und hoffte, damit ihre mangelnde Kompetenz zu überdecken. “Da ihr über eine wenig wahrscheinliche Möglichkeit nachgedacht habt, habt ihr vermutlich auch Lösungen für andere Varianten gefunden?“
“Aber klar, Tante Atti! Alle Bären haben gleich viel Appetit auf Äpfel, aber wiegen unterschiedlich viel – dann werden die Äpfel proportional zum Gewicht der Bären aufgeteilt! Alle Bären wollen alle Äpfel, die alle gut sind, aber verschieden schmecken, kosten: Jeder Bär kriegt dann von jedem Apfel ein möglichst identisches Stück. Wenn aber die Bären unterschiedlich viel wiegen und nicht alle den gleichen Hunger haben, wenn die Äpfel unterschiedlich groß, saftig und wurmstichig sind, und wenn es nicht erlaubt ist, die Äpfel zu zerteilen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Bär den für ihn richtigen Apfel bekommt, verschwindend gering. Wir haben überschlagen, dass die Chance etwa 1 zu 1031 beträgt. Genauer ging es leider nicht, wir konnten in der Eile keinen Taschenrechner finden. Deshalb sind wir auch davon ausgegangen, dass zehn Bären den gleichen Hunger haben und andere zehn das gleiche Gewicht, und zehn Äpfel sind gleich groß, und so weiter. Aber…“
Erschrocken verstummten Nanuk, als Athabasca sie sprachlos mit offenem Mund anstarrte. Schüchtern fragten sie schließlich: “Haben wir was falsch gemacht?“
“Nein, ihr habt nichts falsch gemacht.“ Mühsam sammelte sich Atti. “Ihr nicht, aber ich. Ihr braucht nämlich keinen Matheunterricht. Oder vielleicht doch, aber dann solltet ihr die Lehrerinnen sein und ich die Schülerin. Und jetzt geht spielen. Ich muss mich erst mal erholen.“
Fröhlich tollten Na und Nuk davon. Sie beschlossen, Manfred zu suchen und sich von ihm einen Taschenrechner auszuleihen, denn sie waren mit ihrem ungenauen Ergebnis unzufrieden. Atti dagegen blieb hocken wie angenagelt und murmelte wiederholt: “1 zu 1031“ vor sich hin. So fand sie Kulle, den doch die Neugier gepackt hatte und der wissen wollte, ob die Kinder mathematisch begabt seien. Ihm war nämlich eingefallen, dass Karl Marx sich intensiv mit Differentialrechnung befasst hatte, um sich von seiner persönlichen Qual abzulenken, als seine Frau im Sterben lag. Irgend etwas musste an dieser Wissenschaft also wichtig sein.
Athabasca riss sich zusammen und berichtete. Kulle konnte ebensowenig wie Atti nachvollziehen, was die Kinder da berechnet haben mochten, aber er analysierte sofort, dass sie das Problem der Verteilungsgerechtigkeit auf eine Weise betrachteten, die seiner Sicht der Dinge entsprach: Jedem nach seinen Bedürfnissen. Das, dachte er, ließe sich vielleicht für sein aktuelles Forschungsprojekt nutzen. Er machte ein bisschen Petting mit Atti, weil das erstens beiden Spaß machte und zweitens sie beruhigte, und danach begab er sich auf die Suche nach Nanuk. Er fand die beiden bei Manfred, der ihre Berechnungen bestätigte, und lud sie für den nächsten Tag zu einer weiteren Mathestunde ein.
“Morgen werde ich euch dann unterrichten!“
Na und Nuk vollführten voller Vorfreude einen doppelten eleganten Purzelbaum und besuchten danach ihre Mutter. Oicy planschte genüsslich im See und befragte natürlich, wie alle Mütter, ihre Kinder, wie es in der Schule gewesen sei. Sie war äußerst zufrieden mit den Fortschritten ihrer Töchter!
Kulle

Am nächsten Tag erschien Kulle mit mindestens ebensoviel Tatendrang zum Unterricht wie die Zwillinge.
“Ihr wisst ja, dass ich kein Mathematiker bin, sondern Gesellschaftswissenschaftler“, erklärte er am Anfang der Lektion. “Für Forscher wie mich kann die Mathematik nur eine Hilfswissenschaft sein, und deshalb habe ich mich damit nie intensiv beschäftigt. Um präzise zu sein: Ich habe mich gar nicht damit beschäftigt. Tante Atti hat mir gestern erzählt, dass ihr eine große Begabung darin gezeigt habt, Variablen zueinander in Beziehung zu setzen. Ich habe deshalb eine ganz einfache Aufgabe für euch! Beantwortet die Frage: Wann verhungert die Menschheit? Die dafür wichtigen Variablen sind…“
“Nein, Onkel Kulle, bitte nicht, Onkel Kulle! Das darfst du nicht verraten! Das wollen wir alleine rauskriegen! Haben wir bis morgen Zeit? Wir glauben nämlich, dass das eine sehr umfangreiche Aufgabe ist!“
Selbstverständlich gab Kulle den beiden die geforderte Zeit – er selbst biss sich an dem Problem seit Monaten die Zähne aus, was er Na und Nuk, eitel wie er war, natürlich nicht verriet.
“Schwester, wir teilen uns die Arbeit!“ befahl Nuk, nachdem Kulle, der überlegen lächelte und sich den Anschein gab, die Lösung des Problems selbstverständlich zu kennen, sie verlassen hatte. “Kein Widerspruch – ich bin die Erstgeborene! Es geht um die Menschheit und ihre Nahrungsgrundlage, und es geht, das hat Onkel Kulle gesagt, um Variablen. Wir müssen also erst mal gucken: Was nimmt zu, was nimmt ab? Was für unser Problem wichtig ist, brauchen wir wohl nicht zu erörtern. Willst du die Zunahme oder die Abnahme?“
“Ich nehme die Abnahme. Und du musst nicht immer deine Erstgeburt betonen – das nervt!“
Beide galoppierten los und vergruben sich in der Bibliothek von Bärenleben.
“Du fängst an mit der Zunahme!“ schlug Na vor, als sie sich ein paar Stunden später wieder trafen. “Zuerst das Positive!“
“Schön wär‘s ja“, seufzte Nuk. “Ist aber nicht so. Die Weltbevölkerung nimmt zu. In dieser Minute (18.9. 2007. 13.05 Uhr MESZ) leben ungefähr 6.647.000.000 Menschen auf dem Erdball. Pro Jahr werden es 81 Millionen mehr. In jeder Minute kommen 155 dazu! Die Menschen gehen davon aus, dass es 2050 ungefähr neun Milliarden von ihnen geben wird. Und die müssen essen!“
“Das wird aber schwierig, denn die verfügbare Ackerfläche pro Kopf der Erdbevölkerung nimmt ab. Gegenüber 1970 hat sich die gesamte für den Anbau von Getreide geeignete Fläche unwesentlich vergrößert – aber damals gab es drei Milliarden Menschen weniger. 1970 standen für jeden Menschen 0,18 ha Ackerfläche zur Verfügung, heute sind es weniger als 0,11 ha.“
“Das Problem könnte durch verbesserte Anbaumethoden behoben werden. Intensivlandwirtschaft…“
“… erhöht den Einsatz von Pestiziden und Insektiziden und damit die ökologische Belastung, was wiederum die Ertragsfähigkeit der Böden verringert…“
“…erhöht die Ernteerträge. Ebenso können genetisch manipulierte Pflanzen…“
“… die von Monsanto und anderen international agierenden Konzernen zum Zweck von deren Profitsteigerung, aber nicht zum Zweck der Erhöhung der Nahrungsmittelsicherheit entwickelt worden sind, die Erträge vielleicht steigern, weil sie schädlingsresistent sind. Es sieht allerdings so aus, als schädigten sie die Biodiversität, weil Insekten und Würmchen und Co – Biologie hatten wir noch nicht – sich bei ihnen nicht wohl fühlen und sich nicht vermehren. Außerdem müssen Bauern das entsprechende Saatgut jedes Jahr neu kaufen, und dazu sind nur Großbauern in der Lage. Schon deshalb verhungern Menschen.“
“Ich will ja gar nicht gewinnen“, stöhnte Nuk. “Du hast ganz sicher die besseren Argumente. Mach ruhig weiter!“
“Bleiben wir bei der Landwirtschaft. Natürlich werden die Menschen versuchen, aus dem Ackerland so viel wie möglich herauszuholen. Und sie werden versuchen, die landwirtschaftliche Nutzfläche zu vergrößern. Mehr rausholen kann man zum Beispiel durch Bewässerung. Schon heute verbraucht die Landwirtschaft etwa 70% des weltweiten Süßwasserbedarfs. Man braucht tausend Tonnen Wasser, um eine Tonne Weizen zu produzieren. Wasser wird knapper werden, als es jetzt schon ist, das hängt zusammen mit  der Bevölkerungszunahme und dem Klimawandel, der fast überall die Temperaturen steigen lässt. Ich habe dabei übrigens eine neue Vokabel gelernt: Desertifikation. Kennst du die?“
“Nee. Heißt das ‚Vernachtischung‘?“
“Quatsch, Wüstenbildung! Zurück zum Nahrungsproblem: Für die Vergrößerung der landwirtschaftlichen Nutzfläche bietet sich aus der Sicht der Menschen vor allem der tropische Regenwald an: Zuerst kann man wertvolle Hölzer vermarkten und danach Landwirtschaft betreiben. Regenwälder wurden zunächst für die Rinderhaltung abgeholzt, und seit wenigen Jahren kommt die Gewinnung von Biosprit dazu.
Rinder furzen…“
“Mami auch, Mami auch!“
“Sei nicht so albern, es geht um Rinder. Ihre Fürze enthalten Methan – dazu komme ich später. Rinder fressen irgendwo in Afrika oder Südamerika vielleicht Gras, aber die meisten fressen von Menschen angebautes Getreide. Weltweit werden etwas mehr als zwei Milliarden Tonnen Getreide geerntet, das entspricht gut 300 Kilogramm pro Menschenkopf. Das klingt ganz gut, ist aber insgesamt nicht mehr als 1970. Die Erntemenge wächst langsamer als die Weltbevölkerung.
Von dieser Ernte wird weltweit fast die Hälfte des Korns an Vieh verfüttert. In den Industrieländern liegt der Anteil sogar bei mehr als zwei Dritteln. Um Fleisch zu produzieren, braucht man mehr Energie als für die Herstellung pflanzlicher Nahrung, es gilt ungefähr Faktor 10. Also kann man sagen, dass bei der Produktion von Fleisch 90% der geernteten Nahrungskalorien verloren gehen.“
“Ob Mami das weiß?“ unterbrach Nuk nachdenklich. “Vielleicht würde sie dann Vegetarierin…“
“Das kann Mami gar nicht, und das weiß du genau. Überhaupt, lass Mami in Frieden! Und lenk nicht dauernd vom Thema ab! Also: Die Fleischproduktion der Menschen steigt weiter, weil der Luxuskonsum zunimmt, und gleichzeitig wird die Grundversorgung schlechter. Schon jetzt sind 800 Millionen Menschen unzureichend ernährt, obwohl statistisch ausreichend Nahrung erzeugt wird. Je mehr Fleischproduktion, desto weniger Regenwald, desto mehr CO2, desto ungerechte Lebensmittelverteilung. Fleischproduktion auf industrieller Basis bedingt notwendig Massentierhaltung und die wiederum Seuchengefahr, worauf die Menschen bisher nur eine Antwort kennen, die sie Keulung nennen. Es handelt sich dabei um Massenmord, und die Opfer werden irgendwie “entsorgt“, jedenfalls nicht gegessen.“
“Mir ist schlecht!“ stöhnte Nuk.
“Mir auch!“ sagte Na. Nach einer Pause fuhr sie fort: “Mit zunehmender landwirtschaftlicher Nutzung der Erde steigt nicht nur der Ausstoß von Methan, sondern auch von Kohlendioxid. Beides sind hoch wirksame Treibhausgase. Ich habe gelesen, dass der Anteil der weltweiten Landwirtschaft am Klimawandel etwa 18% beträgt und damit dem der USA entspricht.“
Na holte tief Luft.
“Bist du jetzt fertig?“ erkundigte sich Nuk.
“Gleich. Es fehlt nur noch eine Variable, nämlich Energie. Den größten Teil ihres riesigen Energiebedarfes befriedigen die Menschen mit fossilen Rohstoffen, und da selbst sie begriffen haben, dass die irgendwann erschöpft sein werden, wobei irgendwann ziemlich bald ist, suchen sie nach Alternativen. Da gibt es Wind- und Sonnenenergie, was vernünftig ist, und daraus lässt sich Elektrizität gewinnen, mit der man zum Beispiel heizen kann. Aber damit kann man kein Auto in Bewegung setzen, jedenfalls heute noch nicht. Das Auto ist aber wichtig für die Menschen, was ich nicht verstehe, aber es ist so. Sie könnten doch auch laufen, oder? Die Besitzer von Ölfördergesellschaften sind übrigens oft auch die von Autoproduktionsfirmen, sie haben also identische Interessen, warum hätten sie nach alternativen Antriebsweisen suchen sollen?
Aber allmählich wird Öl knapp und deshalb teuer, immer mehr Menschen wollen sich automobil bewegen, die Menschen suchen jetzt nach anderen Antriebsstoffen. Sie haben den Biosprit entdeckt. Also bauen sie zum Beispiel in Dehland Raps an, um ihn zu Diesel zu verarbeiten. Das wird sogar subventioniert, ist aber völliger Blödsinn, denn selbst wenn die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Dehland zum Rapsanbau genutzt würde, ergäbe das2 nur 5% des Diesels, der von Autos verbraucht wird. Auf einem Hektar kann man so viel Raps anbauen, dass man daraus 288 Liter Diesel gewinnen kann, damit kann man mit einem Auto, das 8 Liter auf 100 Kilometer verbraucht, 3600 Kilometer fahren. Man kann auf derselben Fläche aber auch zum Beispiel Weizen oder Kartoffeln anbauen.“
“Oops!“ sagte Nuk. ““Ich glaube, wir haben ein Problem.“
“Falsch, wir haben bestimmt ein Problem. Die Variablen, mit denen wir es zu tun haben, sind nicht fix, sondern werden sich gemäß ihrer Interdependenz verändern. Wir können Onkel Kulles Aufgabe nicht lösen. Was meinst du – wird er uns böse sein?“
“Das glaube ich nicht. Niemand kann das berechnen. Die Antwort ist nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Wann die Menschen verhungern werden, ist ungewiss, dass sie verhungern werden, wenn sie weitermachen wie bisher, ist fraglos. Die Antwort wird Onkel Kulle gefallen. Ich habe ein ganz anderes Problem!“
“Welches?“
“Ich finde, wir reden so komisch, so – wissenschaftlich!“
“Das ist mir auch schon aufgefallen, aber das liegt an der Umgebung hier in Bärenleben.“
“Gehen wir jetzt spielen?“
“Klar!“

 

Lernkontrolle

Na und Nuk hatten sich nach ein paar Wochen in Bärenleben schon prima eingewöhnt, und es machte ihnen einen Riesenspaß, dass „Tante“ Atti und „Onkel“ Kulle – von dieser Namensgebung waren sie nicht abzubringen – ihnen viel über das Leben in ihrer neuen Umgebung beibrachten. Sie hatten auch nichts dagegen, ihre Lernerfolge überprüfen zu lassen; allerdings leuchtete ihnen überhaupt nicht ein, dass sie das getrennt machen sollten. Und so schrieben sie auch ihren ersten Aufsatz gemeinsam. Das vorgeschriebene Thema lautete: Der Mensch.

Eisbärenfamilie

Der Mensch

Der Mensch ist ein Säugetier wie wir auch, was er aber nicht wissen will, denn er hält sich für etwas Besseres. Deshalb, glaubt er, ist er auch später geschaffen worden als wir. Zu dem, der das angeblich geschafft hat, kommen wir später.

Weil der Mensch ein Säugetier ist, bringt er lebende Junge zur Welt, die vom Weibchen gesäugt werden. Sollte das nicht klappen, springt Milupa ein, ein Märchenwesen, das Kinder stark macht. Weil der Mensch viel Wert auf die Kraft seiner Lenden und wenig auf die Kraft seines Geistes legt, zeugt er viele Kinder. Das führt dazu, dass er wegen Überbevölkerung vom Aussterben bedroht ist, aber wir Bären auch, allerdings wegen Ausrottung.

Der Mensch bildet sich, wie oben schon gesagt, ziemlich viel auf sich ein. Deshalb hat er die Religion erfunden, die zum Beispiel in der Sixtinischen Kapelle zeigt, dass ein Mensch direkt mit dem Finger berührt wird. Auch der Papst ist angeblich direkt berührt, jedenfalls glaubt er, dass er auch ein Finger ist. Wenn der Mensch stirbt, verspricht ihm der Papst, dass er anschließend beim Finger wohnen und Halleluja singen wird. Von Onkel Kulle haben wir gelernt, dass Religion Unsinn ist, nämlich Crack für das Volk, weil Crack nämlich aggressiv macht, anders als Opium, das beruhigt.

Der Mensch betrachtet sich als höchstes Lebewesen, was ihn aber nicht daran hindert, andere höchste Lebewesen umzubringen, und er wird dabei immer besser. Er behauptet von sich, er sei das Maß aller Dinge, aber allmählich stellt er fest, dass er versäumt hat, den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre zu messen. Eigentlich interessiert sich der Mensch nur für sich selbst; deshalb bezeichnet er alles andere als Umwelt“. Er mag Hunde und manchmal Katzen, aber Eisbären nur, wenn sie vom Klimakollaps bedroht sind und er keinen direkten Kontakt mit ihnen hat.
Der Mensch, wie er hier beschrieben ist, ist ein Mann. Es gibt viele Männer, die behaupten, dass eine Frau kein Mensch ist.

Bekannte Menschen waren und sind Karl Marx und Michelangelo und Benedikt XVI. und…mehr kennen wir noch nicht. Der Finger ist kein Mensch, sondern etwas noch Besseres.

Kulle war geknickt, als er den Aufsatz las und sich dabei an seine eigene Arbeit über den Menschen erinnerte. Atti dagegen musste so lachen, dass sie hilflos durch die Höhle kugelte.

„Du schaffst das schon!“ kicherte sie. „Fraglos gelingt es dir, die richtige Auswahl von Menschen zu treffen – weiter so! Die Beiden kriegen doch eine Eins, oder?“

Kulle widersprach nicht.

Anno 1968

kulle2

Vorwort

Es rauscht anno 2007 im dehländischen Medienwald in der Vorschau auf ein wahrhaft wenig spektakuläres Jubiläum, nämlich ein vierzigjähriges. Wir sprechen vom Jahr 1968.

Nun, Anlässe zum Erinnern gäbe es genug. Zum Beispiel wurde die Mehrwertsteuer im Januar in Dehland eingeführt, der Vietcong gab dem Vietnamkrieg durch die TET-Offensive eine entscheidende Wendung, in den USA wurden im April Martin Luther King und im Juni Robert F. Kennedy ermordet, und im August endete der sogenannte “Prager Frühling“ mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei.
„Anno 1968“ weiterlesen

Eisbärenleben

Athabaska

Athabasca lag gemütlich inmitten einer blumenübersäten Frühsommerwiese in Bärenleben und ließ sich die Sonne auf den braunen Pelz brennen. Die überwältigenden Düfte um sie herum brachten sie zum Niesen.
„Hatschepüh!“ machte sie lautstark. Und noch einmal: „Hatschepüahhh!“
“Du hörst mir gar nicht zu!“ beklagte sich Kulle, der neben ihr hockte. ‚Stimmt‘, dachte Atti, aber laut sagte sie: „Welch ein Unsinn! Ich lausche jedem deiner Worte mit Hingabe!“
Kulle, blind und taub wie jeder, der verliebt ist, glaubte ihr natürlich jedes Wort und fuhr in seiner Suada fort.

Kulle
„Der Treibhauseffekt verstärkt sich, je weiter die Kohlendioxidkonzentration ansteigt. Es wird also immer wärmer.“
„Na und?“ fragte Athabasca und rollte sich genüsslich im Gras hin und her. Sie liebte es warm.
„Na und, na und! In Dehland werden vielleicht Palmen wachsen, die Sahara wird sich bis nach Spanien ausbreiten, und Grönland wird wieder  grün!“
Atti verstand Kulles Aufregung nicht. Sie hatte nichts gegen ein subtropisches oder zumindest warmgemäßigtes Dehland; sie liebte die Wüste, seit sie ein paar Monate im kargen Südwesten der USA zugebracht hatte, und dass Grönland wieder grün werden könnte, erschreckte sie überhaupt nicht: Der Name der Insel legte schließlich nahe, dass ihr Normalzustand eisfrei war.
„Na und?“ fragte sie zum zweiten Mal.
„Nuk!“
Atti sah Kulle an, Kulle sah Atti an. „Was war das?“ fragten beide gleichzeitig. Der merkwürdige Laut, den sie gehört hatten, war irgendwo aus dem hohen Gras gekommen, das sie umgab.
Atti gab sich schnell zufrieden. „Es klang wie eine schlecht geölte Tür, aber hier gibt es ja keine Türen, und schlecht geölte schon gar nicht. Wahrscheinlich eine Grille, die sich im Ton vergriffen hat. Also – was ist schlimm daran, wenn in Grönland Gras wächst?“
Kulle spähte weiter aufmerksam um sich. „Die Albedo der Erde verändert sich drastisch“. brummte er unkonzentriert. Er sah Athabasca noch immer nicht an. „Irgendwas ist da!“ knurrte er.
„Albedo? Habe ich noch nie gehört. Ist das wichtig?“ Kulle reagierte nicht. Ungeduldig fragte Atti: Na, und was….“
Nuk!“
Atti verstummte sofort. Kulle kratzte sich am Kopf. „Es gibt da ein Muster, da bin ich sicher. Das Geräusch, oder was immer es sein soll, wird durch ein Schlüsselwort aktiviert. Aber welches? Was hast du zuletzt gefragt?“ wollte er von Atti wissen.
„Ich habe die Sache mit der Albedo nicht verstanden, Na, und…“
„Nuk!“ machte es zum dritten Mal.
„Na und Nuk, das ist es. Na und Nuk. Naundnuk. Aber was bedeutet das?“
„Das heißt nicht Naundnuk, sondern Nanuk. Nanuk heißt Eisbär. Das ist Inuit. Und gemeint sind wir.“
Der Sprecher, der das sagte, hatte eine helle Stimme und sprach Deutsch mit einem fremden Akzent. Atti und Kulle brauchten nicht lange zu warten, bis er sich ihnen zeigte. Zwei kleine Eisbären tapsten aus dem hohen Gras auf sie zu.
„Knut!“ rief Atti entzückt. „Und gleich zweimal!“
Manchmal fragte Kulle sich, ob Frauen wirklich so blöd sein mussten, wie sie sich meistens gaben, aber er fragte sich das immer und auch jetzt nur ganz im Geheimen. „Nein, das ist nicht Knut!“ erklärte er. „Knut ist inzwischen so groß, dass sich noch nicht mal sein Wärter mehr allein in seinen Käfig traut. Diese beiden heißen Nanuk. Stimmt‘s?“ fragte er.
„Nicht ganz. Ich bin Na, und meine Schwester heißt Nuk. Nanuk heißen wir nur zusammen.“
„Danke für die Vorstellung, Das ist Athabasca, und ich bin Kulle. Wir wohnen hier in Bärenleben. Und woher kommt ihr?“
„Aus Kanada.“
„Ich auch!“ rief Atti begeistert. „Kennt ihr Sunwupta Falls? Kennt ihr einen großen Grizzly namens Otto?“
Die beiden Kleinen schüttelten die Köpfe.
Kulle hätte liebend gerne in Erfahrung gebracht, wer dieser vermaledeite Otto war, aber er hielt nichts von Multitasking, wie man neuerdings sagte, wenn man mehrere Dinge auf einmal machte, und keines davon richtig. Er bevorzugte es, eine Sache nach der anderen zu erledigen. Da kamen ihm die beiden Kleinen gerade recht, denn er musste Atti noch erklären, was Albedo bedeutete.
„Ihr habt ein wundervoll weißes Fell“, sagte er. „Darf Atti das mal anfassen?“
Die Eisbären hatten nichts dagegen, und Athabasca strich mit ihrer rechten Vorderpfote sanft über Haut, die nicht spürbar war, weil sie von daunenweichem weißem Haar bedeckt war.
„Fühlt sich gut an!“ brummte sie.
„Und jetzt leg deine linke Vorderpfote auf dein eigenes Fell!“ kommandierte Kulle. Atti hatte keine Ahnung, warum er das wollte, aber sie tat ihm den Gefallen.
„Oops!“, sagte sie. „Rechts ist es viel kühler als links.“ Sie tastete nach ihrer Stirn. „Habe ich vielleicht Fieber?“
„Du hast kein Fieber, aber dein Fell ist braun, und das Fell der Eisbären ist weiß. ‚Albedo‘ bedeutet Rückstrahlkraft. Die Sonnenstrahlen werden von dem weißen Fell unserer Überraschungsgäste fast vollständig reflektiert, das heißt, es bleibt kaum Wärme an ihnen hängen. Mir deinem braunen Fell ist das anders, es wird aufgeheizt. Und wenn Grönland grün wird und nicht mehr weiß ist, dann wird auch Grönland aufgeheizt, und das hat Auswirkungen auf die gesamte Erde, und….“
„Kulle?“
Ja?!“ Kulle hatte über seiner Erklärung, während deren er sich auf Attis heißes Fell konzentriert hatte, die beiden kleinen Eisbären fast vergessen.
„Dasselbe erzählt Mami uns auch immer!“
„“Mami?“
„Wer ist Mami?“ fragte Athabasca, während Kulle sprachlos blieb. Für Mütter hatte er nichts übrig.
„Mami ist auch hier. Mami hat uns hergebracht. Mamiiii!!!!“ Atti und Kulle hätten nie gedacht, dass Bären, auch wenn es Eisbären waren, so laut kreischen könnten.
Eisbärenfamilie

Eine Eisbärin tauchte aus den Büschen neben ihnen auf, eine Bärin, die so groß war, wie Atti und Kulle noch nie eine gesehen hatten. Sie war tropfnass.
„Hi there!“ grüßte sie. „Englisch versteht ihr doch, oder? Meine Kinder habe ich multilingual erzogen in Anbetracht des Klimawandels, aber, Entschuldigung, ich selbst kann als Fremdsprache nur Englisch. Ich habe gerade gebadet, um mich abzukühlen – es ist viel zu heiß bei euch. Aber euer See ist nett, und etwas zu essen hat er auch. Habt ihr Hunger?“ Sie spuckte eine große Forelle aus, die sie vorsichtig in ihren Fängen gehalten hatte.
„Ja! Na klar! Immer!“ riefen Na und Nuk durcheinander.
„Danke, nein!“ Atti und Kulle lehnten höflich ab, obwohl ihnen das Wasser im Maul zusammenlief.
Die Eisbärenmutter schleuderte den Fisch ihren Kindern vor die Füße, und die machten sich sofort an ihre Mahlzeit.
„Jetzt haben wir ein bisschen Ruhe vor den Beiden“, brummte sie zufrieden. „Ich heiße Oicy, und wir kommen aus Kanada. Ich bin froh, euch beide gefunden zu haben, denn wir sind schon lange unterwegs, aber in Europa scheint es kaum Bären zu geben. Oder versteckt ihr euch nur so gut?“
„Beides ist richtig“, antwortete Atti. „Es gibt kaum noch Bären, weil es zu viele Menschen gibt, und deshalb verstecken wir uns vor ihnen.“
„Also ist es hier auch gefährlich“, seufzte Oicy. Dann werde ich wohl weiterziehen und mein Glück in der Antarktis versuchen. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich durch die Tropen kommen soll, aber irgendwie…“
„Nein, gefährlich ist es nicht, jedenfalls nicht für uns“, unterbrach Kulle sie. Schaudernd dachte er daran, was für ein Massaker die drei Eisbärinnen unter der Pinguinpopulation rund um den Südpol anstellen würden. „Sag mal: Was hast du eigentlich vor?“
„Ich habe eben gerade den Klimawandel erwähnt. Wisst ihr, was das ist?“
Kulle wollte sich ob dieser Frage empören, aber Atti legte ihm beruhigend die Pfote auf den Arm. „Ich denke schon“, flötete sie und gönnte Kulle einen betörenden Augenaufschlag. „Die Kohlendioxidkonzentration steigt an, und es wird überall immer wärmer. Grönland wird wieder grün werden!“
„Ja, und auch Nordkanada, und der Nordpol wird eisfrei. Er ist im Sommer schon eisfrei!“ grollte Oicy. „Das heißt, dass wir Eisbären dort oben keine Lebensgrundlage mehr haben. Deshalb will ich die Kinder evakuieren. Sie sind noch jung genug, um sich an ein fremdes Habitat und eine andere Ernährung zu gewöhnen. Jedenfalls hoffe ich das. Darf ich meine Theorie gleich mal testen?“
Kulle war immer für die Entwicklung von Theorien und deren Erprobung. „Selbstverständlich!“ sagte er.
Oicy rief ihre Zwillinge, und da die beiden inzwischen aus der Forelle ein Grätenskelett gemacht hatten, kamen sie bereitwillig herbei. „Was isst man denn bei euch so?“ erkundigte sich ihre Mutter.
„Fisch mögen wir genau so gerne wie ihr auch, aber wir fressen auch Wurzeln und andere Pflanzenteile und Beeren und – na ja, und…“ erklärte Atti und verstumme unsicher, weil sie nicht wagte, die weniger appetitlichen Essgewohnheiten der dehländischen Bären zu verraten.
„Aas?“ fragte Oicy nach. „Das mögen wir auch, keine Sorge. Probleme haben wir dagegen mit pflanzlicher Nahrung. Könnt ihr mir mal so eine – wie heißt das – so eine Beere geben, bitte?“
Mit einem Sprung war Atti in einem nahe gelegenen Gebüsch verschwunden und schnell wieder zurück. Als sie ihre Pranke öffnete, lag darin unverletzt ein Häuflein reifer Himbeeren.
„Bitte!“ sagte sie höflich und bot Oicy davon an.
Zögernd langte die riesige Eisbärin zu, fasste mit überraschender Zartheit nach einer Beere und warf sie sich ins Maul. Sofort verwandelte sich ihr Gesicht in eine Grimasse des Ekels. „Pfui Inuit!“ brüllte sie. „So etwas esst ihr? Das werden meine Kinder bestimmt nicht mögen!“
Athabasca war der Meinung, dass Oicy nichts, aber auch gar nichts von Kindererziehung verstand: Wie konnte man seinen Abscheu gegen etwas zum Ausdruck bringen, wenn man erreichen wollte, dass Kinder diesen Abscheu eben nicht entwickelten! Aber sie behielt ihre Meinung höflich für sich. Anstatt etwas zu sagen, nahm sie selbst einige der Himbeeren, gab Kulle ebenfalls ein paar, und als sie sie mit der Zunge zerdrückte, zeigte ihr Gesicht den Ausdruck höchstmöglichen Entzückens. „Himbeeren!“ sagte sie schwärmerisch, „Himbeeren!“ Ich wollte, sie reiften das ganze Jahr lang! Wollt ihr auch mal probieren?“ fragte sie Na und Nuk. „Ich wette, ihr habt noch nie etwas so Köstliches gegessen! Ihr dürft übrigens Tante Atti zu mir sagen!“ Sie trat Kulle heftig gegen ein Bein, und er verstand, was sie von ihm wollte.
„Und ich bin Onkel Kulle“, ergänzte er. „Himbeeren sind wirklich etwas Wunderbares, esst nur!“
Na und Nuk sahen sich unsicher an, aber schnell ergriff Na die Initiative. „Ich bin die Erstgeborene“, erklärte sie selbstbewusst. „Ich probiere jetzt mal!“
„Pah, das sind nur anderthalb Minuten, die du mir voraus hast!“ protestierte Nuk. „Ich esse auch!“
Athabascas Pfote war auf einmal leer. Ängstlich beobachtete sie zusammen mit Kulle die Mienen der beiden Kleinen, aber sie konnte keine Veränderung des Gesichtsausdrucks erkennen, während die beiden kauten und schluckten.
„Hast du davon noch mehr, Tante Atti?“ fragten sie im Chor, als sie fertig waren. Athabasca wusste nicht, ob sie zuerst gelächelt oder zuerst zu einem weiteren Sprung in die Büsche angesetzt hatte. Die beiden Kleinen verputzen die zweite Beerenlieferung im Nu und sagen danach wie aus einer Kehle: „Mehr!“
„‘Mehr, bitte!‘ heißt das“, sagte Atti und schmunzelte. „Mehr ist da drüben in den Büschen. Bedient euch, aber seid vorsichtig: Beerensträucher haben Dornen!“
Sofort waren Na und Nuk verschwunden.
„Das scheint ja zu klappen!“ seufzte Oicy. „Ich muss gestehen, dass ich das gehofft habe. Ihr Vater war nämlich ein Grizzly, kein Eisbär, müsst ihr wissen.“ Tapfer fuhr sie fort: „Ich werde mich davonschleichen, solange sie beschäftigt sind. Ihr werdet ihnen bestimmt erklären können, warum ich nicht hiergeblieben bin. Und…“ Die Stimme versagte ihr. „Bitte, bitte, macht sie glücklich!“
„Na klar machen wir sie glücklich!“ brummte Kulle. „In Bärenleben ist jeder glücklich, sogar ich, nach Maßgabe der immer noch ausstehenden Revolution, natürlich. Gehst du weg“, fragte er plötzlich interessiert, „weil demnächst in Kanada eine Revolution zu erwarten ist?“
„Natürlich nicht. Es sei denn, du bezeichnest es als Revolution, dass alle Eisbären demnächst verhungern werden…“
„Psst“ machte Atti. „Lass das die Kinder nicht hören! Warum willst du überhaupt wieder weg, wenn du deine Kinder hierlassen willst?“
„Das ist doch klar, das liegt doch auf der Hand!“ sagte Kulle selbstbewusst und warf sich in die Brust. „Sie verträgt unsere Nahrung nicht. Sie würde hier sterben!“
„Ach ja?“ fragte Atti. „Ach ja?“ wiederholte sie zornig. „So, sie verträgt unsere Nahrung nicht? Sie würde hier sterben? Und in Kanada verträgt sie das gewechselte Klima nicht, das mit dem Kohlenirgendwas, und da würde sie auch sterben! Warum soll sie also nicht bei uns bleiben, zusammen mit ihren Kindern, und zu leben versuchen? Es wird uns schon was einfallen!“
Kulle gab ungern zu, dass er Unrecht hatte, noch nicht einmal vor sich selbst und schon gar nicht vor anderen. Aber allmählich dämmerte ihm, dass Athabasca Recht hatte. „Es gab da früher ein Verfahren“, sagte er langsam, „mit dem man im Winter Eis erntete. Man lagerte es an einem kühlen Ort, so dass der Vorrat für das ganze Jahr reichte. Wir könnten das System so auszubauen versuchen, dass es für Oicy und Nanuk als Wohnhöhle eingerichtet werden kann. Und wenn die Winter auch in den höheren Lagen von Dehland so warm werden, dass sich nicht mehr genug Eis bildet, dann fällt Manfred bestimmt eine technische Lösung ein. Die Verpflegung sollte kein Problem sein. Nanuk finden Gefallen an pflanzlicher Nahrung, wie es aussieht, und für Carnivoren findet sich in den dehländischen Wäldern und Gewässern immer genug Fleisch. Atti, du hast Recht! Sag mal“, wandte er sich an Oicy, „möchtest du denn bleiben?“
Zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben sah Kulle eine Eisbärin weinen.

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein

„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
„Du musst!“
„Kein Mensch muss müssen – und ein Frosch schon gar nicht!“
„Aber vielleicht eine Fröschin?“
„Wieso das?“
„Guck Dich doch um – Deine Art stirbt aus!“
„Weiß ich längst.“
„Und?“
„Was ‚und’?“
„Und was fühlst Du?“
„Was geht Dich das an?“
„Nichts. Aber…“
„Aber was?“
„Aber Du könntest das ändern.“
„Ach ja?“
„Ja. Du kannst alles.“
„Ich mische mich nicht mehr ein.“
„Sicher?“
„Ja.“
„Schade.“
— „Warum?“
„Du wirst dich einsam fühlen.“
„Ich fühle mich nur einsam, wenn Murkel nicht da ist.“
— „Ich wünsche mir, dass Du mir hilfst.“
„Viele Märchen fangen an mit der Floskel: ‚Zu der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat…’ Die Zeiten sind vorbei.“
„Warum willst Du mir nicht helfen?“
„Warum sollte ich?“
„Weil Du mich gemacht hast. Und die Märchen. Und weil, auch wenn Du behauptest, dass es Dich nicht interessiert, ein Drittel von den 6158 bekannten Amphibienarten vom Aussterben bedroht ist. Die erkrankten Frösche und Kröten leiden an einem Hautpilz und ersticken qualvoll, denn sie atmen durch die Haut. Du könntest das ändern.“
„Ich habe die Frösche und Kröten nicht gemacht und Dich nicht und Märchen schon gar nicht. Ich habe ein Universum geschaffen, richtig. Der Rest war und ist Chemie und Physik und Biologie.“
„Und Chemie und Physik und Biologie haben Leben und haben Bewusstsein hervorgebracht.“
„Stimmt. Damit habe ich übrigens nicht gerechnet.“
„ Und Intelligenz.“
„Falsch.“
„Darüber wollen wir jetzt nicht streiten. Intelligenz setzt jedenfalls Bewusstheit voraus, und die streitest Du ja nicht ab.  Ist denn seiner selbst bewusstes Leben nicht erhaltenswert?“
„Nö.“
„Nicht?“
„Nein – warum sollte es das sein?“
„Weil….“
„Weil?“
„Weil wir fühlen, die Frösche und die Bären und Murkel und Du auch. Weil es wehtut, wenn wir aufhören zu existieren.“
„Das ist kein Argument. Alles individuelle Leben ist dem Tod geweiht, der wiederum Lebensformen hervorbringt oder ernährt, welche auch immer. Jedes Lebewesen fühlt den Todesschmerz.“
„Tussi?“
„Ja?“
„Ich möchte Bärenleben retten.“
„Ach ja? Und Dich nicht?“
„Doch, zugegeben, mich auch. Aber ich bin doch verantwortlich…“
„Und weil Du verantwortlich zu sein glaubst für etwas, dessen Parameter du nicht beeinflussen kannst, unterstellst du mir, die Verantwortung zu tragen für das, was ich gemacht habe? Ein Seminar in formaler Logik hast Du nie besucht, oder?“
„Nein…Aber…“
„Schon gut. Was willst du?“
„Dass Du die Welt rettest.“
„Ich wiederhole mich ungern. Ich sagte bereits, dass ich mich nicht mehr einmische.“
„Dann möchte ich, dass irgendjemand sonst die Welt rettet.“
„Dann viel Spaß.“
„Bitte?“
„Ist doch ganz einfach: Ich will die Welt nicht retten, im Gegensatz zu Dir – also ist es Dein Job, das edle Werk zu tun.“
„Ich?“
„Wer sonst?“
„Ich soll – Gott spielen?“
„Nein – du sollst Gott sein.“
„Mit allen Konsequenzen?“
„Welche Konsequenzen bringt es mit sich, Gott zu sein?“
„Na ja, die Welt geht vielleicht unter, und man muss über seine Geschöpfe zu Gericht sitzen – so was alles.“
„Die Welt kann vielleicht untergehen, aber der Rest ist Bullshit.“
„Das ist immer noch ein ziemlich hohes Risiko. Bärenleben…“
„Ihr Bären seid entsetzlich sentimentale Wesen. Bärenleben geht vielleicht unter, wenn ich nichts mache oder wenn Du versuchst, es zu retten. Oder auch nicht. Ich weiß das nicht – ich kann nämlich nicht in die Zukunft gucken. Aber sag das bloß keinem weiter. Also – willst du nun oder nicht?“
„Ich weiß nicht.“
„Schisser!“
„Und wenn ich alles falsch mache?“
„Doppelschisser!“
„Ich habe fast den Eindruck, Du möchtest, dass ich es mal versuche.“
„Es wäre mal was anderes.“
„Und wenn ich es nicht kann?“
„Du kennst ja meine Telefonnummer.“
Vor der abendlichen Versammlung in Bärenleben ließ Bärdel sich nichts anmerken. Aber er schmiedete heimlich Pläne und stellte eine umfangreiche Tagesordnung zusammen, die ein wenig anspruchsvoller war als das, was sich die Bärenlebener normalerweise zu entscheiden vornahmen.
Wie gewohnt übernahm Bärdel den Vorsitz und nannte den ersten Punkt, über den zu reden sein würde. Bärenleben war längst darüber hinaus, regelmäßig eigene Probleme reflektieren zu müssen, denn es gab kaum mehr welche. Folgerichtig widmeten sich die Bären den brennenden Menschenproblemen, aber bisher hatten sie weise darauf verzichtet, Lösungsvorschläge zu formulieren – zu vertrackt erschien ihnen die Gemengelage. Deshalb war Unruhe spürbar, als Bärdel sagte: „Wir werden uns heute mit Aids beschäftigen, und ich denke, wir werden die damit zusammenhängenden Fragen beantworten.“
Die Bären rutschten auf ihren dicken Hintern hin und her.
„Wie ihr natürlich alle wisst,  ist HIV beziehungsweise Aids im südlichen Afrika besonders stark verbreitet. Etwa 26 Millionen Menschen sind dort infiziert, das sind mehr als 60 Prozent aller Erkrankungen weltweit. Besonders dramatisch ist die Todesrate unter den 15- bis 45-Jährigen gestiegen, was gravierende wirtschaftliche und demografische Folgen hat. Die Ursachen dafür…“
„Die Ursachen dafür,“ unterbrach Tumu hitzköpfig ihren Mann, „liegen hauptsächlich im Sexualverhalten der Männer begründet. Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung, Polygamie ist weit verbreitet, ebenso wie Prostitution.“
„Ich dachte immer, Prostitution sei überwiegend ein Angebot von Seiten der Frauen,“ brummte Kulle vor sich hin. Tumu wischte seinen Einwand mit einer ärgerlichen Armbewegung beiseite.
„Prostitution ist ein Angebot, das aufgrund von Nachfrage entsteht, du Ignorant!“ fauchte sie. „Aufgrund von männlicher Nachfrage! Insgesamt kann man in den Subsaharastaaten von verbreitetem promiskem Sexualverhalten sprechen, und das bedeutet, vor allem in einer armen Gesellschaft, überproportional häufig Geschlechtskrankheiten, was wiederum Infektionen mit HIV begünstigt, weil geschlechtskranke Menschen häufig offene Wunden im Genitalbereich haben. Noch irgendwelche Fragen?“
„Ja!“ Del meldete sich schüchtern. „Was heißt ‚promisk’?“
„Promisk bedeutet, dass jemand häufig seine Sexualpartner wechselt.“ Kulle war schneller als jeder andere Bär, wenn es darum ging,  etwas zu erklären.
Del bedankte sich, was Bärdel Gelegenheit gab, sich wieder einzuschalten.
„Trotz der emotionalen Kontroverse, die es gerade gegeben hat, sind die Ursachen der hohen Aids-Rate im südlichen Afrika insgesamt richtig dargestellt worden. Es bleibt die Frage, was zu tun ist. Eine Bekämpfung der Krankheit ist schwierig, weil die Menschen arm sind, denn Kondome und Tests sind teuer. Außerdem wird Aids gesellschaftlich nicht akzeptiert, und wo Kranke wegen ihrer HIV-Infektion ausgegrenzt werden, haben die Menschen kein Interesse an der Kenntnis ihres HIV-Status. Weil sie nicht wissen, dass sie ansteckend sind, stecken sie andere weiter an. Eine einzige Strategie scheint bisher Erfolg zu versprechen: Aufklärung. In Ost- und Zentralafrika sind Präventionskampagnen durchgeführt worden, und man hat die Krankheit tatsächlich zum Rückzug gezwungen.“
Bärdel holte tief Luft. Er hoffte, dass er nichts vergessen hatte. Er war gespannt auf die Antwort auf die entscheidende Frage. Er sagte: „Bären, wir können etwas tun. Also – was sollen wir tun?“
Die Antworten hagelten auf ihn nieder.
„Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika!“
„Monogamie verordnen!“
„Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten!“
„Frauenbeauftragte in jedem Dorf einsetzen!“
„Männer abschaffen!“
„Kondome verteilen!“
„Überall kostenlose Tests anbieten!“
„Schulungen anbieten, natürlich kostenlos, die die Empathie fördern, zum Beispiel: ‚Dein Freund könnte HIV-positiv sein…’“
„Den Menschen Geld geben!“
„Quatsch, den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“
„Die Chance nutzen und das südliche Afrika evakuieren, um endlich den Tieren mehr Lebensraum zu lassen!“
Bärdel hörte zu.
Bärdel nickte zu jedem Vorschlag.
Und bei jedem Vorschlag wurde ihm deutlicher klar: Wenn du ein Gott zu sein versuchst, dann bist du allein. ALLEIN!
Er ließ alle ausreden, und alle wollten etwas sagen. Er nickte weiter zu allem. Erst als niemand mehr sich zu Wort meldete, sagte er:“ Ich danke euch, Bärenlebener. Ihr habt mir geholfen wie immer, wenn auch anders als immer. Den Rest der Tagesordnung behandeln wir besser später.“
Bärdel war es gleichgültig, dass die Bärenlebener jetzt verwirrt sein mussten. Er hatte seine erste Lektion als Götterlehrling gelernt.

Nach einer schlaflosen Nacht war ihm klar, dass viele der Vorschläge, der er gestern gehört hatte, ihm plausibel erschienen, dass er aber keinerlei Vorstellung davon hatte, welche Auswirkungen sie hätten, wenn sie verwirklicht würden. Und schon gar nicht wusste er, welche Konsequenzen die Kombination von zwei oder mehr Maßnahmen nach sich zögen. Er kratzte sich ausgiebig den Kopf, seufzte und ging dann auf die Suche nach Papier und Stift, um sich ein paar Notizen zu machen. Noch lieber wäre er auf die Suche nach Kulle gegangen, aber das hätte über kurz oder lang bedeutet, dass Kulle über Bärdels neue Rolle Bescheid wüsste. Welche Konsequenzen das hätte, darüber mochte Bärdel lieber nicht nachdenken.
„Na, Stinker, wie schmeckt der neue Job? Am Anfang ist er ziemlich anstrengend, soweit ich mich erinnern kann. Ich dachte, ich schaue mal nach Dir. Das mit der Vernetzung aller möglichen Phänomene hast Du inzwischen kapiert, wie ich merke. Mit Papier und Stift wirst Du nicht weit kommen. Hier, das Spielzeug wird Dir helfen. Es zeigt Dir keinen kompletten Überblick, aber ein paar Strukturelemente werden doch deutlich. Ich habe die Aids-Geschichte eingegeben, damit Du siehst, wie es funktioniert. Du wirst schon damit zurechtkommen – die Bedienung funktioniert intuitiv.“ Tussi drückte ihm einen kleinen flachen Gegenstand in die Pfote und verschwand ebenso blitzartig und lautlos, wie sie erschienen war.
Bärdel sah sich das unerwartete Geschenk näher an. Er hatte eine Art Computer bekommen, der aber über keine Tastatur verfügte, sondern nur über ein Display. Auf dem Bildschirm stand: AIDS – Subsaharastaaten. Darunter pulsierte ein Icon: Optionen. Er legte seinen dicken Daumen darauf und las: Präventionskampagnen auch in West- und Südafrika! Das war der erste Vorschlag, der gestern Abend gemacht worden war, daran erinnerte er sich gut. Noch einmal berührte er den Bildschirm, und der wurde lebendig. Ein Film wurde abgespielt, der überwiegend menschliche Aktivitäten zeigte. Männer zeigten Männern Kondome, Frauen zeigten Frauen Kondome. Männer und Frauen hatten Geschlechtsverkehr und benutzen dabei Kondome. Diese Sequenz lief über längere Zeit. Danach waren Friedhöfe zu sehen, auf denen sich immer weniger Menschen aufhielten: Die Zahl der Bestattungen nahm ab.
Die Projektionsfläche wurde dunkel, und als sie wieder hell wurde, hatte sich der Bildschirm geteilt. Auf beiden Hälften waren kopulierende Menschen zu sehen, die keine Kondome benutzten. Rechts tauchten nach einer Weile wieder Friedhöfe auf mit mehr und mehr Menschen. Links dagegen sah man Familien, kinderreiche Familien. Die Kinder hatten Hungerbäuche, der Gesichtsausdruck der Erwachsenen zeigte Hoffnungslosigkeit. Die bewegten Bilder wurden durch statistisches Material ergänzt. So beobachtete Bärdel, wie die Bevölkerungszahl in Südafrika sich in beiden Fällen stabilisierte, im ersten Fall danach wieder schrumpfte, während sie im zweiten stieg. Er sah Arbeitslosenzahlen, Zahlen über Hilfsprogramme, Zahlen, Zahlen, Zahlen.
Aufklärung allein fruchtet nichts, erkannte Bärdel. Wenn eine Bedrohung nicht mehr akut ist, denken die Menschen, es gäbe sie nicht mehr. Und wenn die Bedrohung tatsächlich verschwunden ist, weil zum Beispiel ein Impfstoff gegen eine schwere Krankheit entwickelt werden konnte, dann verelenden die Menschen, zumindest die im südlichen Afrika, weil sie sich wieder ungebremst vermehren können. Aber vielleicht hilft es, wenn ich Aufklärung mit einem zweiten Vorschlag kombiniere? Er erinnerte sich an den gestrigen Abend. „ Den Menschen Arbeit geben, damit sie Geld verdienen und es verantwortlich ausgeben!“ Das war’s. Das erste Szenario konnte er damit zwar nicht verhindern, aber das zweite würde sich gewiss zum Positiven verändern.
„Er suchte wieder unter ‚Optionen’, konnte den Vorschlag aber nicht finden. Intuitiv fragte er den Apparat in seiner Pfote: „Verstehst Du mich?“ Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm: „Ja.“ „ Gut, dann untersuche bitte die Auswirkungen der folgenden Maßnahme!“ Und Bärdel wiederholte den Vorschlag.
Er hatte erwartet, dass jetzt eine gewisse Zeit vergehen würde, aber er bekam sofort eine Antwort. „Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%.“
Bärdel war enttäuscht. Die Möglichkeiten, die er einem Gott oder einer Göttin unterstellt hatte, schrumpften immer mehr in sich zusammen. Nicht nur konnten Götter nicht in die Zukunft sehen, sie waren auch keineswegs allmächtig und hatten sich an bestehenden Realitäten zu orientieren. „Gibt es denn weitere realistische Optionen?“ wollte er wissen. „Außerehelichen Geschlechtsverkehr verbieten,“ las er. „Na gut, dann machen wir das!“ sagte Bärdel forsch.
Der Bildschirm teilte sich zuerst in zwei, dann in vier, dann in neun, in sechzehn, fünfundzwanzig Teile und immer weiter, bis auch das Raubtierauge eines Bären nichts mehr darauf erkennen konnte. Aber solange die Bilder und Zahlen noch groß genug waren, hatte Bärdel genug gesehen. Die Konsequenz dieser Idee waren Diktaturen, häufig klerikaler Natur, die vor allem eines betrieben: Diskriminierung und Unterdrückung der Frauen.
„Hör auf!“ sagte er, und der Bildschirm wurde sofort schwarz. „Eigentlich wollte ich sowieso was anderes. Sagt dir Klimawandel etwas? Klimakatastrophe? Treibhauseffekt?“ „Ja.“ „Gibt es zu dessen Beeinflussung, also Minderung, Optionen, die du akzeptierst?“ „Ja.“ Bärdel war gereizt, aber ein Tussi-Computer war eben kein Bär, sondern ein logisch denkender Apparat, der wirklich nur auf die Frage antwortete, die ihm gestellt worden war. „Welche?“
„Atomkrieg; Ausbruch von H5N1 oder ähnlichem; Zusammenbruch der Weltwirtschaft…“
„Danke,“ brummte Bärdel in sich hinein, „Katastrophenszenarien kann ich mir alleine ausdenken.“ Laut sagte er: „Ich meinte Optionen, die auf dem vernünftigen Handeln der Menschen aufbauen.“
„Der Realismuswert der Idee liegt bei 0,00%,“ sagte der Computer.
Bärdel holte aus und war gerade dabei, den Apparat möglichst weit in die Büsche zu schleudern, als er Tussis befehlsgewohnte Stimme hörte. „Stop!“ rief sie. „So billig sind die Dinger nun auch wieder nicht! Und inzwischen solltest Du begriffen haben, dass auch wir Götter uns dem Realitätsprinzip unterwerfen müssen. Also keine Verschwendung von Ressourcen, bitte!“
Bärdel spürte, wie der Computer aus seiner Pranke verschwand.
“Du kannst das Ding gerne wiederhaben, wenn Du möchtest. Aber vielleicht willst Du erst mal mit mir reden.“
Bärdel setzte sich. Aller Elan war aus ihm gewichen. „Nein, danke. Ja natürlich, gerne. Ich…“
Er wusste nicht mehr weiter.
Tussi patschte ihm mit der Pfote tröstend auf die Schulter. „Schon gut. Mir ist auch übel geworden, als ich der Brut eine Weile lang zugeguckt habe und allmählich begriff, was mit ihr los ist. Das einzige Mittel, diese Spezies halbwegs im Zaum zu halten, besteht darin, sie leiden zu lassen und zahlenmäßig zu begrenzen. Sonst richtet sie sich und ihre sogenannte ‚Umwelt’ zugrunde. Das tut sie jetzt tendenziell auch, wie wir wissen, aber nach Maßgabe der Möglichkeiten langsam. ‚Collateral Damage’ entsteht so weniger, glaub mir. – Willst Du weitermachen?“
Bärdel schüttelte stumm den Kopf.
„Ich dachte es mir. Schade – war mal eine Abwechslung. Ist aber okay mit mir. Wirf mir bloß nie wieder vor, dass ich mich nicht mehr einmische!“
Tussi warf ihm eine Kusshand zu. „Eigentlich mag ich Dich richtig gerne, Stinker!“

Kunst

Tumu, die sich mit Vorliebe mit Kunst beschäftigte, also mit Menschenkunst, denn die Bären übten die Kunst, Kunst zu produzieren, nicht, war schon seit geraumer Zeit der Meinung, dass es in Bärenleben ein diesbezügliches Defizit gab. Lange hatte sie überlegt, wie diesem Übel abzuhelfen sei. Schließlich hatte sie eine Idee. Am Ende einer der regelmäßigen abendlichen Versammlungen der Bärenlebener machte sie den Vorschlag, verschiedene Neigungsgruppen zu gründen: Einen Chor, einen Malzirkel, eine Literatenvereinigung. Gerne hätte sie mehr ins Leben gerufen, aber diese drei erschienen ihr zunächst zentral. Da sie alle Bären für talentiert hielt, lud sie alle ein mitzumachen. Die Frauen waren auch gleich begeistert, weil sie stets neugierig auf Neues waren, die Männer dagegen zeigten ihr ohne zu überlegen die Rückseiten ihrer Pranken – keine sehr höfliche Geste, denn es handelt sich dabei um die bärische Version des menschlichen Stinkefingers.
„Warum wollt ihr nicht dabeisein?“ fragte Tumu entrüstet.
„Wir machen nicht mit, weil das verlorenen Zeit wäre. Bären haben kein Potenzial für Kunstproduktion,“ antwortete Bärdel.
„Das werden wir ja sehen!“ erklärte Tumu siegessicher. „In ein paar Wochen werdet ihr die Ergebnisse unserer Arbeit bewundern dürfen und euch wegen eures Defätismus in Grund und Boden schämen!“
In der nächsten Zeit waren die Bärenfrauen noch bienenfleißiger als sonst. Sie sammelten und bereiteten Nahrung im Rekordtempo und nutzen die freie Zeit für kreative Tätigkeiten. Tumu selbst begriff sich als Koordinatorin und Beraterin und flitzte zwischen den drei Frauengruppen hin und her, um ihnen zu helfen und Tipps zu geben. Die Malgruppe mischte zunächst alle möglichen Farben aus Naturmaterialien zusammen und präparierte große Borkenstücke, die als „Leinwand“ dienen sollten. Die Choristinnen überlegten sich vielstimmige Melodien. Nur die Literatengruppe kam ohne Vorarbeiten aus: Hier konnte man gleich mit dem Dichten beginnen. Deshalb erschien Tumu diese Arbeitsgemeinschaft am Anfang auch am interessantesten, und sie hielt sich am häufigsten dort auf.
„Ich bin eine glückliche Bärin…“ hörte sie dort zum Beispiel. „Das finde ich schon ganz gut, der Rhythmus stimmt, glaube ich. Aber woher nehme ich den nächsten Vers? Ich dachte für den Anfang an einen Paarreim, das ist einfacher als alles  andere.“
„‚Allerdings fehlen mir die Ferien` – wie wär’s damit?“ schlug ihre beste Freundin vor.
Die Verfasserin des künftigen Meisterwerkes runzelte die Stirn: „Irgendwas stimmt da nicht!“
Tumu sprang ein: „Wie wär’s mit: ‘Trotzdem fehlen mir die Ferien‘?“
„Schon besser – aber längst noch nicht gut. Der Reim gefällt mir nicht, auf Ferien reimt sich Bärien, nicht Bärin. Und das Metrum…“ Sie begann laut zu skandieren.
„Ihr schafft das schon!“ machte Tumu sich und den anderen Mut. Weil sie auch nicht weiter wusste, flüchtete sie und besuchte die anderen Gruppen.
Was sie dort zu sehen und zu hören bekam, war keineswegs ermutigender. Der Chor übte ein Liedchen ein, das wie eine missgestimmte Version von „Alle meine Entchen“ klang. Tumu hielt sich die Ohren zu und suchte vorerst das Weite. Musik ist eben eine schwierige Kunst, tröstete sie sich, aber Übung macht den Meister!
Die Malerinnen bedeckten ihre Borkenstücke flächig mit jeweils einer Farbe: Wenn man es anders mache, sehe es unordentlich aus, erklärten sie.
„Ihr könntet wenigstens behaupten, dass ihr minimalistische Kunst produziert!“ schimpfte Tumu. „Das ließe sich mit ziemlich viel Chuzpe vielleicht verkaufen. Aber so….“
Sie raste los und raffte in der Bibliothek so viele Kunstbände zusammen, wie sie gerade noch tragen konnte.
„Hier!“ keuchte sie, als sie wieder zurück war, und zeigte einen Kunstdruck nach dem anderen. „Das ist Kunst! Seht euch nur an, wie Rembrandt mit den Farben spielt. Und Miró – ist das nicht ästhetisch?“
Aber die Malerinnen waren anderer Meinung: „Dieser Rembrandt ist viel zu pingelig mit den Einzelheiten. Außerdem malt er nur Menschen und tote Tiere. Und um bunte Rechtecke zu zeichnen, sind wir uns zu schade.“
Es dauerte noch einige Wochen, in denen sie ähnliche Erfahrungen machte, bis Tumu bereit war, ihre Niederlage zuzugeben. Bei dem Eingeständnis half ihr, dass niemand sie an ihr leichtfertig gegebenes Versprechen, die künstlerischen Ergebnisse in kurzer Zeit zu präsentieren, erinnerte. Endlich berichtete sie Bärdel ausführlich und schonungslos vom kläglichen Scheitern der Bärinnen.
„Du hast damals gesagt: ‘Bären haben kein Potenzial für Kunstproduktion‘, das weiß ich noch genau. Anscheinend hattest du recht. Aber – warum?“
„Zum Glück kommst du jetzt erst mit dieser Frage!“ seufzte Bärdel. „Ich denke seit deinem Vorstoß darüber nach, dennoch halte ich meine Erklärung nach wie vor für unzulänglich. Aber ich habe keine andere.“
„Versuch’s ganz einfach;“ sagte Tumu und kuschelte sich an ihn. Sie war glücklich, endlich keine schlechten Verse und misstönenden Lieder mehr hören zu müssen, sondern der beruhigenden Brummstimme ihres Mannes lauschen zu können.
„Ich habe mir überlegt, welche Wurzeln die Menschenkunst hat. Literatur, Malerei und Musik entstanden aus derselben Quelle: aus Zauber und Magie, die später zu Religion mutierten. Dahinter steckt als Hauptmotiv Angst, weil die Menschen die Welt, in der sie lebten, nicht verstehen. Muss ich das erklären?“
„Ich glaube nicht. Die ältesten Felsmalereien und Epen beweisen, dass du recht hast. Meistens spielen Götter eine Rolle. In Bezug auf die Musik bin ich nicht sicher.“
„Ich auch nicht, aber die ältesten Musikstücke oder besser Fragmente, die erhalten sind, haben einen ‘spirituellen‘ Inhalt, wie die Menschen sagen. Wenn meine Theorie stimmt, dann braucht man, um künstlerisch kreativ zu sein, als Erklärungsmuster für all das, was man sich nicht erklären kann, die Vorstellung von einer überirdischen Realität, der man sich nicht mit normalen, sondern besser mit ‘kunstvollen‘ Mitteln annähern sollte. Und eine solche Vorstellung ist uns Bären fremd.“
„Stimmt. Aber…“ wandte Tumu ein, „aber es gibt doch zahlreiche Menschenkünstler, die produktiv sind und in deren Schaffen Religion keine Rolle spielt. Wie erklärst du dir das?“
„Es handelt sich um ein historisch junges Phänomen, richtig?“
Tumu nickte.
„Ihr Glaube an Götter hat den Menschen nicht das Hauptgefühl nehmen können, das ihr Leben bestimmt: die Angst. Viele Literaten sagen selbst, dass sie sich etwas von der Seele geschrieben haben.“ Bärdel machte eine Pause und schmunzelte dann. „Ich muss zugeben, dass ich eure ‘künstlerische‘ Produktion ab und zu belauscht habe: ‘Ich bin eine glückliche Bärin…'“
„Erinnere mich bitte nicht daran!“ bat Tumu.
„Ich musste dich daran erinnern, um dir etwas anderes zu zeigen. Hör mal zu:
‘Nun ist der Lenz gekommen,
Nun blühen alle Wiesen,
Nun herrschen Glanz und Freude
Auf Erden weit und breit;
Nur meine böse Herrin,
Sie keift und zetert immer
Noch wie in der betrübten
Und kalten Winterzeit!
Wenn ich am frühen Morgen
Mit aufgewachtem Herzen
Im Garten grab‘ und singe,
Die Welt mir freundlich blickt.
Wirft sie mir aus dem Fenster
Die ungefügen Worte,
Dass rasch in meiner Kehle
Das kleine Lied erstickt.‘
Die letzte Strophe lautet:
‘Mag selber sie nur beten,
Dass ihre eignen Kinder
Nicht einmal dienen müssen,
Wenn ihr das Glück entschwand
Und sie als arme Mutter
Wird um die Häuser schleichen,
Wo jene sind geschlagen
Von böser Herrenhand!‘
Das Gedicht lebt vom Dualismus von Harmonie und Bosheit und der Angst vor dem menschlichen Bösen, dem das lyrische Ich ausgeliefert ist. In ihrer Verzweiflung wünscht die Magd indirekt ihrer Herrin selbst Böses und macht deutlich, dass das Schicksal der Menschen von Gott abhängt. In Bärenleben kann man solche Gefühle einfach nicht verspüren.“
Nach einer nachdenklichen Pause fragte Tumu unvermittelt: „Kennst du Rodins Skulptur ‘Der Kuss‘?“
„Ich war noch nicht in Paris, aber ich kenne Abbildungen. Zwei wunderschöne nackte Menschen umschlingen einander in einer perfekten Umarmung. Die Darstellung gefällt mir sehr gut.“
„Meinst du, diese Plastik ist durch religiöse Vorstellungen oder Angst motiviert?“
Erst jetzt merkte Bärdel, dass er in der Falle saß. „Natürlich nicht!“ brummelte er. „Rodin zeigt wahre Liebe oder wahre Leidenschaft und sonst gar nichts…“
„Und die gibt es bei Bären nicht?“
„Bei Tussi, Tumu, du musst auch immer das letzte Wort haben! Natürlich gibt es die.“ Er langte mit allen seinen Extremitäten nach seiner Frau und knuffte sie herzlich nach Bärenart, dass ihr die Luft wegblieb. Zwischen zwei Küssen sagte er: „Und weil es bei den Bären Liebe und Leidenschaft gibt, gibt es ja vielleicht sogar einen aktiven Kunstsinn, aber das probierst du bitte erst in ein paar Jahren noch einmal aus, falls überhaupt, und jetzt lass uns erst mal Liebe machen, denn wer liebt, ist glücklich, und wer glücklich ist, produziert keine Kunst, sondern genießt sie…“
„Und wer hat jetzt das letzte Wort gehabt?“ schmunzelte Tumu.