Dehlandkopfschmerzen

Als Bärdel an einem kühlen, aber sonnigen Maimorgen seinen üblichen Spaziergang zu Tagesbeginn unternahm, allein, ohne Kulle, seinen gewohnten Begleiter, denn der hatte schon am Abend zuvor über heftige Kopfschmerzen geklagt, Dehlandkopfschmerzen, wie er geheimnisvoll, aber nicht erhellend erklärte, als Bärdel also allein kontemplierend unterwegs war, hörte er auf einmal aus einem Busch am Wegesrand ein klägliches Schluchzen. Die Stimme kam ihm bekannt vor, er befürchtete eine Verwundung, er stürzte sich ins Gebüsch.

In der Tat: Wie er vermutet hatte war es Del, der weinte. Allerdings war der kleine Bär nicht verletzt, zumindest nicht äußerlich. Bärdel brummte beruhigend, nahm ihn in den Arm und streichelte ihn sanft. Allmählich verebbte der Krampf, wenn auch die Tränen weiter flossen. Nach einer Weile hatte Del genug Kraft gesammelt, um sich die Augen zu wischen und sich zu räuspern.

„Entschuldige!“ presste er mühsam hervor. „Ich weiß, dass Bären nicht weinen. Aber ich habe heute früh schon Zeitung gelesen, und da…“

Bärdel hörte nicht auf zu streicheln.

„Wer hat dir denn gesagt, dass Bären nicht weinen? Nein, du brauchst nicht zu antworten. Ich will es gar nicht wissen. Aber wer auch immer es war, er hat dir etwas Dummes gesagt. Wir haben Tränen, damit wir sie weinen. Weinen erleichtert uns. Also lass sie ruhig fließen. Was stand denn in der Zeitung?“

„Ein Bär ist in Dehland, ein wilder Bär, der erste seit 135 Jahren, und die Menschen wollen ihn erschießen, nur weil er bei einem Bienenvolk ein bisschen Honig gestohlen und ein paar Schafe von der Weide geholt hat.“

Ach ja, dachte Bärdel, Erkenntnis und Interesse. Aber Del war noch jung. Er brauchte zunächst viel Pädagogik, und vielleicht konnte er danach noch ein wenig Philosophie vertragen.

„Hm“, sagte er. „Ein paar Schafe hat der Bär von der Weide geholt, ja? Die Weide hat einem Menschen gehört, und die Schafe darauf auch, nicht wahr? Also hat der Bär gestohlen, vielleicht sogar geraubt, wenn er sich mit Gewalt Zugang zu der Weide verschafft hat. Und was hat er mit den Schafen gemacht? Er hat sie sich nicht nur geholt, wie du gesagt hast, er hat sie gefressen. Natürlich werden Schafe gefressen, vor allem von Menschen, aber die holen sich vorher die Erlaubnis dafür, indem sie für das Fleisch bezahlen. Das hat der Bär nicht getan.“

Um Tussis Willen, dachte Bärdel, dem der Satz Eigentum ist Diebstahl‘ durch den Kopf schoss, was rede ich da eigentlich? Aber da er nun einmal angefangen hatte, musste er die Sache auch zu Ende bringen.

„Der Bär hat also Gesetze verletzt“, fuhr er deshalb fort. „Das alleine stört die Menschen noch nicht, sie halten wilde Tiere für unintelligent und verzeihen ihnen viele Verstöße gegen ihre Regeln. Dieser Bär aber hat sich anscheinend angewöhnt, seine Nahrung mit Vorliebe dort zu suchen, wo die Menschen leben – und das nehmen sie ihm übel, denn sie haben Angst vor ihm. Deshalb bezeichnen sie ihn als Risikobären‘ und wollen ihn loswerden, und dazu sehen sie zwei Möglichkeiten, nicht nur eine, wie du behauptest: erschießen oder einsperren, also in einen Zoo bringen.“

Del hatte sich während seiner Ausführungen ein wenig beruhigt und schniefte nur noch leise.

„Bärdel, darf ich etwas fragen?“

„Selbstverständlich!“

“Eigentlich habe ich zwei Fragen.“

„Frag nur zu!“

„Sind wir auch wilde Bären?“

Au weia! Bärdel konnte sich gut vorstellen, diese gar nicht einfache Frage ausführlich mit Kulle zu erörtern und dabei in Hitze zu geraten, aber was sollte er Del antworten? Er beschloss, sich kurz zu fassen.

„Ja. Wir sind wilde Bären, aber wir halten uns an die Regeln der Menschen, weil wir mitten unter Menschen leben und sonst nicht überleben könnten.“

Wenn Del jetzt fragt, wie ich Wildheit definiere, behaupte ich auch wie Kulle, schreckliche Kopfschmerzen zu haben, dachte Bärdel, aber die Nachfrage blieb aus.

„Wie lautet die zweite Frage?“ wollte Bärdel wissen.

„Wieso interessieren sich die Menschen für das Schicksal eines einzelnen wilden Bären? Ich meine, sie müssen sich dafür interessieren, sonst stände nichts über ihn in der Zeitung!“

Der Kleine kann gut werden, schoss es Bärdel durch den Kopf, vielleicht spezialisiert er sich mal in Soziologie oder Psychologie, aber bis zur Stunde hat er von beidem keine Ahnung. Vielleicht ist er mit einer Schlichterklärung zufrieden…

„Menschen sind nun mal tierlieb. Besonders…“

Del wusste sehr genau, wie unhöflich es war, in der Bärengesellschaft, die das Senioritätsprinzip hoch hielt, einen Älteren zu unterbrechen. Er tat es trotzdem.

„Menschen sind überhaupt nicht tierlieb. Menschen betreiben Massentierhaltung. Menschen züchten also Tiere, um sie zu vernichten und zu verwerten. Gegenüber manchen Tieren entwickeln Menschen allerdings ein ungewöhnliches Maß an Empathie: dazu gehören Eisbären, Wale, vielleicht auch einzelne verirrte Braunbären. Mir ist nicht klar, warum das so ist!“

Bärdel beschloss, ehrlich zu sein.

„Menschen sind hoch entwickelte Tiere und haben entsprechende Bedürfnisse. Hast du dich schon einmal mit der Hierarchie von Bedürfnissen beschäftigt?“

Del schüttelte den Kopf und schaute beschämt zu Boden. In der gebildeten Bärengesellschaft war es eine Schande, etwas nicht zu wissen.

„Das macht doch nichts!“ tröstete Bärdel. „Du bist ja noch jung. Ich kann dir die Sache erklären. Jedes Tier hat Grundbedürfnisse, braucht Essen und Trinken, muss schlafen und Sex haben können. Solange diese unmittelbaren Bedürfnisse nicht befriedigt sind, können wir an nichts anderes denken. Erst danach entwickeln wir Wünsche, die auf die Zukunft und das Zusammenleben mit anderen Tieren gerichtet sind: Wir wollen zum Beispiel Gerechtigkeit, Zuwendung, Sicherheit und Freundschaft oder Liebe. Wir wollen, dass andere uns respektieren, und wollen Achtung vor uns selbst haben können. Der Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung bezieht sich primär auf die eigene Spezies. Hast du mich verstanden?“

„Ja“, sagte Del und schüttelte dabei den Kopf.

Er ist wirklich ein kluger kleiner Kerl, dachte Bärdel und wartete.

„Nein, doch nicht!“ murmelte Del betreten. „Denn – wenn Menschen Zuwendung von Menschen erhoffen und sich Menschen zuwenden, wenn aber andererseits Menschen Mitleid mit Bären und Walen empfinden, dann…“

„Genau!“ bestätigte Bärdel.

Del schwieg lange Zeit, und Bärdel störte ihn nicht in seinen Gedanken.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist“, sagte Del schließlich. „Dass die Menschen einander gar nicht mögen und ihre so genannte Liebe stattdessen Tieren schenken, die sie überhaupt nicht verstehen. Was ist los mit den Menschen, Bärdel?“

Schon wieder so eine Frage, dachte Bärdel. Laut sagte er:

„Plautus war ein römischer Komödiendichter im 3. und 2. Jahrhundert vor der menschlichen westlichen Zeitrechnung, aber manche Dinge meinte er bitterernst. So hat er gesagt: ‚Lupus est homo homini, non homo‚. Besser bekannt ist der Spruch in der Form ‚Homo homini lupus‚. Thomas Hobbes – den musst du unbedingt mal lesen – hat das Zitat aufgegriffen und benutzt, um den Naturzustand des Menschen zu beschreiben. Er dachte, dieser Naturzustand sei durch einen Gesellschaftsvertrag, in dem ein vernünftiges Zusammenleben festgeschrieben ist, zu überwinden…“

„Aber die Menschen haben es nicht geschafft?“

Graduell schon. Die Sicherheit davor, getötet zu werden, ist in Dehland zweifellos größer als zum Beispiel im Kongo. Aber es gibt auch hier keine Sicherheit vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, im Gegenteil, die Bedrohung, gekündigt zu werden und danach gar keinen oder nur einen prekären Arbeitsplatz zu finden, wächst ständig. Ebenso wächst die Angst vor der Zukunft.“

„Das verstehe ich alles. Nicht klar ist mir, warum die Menschen deshalb einen wilden Bären lieben, der sich nach Bayern verirrt hat.“

Bärdel seufzte, aber lautlos. Ganz so clever, wie er gedacht hatte, war der Kleine doch nicht.

„Weil es Menschen sind, die Menschen verletzen. Wir so genannten wilden Tiere können es ja nicht mehr – wir sind, wie es so schön heißt, ausgerottet. Irgendjemanden müssen hoch entwickelte Tiere, deren Grundbedürfnisse wenigstens weitgehend befriedigt sind, aber lieben oder zumindest mögen. Sich selbst können sie nicht lieben. Also?“

„Oh!“ machte Del. „Danke, Bärdel. Aber ich habe jetzt schreckliche Kopfschmerzen.“

„Ich auch“, sagte Bärdel.

Dehlandkopfschmerzen, dachte er. Aber das dachte er nur.

Kulle in „Tempus“ aktuell

Tempus aktuell: Herr Dr. Kulle…

Kulle

Kulle: Sagen Sie bitte einfach nur Kulle. Ich bin ein Bär, kein Mensch. Also lege ich auch keinen Wert auf menschliche Titel.

Tempus aktuell: Sie mögen Menschen nicht?

Kulle: Der Begriff “mögen” bezeichnet eine Emotion und ist deshalb nur in Grenzen geeignet, mein Verhältnis zu Menschen zu beschreiben. Ich bemühe mich, die Welt und damit auch die Menschen sachlich zu betrachten. Dabei bin ich zu dem Urteil gekommen, dass es eine bemerkenswerte Kluft zwischen dem Selbstverständnis der Menschen und ihrer tatsächlichen Rolle auf der Erde gibt.

Tempus aktuell: Können Sie das erläutern?

Kulle: Natürlich kann ich das – oder haben Sie mich zu einem Interview eingeladen in der Hoffnung, Ihren Lesern einen debilen Bären vorzuführen?

Tempus aktuell: Nein, natürlich nicht. Wir bitten um Entschuldigung. Wir haben Ihnen gerade einen Anlass dafür gegeben, uns nicht zu mögen, und Sie so in Ihrer sachlichen Betrachtung der Menschheit gestört. Wären Sie so freundlich, uns die Aussage zu erläutern, die Sie soeben knapp formuliert haben?

Kulle: Gerne. Die Menschen haben erkannt, dass sie erkennen können, und gelernt, Erkanntes durch Sprache mitzuteilen und zu tradieren – erst mündlich, wesentlich später schriftlich. Die Fähigkeit zu denken impliziert die Notwendigkeit, Fragen zu stellen, nicht nur danach, wo vermutlich der nächstgelegene Bienenstock zu finden ist, in dem man Honig findet, sondern nach der Vergangenheit, was zuerst leicht ist, wenn man über ein intaktes Gedächtnis verfügt, aber problematisch wird, wenn man zurückliegende Handlungen angesichts der Frage reflektiert, ob sie richtig oder falsch gewesen sein mögen. Hier zeigt sich die Wiege von Ethik und Moral. Dabei ist durchaus Brauchbares herausgekommen, wie zum Beispiel das Fünfte Gebot1.

Damals – und auch heute – leider nur bezogen auf Angehörige des eigenen Stammes oder Volkes, aber, wenn man von allen Beschränkungen absieht, durchaus ein Nucleus des heute bedauerlicherweise weitgehend in Vergessenheit geratenen Kategorischen Imperativs Immanuel Kants, den er 1788 formuliert hat: “Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit als Grundlage eines allgemeinen Gesetzes gelten könnte.“

Fragen zeigen sich auch in Bezug auf die Zukunft, denn wer denken kann, entwickelt eine Vorstellung davon, dass es, wenn es ein “Gestern” gab, auch ein “Morgen” geben wird oder zumindest geben könnte, von dem man im Gegensatz zum “Gestern” aber nicht angeben kann, wie es aussehen wird. Wo ein “Morgen” gedacht wird, ist auch ein Ende denkbar, ein Ende alles Seins, ganz sicher aber ein Ende der individuellen Existenz, sind denkende menschliche Wesen doch im Stande, das Altern der Haut, den Haarausfall und das Schwinden der Potenz zu beobachten. Eine realistische Antwort auf die Frage nach der Zukunft ließe sich in den lapidaren Satz fassen: “Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!”. Menschen allerdings weigern sich, diese simple Wahrheit zu erkennen, und konstruieren stattdessen endlose Lebenszyklen, die irgendwann im Nirwana enden, oder wie auch immer geartete Paradiese.

Tempus aktuell: Warum haben Sie etwas gegen religiöse Vorstellungen?

Kulle: Theoretisch betrachtet, habe ich nichts dagegen. Im Gegenteil: Es ist soziologisch äußerst interessant zu untersuchen, wer wann warum welche wenig wahrscheinliche Welterklärung zusammengebastelt hat. Praktisch allerdings sieht die Sache anders aus, denn die meisten Menschen mit religiösen Vorstellungen frönen dem Wahn, ihre Sicht der Dinge sei die richtige. Auch in diesem Zusammenhang muss ich leider darauf verweisen, dass die Ideen der europäischen Aufklärung in Vergessenheit geraten sind – man denke etwa an Lessings “Ringparabel”2.

Das kann ich mit Fug und Recht natürlich nur denjenigen vorwerfen, die qua kultureller Entwicklung mit diesen Ideen jemals in Berührung kommen konnten. Dazu gehören zum Beispiel US-amerikanische Präsidenten, und auch der gegenwärtige sollte als Absolvent von Harvard zumindest einmal davon gehört haben.

Tempus aktuell: Sie werfen George Walker Bush vor, der Welt seine Ideen oktroyieren zu wollen?

Kulle: Vorsicht, bitte! Ich hege begründete Zweifel daran, dass dieser Menschenmann eigene Ideen hat. Aber die Gedanken, die er für seine eigenen hält, will er der Welt oktroyieren, in der Tat. Als wiedergeborener Christ, als der er sich bezeichnet, strebt er eine Weltordnung an, die seinen Vorstellungen von Demokratie und Kapitalismus entspricht, und diese Vorstellungen sind nicht nur weltlicher, sondern auch transzendenter Natur. Warum sollte er nach praktisch jeder seiner offiziellen Ansprachen sagen: “So help me God”, wäre es anders?

Tempus aktuell: Nun ja, wir geben zu, Bush ist schon etwas merkwürdig. Aber man kann das doch als Einzelfall werten.

Kulle: Nein, das kann man nicht. Religion durchtränkt die amerikanische Gesellschaft immer stärker.

Nehmen Sie die Kontroverse um den Darwinismus. Da gibt es die dummen Christen, die meinen, die Daten, die im Alten Testament gegeben werden, wörtlich nehmen zu müssen. So kommen sie zu dem Schluss, ihr Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen, und seitdem seien noch nicht einmal 5000 Jahre vergangen. Diese Leute sind so dumm, dass sie selbst in den USA meist ausgelacht werden. Anders verhält es sich mit den Kreationisten, die die Evolutionstheorie deshalb ablehnen, weil das irdische Leben so komplex und folgerichtig sei, dass dieses Leben nur als Schöpfung, also als Werk eines Schöpfers, gedeutet werden könne. Die haben inzwischen in den halben USA die Schulbücher zumindest zum Teil erobert. Noch “cleverer” sind sogenannte Wissenschaftler, die paläontologische und biologische Forschungsergebnisse, die Darwins Theorien beweisen, schlankweg in Frage stellen.

Oder nehmen Sie die Templeton Foundation. 40 Millionen Dollar jährlich investiert diese Stiftung in sogenannte wissenschaftliche Projekte, unter anderem um die Heilkraft des Betens nachzuweisen, nota bene, wissenschaftlich nachzuweisen.

Tempus aktuell: Sie werden aber zugeben, dass die internationale Politik der USA, und damit meinen wir auch die Interventionspolitik, durchaus weltliche Züge trägt.

Kulle: Das gebe ich ohne weiteres zu. Wenn das, was zum Beispiel in Abu Ghraib passiert ist, 3 nicht weltlich war, dann weiß ich nicht, was weltlich ist.

Tempus aktuell: Kulle, Sie sind zynisch.

Kulle: Ich bin Realist. Aber ich gebe zu, dass Realismus zu Zynismus führen kann und manchmal muss.

Tempus aktuell: Kommen wir zu einem anderen Aspekt. Die Menschen in Südostasien und in der sogenannten islamischen Welt sind in der Regel nicht mit den von Ihnen zu Recht hoch geschätzten Ideen der europäischen Aufklärung in Berührung gekommen. Werfen Sie denen auch etwas vor?

Kulle: Vielen Menschen in diesen Gegenden der Welt könnte ich nichts weiter vorwerfen als ihre Existenz, und das wäre unsinnig, denn daran sind sie unschuldig. Sie haben keinen Zugang zu Bildung, leben häufig in Staaten, deren Regierungen ihnen die Beschaffung korrekter Informationen versagen, und haben oft keine Kraft, für die Beseitigung dieser Mängel zu kämpfen, weil es sie alle Energie kostet, ihr Leben zu fristen. Wenn ich also jemandem etwas vorwerfen soll, dann müssen Sie mir schon jemanden nennen, auf den die obige Charakterisierung nicht zutrifft.

Tempus aktuell: Wie wäre es mit Osama Bin Laden?

Kulle: Eine gute Wahl. Osama verfügt über Bildung, er hat Ingenieurwesen und Betriebswirtschaft studiert, und zwar in Saudi-Arabien und im Libanon, ist also ein Kind der islamischen Welt. An Geld mangelt es ihm ebenfalls nicht: Nach dem Tod seines Vaters erbte er etwa 80 Millionen Dollar. Bleibt die Frage nach dem Zugang zu korrekten Informationen.

Tempus aktuell: Und?

Kulle: Ich habe gezögert, weil ich weiter ausholen müsste, um dazu Stellung zu nehmen.

Tempus aktuell: Holen Sie ruhig aus!

Kulle: Nun gut.

Wir müssen zunächst definieren, was korrekt ist, korrekt im gesellschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Sinn, und damit sind wir bei der Problematik von Erkenntnis und Interesse. Das, was objektiv korrekt, also sachlich richtig ist, wie zum Beispiel die Aussage: “Zwei mal zwei ist vier”, muss sich nicht mit den Interessen eines Individuums decken. Ein Mensch kann zum Beispiel wollen, dass Zwei mal Zwei gleich Fünf ist und dass alle seine Meinung teilen. Wenn Sie wissen wollen, wie so etwas möglich ist, lesen Sie “1984” von George Orwell, das ist ein hervorragender und leider immer noch aktueller Roman, aber das nur am Rande; wir sind hier nicht im Literarischen Quartett.

Das falsche Interesse kann die richtige Erkenntnis dominieren, das ist schlimm genug. Schlimmer noch: Interessierte erkennen in der Regel nicht, wenn sie aufgrund ihres Interesses nicht in der Lage sind, Erkenntnis zu gewinnen. Sie setzen Erkenntnis und Interesse gleich. Demzufolge wollen sie nur das zur Kenntnis nehmen, was ihrem Interesse entspricht.

Aber es ist ebenfalls durchaus möglich, dass Erkenntnis und Interesse deckungsgleich sind. Was ist zum Beispiel falsch an der Erkenntnis, dass die Energiereserven im arabischen Raum, also primär das Rohöl, überwiegend nicht von den dort lebenden Muslimen kontrolliert und verwertet werden, sondern von westlichen Ölkonzernen? Was ist falsch an dem Interesse, dass diese Rohstoffe nicht von amerikanischen, französischen, britischen oder spanischen Multis ausgebeutet werden, sondern von dort ansässigen nationalen Unternehmen? Letzteres ist übrigens eine zentrale Forderung Bin Ladens.

Tempus aktuell: Moment mal – Sie verteidigen den Mann?

Kulle: Ich verteidige niemanden, und ich klage auch niemanden an. Ich analysiere. Das hätten Sie eigentlich inzwischen begreifen sollen.

Tempus aktuell: Entschuldigung.

Kulle: Bitte. Wenn Sie gestatten, würde ich meine Analyse gerne fortsetzen. Ich war noch nicht fertig.

Tempus aktuell: Wir bitten darum.

Kulle: Danke.

Es gibt andere Ziele Bin Ladens, bei denen ein Urteil schwerer fällt als bei dem obigen Beispiel. Ich will darauf nicht im einzelnen eingehen, weil ich annehme, dass Sie in der nächsten Ausgabe der Tempus aktuell noch anderes publizieren wollen als das Interview mit mir. Nur so viel: Die Forderung nach Beendigung der US-Militärpräsenz in islamischen Staaten wie Saudi-Arabien erscheint mir durchaus diskussionswürdig. Inakzeptabel ist dagegen die Zielsetzung, Staaten mit islamischer Bevölkerung in Theokratien umzuwandeln und das gesellschaftliche Leben an den Grundsätzen der Scharia auszurichten – das widerspräche den Forderungen der Aufklärung.

Kommen wir von den Zielen zu den Mitteln. Da Kants oben bereits erwähnter Kategorischer Imperativ zweifellos der sinnvollste Grundsatz ist, der jemals von Menschen über menschliches Zusammenleben geäußert worden ist, sind terroristische Methoden in jedem Fall abzulehnen, gleichgültig, ob sie sich gegen einzelne prominente politische Individuen oder gegen anonyme Massen richten.

Tempus aktuell: Wie stoppt man einen Osama Bin Laden?

Kulle: Gar nicht.

Tempus aktuell: Wie dürfen wir das verstehen?

Kulle: Wie ich es gesagt habe.

Tempus aktuell: Sie meinen also, der Kampf gegen al-Qaida sei hoffnungslos?

Kulle: Wieso? Eben noch sprachen wir über Bin Laden, und nun bringen Sie eine Organisation ins Spiel, deren Kopf Osama angeblich und vermutlich sogar tatsächlich ist. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Tempus aktuell: Inwiefern?

Kulle: Der Kampf gegen einen Menschen wie Osama Bin Laden, der den Fall orthodoxer Kalifate betrauert, der jeglichen westlichen Einfluss als Intrigen von “Kreuzzüglern” diffamiert und der gegen Sozialismus wettert, ist aussichtslos. Aussichtslos insofern, als es vermutlich nicht gelingen wird, ihn von seinen Ansichten abzubringen.

Der Kampf gegen eine Organisation wie al-Qaida ist dagegen sehr vielversprechend. al-Qaida ist eine Hydra mit vielen Köpfen: Die heißen Unwissenheit, Hoffnungslosigkeit, Verunsicherung, eschatologische Verheißung. Und es gibt einen kleinen Kopf mit Namen intellektueller Verblendung und Selbstgerechtigkeit. Den wird man nie abschlagen können – denken Sie zum Beispiel an Theodore John Kaczynski4, aber es ist leicht, die anderen zu dekapitieren.

Tempus aktuell: Wie wollen Sie die anderen Hydra-Köpfe abschlagen?

Kulle: Ich will das zwar, aber ich kann es nicht, denn ich bin ein Bär. Sie haben es mit einem menschlichen Problem zu tun. Sie als Menschen müssen das wollen und tun. Wenn Sie das wollen, ist es einfach: Sie brauchen nur eine gerechte Weltpolitik zu betreiben und dabei die Menschenrechte zu beachten. Sie brauchen nur die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und das Geld auf den Platz zu verweisen, den es einnehmen muss, wenn Sie als Menschen denn schon ohne Geld nicht auskommen, auf den Platz des allgemeinen Warenäquivalents und nicht auf den des Kapitals.

Tempus aktuell: Kulle, wir danken für das Gespräch.

Kulle: Das ist schön von Ihnen, aber ich bin mit Ihnen noch nicht fertig. Ich habe nämlich auch noch eine Frage, Wie stoppt man einen George Walker Bush?

Tempus aktuell: Ähhh – gar nicht…

Kulle: ich danke für das Gespräch.

Kulle

Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Du sollst nicht töten.
  2. Die “Ringparabel” gilt als Kernstück von Gotthold Ephraim Lessings Drama “Nathan der Weise”. Die Kernaussage der Parabel lautet, dass die drei monotheistischen Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam vor Gott gleichwertig sind. Sie fordert die Gläubigen indirekt auf, einander nicht zu bekämpfen, sondern den Geboten ihres Gottes, der ihrer aller Gott ist, mit Barmherzigkeit und (Nächsten-)liebe zu gehorchen.
  3. In dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib haben die Bewacher aus den Reihen der US-amerikanischen Besatzungstruppen Häftlinge gefoltert, unter anderem in Form sexueller Demütigung.
  4. Theodore J. Kaczynski, bekannt als “Unabomber”, wurde wegen Mordes in den USA verurteilt. weil er etwa 18 Jahre lang Briefbomben an verschiedene Personen geschickt hatte. Dadurch wurden drei Adressaten getötet und 29 verletzt. Als Motiv gab Kaczynski an, er habe gegen die negativen Auswirkungen des technischen Fortschritts kämpfen wollen.

 

Autotheater

Bärdels Geburtstag stand wieder einmal bevor und warf seine Schatten voraus. Wie alle Jahre wurde der Jubilar vor seinem Ehrentag für lange Abende aus der Höhle verbannt und musste allein draußen frieren, während die Sippe darüber beriet, welche Überraschung sie ihm dieses Mal bereiten wollte. Schließlich einigten sich die Bären, der Frosch und das Schwein auf das Motto: „Bärdel liebt Märchen und eine gute Show.“ Und eifrig begannen sie mit den Vorbereitungen.

Selbstverständlich war für den Festtagsabend ein Gelage geplant mit allem, was Bärenküche und -keller hergaben, aber vorher musste ein Festakt stattfinden, und für den übte man tagelang – was wieder bedeutete, dass der arme Bärdel, der ja überrascht werden sollte, für quälend lange Stunden ins Exil geschickt wurde.
„Wenn sie so lange proben müssen, wird es wohl eine tolle Überraschung geben!“ tröstete er sich und fügte sich in sein Schicksal.
Endlich war soweit.
Nach Bärenbrauch gaben sich alle am Morgen des großen Tages ganz normal und taten, als wäre nichts. Unter Bären gilt es nämlich als äußerst unhöflich, jemandem vor drei Uhr nachmittags zu gratulieren. Dann aber ging es los!
Bärdel lag, äußerlich gelassen, aber innerlich natürlich gespannt wie ein Flitzebogen, auf einer Sommerblumenwiese und nuckelte den Nektar aus ein paar Margeriten, als er von der gesamten Horde überfallen wurde. Man wünschte ihm alles Gute, insbesondere viel Honig, und umarmte ihn nach Bärenart, wobei es äußerst kräftig zuging. Als das allgemeine Durcheinander, das dabei entstanden war, vorüber war, zogen sich alle wieder zurück. Nur Tumu bliebt bei ihm und erklärte:
„Wir haben ein kleines Stückchen für dich eingeübt. Ein Stück aus der Menschenwelt, lebenswahr und echt. Du wirst schon sehen!“

Und schon ging es los. Ein Zug als Menschen verkleideter Bären näherte sich, die meisten im Blaumann, einige auch in Nadelstreifenanzügen. Sie schwenkten Fahnen mit Firmenlogos – da stand VW, Ford und Toyota, da prangte der Mercedesstern. Gruppen von Blaumännern sammelten sich jeweils um einen Nadelstreifenanzug und jubelten ihm zu. Die Nadelstreifen nahmen die Ehrung geschmeichelt entgegen und baten nach einer Weile um Ruhe. Im Chor erklärten sie dann:

„Liebe Belegschaft!
Ich freue mich, dass in unserem Unternehmen Harmonie herrscht. Ihr arbeitet gut, und wir Manager honorieren das, indem wir unserer sozialen Verantwortung gerecht werden. Wir verdienen gut, aber auch wenn das jemals anders sein sollte, werden wir keinen von euch entlassen. Eher verzichten wir selbst auf unser Gehalt. So lasst uns denn weiter schaffen, zum gemeinsamen Wohl und zur Beförderung der individuellen Mobilität der Menschheit, im ehrlichen Konkurrenzkampf mit den anderen Konzernen!“

Die „Belegschaften“ applaudierten frenetisch.

Jetzt trat Kulle auf, seine geliebte rote Fahne schwenkend. Als er die offensichtliche Harmonie von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bemerkte, ließ er sie sinken und lächelte glücklich.
„Es sieht so aus, als brauchte ich die nicht mehr!“ sagte er laut und deutlich.

Alle Schauspieler und auch Tumu sahen Bärdel erwartungsvoll an. Bärdel merkte das natürlich und lächelte, aber deutlich gequält.
„Das habt ihr schön gemacht,“ sagte er und gab sich Mühe, Begeisterung in seine Stimme zu legen. „Ihr wisst ja, dass ich Märchen liebe, das habt ihr deutlich gezeigt. Aber…“ Er machte eine lange Pause und suchte erkennbar nach Worten. „Aber,“ fuhr er schließlich fort, „jetzt ist es sicher Zeit, dass wir zu essen und zu trinken …“
Tumu fiel ihm ins Wort.
„Bärdel, mein lieber Mann, wir alle wissen, wie höflich du bist, und wir schätzen dich dafür. Aber dass dir die Aufführung nicht richtig gefallen hat, kann dir jeder von uns an der Bärennasenspitze ablesen. Du hast recht, wir haben dir ein Märchen gezeigt, aber das war nur der Auftakt. Jetzt kommt das wirkliche Theater!“
Wieder gruppierten sich die Bären neu. Die meisten setzten sich zusammen mit Bärdel und Tumu ins Publikum, andere verschwanden, um sich als Schauspieler zu kostümieren, ein paar bauten rasch eine Bühne  auf mit einem Vorhang davor.

Marionettentheater. Die Fäden, an denen die Spielfiguren hängen, sollen deutlich sichtbar sein.
Ein besserer Salon eines Hotels oder einer Villa, der Ort ist nicht genauer bestimmt. Kirk Kerkorian und Rick Wagoner Jr. treten auf. Wagoner führt Kerkorian und geleitet ihn zu einem Sitzplatz.
Wagoner: Sitzen Sie bequem?
Kerkorian faucht: Nein! Solange die Aktien von General Motors als Junkbonds gehandelt werden, werde ich nirgendwo bequem sitzen! Zufälligerweise besitze ich 44 Millionen Aktien dieses Schrotthaufens, falls Ihnen das entgangen sein sollte! Und was fällt Ihnen dazu ein?
Don Leclair erscheint in der offenen Tür und bleibt stehen. Da er kein Geräusch verursacht hat, bemerken ihn Kerkorian und Wagoner nicht. Leclair hört ihrem Gespräch zu.

30000 Arbeitsplätze wollen Sie abbauen – lächerlich! Das sind noch nicht einmal 10%! Außerdem haben Sie nichts davon – laut dem intelligenten Tarifvertrag, den Sie ausgehandelt haben, müssen Sie auch entlassenen Arbeitern weiterhin Bezüge zahlen. Ganz zu schweigen von den Krankenversicherungskosten für Zehntausende, für die Sie aufzukommen sich verpflichtet haben, als die Zeiten noch besser waren. Oder besser zu sein schienen. Ich sage Ihnen das, was ich schon seit langem sage: Melden Sie endlich Insolvenz an, um das Schlimmste zu verhüten! Aber Sie hören ja doch nicht auf mich. Also bringen Sie mir wenigstens einen Whisky.
Wagoner: Scotch oder Bourbon?
Kerkorian: Geschmacklose Frage – Scotch natürlich! Von dem amerikanischen Kram habe ich die Nase voll.
Wagoner geht zur Bar und bereitet Kerkorian und sich selbst einen Whisky mit Wasser. Als er sich wieder umdreht, bemerkt er Don Leclair.
Wagoner:  Hallo, Don! Wie geht’s? Auch einen Drink?
Leclair: Gerne, ja. Mineralwasser, wenn es dir nichts ausmacht.
Wagoner: Bescheiden, bescheiden. Du baust wohl auch nicht genug Arbeitsplatze ab und solltest demnächst Insolvenz anmelden, oder?
Wagoner serviert die Drinks, er und Leclair setzen sich.
Leclair: Danke. Ich hoffe, dass 30000 Freistellungen in Nordamerika ausreichen werden, um Ford wieder auf die Gewinnerschiene zu bringen. Wir haben uns ein bisschen verkalkuliert, weil wir hauptsächlich auf den Verkauf von Geländewagen gesetzt haben. Sind ja auch tolle Tools, befriedigen das männliche Ego total. Werden aber in letzter Zeit zunehmend weniger angenommen, wegen der Entwicklung der Spritpreise. An niedrigerem Verbrauch haben unsere Ingenieure nicht gearbeitet, warum auch, Autokonzerne haben ihre Interessen auch im Energiebereich.  lacht  Wem sage ich das eigentlich?
Wagoner: Ford geht es also auch nicht gut?
Leclair: Abwarten. Immerhin ist unsere Aktie kräftig gestiegen, als der Stellenabbau bekanntgegeben wurde. Und wir verkaufen ziemlich viel auf Kredit – das Bankgeschäft macht auch Mist, und zwar erstaunlich viel. Allen Mist im Moment, wenn ich ehrlich sein soll. Mit Autos kann man kein Geld mehr verdienen.
Kerkorian: Das klingt nicht so verlockend, das ich mein Portfolio umschichten möchte. Wo ist eigentlich der Dritte im US-Bund? Ich meine, wie geht es Chrysler?
In der offenen Tür erscheint Dieter Zetsche und bleibt stehen
Wagoner und Leclair im Chor: Mr. Kerkorian, Chrysler gibt es nicht mehr. Das heißt jetzt Daimler-Chrysler!
Kerkorian: Jeezus, ich werde alt. Natürlich – Daimler. Fucking Germans. Ich hasse sie. Ist der CEO von denen etwa auch hier?
Zetsche: Guten Abend. Darf ich mich setzen, obwohl ich nur ein fucking German bin? Und auch etwas trinken? Ich hätte gerne einen Apfelsaft,
Zetsche setzt sich unaufgefordert, bekommt aber nichts zu trinken, da niemand sich angesprochen fühlt.
Na gut, es geht auch ohne. Wir verfluchten Deutschen, oder genauer gesagt, ich, ich habe bei Chrysler bereits 26000 überflüssige Stellen gestrichen. In der deutschen Produktion werden demnächst 8500 Jobs in der Produktion abgebaut, in der Konzernverwaltung weltweit 6000.
Kerkorian: Sie verdanken es nur Chrysler, dass es Sie noch gibt!
Zetsche: Da ist was dran. Bei Mercedes haben wir uns verkalkuliert. Wir haben den Smart gebaut, den in den USA niemand fahren will – würde ich auch nicht tun, mich in der winzigen Autokabine auf dem Highway bewegen zwischen all den Riesentrucks. Außerdem haben die traditionellen Mercedes in der letzten Zeit mehr als ein peinliches technisches Problem gehabt. Aber wenn ich Don Leclair richtig verstanden habe, ist es nichts Außergewöhnliches, sich zu verkalkulieren. Und was GM angeht – unsere Aktien sind weit davon entfernt, als Junkbonds betrachtet zu werden.
Kerkorian: Sag ich doch – ohne Chrysler wären Sie nichts! Überhaupt die Germans – fucking Nazis! Wir haben die Reeducation gemacht, ohne uns hätten sie noch nicht einmal Democracy und wüssten überhaupt nichts von Marketing!
Bernd Pietschesrieder tritt auf und bleibt in der Tür stehen
: Bei allem Respekt, Mr. Kerkorian – die Nachkriegszeit ist eine Weile vorbei! Sie haben uns vielleicht Demokratie beigebracht, vielleicht, denn ob wir Demokratie praktizieren und Sie Demokratie beibringen können, ist bis heute fraglich. Aber darum geht es jetzt nicht. Mir als VW-Chef geht es um Marketing – erzählen Sie mir bloß nicht, das hätten die Deutschen von den Amerikanern gelernt! Hat es je ein US-Konzern geschafft, einen großen Teil der Bevölkerung zum Kauf von Optionsscheinen auf ein Produkt zu verführen, dessen Herstellung noch nicht einmal begonnen hatte, wie wir? Nein! Aber deutsches Marketing – man nannte das damals anders – hat es möglich gemacht. Es ging um den KdF-Wagen, den späteren Volkswagen.
Er geht zur Bar, sucht unter den Weinflaschen, entscheidet sich schließlich für ein Glas roten Württembergers, setzt sich nicht, sondern geht zurück zur Tür.
Zetsche: Und was nützt euch das Nazi-Marketing? Die VW-Werke sind heute nur zu 80% ausgelastet, der Absatz stagniert. Euch geht es ganz schön schlecht!
Pietschesrieder: Unsinn! Die Aktie hat in den letzten Tagen um 8% zugelegt! Denn wir werden die Arbeitszeit verlängern, natürlich ohne Lohnausgleich, parallel dazu den Tarif senken und bis zu 20000 Stellen abbauen – das ist das Erfolgsrezept.
Leclair: Ich weiß nicht recht – irgendwie kommt mir das widersinnig vor, Irgend jemand soll mal gesagt haben: „Autos kaufen keine Autos“ – wer das wohl gewesen sein mag? Und wie passt der Ausspruch logisch zu dem, was wir tun?
Kerkorian ist eingeschlafen und bekommt von dem folgenden Gespräch nichts mehr mit.
Wagoner, Zetsche und Pietschesrieder im Chor;  erst langsam, dann immer schneller, mehrfach wiederholt:
Entlassen ist logisch! Entlassen bringt Erfolg!
Entlassen ist logisch! Entlassen bringt Erfolg!
Entlassen ist logisch! Entlassen bringt Erfolg!…
Alle drei hören wie auf Kommando zusammen auf, schauen einander an, grinsen sich verschwörerisch zu, stehen auf, umarmen sich. Leclair ist überzeugt worden und gesellt sich zu ihnen.
Leclair: Ich sei, gestattet mir die Bitte,  in eurem Bund der Dritte – äh, Vierte.
Wagoner: Schon gut, schon gut. Jeder von uns hat ab und zu einen Schwächeanfall, das ist ganz normal.
Zetsche: Der Vierte im Bund – wer fehlt denn eigentlich noch?
Wagoner: Carlos Ghosn ist verhindert – es gibt eines der üblichen Probleme in den Renault-Werken in Frankreich. Ungerechtfertigte Forderungen der Arbeiter, Streikdrohungen und so weiter. Aber Takeshi Suzuki hat zugesagt.
Zetsche: Was – wir sind nur noch zu sechst?
Leclair, Pietschesrieder und Wagoner reden durcheinander.
Pietschesrieder: Gut so – wir sind wieder wer! Für sechs ist Platz auf der Welt, sagen die Analysten – wir werden dazugehören!
Wagoner: Und von den sechs hat GM die rote Laterne! Lange halten wir unsere Zahlungsverpflichtungen nicht mehr durch, wenn der Absatz weiterhin stagniert. Ob der alte Kerkorian doch recht hat?
Leclair: 25 Milliarden Dollar Barmittel sollten reichen, um Ford wieder flott zu machen, damit wir weiterhin dazugehören!
Takeshi Suzuki tritt auf.
Suzuki: Wozu dazugehören?
Alle außer Wagoner im Chor: Zum Klub der Automobilkonzerne der Welt!
Suzuki lacht schallend: IHR wollt dazugehören? IHR? Sehr ernst: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, in ein paar Jahren wird dieser „Klub“ nur noch ein Mitglied haben, und das wird Toyota sein!
Alle anderen lachen ihn aus.
Suzuki: Euch wird das Lachen schon vergehen! Sagen Sie mal, Herr Pietschesrieder – welche Investitionen plant VW in der nächsten Zeit?
Pietschesrieder flüstert: Wir werden die Investitionen um 19 Prozent reduzieren.
Suzuki: Schau, schau – und das kann sich VW nicht leisten! Unsere Investitionen werden gleich bleiben! Wie lange brauchen Sie für den Bau Ihres Golf?
Pietschesrieder flüstert noch leiser: 48 Stunden.
Suzuki: Und Toyota baut den Corolla in 20 Stunden! Wer von Ihnen hat eine Gewinnsteigerung im letzten Jahr von über 30 Prozent? Keiner – ich weiß! Bei Toyota sind es 34 Prozent! Bei wem steigt die Nachfrage? Bei keinem – aber bei Toyota!
Wagoner springt auf und verheddert sich dabei in den Marionettenfäden: Aber wir sind immer noch die Nummer Eins!
Suzuki: Auf dem Papier! Nach Umsatz haben wir General Motors längst überholt. Und unsere Aktien sind keine Junkbonds!
Kerkorian wacht wieder auf.
Wagoner: Verdammt, was sind das eigentlich für blöde Fäden? Wer macht mich hier zur Marionette?
Suzuki: Das ist die unsichtbare Hand des Marktes. Sie wird an euch bald kein Interesse mehr haben und euch fallen lassen. Das wird, wie man weiß, zum Nutzen aller sein. Denn das eigennützige Streben der wirtschaftenden und wirtschaftlich erfolgreichen Menschen trägt im System der natürlichen Freiheit zum Wohl der gesamten Gesellschaft bei. Das wissen wir doch alle seit Adam Smith. Künftig wird es weltweit nur einen Autoproduzenten geben: Toyota!
Kerkorian: Und wo bleibt dann der Markt?
Das Licht geht aus.

Jetzt klatschte Bärdel wirklich begeistert, und alle andren fielen ein.
„Das war zwar kein Märchen, aber prima zeitkritisches Theater! Schade nur, dass wir uns geschworen haben, uns nicht mehr in diese menschlichen Schweinereien einzumischen – oh, entschuldige bitte, Piggy! Und jetzt habe ich wirklich Hunger und Durst! Darf ich euch einladen?“
Muss noch erwähnt werden, dass in Bärenleben an diesem Abend ein rauschendes Fest gefeiert wurde?

Alles Theater

Es kommt niemals vor, dass es Bären langweilig wird – zu viel ist zu tun, zu viel gibt es zu lernen. Aber es kann durchaus sein, dass den Bären die Menschenwelt, die sie umgibt, als so merkwürdig erscheint, dass sie ihr nicht mehr mit den Mitteln der wissenschaftlichen Analyse, sondern nur noch mit Satire begegnen zu können glauben. Dann fangen sie an, Theater zu spielen. Besonders engagiert bei solchen Aktivitäten sind Athabasca, Bärdel, Kulle, Ramses und Tumu.
Anfang Juli war es wieder einmal so weit. Es war Zeit für ein Sommertheater, befand die Fünferbande, spielten die Menschen ihnen doch die wichtigsten Rollen vor – sie brauchten sie nur zu imitieren. Kulle, belesen wie immer, wusste, dass es dafür den Begriff der Realsatire gab, aber selbst er konnte den Ursprung dieses Begriffs nicht benennen. Klar war nur, dass die ernst gemeinte Realität so satirisch geworden war, dass sie kaum übertrieben zu werden brauchte, um ihre Schwächen darzustellen.
Natürlich würden sie die dehländische Politik aufs Korn nehmen, da gab es gar keine Frage. Zu diskutieren war nur, welche Rollen unabdingbar waren und wer welche Rolle übernehmen sollte.
“Also“, sagte Bärdel und kraulte sich am Kopf, “ich finde, ich sollte den Müntefering geben. Ich bin doch auch sonst immer so integrativ und vertrauenswürdig…“ Er grinste unschuldig.
“Gute Idee!“ lobte Tumu. “Aber dass du mir jetzt bloß nicht anfängst, Zigarillos zu rauchen! Ich wäre übrigens gerne die Merkel!“
“Einspruch!“ sagte Bärdel energisch. “Dazu bist du nicht gemein genug!“
“Einspruch gegen den Einspruch!“ widersetzte sich Tumu. “Die ist zwar gemein, aber die tut nett. Und genau das werde ich prima hinkriegen, denke ich – nett, wie ich bin.“
Bärdel gab sich geschlagen.
“Und wer bin ich?“ beschwerte sich Athabasca. “Ich bin doch auch nett, oder?“ fragte sie mit kokettem Augenaufschlag.
“Du bist mehr als nett, aber wirklich nette Rollen gibt es in diesem Spielchen nicht. Was hältst du von der Roth? Die kann genauso gut mit den Wimpern klimpern wie du!“ schlug Kulle vor.
“Du wagst es, deren Basedow-Augen mit mir zu vergleichen? Aber – das ist nicht das eigentlich Schlimme. Die Frau hat doch nichts zu sagen!“
“Ich kann dir nur zustimmen. Das Problem ist aber, dass keine der wesentlichen Protagonistinnen in unserem Spiel etwas Wichtiges zu sagen hat – du wirst dich damit abfinden müssen!“
Athabasca fügte sich schmollend.
“Bekomme ich dann wenigstens meine Traumrolle?“ erkundigte sich Ramses bescheiden.
“Und die wäre?“ wollten alle wissen.
“Na, Fischer natürlich! Hauptsächlich bin ich grün, wie man sieht, aber mein gelber Bauch gibt mir auch einen Touch von Giudo, von Realo, von Markliberalismus, also sogenannter Modernität – Joschka, wie er leibt und lebt!“
Niemand widersprach, nur Kulle fragte, obwohl die Frage wegen der vorangegangenen Rollenverteilung deutlich rhetorische Züge hatte: “Und was bleibt mir?“
“Du wirst deine rote Fahne für eine Weile wegstellen müssen“, schmunzelte Bärdel. “Die bleibt die Heldenrolle – der Schröder.“
Kulle war geschmeichelt – er war und blieb eben eitel.
“Wollen wir das Stück proben?“ fragte er.
“Ich denke, das ist überflüssig. Wir alle wissen doch, was wir zu sagen haben. Anstatt überflüssige Zeit für Proben zu verschwenden, würde ich gerne noch ein wenig Kant lesen, und ihr wisst bestimmt auch Besseres zu tun. Ich denke, wir können die Bärenversammlung heute Abend mit unserem kleinen Kabinettstückchen überraschen!“ schlug Bärdel vor.
Niemand widersprach.
Am Abend kündigte Manfred zu Beginn der Vollversammlung einen kleinen Sketch an, ohne nähere Erläuterungen hinzuzufügen, und schon ging es los.


Zimmer des SPD-Fraktionsvorsitzenden. Übliche Möblierung. An der Wand Portraits von Kurt Schumacher und Willi Brandt.


Kulle-Gerhard: Franz, ich trete zurück!
Bärdel-Münte: (raucht) Gerd, das kannst du nicht tun. Die Genossinnen und Genossen…
Kulle-Gerhard: … sind mir scheißegal. Waren mir immer scheißegal. Einzig wichtig war nur Acker und ist Viktoria. Ich kann es nun nicht mehr.
Bärdel-Münte: Ich hätte gar nicht gedacht, dass einer mit deinem sozialen Hintergrund die Buddenbrooks gelesen hat. Christian Buddenbrook, der Versager der Familie, sagt ständig: Ich kann es nun nicht mehr.‘ Aber davon ab – du musst weitermachen!
Kulle-Gerhard: Und warum?
Bärdel-Münte: Weil du es versprochen hast. Mit Amtseid. Du bist nämlich gewählt. Das Wohl des deutschen Volkes mehren und so weiter. Und eine gute Politik machst du auch!
Kulle-Gerhard: Ach ja? Das sagst ausgerechnet du? Du bist mir doch in den Rücken meiner Agenda 2010 gefallen mit deinen Heuschrecken!
Bärdel-Münte: Das sind nicht meine Heuschrecken, sondern internationale. Außerdem wollte ich mit den Heuschrecken unsere katastrophalen Wahlergebnisse korrigieren, die du verschuldet hast!
Kulle-Gerhard: (kreischt) Ach ja? Eben hast du noch behauptet, ich mache gute Politik!
Bärdel-Münte: (bleibt ruhig, zündet sich den nächsten Zigarillo an) Machst du auch, denn wir leben in Zeiten der Globalisierung. Da braucht man eine Art von Reformen, zu denen wir Sozialdemokraten früher Restauration gesagt hätten. Leider aber ist das vielen Genossinnen und Genossen nicht bewusst. Und deshalb brauchte ich ein paar Heuschrecken – so einfach ist das.
Kulle-Gerhard: (schreit) Du konterkarierst mich! Du hast mich lächerlich gemacht! Was soll ich jetzt tun?
Bärdel-Münte: (zieht ruhig an seinem Zigarillo) Am besten zurücktreten.
Kulle-Gerhard: (kreischt) Eben hast du noch gesagt, das geht nicht!
Bärdel-Münte: (ruhig) Der Mensch verwickelt sich eben immer in Widersprüche.
Auftritt Claudia Roth und Joseph Fischer
Athabasca-Claudia: Guten Abend.
Ramses-Joschka: Guten Abend.
Kulle-Gerhard: Was wollt ihr denn hier?
Athabasca-Claudia und Ramses-Joschka: (im Chor) Wir sind zum Essen eingeladen. Von dir!
Bärdel-Münte: Nicht mehr.
Athabasca-Claudia und Ramses-Joschka: (im Chor) Wieso nicht?
Bärdel-Münte: Darum nicht. Wir sind euch keine Rechenschaft schuldig, schließlich sind wir der größere Koalitionspartner. (Pause) Vertraut ihr dem Gerd?
Athabasca-Claudia: Also, ich finde es aufrichtig und ehrlich, und es ist auch eine Notwendigkeit, und ich habe schon immer, weil es auch nicht anders geht, darauf vertraut, dass Menschen vertrauensvoll miteinander umgehen. Deshalb macht es mich zutiefst betroffen, wenn…
Ramses-Joschka: (unterbricht) Kannst du in deinem Leben einmal einen Satz zu Ende bringen? Einen vernünftigen Satz? (Pause) Nein, ich habe ihm nie vertraut, dem Gerd. Ich vertraue noch nicht einmal meinen wechselnden Frauen. In der Liebe sollte man vielleicht vertrauen, in der Politik niemals. Dem Gerd schon gar nicht. Der ist ein Machtmensch – und ich weiß, wie so einer denkt.
Bärdel-Münte: Ihr seid beide wegen mangelnden Vertrauens ausgeladen. Übrigens vertrauen wir in der Espehde einander auch nicht mehr. Es ist Zeit für eine Trennung von Tisch und Bett. Wir sollten einander das Misstrauen aussprechen.
Kulle-Gerhard: (steht erregt auf) He, Mann, was soll das, das war mein Part!
Bärdel-Münte: Gerd, setz sich! Du solltest nach außen hin immerhin noch so viel Anstand haben, mit dem Vorsitzenden der Espehde zusammen aufzutreten! Also – der Kanzler fordert euch zur Vertrauensfrage auf, nach Artikel 68 Grundgesetz!
Athabasca-Claudia: Schön! Wir werden ihm mit der notwendigen Kanzlermehrheit das Vertrauen aussprechen, und alles wird gut! Wie ich schon sagte, ich vertraue prinzipiell jedem….
Ramses-Joschka: Dumme Pute, halt endlich mal dein Maul! Seit Jahren kann ich dich schon nicht ertragen! (zu Kulle-Gerhard) Du willst die Vertrauensfrage stellen? Im Bundestag? Warum?
Kulle-Gerhard: Um zu verlieren! Und um dann die nächste Wahl zu gewinnen!
Ramses-Joschka: Warst du letztens beim Arzt? Hast du dich durchchecken lassen? Ist mental wirklich alles in Ordnung?
Kulle-Gerhard: Danke, ja! Was willst du denn? Noch 15 Monate weiterwursteln und zusehen, wie alle unsere Gesetzesvorhaben an der CDU-etc.- Mehrheit im Bundesrat scheitern?
Ramses-Joschka: Ja, genau das will ich! Weil vielleicht dann auch der blödeste Wahlberechtigte merkt, dass nicht unsere Gesetze falsch sind, sondern dass der Bundesrat falsch liegt!
Bärdel-Münte: Gerd, da könnte was dran sein.
Kulle-Gerhard: (schreit) Und wenn schon! Ich hab die Faxen dicke! Ich hab mich übernommen! Ich will nicht mehr! Ich halt das nicht mehr aus! Kapiert das denn keiner!
Athabasca-Claudia: Aber Gerd, du hast mein vollstes Vertrauen und das der grünen Fraktion!
Kulle-Gerhard: Ich will das aber nicht, verdammt noch mal!
Bärdel-Münte: Wir sollten hier differenzieren. Am 30. Juni stehen noch einige Entscheidungen an, bei denen der Kanzler euer uneingeschränktes Ja‘ für eine eigene Mehrheit benötigt. Da müsst ihr ihm zeigen, dass ihr ihm vertraut. Einen Tag später allerdings müsst ihr zeigen, dass ihr ihm vertraut, indem ihr so abstimmt, dass ihr ihm misstraut. Nach dem leicht abgewandelten Motto von Lenin: Vertrauen ist gut, Misstrauen ist besser‘.
alle gleichzeitig
Kulle-Gerhard: Der Franz spricht mir aus der Seele.
Athabasca-Claudia: Ich verstehe überhaupt nichts.
Ramses-Joschka: Der alte Fuchs.
Langes Schweigen
Auftritt Merkel
Tumu-Angie: Guten Abend.
Ramses-Joschka: (nach sehr langer Pause) Guten Abend.
Pause
Tumu-Angie: Ich komme ungelegen?
Bärdel-Münte: Ja, aber in gewisser Weise kommen Sie gelegen.
Tumu-Angie: Können Sie das erläutern?
Bärdel-Münte: Selbstverständlich. (Pause)
Tumu-Angie: (unbehaglich) Also?
Bärdel-Münte: Nun…
Tumu-Angie: (zunehmend unruhig) Was?
Bärdel-Münte: Es gilt, gewisse Dinge aufzuräumen.
Tumu-Angie: Das ist mir klar. Das ist mir schon lange klar. Welche Dinge?
Kulle-Gerhard: (explodiert) Das blöde Weib soll doch nicht so tun, als könnte es die Probleme besser lösen als ich. Es versteht sie ja noch nicht einmal. Frauen und Gedöns und Politik – das ich nicht lache! Und überhaupt, eine kinderlose Politikerin sollte gar nicht erst versuchen,…
Tumu-Angie: Herr Bundeskanzler, was Kinderlosigkeit angeht, so sollten gerade Sie ganz vorsichtig sein. Im Übrigen, denke ich, sollten wir sachlich bleiben. Sachlichkeit war schon immer eine Stärke der CDU. Sachlichkeit und Sachkompetenz. Wo die CDU regiert, da geht es den Menschen besser, wie ich immer sage.
Ramses-Joschka: Nun ja…
Kulle-Gerhard: (immer noch sehr aufgeregt) Sie sagen doch sowieso immer nur das Gleiche!
Tumu-Angie: (süffisant) Ws man von Ihnen nicht gerade sagen kann, Herr Bundeskanzler. Wenn mich nicht alles täuscht, wandeln Sie Ihre sprichwörtliche Forderung“ Ich will hier rein!“ gerade ab in: “Ich will hier raus!“
Kulle-Gerhard: (explodiert schon wieder) Woher wollen Sie das wissen?
Bärdel-Münte: (ruhig, raucht seinen dritten Zigarillo) Man muss kontinuierliche Politik eben den Gegebenheiten anpassen, Frau Merkel, das müssen Sie erst noch lernen.
Tumu-Angie: Falsch, Herr Müntefering, das habe ich längst gelernt. Als Physikerin an einem staatstragenden Institut des ehemaligen Unrechtsstaats DDR und jetzige CDU-Vorsitzende Deutschlands halte ich es seit der Wende stets mit dem großen Adenauer: “Was schert mich mein Geschwätz von gestern?!“
Ramses-Joschka: (kichert in sich hinein) CDU-Vorsitzende Deutschlands, das ist gut!
Athabasca-Claudia: Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was das hier alles soll. Ich bin so unheimlich betroffen von … von …
Tumu-Angie: (unterbricht das Gestammel) Wir von der CDU/CSU werden die rot-grüne Bundesregierung ablösen, und das ist gut so. Dieses Land braucht Politik aus einem Guss. Darum geht es …“
Bärdel-Münte: Und – wie wollen Sie das machen?
Tumu-Angie: Wir werden die rot-grüne Bundesregierung ablösen. Und dann werden wir … werden wir …
Bärdel-Münte: (drückt seinen Zigarillo aus) Gerd, ich freue mich auf angenehme Oppositionszeiten! Trinken wir ein Glas guten Rotspon?
Kulle-Gerhard: Ich hasse die Farbe Rot! Außerdem muss ich nach Hause – ich habe Viktoria versprochen, mit ihr zu spielen.
Athabasca-Chaudia: Joschka, was sollen wir jetzt bloß tun?
Ramses-Joschka: Wir gehen essen. Ich lade dich zum Vegetarier ein – für den kommenden Wahlkampf muss ich abspecken. Frau Merkel, möchten Sie sich vielleicht anschließen? Man kann ja nie wissen…
Tumu-Angie: Vielleicht nach der Wahl, Herr Fischer, vielleicht nach der Wahl. Jetzt habe ich eine Verabredung mit Herrn Westerwelle zu einem Arbeitsessen, übrigens in einem Drei-Sterne-Restaurant – das entspricht im Moment wohl nicht gerade Ihren Bedürfnissen. Die Bänke der Opposition sind hart, und Abgeordnetendiäten sind deutlich niedriger als Ministerbezüge. Guten Abend allerseits. (geht ab)
Die Versammlung löst sich auf. Bärdel-Münte bleibt allein zurück und zündet sich den vierten Zigarillo an.
Bärdel-Münte: (murmelt) Es gibt doch deutsche Heuschrecken….

Kulles Grußwort zum Jahr 2006

Liebe Mitlebewesen, insbesondere Menschen, ganz speziell Deutsche!

Der Autor

Natürlich weiß ich, dass ihr satt seid – satt von der Weihnachtsgans, dem Silvesterkarpfen und vielerlei Nuss- und Mandelkern, also den massenhaft unappetitlich gezüchteten Muskeln und Fettablagerungen von bedauernswerten Tieren und den saisonalen Produkten, die sich Schokolade nennen, wenngleich sie hauptsächlich aus Zucker bestehen. Satt vom Sekt, den mensch zur Jahreswendezeit hierzulande eben zu trinken hat und dessen Konsum ihm, dem Geiz Geilheit bedeutet, durch den Verkaufspreis unterhalb der Produktionskosten schmackhaft gemacht wird – der Profit an anderer Stelle wird es richten. Satt auch von offiziellen Grußworten Offizieller, die euch gesagt haben, dass ihr alle alles könnt, wenn ihr nur wollt, und dass ihr alle solltet, aber nicht müsst, nämlich Weltmeister werden. Papst seid ihr ja schon. Satt seid ihr natürlich auch deshalb, weil das Modalverb “dürfen“ in diesen Reden nicht vorkam.

Natürlich weiß ich, dass ihr satt seid, und das nicht erst seit ein paar Tagen. Schließlich hat das Menschenbashing schon vor Jahrhunderten angefangen. In drei Jahren feiern wir den fünfhundertsten Jahrestag der Vertreibung des Menschen aus dem Mittelpunkt des Kosmos – ich bin gespannt, wer dazu die Festrede halten wird. Niemand nahm damals, 1509, Nikolaus Kopernikus im abgelegenen ostpreußischen Thorn wirklich ernst, aber er hat bewiesen, dass die Erde samt ihrem Mond und den anderen seinerzeit bekannten Planeten um die Sonne rotiert, nicht andersherum. Seitdem torkelt die Menschheit betrunken durch das All, mal kopfüber, mal kopfunter, immerhin aber noch Menschheit, geschaffen am sechsten Tage, belebt mit Gottes Odem, beseelt von seinem Geist, von ihm auserwählt, seinen Garten Eden zu bestellen und zu bewahren oder sich gar die Erde untertan zu machen.

Das änderte sich allerdings 350 Jahre später. 1859 erschien die Kurzfassung eines Buches, das ein bisher auf sehr verschiedenen akademischen Feldern wie Theologie und Medizin nicht gerade erfolgreicher, dafür aber weit gereister Mann veröffentlichte und das binnen Stunden vergriffen war. Der Autor hieß Charles Darwin, und sein Werk trug den Titel “On the Origin of Species“. Darwin entkleidete euch Menschen eurer Gottähnlichkeit, ihr wurdet Tiere wie wir Bären, aber ihr wolltet es nicht wissen, nicht akzeptieren, ihr kämpft dagegen an bis zum heutigen Tage, denn ihr habt nicht begriffen, welch ungeheures Kompliment in der Darwinschen Erkenntnis steckt, dass das Geheimnis des Überlebens einer Spezies die Anpassung ist, das Fitsein. Anstatt stolz zu sein, rennt ihr in Fitnesstudios und versucht, den alten einzigartigen Status mit Hilfe eines als unabdingbar behaupteten intelligenten Designers wiederzuerlangen. Ihr solltet euch schämen!

Scham scheint ein in der Menschheit tief verwurzeltes Gefühl zu sein, Scham geht mit Erkenntnis einher, wie schon frühe menschliche Mythen lehren, denn erst als die erste Frau dem ersten Mann zu Erkenntnis verholfen hatte, schämte er sich. Aber wie sie funktionieren, die Scham und die Erkenntnis, das wisst ihr Menschen nicht – und ihr könnt es auch nicht wissen. Das immerhin wisst ihr seit Sigmund Freud, dem ihr die Erkenntnis verdankt, dass etwa 90 % eures Verhaltens nicht bewusst gesteuert werden, dass das, was ihr das Ich nennt, ein fragiler, ständig von Es und Über-Ich bedrohter, mühsam am Leben erhaltener Winzling ist, dessen Existenz aber notwendig ist, damit ihr den Begriff “Vernunft“ wenigstens ab und zu denken könnt. Freuds “Das Ich und das Es“ erschien zwar erst 1923, war aber bereits, wie unsere Forschungen ergeben haben, 1919 fertiggestellt – 60 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins bahnbrechenden Erkenntnissen, 410 Jahre nach der kopernikanischen Wende.

Also, liebe Mitlebewesen, liebe deutsche Menschen, das vor euch liegende Jahr 2006 ist, erkenntnistheoretisch betrachtet, völlig unbedeutend. Ihr dürft euch entspannen. Das entscheidende Jubiläumsjahr ist nicht 2006, allen anderen Behauptungen, die da Mozart, Heine, den armen B.B. und Dutzende andere Namen durch die Gebetsmühle der Medien drehen, zum Trotz. Das entscheidende Gedenkjahr ist 2009. DAS geht euch an.

Also, deutsche Menschen:

Macht ruhig weiter wie bisher, bleibt Exportweltmeister, werdet vielleicht sogar männlicher Fußballweltmeister, falls euch das freut.

Haltet euch weiterhin für etwas Besseres, falls ihr dieses Gefühl braucht. Lasst euch nicht dadurch stören, dass euch ein kleiner Bär schon heute die Leviten liest.

Ihr habt noch drei Jahre Zeit – genießt sie!

Heimkehr

Da waren sie nun wieder, und sie fühlten sich schneller heimisch in ihrer neuen Höhle, als sie es sich hätten träumen lassen.
Natürlich war es Bärdels unangenehme Aufgabe gewesen, Tussi schon wieder einmal um einen Gefallen bitten zu müssen, und natürlich hatte die Riesenfröschin, wie nicht anders zu erwarten war, ihn uncharmant als “Stinker“ tituliert und ziemlich unfreundlich auf seine Bitte reagiert. Das bedeutete aber wenig. Als der Morgen ihrer Abreise kam, trauten die Bären ihren Augen nicht: Vor ihnen materialisierte sich das riesigste Tussimobil, das sie je gesehen hatten. Da hinein passte bis auf das letzte Krümelchen alles, was sie ihr eigen nannten, und Tussi sorgte dafür, dass es auch hinein kam: Sie zwinkerte nur einmal mit ihren Riesenglubschaugen, und schon war alles verstaut, einschließlich aller Bären, die sich gerade in der Nähe aufhielten. Zur Transfergesellschaft gehörten auch Athabasca, die in den LaSals zu Hause war, und Ramses, den Tussi den Bären ursprünglich nur als Begleiter in der fremden Gegend zu Seite gestellt hatte; aber Tussi macht, wie man weiß, keine Fehler.
Beim “Einpacken“ wie auch beim “Auspacken“ herrschte eine erstaunliche Ordnung: Nichts purzelte durcheinander, kein Buch aus der Bibliothek verlor seinen Nachbarn, und bei der vielfältigen Technik, die Manfred zusammengestellt hatte, gab es nicht den geringsten Kabelsalat. Die Bären saßen während der Reise gemütlich in der Mitte des Mobils wie bei einer ihrer Vollversammlungen, und viele von ihnen begannen tatsächlich miteinander zu schwatzen, als sei die Situation ganz alltäglich – sie merkten noch nicht einmal, dass sie davonflogen.
Sie bekamen auch zunächst nicht mit, dass sie irgendwo angekommen waren. Alles in der Höhle kam ihnen vertraut vor, alles war wie gewohnt aufgebaut, und sie redeten ungestört weiter. Erst als ein alter Bär, dessen Blase nicht mehr viel Inhalt vertrug, nach draußen zum Pinkeln ging, machte er alle anderen auf die Ortsveränderung aufmerksam. Wo waren sie?
In Dehland waren sie wieder, sagte Bärdel ihnen, wie es dem gemeinsamen Beschluss entsprach. Er nannte ihnen auch den genauen Ort. Aber nur die Bären kennen ihn. Aus Gründen der Geheimhaltung werden wir ihn nicht erfahren, denn die Bären haben Angst vor Verrat. Selbst Kulles Sekretärin weiß nicht, wo sich ihr Chef befindet. Die beiden treffen sich nur noch in einem Chatroom im Internet.
Athabascas Anwesenheit wurde ohne großes Aufheben als Selbstverständlichkeit hingenommen. Atti erklärte nur, dass sie hatte mitkommen wollen. Damit gaben sich die diskreten Bären zufrieden. Schließlich hatten sich auch irgendwann Piggy, das Schwein, und Ramses, der Frosch, zu ihnen gesellt, dachten sie. Nur Kulle war Attis wegen erkennbar unruhig und rollte seine geliebte rote Fahne immer wieder auf und zu, aber auch er enthielt sich jeden Kommentars.
Dank Tussis Fürsorge stellte sich bei den Bären also schnell die alltägliche Routine ein. Es war aber auffällig, dass sie mehr als sonst vor den Computern saßen, Zeitungsseiten und politische Informationen aufriefen. Natürlich hatten sie das auch in den LaSals getan, aber dort hatten sie sich auf nordamerikanische Politik konzentriert. Jetzt galt es, europäische und vor allem dehländische Wissenslücken zu füllen.
Sie stellten fest, dass sie mitten in eine überraschend vom Kanzler wenn auch nicht angesetzte, denn das konnte nur der Bundespräsident, so doch von ihm beabsichtigte vorgezogene Neuwahlphase hineingerauscht waren, und weil diese Umstände alle beschäftigten, berief Bärdel eine Vollversammlung ein.
Wie immer übernahm er die Einleitung.
“Wir haben uns heute hier versammelt, um…“
Del konnte sich nicht beherrschen.
“Das wissen wir doch alle. Endlich machen wir hier Nägel mit Köpfen! Ich werde Angie wählen, wie mindesten 48% aller Dehländer auch, und dann werden endlich wieder Arbeitsplätze geschaffen!“
Del sah sich triumphierend um, aber angesichts der ausnahmslos abschätzigen Blicke, die ihn trafen, sah er rasch auf den Boden vor sich. Bärdel wollte zu einer sanften Kritik anheben, aber Tumu platzte der Kragen:
“Du wirst gar nichts und niemanden wählen, du Naseweis! In Dehland wählen die Bundestagsabgeordneten den Kanzler oder, was zum ersten Mal geschähe, die Kanzlerin, nicht die Wähler! Aber du bist noch nicht einmal ein Wähler, weil du nämlich ein Bär bist, also nach Definition der Menschentiere ein Tier, folglich nicht wahlberechtigt. Im Übrigen solltest du stolz darauf sein, es nicht zu sein, wahlberechtigt meine ich, denn was hättest du davon, irgendwelchen Menschen Entscheidungskompetenz zu überantworten, die im Bundestag gemäß ihren eigenen Interessen und denen ihrer Lobby votieren, nicht aber deinen entsprechend? Und was Angie und die Arbeitsplätze angeht – sie wird keinen einzigen mehr schaffen als der gegenwärtige Kanzler !“
Eine alte Bärin, die Del unter ihre Pranken genommen hatte, fand Tumus harsche Kritik zwar formal und inhaltlich gerechtfertigt, wollte aber den jungen Bären aus der Schusslinie nehmen. Deshalb fragte sie:
“Was ich aber nicht verstehe, ist, wie jemand überhaupt arbeitslos sein kann. Jeder hat doch immer etwas zu tun. Ich muss mir Nahrung suchen wie alle anderen auch, ich muss die Höhle sauber halten, mich informieren, an Versammlungen teilnehmen. Also arbeite ich, oder? Jeder Mensch macht bestimmt ähnliches. Wie also kann man arbeitslos sein?“
Das betraf Kulles Spezialgebiet, und er war kaum mehr zu bremsen.
“Dein Problem hat damit zu tun, dass die Menschen in kapitalistisch organisierten Wirtschaften Arbeit als Tätigkeit mit Marktrelevanz begreifen“, erklärte er und fuhr nachdenklich fort: “Vielleicht sollten wir das spielen, damit ihr versteht, worum es geht!“
Ein Proteststurm erhob sich.
“Bloß nicht!“
“Davon haben wir die Nase voll!“
“Das endet bestimmt genau so wie beim letzten Mal!“
“Das wissen wir doch alles schon!“
Bärdel verzog schmerzvoll das Gesicht und griff sich an die Stirn – er erinnerte sich an die schlimmste Migräne seines Lebens.
“Das wisst ihr nicht!“ widersprach Kulle. “‘Beim letzten Mal‚, wie ihr das nennt, habt ihr schmerzlich erfahren, wie eine Gesellschaft funktioniert, die nach dem Tauschprinzip organisiert ist. Bei unserem Problem heute aber geht es darüber hinaus um Besitz und Nichtbesitz von Produktionsmitteln bei Existenz eines allgemeinen Warenäquivalents.“
Die Versammlung schwieg verunsichert. Niemand hatte Kulle verstanden.
Tumu fasste sich als erste ein Herz: “Vielleicht sollten wir doch…“
“Nein!“ scholl es ihr kollektiv entgegen.
“Möglicherweise hilft es, wenn jemand ganz einfach mal meine Frage beantwortet!“ brummte die alte Bärin.
“Wieso kann man arbeitslos sein?“
“Hm,“ machte Kulle, “das ist gar nicht so einfach. Ich muss nachdenken.“
Die Versammlung wartete respektvoll. Kein Laut war zu hören.
“Also,“ begann er schließlich zögernd, “also stellt euch vor, wir haben eine Fabrik, in der Autos hergestellt werden…“
Alle Disziplin war auf einmal dahin.
“Welch ein Unsinn!“
“Woher sollten wir das Geld nehmen?“
“Warum sollten wir so etwas ökologisch Schädliches produzieren?“
“Was…“
“Gut, gut!“ Kulle verschaffte sich mühsam wieder Gehör. “Mein Beispiel war dumm. Ich habe versucht, euch menschliches Handeln verständlich zu machen, indem ich es auf Bären übertragen wollte, aber das war wohl…“
“…verfehlt“ und “…unmöglich“ murmelten mehrere Stimmen.
“Ihr habt Recht. Also bleibe ich bei den Menschen. Menschen produzieren Autos, richtig?“ Kulle ging jetzt auf Nummer sicher.
“Sehr richtig. Erst gestern hat eine solche Blechkiste beinahe mein Junges überfahren,“ grollte eine Bärin.
“Gut. Äh – schlecht. Also es gibt Autos, und die heißen VW oder Mercedes oder Fiat oder Toyota und so weiter. Autos werden in Fabriken montiert, richtig? Die erste wichtige Frage ist also: Wem gehören die Fabriken?“
Die Bären sahen einander kopfschüttelnd an – woher sollten sie das wissen? Endlich ermannte sich ein alter Bär und erklärte im Brustton der Überzeugung, es handele sich zwar um merkwürdige Namen, aber vermutlich gehörten die VW-Fabriken Herrn oder Frau VW und so weiter. Nach seinem Beitrag sah er sie triumphierend um und kassierte von der Versammlung deutlichen Beifall.
Während Manfred, Bärdel und auch Del tadelnd den Kopf schüttelten, sich aber verbal nicht äußerten, ging Kulle siedend heiß auf, dass er drauf und dran war, sich auch noch in eine Lektion über die Besonderheiten von Aktiengesellschaften zu verstricken. Er beschloss, das zu ignorieren.
“Gut,“ sagte er, “nehmen wir an, das stimmt. Herr oder Frau VW hat also Geld genug, das Werk zu bauen, die Rohstoffe und Maschinen zu bezahlen und die Arbeiter. Die Arbeiter arbeiten bei VW, weil sie kein Geld haben, aber Geld zum Leben verdienen müssen. Soweit klar?“
Alle nickten.
“Und jetzt kommen wir zu dem Fall, dass VW diese Arbeiter nicht mehr beschäftigen kann oder will. Dann werden sie entlassen und sind arbeitslos, so einfach ist das.“
“Das ist überhaupt nicht einfach,“ beschwerte sich eine andere alte Bärin. “Die Arbeiter gehen dann nach Hause und machen die Betten und kochen Essen und lesen und machen noch viele andere Dinge. Also arbeiten sie und sind nicht arbeitslos!“
Da waren wir eben schon mal, dachte Kulle. Wenn sie es nicht spielen wollen, muss ich es eben einfach sagen. Er erklärte: “Betten machen, Kochen und so weiter sind für die Menschen keine Arbeit, weil man damit kein Geld verdient. Ich habe eben schon versucht, das zu definieren: Für die Menschen gelten nur Tätigkeiten mit Marktrelevanz als Arbeit, also Tätigkeiten, für die die Menschen Geld bekommen.“
Über mangelnde Kommentare brauchte Kulle sich nicht zu beklagen.
“So blöd kann man doch nicht sein!“
“Noch nicht einmal als Mensch!“
“Finden die Menschen es etwa nicht wichtig, dass Frauen Kinder bekommen und erziehen? Das soll keine Arbeit sein?“
Er hob beschwichtigend die Pranken in die Luft.
“Natürlich habt ihr Recht! Aber die Menschen…“
“Nun gut!“ mischte sich Ramses ein. “Ich als Frosch nehme zur Kenntnis, dass es nach der Meinung der menschlichen Volkswirtschaftslehre keine Arbeit ist, wenn ich Fliegen fange, um mich zu ernähren. Ich möchte mich als höfliches Tier zu dieser Definition nicht weiter äußern. Interessant erscheint mir aber die Frage, die Del indirekt aufgeworfen hat: Wird denn Angie als Kanzlerin Arbeitsplätze schaffen, die der menschlichen Definition genügen?“
Del sah Ramses dankbar an. Seine Schultern sackten jedoch jäh nach unten, als er Kulles schneidendes “Nein!“ vernahm.
“Wieso nicht?“ beschwerte sich Athabasca. “Entschuldigung, ich bin erst seit kurzer Zeit hier in Dehland, wie ihr alle wisst, aber auch in den USA sagen alle Politiker ununterbrochen, dass sie Arbeitsplätze schaffen werden, und in Europa ist das nicht anders, wie ich aus den Medien gelernt habe. Behauptest du etwa, dass die lügen, Kulle?“
“Ja,“ antwortete Kulle schlicht. “Der dehländische Staat ist nämlich ziemlich pleite, was Gründe hat, die wir wohl besser auf einer gesonderten Versammlung klären sollten, wenn ihr wollt. Der Staat könnte Arbeitsplätze schaffen, zum Beispiel im öffentlichen Dienst oder in dem er Geld für Projekte zur Verfügung stellt, aber dafür fehlen die Mittel. Arbeitsplätze heutzutage werden überwiegend von privaten Unternehmen bereitgestellt – und die entlassen gerade eher Angestellte, anstatt sie einzustellen.“
“Warum?“ fragte ein Stimmenchor.
“Auch das,“ sagte Kulle resigniert, “ist ein so umfangreiches Problem, dass wir dafür eine Extrasitzung anberaumen sollten.“
Stille senkte sich über die Versammlung. Bärdel versuchte zu retten, was zu retten war.
“Ich habe nicht viel verstanden, aber doch einiges: Kulle sagt, nach menschlicher Definition arbeitet nur derjenige, der für seine Arbeit Geld bekommt. Kulle sagt, die Regierung kann letztlich keine Arbeitsplätze schaffen. Kulle sagt, die Unternehmen, die für Arbeitsplätze zuständig sind, verringern diese. Für die letzte Behauptung fehlen uns noch Begründungen. Ich habe auch verstanden, falls Kulle Recht hat, dass die Kanzlerkandidatin der CDU lügt, ebenso wie übrigens der Kanzler der SPD, wenn sie behaupten, Arbeitsplätze schaffen zu können. Richtig?“
“Richtig!“ antworteten die Versammelten im Chor.
“Aber…“ sagte Tumu zaghaft. “Aber… ich kenne die Zusammenhänge noch nicht, anders als Kulle, ich will bis zu nächsten Vollversammlung versuchen, mich zu bilden. Ich frage mich nur eins: Wenn das stimmt, was Kulle gesagt hat, wie können die Menschen in Dehland und auch in den USA so blöd sein, den Politikern zu glauben?“

Brummbär

Bärdel

Die klandestine Zeitung für alle europäischen Bären erscheint monatlich in französischer, baskischer, spanischer, serbischer, kroatischer, mazedonischer, litauischer, estnischer, lettischer, russischer, polnischer, ukrainischer und seit heute auch wieder in deutscher Sprache

Ausgabe März 2005

Interview mit Bärdel

Brummbär: Bärdel, seit wann bist du wieder in Dehland?
Bärdel: Seit ein paar Stunden.
Brummbär: Warum bist du zurückgekommen?
Bärdel: Es ist mir nicht leicht gefallen. Meine Familie ist noch drüben in den USA. Die ganze Sippe auch. Ich konnte sie noch nicht mitbringen. Es war Glück, dass ich mich als Bärenschinken getarnt in ein Frachtflugzeug einschmuggeln konnte. Eigentlich mehr als Glück, eher ein Wunder, wenn man bedenkt, wie die Sicherheitsvorkehrungen seit 9/11 verschärft worden sind.
Brummbär: Sehr interessant, Bärdel, aber du hast unsere Frage nicht beantwortet.
Bärdel: Entschuldigung. Was war die Frage?
Brummbär: Warum bist du zurückgekommen?
Bärdel: Wohin?
Brummbär: Nach Dehland natürlich.
Bärdel: Natürlich finde ich das keineswegs. Ich bin mir auch immer noch nicht sicher, ob ich das Richtige getan habe.
Brummbär: Bärdel, bist du müde?
Bärdel: Ja, schrecklich!
Brummbär: Dann musst du gleich schlafen. Aber erzähl uns doch bitte vorher die Geschichte der letzten Tage…
Bärdel: Gerne. Aber es geht nicht nur um die Geschichte der letzten Tage, sondern um die vergangenen Wochen und Monate. Es gelang uns nicht mehr, uns zu tarnen. Ihr habt doch bestimmt auch hier vom Patriot Act gehört, oder? Nein? Also, der so genannte Patriot Act ist eine hervorragende Idee der Bush-Regierung, die Bürger zu bespitzeln und die Meinungsfreiheit drastisch einzuschränken. Buchhandlungen müssen melden, wer welche Bücher gekauft hat, Bibliotheken müssen Auskunft darüber geben, wer sich was ausleiht. Das ist uns zum Verhängnis geworden. Kulle mit seinem Hang zu revolutionären politischen Theorien und Manfred, der vor allem technische Literatur liest, waren in der Public Library und im Buchladen im kleinen friedlichen Moab zu auffällig. Außerdem muss Manfred zu sorglos mit seinen zahllosen Kreditkarten umgegangen sein, die er sich auf Wegen besorgt, die ich nie recht durchschaut habe. Nein, das Letzte ist gestrichen. Das dürft ihr nicht drucken. Jedenfalls sind wir aufgefallen. Die Moab Times, das lokale Wochenblatt, munkelte von dunklen Umtrieben und einer Verschwörung von marxistisch motivierten Bombenbastlern. Darüber konnten wir noch lachen. Aber dann stand im Canyon Country Zephyr, die Attentäter oder Putschisten hätten sich bestimmt in den Bergen versteckt. Das Blatt ist eigentlich progressiv und dem Naturschutz verpflichtet, der Artikel war ironisch gemeint, aber die braven Mormonen und vor allem der Sheriff von Grand County haben alles für bare Münze genommen. Der Sheriff hat die Geheimdienste alarmiert. Ich weiß nicht, welche von den 15, wahrscheinlich alle, denn seit einiger Zeit wimmeln die LaSals von Menschen, die behaupten, Touristen zu sein, aber erkennbar keine sind. Wir sind nicht mehr sicher. Deshalb werden wir alle zurückkommen. Ich bin deshalb hier, weil ich ein neues Quartier für uns finden soll.
Brummbär: Das tut uns leid, Bärdel. Aber zwei Dinge haben wir nicht verstanden: Wie wollt ihr alle zurückkommen, wenn du allein es nur unter Lebensgefahr geschafft hast? Und warum geht ihr nicht nach Bärenleben zurück?
Bärdel: Was den Transport angeht, so haben wir in dieser Beziehung spezielle Kontakte, die ich gefährden würde, wenn ich hier darüber Auskunft gäbe. Entschuldigung, ich bin wirklich entsetzlich müde. Was war die zweite Frage?
Brummbär: Warum geht ihr nicht nach Bärenleben zurück?
Bärdel: Ja, warum eigentlich nicht? Nun – – – also, die Vollversammlung hat beschlossen, dass wir – – – das wir etwas Neues ausprobieren wollen. Eine Neuorientierung gewissermaßen – – nach Osten. Die Erweiterung der Europäischen Union im Mai 2004 war schließlich de facto eine Osterweiterung, und auch wir Bären sollten…
Brummbär: Bärdel, wir unterbrechen dich äußerst ungern und wir sind auch ungern unhöflich, aber wir haben das Gefühl, dass du uns nicht die Wahrheit sagst.
Bärdel: Ich bin auch nicht gerne unhöflich, aber Journalisten sollten sich auf ihren Verstand verlassen und nicht auf ihr Gefühl!
Brummbär: Nun ja, aber trotzdem…
Bärdel: Manchmal allerdings zeigen Gefühle den richtigen Weg… Ihr erinnert euch vielleicht, dass ich vor einigen Jahren vielen armen Menschen mit ziemlich viel Geld aus der Patsche geholfen habe. Die Aktion lief zwar anonym, aber das dehländische Finanzamt hat trotzdem einen sehr unangenehmen Steuerbescheid nach Bärenleben geschickt. Kurz und gut, wir müssen uns eine andere Bleibe suchen und werden das auch tun. Wir haben an Meckpomm gedacht.
Brummbär: Mac Pom?
Bärdel: Nein, nicht Mac Pom, Meckpomm! Mecklenburg-Vorpommern! Viele Wälder, Seen mit leckeren Fischen und immer weniger Menschen. Dort werden wir unsere Ruhe haben. Ich werde das entsprechende Fleckchen für uns finden, und dann sage ich Tussi – – – äh, unserem Transportkontakt Bescheid, und dann siedeln wir uns dort an. Und jetzt muss ich ins Bett. Ich habe schon genug unvorsichtige Bemerkungen gemacht.
Brummbär: Schlaf schön. Und vielen Dank für das Gespräch.

“Bärdel“, fragte der Journalist, autorisierst du das Interview, abgesehen von der Sache mit Manfreds Kreditkartenbeschaffung, versteht sich?“
Bärdel wackelte mit seinem dicken Kopf. Auf einmal war er hellwach. Er erinnerte sich an manche intensive Diskussion mit Kulle. Und weil er dessen Argumente zum Teil übernahm, formulierte er auch wie Kulle, ohne es zu merken.
“Nein“, sagte er. Ich muss erst mal nachdenken. Denken kann ich am besten laut, ich hoffe, du verzeihst mir das. Also – in welchem Zustand ist Dehland? Verglichen mit den Zuständen in den republikanischen Staaten der USA genießen die Dehländer die Freiheit einer großen persönlichen Lebensgestaltung. Aber falsch – sie genießen diese Freiheit nicht. Stattdessen verlangen sie nach gesetzlichen Regelungen für private Lebensentwürfe – ich sage nur Schwulenehe und Antidiskriminierungsgesetz. Wahrscheinlich vertragen die Dehländer die Freiheit nicht. So rufen sie wie früher nach Vater Staat, der es regeln soll – diesmal aber nicht die öffentlichen Angelegenheiten, sondern die privaten. Es gibt nur einen Bereich, in dem die meisten Zeter und Mordio schrien, würde er angetastet: die Freiheit des Habens. Der Staat, momentan in Gestalt des sozialdemokratischen Innenministers Schily, kommt diesem Verunsicherungs- und Sicherheitsbedürfnis zur zu gern nach und zuvor und bietet Hilfe an: Mit einer DNA-Analyse findet mach Verbrecher – warum also nicht gleich das Erbgut aller katalogisieren? Warum sollen die Banken nicht den Blick in die Konten ihrer Kunden ermöglichen, um Steuersünder zu fangen? Warum nicht alle Telefone überwachen, alle Emails überprüfen, alle öffentlichen Plätze mit Kameras überwachen? Biometrische Ausweise – Wunderdinge, die Sicherheit bieten. Sie bieten mehr als das – geschickt genutzt, produzieren sie ein lückenloses Bewegungsprofil.
Wenn ich mir das so genau überlege, ist Dehland auch nicht viel besser als die USA.“
“Heißt das“, fragte der Journalist enttäuscht, “dass wir das Interview noch zurückhalten müssen?“
“Ich fürchte, das heißt es!“ seufzte Bärdel. “Ich bin noch unentschlossen, was wir tun werden. Ich muss mich in Europa erst mal umsehen. Aber wenn du im “Brummbär“ jetzt eine unvorhergesehene Lücke füllen musst, dann habe ich etwas für dich.“
“Durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates leidet die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter. Wer oft und viel geleitet wird, kommt oft dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt (…) Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherheit gegen sich selber und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; und zu keinem anderen Endzweck beschränke er ihre Freiheit.“
(Bärdel bittet „Die Zeit“ um Verzeihung, dass er sich ihrer Ausgabe 10/2005 schöpferisch bedient hat.)

“Das ist aber ein bisschen komisch und auch ein bisschen kurz“, meinte der Journalist enttäuscht.
“Ich hoffe, du meinst mit ‚komisch‘ nicht den Inhalt“, erwiderte Bärdel. “Vielleicht ist die Sprache ein wenig ungewöhnlich. Der Text ist schon älter, er stammt von Wilhelm von Humboldt aus dem Jahre 1851. Und was die Kürze angeht – nehmt einfach eine große Schrifttype. Diesen Text kann man gar nicht groß genug drucken!“

Bärdel

Der schon wieder

Der Kanzler war jetzt nicht mehr, wie schon lange, nur verzweifelt, er war superverzweifelt, ultraverzweifelt, hyperverzweifelt. Deshalb hatte er im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage gestellt und war wunschgemäß gescheitert. Nun war es am Bundespräsidenten, die Neuwahlen zu erlauben, die der Kanzler damit bezweckte. Aber was bezweckte er mit dem Zweck? Konnte er mit diesem Zweck-Mittel das Ziel erreichen, wiedergewählt zu werden, ja, wollte er überhaupt wieder gewählt werden, da er doch klar gemacht hatte, dass er jetzt weder weiter regieren konnte noch wollte? Schlaflos wälzte er ich nachts auf zerwühlten Bettlaken herum, bis er zumindest einen Entschluss fasste. Am nächsten Morgen suchte er seinen alten zerschlissenen Rucksack, der alle Umzüge überstanden hatte, aus einer Kellerecke hervor. „Der schon wieder“ weiterlesen

Das Gesellschaftsleben der Schabe unter besonderer Berücksichtigung von Attentaten und Terrorismus

P. D. Kulle

Ich finde, es ist an der Zeit, im Verhältnis Kakerlake – Mensch eine neue Offensive des Bewusstseins einzuläuten.(Don Pollock)

 

Inhalt:

PD Dr. Kulle

1. Vorwort
2. Schaben
3. Schaben und Attentate
a. Attentäter und Attentatsopfer
b. Die bevorzugten Waffen der Attentäter im historischen Wandel
Exkurs: Selbstverbrennungen
c. Die Ziele
4. Schaben und Terrorismus
a. Terror und Terroropfer
b. Die Ziele
5. Perspektiven
6. Nachwort

1.    Vorwort
Das Phänomen des Terrorismus beschäftigt und fasziniert mich seit
geraumer Zeit, ist es doch unter der Spezies, unter der die meine zu
leiden hat, nämlich unter der der Menschen, seit langer Zeit
verbreitet, und bei der Spezies, der ich das Glück habe angehören zu
dürfen, nämlich unter der der Bären, völlig unbekannt. Alle Vorarbeiten
für eine Untersuchung dieser merkwürdigen Art des gesellschaftlichen
Umgangs miteinander sind zum jetzigen Zeitpunkt abgeschlossen, es
bedürfte nur noch der Kompilation und des abschließenden Diktats –
allein, auch bärische Wissenschaftler wie ich können sich dem Mitleid
nicht entziehen.
Da die Gefühle meiner menschlichen Leser – und ich weiß, es gibt deren viele – geschont werden sollen, werde ich ihnen, die seit einigen Jahren und täglich
mehr verstärkt unter Terrorismus zu leiden haben, nicht zumuten, sich
hautnah mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie werden mir verzeihen,
dass ich mein Sujet dennoch nicht verlasse. Aber ich werde es am
Beispiel einer anderen Spezies illustrieren, nämlich an dem der
Blattariae, vulgo Schaben oder auch Kakerlaken genannt.

2. Schaben
Schaben sind Insekten, Geradflügler, deren Körperlänge zwischen zwei
und 100 Millimetern variiert; mindestens 3500 Arten sind bekannt. In
Mitteleuropa leben jedoch nur 15 Arten. Die dort bekanntesten sind die
Küchenschabe, Blatta orientalis, und die Deutsche Schabe, Blattella
germanica. Wie sich zeigen wird, ist für meine Untersuchung außerdem
die Amerikanische Großschabe, Periplaneta americana, von besonderem
Interesse. Alle  drei stammen, wie die meisten Arten, aus den
Tropen, was ihre Vorliebe für Wärme erklärt. Qua Schiffsreise fanden
und finden sie ihren Weg in die ganze Welt und genießen in menschlichen
Behausungen oft ideale Lebensbedingungen. Sie ernähren sich von
unterschiedlichen Stoffen pflanzlicher und tierischer Herkunft, sind
also, wie die Menschen(1), Allesfresser, auch wenn der menschliche und
der schabensische Geschmackssinn keineswegs deckungsgleich sind. Aus
menschlicher Sicht betrachtet, halten sich Schaben oft an
unhygienischen Orten auf, was sie als Krankheitsüberträger
prädisponiert.
Schaben sind ausgesprochen vermehrungsfreudig, die Weibchen sind bereits mit sechs Wochen geschlechtsreif. Beide Geschlechter locken einander mit Hilfe von Pheromonen an. Nach einem oft komplizierten Paarungsspiel werden die männlichen Geschlechtsorgane in die weiblichen Entsprechungen
eingeklinkt.
So weit die von allen Entomologen unbestrittenen Tatsachen.

Meine weiterführenden soziologischen Untersuchungen haben ergeben, dass
Schaben ein für Insekten nicht repräsentatives Gesellschaftsleben
praktizieren. Weder gehören sie zu den weit verbreiteten Einzelgängern,
die ihr in der Regel recht kurzes adultes Leben allein fristen und sich
nur zum Zweck der Fortpflanzung einen Partner bzw. eine Partnerin
suchen, noch bilden sie ein Volk, das arbeitsteilig organisiert ist und
in dem eine nicht in Frage gestellte Hierarchie existiert, in deren
Zentrum ein für die Fortpflanzung des gesamten Stammes verantwortliches
Weibchen, meist als Königin bezeichnet, steht. Stattdessen finden
zwischen den gesellig lebenden Schaben permanent individuelle, aber
auch in Gruppen organisierte Kämpfe um höherrangige gesellschaftliche
Stellungen statt, die eine Zeit lang akzeptiert werden können,
empirisch aber letztendlich immer in Frage gestellt werden. Diese
Auseinandersetzungen gilt es genauer zu untersuchen.

3.    Schaben und Attentate
Attentate definiere ich zunächst(2) als Angriffe eines oder mehrerer
Individuen auf eine oder mehrere Personen, wobei sich der oder die
Angreifer gegenüber dem, den oder der Angegriffenen in einer inferioren
Position befinden, mit dem Ziel, die übergeordente(n) Person(en) aus
eben dieser Position zu entfernen, in der Regel durch deren physische
Eliminierung.
Drei wesentliche Fragen gilt es zu untersuchen:

  1. Wer versucht wen zu eliminieren?
  2. Auf welche Weise?
  3. Und: Warum?

3a.    Attentäter und Attentatsopfer
Bei Betrachtung der überlieferten Frühgeschichte der schabischen
Attentate fällt ins Auge, dass Täter und Opfer in enger persönlicher
Beziehung zueinander stehen, oft sogar eng miteinander verwandt sind.
Eine besonders rege Täteraktivität lässt sich bei Blatta orientalis und
ein wenig später bei Blatella germanica beobachten, während Periplaneta
americana noch erstaunlich inaktiv ist. Wahrscheinlich ist dieses
Phänomen darauf zurückzuführen, dass Periplaneta sein
Aggressionspotential erst allmählich entwickelte, nachdem Blatta und
Blatella auf dem amerikanischen Kontinent Fuß gefasst hatten. Noch
ungeklärt ist die Frage, ob hierfür ein Gentransfer als Ergebnis
sexueller Kontakte verantwortlich zu machen ist oder ob die wachsende
Aggressivität als soziale Reaktion auf die Angriffslust der Einwanderer
zu werten ist.
Einige wenige Beispiele(3)
mögen das belegen. Dabei kommt uns in Hinblick auf die
Nachvollziehbarkeit unserer Ausführungen entgegen, dass der schabische
Kalender dem der Menschen aus noch immer ungeklärten Gründen kongruent
ist.
Bereits 681 v.u.Z.(4)  wird Sennacherib
von Asselanien von seinen beiden Söhnen ermordet. Aber nicht nur der
Vater-, auch der Sohnesmord ist verbürgt: Die Blatta Irene lässt ihren
Sohn Konstantin VI., Herrscher im östlichen Mittelmeerraum, 797
umbringen. Ebenfalls ist es mit der Bruderliebe nicht weit her, weder
bei Blatta noch bei Blattella: 1250 werden Erik IV. von Dänemark und
1369 Pedro der Grausame von Kasselanien und Leon Opfer ihrer eigenen
Geschwister. Wen wundert es noch, dass Morde auch von angeblich
Liebenden verübt werden: Commodus, mächtiger Beherrscher des
mittelmeerischen Weltreichs, putzt sich  am 31. Dezember 192
gerade nichtsahnend die sensiblen Fühler, als er von dem im Kampfsport
ausgebildeten Blatta Narcissus erwürgt wird, eine Gewalttat, die seine
Geliebte Marcia eingefädelt hat.
Es scheint
zunächst, als resultierten schabische Attentate aus tragischen
Familienzwistigkeiten und erotisch-sexuellen Unstimmigkeiten. Doch
gemach! Wenn wir weiter in die Gegenwart fortschreiten, ergibt sich ein
völlig anderes Bild. Vor allem ergeben sich zahlreiche Fragen.

Wie etwa lässt sich erklären, dass eine aggressionsarme Periplaneta
americana namens Atahualpa am 29. August 1533 von Blattae auf Befehl
ihres Anführers Francisco Pizarro erdrosselt wird und derselbe Pizarro
acht Jahre später – übrigens eine erstaunlich lange Lebensspanne für
eine Schabe – einem Mord durch Blattae zum Opfer fällt? Die Mörder
Pizarros werden es dabei nicht bewenden lassen; 1544 töten sie eine
weitere Periplaneta.
Auch erscheint es
verwirrend, dass Attentäter und Zielobjekt oft wenig oder gar nichts
miteinander zu tun haben, bevor sie einander als Täter bzw. Opfer
begegnen. Was verbindet die Kakerlake Schan Paul Marat, die bei der
Pariser Presse tätig ist, mit der jungen Schablotte Corday, die mit
aller Kraft ein Küchenmesser zwischen ihre Mandibeln klemmt und ihn am
17.Juli 1793 ersticht? Wo ist das einigende Band zwischen August von
Kotzebue, einem hochadeligen Blatellus, wie der Name deutlich verrät,
auch er ein Schriftsteller, und Schab Ludwig Sand, dessen Name
möglicherweise auf Obdachlosigkeit hinweist? Wir wissen zunächst nur,
dass Sand Kotzebue 1819 in Mannheim erstochen hat. Warum verübt die
orientalische Schabe Graf Felischab Orsini, Rudio und Pieri, ihrerseits
hochadelig, 1858 ein Attentat auf die französische Kakerlake Napoleon
III.?
Wagen wir einen Sprung ins 20. Jahrhundert.
Bei der Betrachtung von einigen für diesen Zeitraum typischen
Attentaten fällt auf, dass Schaben übereinander herfallen, die, im
Gegensatz zu den eben skizzierten Fällen, sehr viel miteinander zu tun
haben, ja, einander politisch verbunden sind. Wie ist es zu erklären,
dass die Deutsche Schabe Hitler ihren loyalen Gefolgsmann Erschab Röhm,
mit dem sie sogar dieselbe braune Flügelfärbung verbindet, am 10. Juni
1934 erschießen lässt? War das Motiv Eifersucht wegen der eigenen wenig
zureichenden Potenz, oder stecken dahinter andere Beweggründe? Warum
muss fünf Monate und einen Tag später Schabgei Kirow in Leningrad fast
dasselbe Schicksal erleiden, befohlen von Stalin(5), beide übrigens mit
auffallend roten Flügeloberflächen? Wieso lässt derselbe Stalin einen
langjährigen Kampfgefährten namens Trotzki(6)  – es wird nicht
überraschen, dass auch dieser tiefrote Deckflügel zeigt – am 21. August
1940 im fernen Mexiko mit einem Eispickel erschlagen, wozu er als
Mörder übrigens eine Blatta namens Ramon Kak Mercader beauftragt?
Ein letztes Attentatsmuster bleibt zu benennen. Es kann durch folgende Beispiele charakterisiert werden:

  • Malcom Sch, Führer der Black Muslims, einer aggressiven Variante der dunkel gefärbten Periplanetae, wird am 21. Februar 1965 in Amerika von einer sehr hell gefärbten Variante erschossen
  • Martin Luschab King, ebenfalls dunkel gefärbter Angehöriger derselben Art, aber explizit friedfertig, wird am 4. April 1968 in Amerika erschossen, ebenfalls von einem hell gefärbten Exemplar
  • Steve Bikoschab, südafrikanischer Studentenführer, stirbt im Polizeigewahrsam „an schweren Kopfverletzungen“ im September 1977; die Polizisten sind selbstverständlich extrem hell gefärbt.

Wir sehen,
dass schwarze Schaben von „weißen“ Schaben umgebracht werden, und
Kenner der schabischen Geschichte haben zweifellos erkannt, dass die
Attentatsopfer nicht zu den Machtträgern in ihrer jeweiligen
Gesellschaft gehörten, dass also diese Attentate nicht der Definition
entsprechen, die wir oben zu geben versucht haben (vgl. 3). Diese
scheinbare Unstimmigkeit wird erst weiter unten aufgelöst werden können.

3b.    Die bevorzugten Waffen der Attentäter im historischen Wandel
So intim wie die Beziehungen zwischen Attentäter und Opfer sind
zunächst auch die Mordmethoden – sie ermöglichen bzw. erzwingen es,
einander in die Augen zu sehen. Verhältnisse privater Natur wie auch
der Entwicklungsstand der Produktionsmittel(7)  lassen Gift, Dolch
oder die Garotte als probate Mordwerkzeuge erscheinen.

Erst als die Schaben entdeckt hatten, was sich mit einer fein
geriebenen Mischung von 75% Kalisalpeter (KNO3), 15% Kohlepulver (C)
und 10% Schwefel (S) anstellen lässt, wandelt sich die Mordmethode
drastisch: Das Erschießen wird zum probaten Mittel.
Bereits am Ende
des 18. Jahrhunderts, am 29. März 1792, ist der Tod von Gustav III. von
Schwebien dokumentiert, der von Jaschab Joschab Anckarström erschossen
wird – Resultat einer Kontroverse unter Blatellae germanicae.
Vermehrt
treten mit Schwarzpulver(8) verübte Attentate im 19. Jahrhundert
auf: Es trifft(9) mehr oder weniger erfolgreich(10) die bevorzugt
Teeblätter kauende Blattella Spencer Perceval (1812), die primär Oliven
vertilgende Blatta Ioannis Kapodistrias (1831), die Periplaneta
Abraschab Lincoln (1865), den deutschen Schabenkaiser Wilhelm I. (1878)
und die spanische Blatta Antonio Cánovas del Castillo(11) (1897) .
Das 20.Jahrhundert erlebt dann eine wahre Schießorgie, bei der vor allem drei(12) lokale Schwerpunkte zu beobachten sind:

  1. Russland. Opfer sind unter anderen Pjotr Arkadjewitsch Stolschabpin (1911), Grigori Raspuschabtin (1916), Moissej Markowitsch Wolodarski, eigentlich Schabenstein (1918), Moissej Schabomonowitsch Uritzki (1918) und Wladimir Iljitschschab Lenin (1918).
  2. Deutschland. Hier fallen Kugeln zum Opfer: Kakerlak Eisner (1919), Guschab Landauer (1919), Hugo Haase von der Unabhängigen Schabenpartei (1919), Walther Rathenau(13) (1922), Franz Birnecker, Betriebsratsmitglied der Firma Schaberit (1923), Theodor Lessing, ein kämpferischer linker Schabsteller (1933)(14), Wilhelm Germanloff (1936), Rudi Dutschkschab (1968), Siegfried Buschab (1977), Jürgen Kak. Ponto (1977), Wolfgang Schäublschab (1990) und Karstschab Rohwedder (1991).
  3. USA. Neben zahlreichen Präsidenten von Periplaneta sind hier auch andere Opfer vertreten: William SchcKinley (1901), Theodore Schoobevelt (1912), Anton Schermak (1933)(15), Schabby S. Truman (1950), Medgar Evers in Schabson, Mississippi (1953)(16), John Fitzschab Kennedy und dazu passend – oder auch nicht – Lee Harvey Schoswald (1963), Robert Franschab Kennedy (1968), George Wallace, Gouverneuer von Schablabama (1972), John Lennon, der sich zu Lebzeiten nicht scheute, sich öffentlich als „Beetle“ zu bekennen (1980), und Ronald Reagan (1981)(17).

Schüsse,
überwiegend aus Pistolen abgefeuert, sind insofern harmlos, als sie
anderen Schaben als den Zielobjekten keinen Schaden zufügen, es sei
denn, der Schütze verfehlt sein Ziel. Allerdings sind sie, eben wegen
dieses Unsicherheitsfaktors, weniger zielgenau als die archaischen
Mittel wie Vergiften, Erstechen, Erwürgen. Einen wesentlichen größeren
Streubereich als Pistolenschüsse haben jedoch Waffen, die ebenfalls
seit dem 19. Jahrhundert von schabischen Attentätern benutzt werden –
ich spreche von Bomben und Sprengstoff. Verwenden Attentäter diese
Waffen, kalkulieren sie entweder nolens volens oder auch sehr bewusst
ein, dass Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden – oder es gibt
in ihren Augen keine Unschuldigen.
Zur Untermauerung dieser These
beschränke ich mich auf nur wenige Beispiele. Die chinensische Schabe
Schang Tso-Lin, Gouverneuer der Mandschabei, wird bei einem
Bombenanschlag auf einen Zug von japanischen Kakerlaken getötet (1928),
die großgermanische Führerschabe Adolf Hitler überlebt zwar einen
Bombenanschlag durch Joschab Georg Elser, aber sieben zufällig
anwesende Kakerlaken werden getötet (1939), das Auto von Christopher
Eschab Biggs fliegt wegen einer von der Ischabisch Republikanischen
Armee gelegten Landmine in die Luft (1976), die selbe
Untergrundorganisation versenkt drei Jahre später das Segelschiff von
Louis Mountbatten vor der ischabischen Küste, und auch Afrika bleibt
von vergleichbaren Attacken nicht verschont: 1994 wird das Flugzeug von
Juvenal Habyarimana und Cyprien Ntaryamira bei Kigali von einer
Boden-Luft-Rakete abgeschossen. Auto, Schiff, Flugzeug – die Zielkäfer
waren da gewiss nicht allein an Bord.
In den achtziger Jahren des
20. Jahrhunderts entdecken schabische Attentäter zwar keine neue Waffe,
wohl aber eine neue Waffenkombination: Kakerlaken sind bereit, sich
selbst zusammen mit dem Sprengstoff, den sie für andere vorgesehen
haben, in die Luft zu sprengen, sind bereit, ihre sensiblen Fühler und
ihren wunderschönen Chitinpanzer zerreißen, in Flammen aufgehen, durch
die Luft wirbeln und in stinkenden, blutig-grünen Fetzen zur Erde
fallen zu lassen – wenn sie nur möglichst vielen anderen Schaben
dasselbe Schicksal bereiten. Solche Selbstmordattentate haben die
Insektenwelt am 11. September 2001 erschüttert, und täglich verbreitet
die Schabendschau neue schreckliche Meldungen.

Exkurs: Selbstverbrennungen
Legendär sind die Selbstverbrennungen von Thich Quang Duc in Schaigon
(1965) und von Jansch Palach in Kakprag (1969) – aber sie haben mit
Attentaten nichts zu tun und verdienen deshalb hier nur einen
Seitenblick. Denn Attentate zielen, wie wir gesehen haben, darauf,
anderen nach dem Leben zu trachten, wobei der Verlust des eigenen
Lebens ein billigend in Kauf genommener Preis sein mag, aber nicht
zwingend ist.  Bei Selbstverbrennungen liegt das Motiv klar auf
der Tatze: Es handelt sich um einen demonstrativen, anklagenden Akt,
der an das Bewusstsein anderer appelliert und diese durch den
rückhaltlosen Einsatz des Besten, das der Demonstrant hat, zu einer
Verhaltensänderung zu bewegen versucht. Mit den Motiven von Attentätern
ist es komplizierter bestellt.

3c.    Die Ziele
Ich kann mich zweifelsohne kurz fassen, lassen sich doch die Motive der
Attentäter mühelos aus den angeführten Beispielen herausfiltern. Es
geht – von wenigen, zu vernachlässigenden Ausnahmen abgesehen(18)
um Politik, also um die Wahrung von Interessen und die Sicherung bzw.
Gewinnung von Herrschaft, sei es in personalen Strukturen, bei der
Eroberung bzw. der Ausbeutung neuer Territorien, beim Kampf um als
falsch oder richtig betrachtete gesellschaftliche Visionen und
Strukturen, bei der Eliminierung von Rivalen, wobei es keine Rolle
spielt, ob diese Rivalität in der Realität oder lediglich als
Kopfgeburt existiert, und bei der Bekämpfung benachteiligter
Minderheiten, deren marginalisierter Status erhalten bleiben soll. Im
letzten Fall haben wir es gewissermaßen mit einem präventiven oder gar
präemptiven Gewaltverhalten zu tun, das bei der obigen vorläufigen
Definition von Attentaten noch nicht berücksichtigt werden konnte.

Diese Analyse erfasst jedoch die moderne Form der Attentate, die
Unschuldige ins Visier nimmt und häufig auch den Tod des Attentäters
voraussetzt, nicht hinreichend. Deshalb ist eine weitere
Differenzierung erforderlich.

4.    Schaben und Terrorismus

Der Terrorismus, ein Begriff, der vom französischen „terreur“, also
„Schrecken“, abgeleitet ist, ist durch andere Motive gekennzeichnet. Um
das zu erläutern, kann ich dem Leser einen kurzen Ausflug in die
schabische Geschichte nicht ersparen.
Bereits seit Beginn der
nachgewiesenen Existenz der Kakerlaken sind bei dieser Spezies
religiöse Praktiken unterschiedlichster Form belegt(19), die nebeneinander
koexistierten. In der neuesten Zeit treten vor allem zwei miteinander
konkurrierende Religionen hervor: Die eine, deren Anhänger sich
überwiegend aus Blattellae germanica rekrutiert, ist der Meinung, ihrem
Gott am besten dadurch dienen zu können, dass sie sich in den ihm
gewidmeten Gebäuden auf das hintere ihrer drei Beinpaare niederlässt,
während die Verfechter der anderen Richtung, überwiegend Blattae
orientalis, zu diesem Zweck auf dem Einknicken des vorderen Beinpaares
beharren. Aufgrund der explosionsartig gewachsenen Mobilität in der
Menschenwelt seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geraten
die Kakerlaken beider Glaubensströmungen zunehmend miteinander in
Kontakt, und beide versuchen, den jeweils anderen zu eliminieren.
Während die Vertreter der „Hinterbeinpaar-Religion“ diesen
Eliminierungsversuch mit erst auf den zweiten Blick erkennbaren
Mitteln, nämlich wirtschaftlichen und politischen(20), vorantreiben,
bedienen sich militante Verfechter der „Vorderbeinpaarreligion“ des
Terrorismus und sehen in sogenannten Selbstmord“attentaten“ keinen
Hinderungsgrund für ihr Tun, sondern eher einen Anreiz; glauben sie
doch, aufgrund ihres Handelns gegen die „Ungläubigen“ einen bevorzugten
Platz im Schabenparadies zu erlangen.

4a.    Terror und Terroropfer
Wir haben oben(21) bereits kurz auf den 11. September 2001 verwiesen,
und etliche Terroranschläge, die diesen spektakulären Flugkunststücken
von Blatta orientalis gefolgt sind, entsprechen dem selben Muster, sei
es in Madrid oder in London, um nur die prominentesten zu nennen. Über
diesem Muster wird jedoch allzu oft vergessen, dass sich Terrorismus
auch gegen Anhänger der eigenen Religion wendet, wobei der Vorwurf
erhoben wird, die Opfer knickten beim Gebet ihr vorderes Beinpaar nicht
weit genug oder zu weit ein.

4b.    Die Ziele
Das Endziel(22) des Terrorismus wurde oben bereits genannt(23), die
Strategie bedarf also keiner weiteren Erörterung. Wie aber sieht die
Taktik aus? Welche unmittelbaren Reaktionen auf ihr Handeln erhoffen
sich die Terroristen?
Einige meiner geschätzten
Kollegen Schabenforscher zitieren gerne aus dem sogenannten
„Terroristenhandbuch“(24): „Sie werden rennen wie die Hasen.“(25) Sie
sind damit allesamt einer falschen Übersetzung aufgesessen. Denn das
Wort „krrchdk“ bedeutet im Dialekt der vorderasiatischen Blatta nicht
„Hase“, sondern Lemming(26). „Sie werden rennen wie die Lemminge“ – das
also ist die Hoffnung. Sie werden sich, anders als der Hase, der klug
Haken schlägt, um dem Jäger zu entkommen, bewusstlos wie Lemminge in
großer Schar in eine Schlucht stürzen, in der sie umkommen müssen.

Schon bei flüchtiger Betrachtung der Reaktionen auf terroristische
Aktionen zeigt sich, dass diese Erwartung nicht verifiziert werden
konnte. Gleichgültig ob in New York, Madrid, London, in Ägypten, auf
Bali, in Tunesien oder anderswo – die Schaben bleiben, wo sie sind.
Selbst im Irak, einer Terrorismushochburg, ist keine nennenswerte
Fluchtbewegung zu beobachten.
Die Erklärung dafür
ist nicht unbedingt darin zu finden, dass Kakerlaken über größere
Intelligenz verfügen als Lemminge. Allerdings stehen entsprechende
Untersuchungen noch aus. Unbestritten ist dagegen, dass Schaben über
weniger Lebensraum verfügen als Lemminge, bezogen auf ein Individuum.
Schaben sind überall, und Schaben ernähren sich von Dreck(27), Dreck ist
nur begrenzt verfügbar und wird in anderen Regionen von anderen
Kakerlaken beansprucht – kurz, Schaben haben in der modernen
schabischen Massengesellschaft wenige Mobilitätsmöglichkeiten. Also
kann das taktische Kalkül der Terroristen nicht aufgehen.

5.    Perspektiven

Da selbst ich nicht in die Zukunft sehen kann(28), will ich nur einige Möglichkeiten knapp skizzieren.

  1. Die Terroristen erkennen die Vergeblichkeit ihres Tuns und geben auf, was vermutlich einen weltweiten Sieg der Hinterbeinpaar-Religion und ihrer Vorstellung von Politik und Wirtschaft zur Folge hätte.
  2. Die Terroristen machen weiter und verbreiten so viel Terror, dass die Anhänger der Hinterbeinpaar-Religion sich ihnen ergeben und Politik und Wirtschaft der Religion unterordnen, nachdem sie ihre Frauen ins Haus eingesperrt haben.
  3. Keine Seite gibt nach, und Chitinpanzer fliegen für unabsehbare Zeit zerfetzt durch die Luft.

6.    Nachwort

Als
Bär kann mir der gesamte Kakerlakenschmutz privat gleichgültig sein, er
erweckt lediglich mein wissenschaftliches Interesse. Wäre ich
allerdings ein Kerbtier, liefe mir ein permanentes Schaudern über die
Flügeldecken, laufen doch alle drei oben genannten Möglichkeiten immer
nur auf das eine hinaus:

Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.


Fußnoten:

Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:

  1. Der Vollständigkeit halber muss ich den Chef hier ergänzen: Das gilt auch für Bären. Die Sekretärin
  2. Man beachte die Vorläufigkeit.
  3. Eine vollständige Darstellung würde die Geduld der Leser, vor allem der menschlichen, mit Sicherheit überstrapazieren.
  4. v.u.Z.: vor unserer Zeitrechnung. Gemeint ist selbstverständlich nicht der bärische, sondern der an der christlichen Religion orientierte menschliche Kalender.
  5. eigentlich Jossip Wissarionoschab Dschugaschwili
  6. eigentlich Lew Davidoschab Bronstein
  7. Der Begriff „Destruktionsmittel“ ist hier eigentlich besser angebracht.
  8. Es gilt noch immer als ungeklärt, ob das sogenannte „Schwarzpulver“ eine Erfindung der Blatella germanica Berthold Schwarz ist oder bereits von den Blatellae sinisiensis entwickelt wurde, deren frühes Vorkommen bisher allerdings noch nicht befriedigend bewiesen werden konnte.
  9. im wahrsten Sinn des Wortes
  10. erfolgreich aus der Sicht der Attentäter, versteht sich
  11. Diese Aufzählung erhebt, wie auch die folgende, keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
  12. Da mir nur unvollständiges historisches Material zugänglich ist, vermute ich, dass es wesentlich mehr Schwerpunkte gibt. Aber auch diese rudimentären Quellen sind äußerst aufschlussreich.
  13. In einem bekannten zeitgenössischen Spottvers wird gefordert, den Walther Rathenau, die „gottverdammte Schabensau“ zu erschlagen – der Attentäter hat also einen Weg gewählt, der ihm größere Distanz ermöglichte.
  14. Vielleicht vermisst der eine oder andere historisch gebildete schabische Leser mit braunen Deckflügeln hier das Datum 1930 und den Namen Kakerlak Wessel. Nun ja – wer meint, dass jemand, der aus Eifersucht vom Zuhälter seiner Verlobten angeschossen wird und einigen Wochen später seinen Verletzungen erliegt, ein Attentatsopfer ist, nur weil der Angeschossene SA-Führer und der Täter Mitglied des Rotfrontkämpfer-Bundes war, der möge den entsprechenden Vermerk hier einfügen und nicht vergessen, die Notiz hinzuzufügen, dass keine geringere als die wortbegabte hinkende deutsche Schabe Joschab Goebbels Kakerlak Wessel zum „nationalen Märtyrer“ erklärte.
  15. Die Kugel, die ihn traf, galt eigentlich Franklin D. Schoobevelt.
  16. Das war schon wieder einmal eine weiße gegen eine dunkel geflügelte Schabe. Vielleicht braucht der von so viel Gewalt gestresste Leser eine kleine Erholungspause? Dann möge er Bob Dylan hören: „Only a Pawn in their Game“; oder Nina Simone: „Mississippi Goddamn“. Beides passt exakt zum Thema.
  17. Es wäre für Reagan vielleicht besser gewesen, dieses Attentat nicht zu überleben – er hätte in diesem Fall nicht an der Schabheimerschen Krankheit zu sterben brauchen.
  18. So wurde zum Beispiel am 14. Mai 1610 Henri IV., genannt Le Cafard, aus religiösen Gründen ermordet.
  19. Seit kurzen wird wissenschaftlich diskutiert, ob dergleichen Verhalten möglicherweise auf eine genetische Grundlage zurückzuführen ist.
  20. Eine genauere Erläuterung dieser Strategie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und bleibt einer künftigen Abhandlung vorbehalten.
  21. vgl. 3b
  22. Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass mir in diesem Fall wirklich nur ein faschistischer Begriff einfällt.
  23. vgl. 4.
  24. Das Buch wird der saudischen Blatta Bin Schabin zugeschrieben.
  25. vgl. S. 10024 (in Worten: zehntausendvierundzwanzig)
  26. vgl. dazu die umfassende Untersuchung von A. Blatter, Die Bezeichnung anderer Spezies durch Blatta und Blatella, Schmutzburg 2004, S. 45
  27. Ich habe den Chef zu überreden versucht, das wissenschaftlicher zu formulieren, aber er wollte einfach nicht. Die Sekretärin.
  28. Der Chef ist heute ungewöhnlich bescheiden. Die Sekretärin.

Beschluss

La Sals

 

Noch kämpfte der Frühling in den LaSals mit dem Winter, aber sein Sieg zeichnete sich bereits deutlich ab. Der Sturm wehte noch ab und zu Schneefahnen von den höchsten Bergen wie schon seit Monaten, aber weiter unten an den Hängen, wo die Bären ihre Höhle hatten, taute es schon gewaltig. Im Windschatten konnte es sogar gemütlich warm sein, und wenn man dort eine kleine Erhebung fand, konnte man sich sogar niederlassen, ohne einen nassen Hintern zu bekommen.
Genau das hatten Bärdel und Tumu getan.

Bärdel

Sie saßen in einer kleinen, von Büschen umgebenen Lichtung, die vor spätem Frost und Wind recht gut geschützt war. Lange Zeit sagten sie gar nichts und genossen die Sonne, die ihren Pelz wärmte, meist mit geschlossenen Augen. Nur ab und zu blinzelten sie und beobachteten die Knospen der winzigen Frühlingsblumen, die sich tapfer in die Höhe zu recken begannen. Endlich brach Tumu das Schweigen.
“Sag mal, mein lieber Mann – “
Bärdel brummte unwillig. Es stimmte doch, dass Frauen immer reden mussten. Dabei war er gerade sicher gewesen, dass sich ein ganz früher Kolibri in ihre Nähe verirrt hatte. Er hatte das tiefe Brummen einer riesigen fliegenden Hummel ganz deutlich gehört. Jetzt hatte Tumu ihn verscheucht. Aber er war ein höflicher Bär und besann sich schnell auf seine Manieren.
“Ja? Was soll ich sagen? Dass ich dich liebe? Aber das weißt du doch!“
Tumu knuffte ihn, halb scherzhaft und halb ungehalten, in die Seite.
“Das kannst du mir nicht oft genug sagen. Aber jetzt geht es mir um etwas anderes. Bleiben wir nun hier, oder gehen wir zurück?“
Bärdel brummte jetzt nicht mehr, er seufzte. Die Frage war ihm unangenehm, weil er noch immer keine Antwort darauf gefunden hatte. War es wirklich von Bedeutung, ob sie mit Tussis Hilfe nach Dehland zurückkehrten oder ob sie in den Bergen Utahs blieben? Hier wie dort lebten sie als versteckte Gruppe, aber einen Unterschied gab es doch: In Dehland hatten sie sich immer wieder in die Politik eingemischt, während sie hier passiv geblieben waren und sich nur vor den Menschen verborgen hatten. Das erste war ihm lieber gewesen. Aber hatte nicht gerade ihre Einmischung letztlich dazu geführt, dass sie fliehen mussten?
“Ich weiß…“ begann er sehr zögernd.
Tumu räusperte sich und brachte ihn so dazu, sie anzuschauen. Ohne den Kopf zu bewegen, gab sie ihm mit den Augen einen Wink. Er folgte der angedeuteten Blickrichtung und erspähte zwischen den zwar immergrünen, aber jetzt nur spärlich belaubten Eichenbüschen eine bekannte Schnauze. Das war ja wohl die Höhe! Kulle belauschte sie! Bärdel war wirklich nicht rachsüchtig, aber er fand, dass sein bester Freund jetzt eine gehörige Lektion verdient hatte.

Kulle

Alte Ehepaare, und Tumu und Bärdel waren ein altes Ehepaar, entwickeln oft eine überraschende geistige Symbiose. Bärdel brauchte nur zu lächeln, und Tumu verstand sofort, dass er etwas vorhatte. Sie wusste allerdings noch nicht, was.
Als wäre nichts geschehen, fing Bärdel seinen Satz von neuem an.
“Ich weiß nicht. Es ist doch letztlich egal, was wir machen. Die Welt funktioniert heutzutage nach dem Gesetz der Globalisierung. Die großen Konzerne bestimmen, wo es lang geht, und dagegen ist die Politik machtlos. Demokratie und Selbstbestimmung – alles Ideen von gestern. Die Wirtschaft ist unser Schicksal, und dagegen können weder Menschen noch Bären etwas tun.“
Es raschelte in den Büschen. Bärdel schmunzelte. Der erste Schuss hatte getroffen. Auch Tumu hatte das Geräusch gehört, aber noch war ihr nicht nach Lachen zumute. Sie wusste nicht, welche Rolle ihr Bärdel in diesem Disput zugewiesen hatte.
“Und?“ fragte sie deshalb.
“Man muss die Welt nehmen, wie sie ist. Das ist eben Schicksal. Gegen das Schicksal kann man nichts machen, außer sich heroisch anzupassen. Heroisch, verstehst du? Aber Heroismus kennt ihr Frauen ja nicht!“
Jetzt hatte Tumu begriffen.
“Mit dem Schicksal hast du sicher Recht. Aber was soll die Sache mit der Anpassung? Warum passen sich die Menschen denn heutzutage an? Sie arbeiten sich tot und haben doch keine Perspektive. Sie steigern den Umsatz, aber sie selbst sind voller Angst. Überhaupt – der ganze Fortschritt ist Unsinn!“
“Wieso?“ fragte Bärdel mit gespielter Unschuld.
“ Weil der Fortschritt nur Schaden anrichtet, deshalb! Was haben die Menschen denn zum Beispiel von der sogenannten Mobilität? Sie wohnen entfernt von ihrem Arbeitsplatz, wenn sie noch einen haben, und auf dem Weg dahin stehen sie im Stau!“
Bärdel lächelte milde.
“Eben hast du noch zugegeben, dass die Welt sich schicksalhaft entwickelt. Zum Schicksal gibt es keine Alternative. Wieso kannst du eine alternativlose Entwicklung kritisieren?“
Tumu fand es nicht fair, dass Bärdel sie in einem Schaukampf in die Enge trieb, aber sicher wollte er, dass ihr Scheingefecht möglichst echt aussah. Das sah sie auch ein – Kulle war alles andere als dumm. Sie wehrte sich tapfer.
“Ich versuche eben zu retten, was zu retten ist. Literatur und Kunst zum Beispiel. Traditionelle Literatur, nicht etwa diese Machwerke von der Streeruwitz. Und traditionelle Kunst, bei der im Theater Hamlet noch Prinz von Dänemark ist und nicht irgendein verzweifelter Jungmanager. Bei Jungmanagern geht es doch nur um Geld, bei Hamlet geht es um Höheres.“
Bärdel ahnte, dass er Tumu jetzt in heillose Verstrickungen treiben würde, wenn er nachfragte. Nach welchem “Höheren“ strebte Hamlet denn? Nach der Liebe? Der Familienehre? Der Macht? Der gekränkten Eitelkeit? Er ließ das Thema lieber fallen.
“Das ist doch Schnee von vorgestern. Wen interessiert das heute noch? Du musst auch das Positive sehen. Was war denn gestern und nicht vorgestern? Nicht dein Hamlet, sondern Hedonismus. Spaßgesellschaft nannte sich das und war doch nichts anderes als Oberflächlichkeit. Garantiert wurde alles durch den Sozialstaat. Übrigens, ich finde diesen sogenannten “Rheinischen Kapitalismus“ widerlich. Aller berechtigte Streit wurde “einvernehmlich“ beigelegt. Welcher Schwindel! Unvereinbare Widersprüche sind nicht “einvernehmlich“ lösbar. Und erst die soziale Hängematte! Die Sozialschmarotzer haben sich darin gesuhlt, anstatt die natürliche Härte des Daseins zu spüren zu bekommen. Du musst vernünftig denken, Tumu!“
In den Büschen ertönte ein lauter Seufzer, aber sowohl Bärdel als auch Tumu gaben vor, ihn zu ignorieren.
“Willst du etwa an die Vernunft appellieren? Die Vernunft des Kapitalismus? Die männliche Vernunft? Aufklärung und Vernunft – das sind doch nur Chimären. Technische “Vernunft“ hat 1912 erklärt, dass die Titanic unsinkbar sei. Eure sogenannte Vernunft hat das Schiff mit dem Eisberg kollidieren lassen. Vernunft ist der falsche Weg. Gefühl, Bärdel, ist alles, und alles andere ist Schall und Rauch!“
Tumu hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, aber es gelang ihr. Bärdel verzog leicht die Mundwinkel – seine Frau war wirklich überzeugend, gerade als Frau, wie es dem Klischee entsprach, fand er. In den Büschen war deutlich ein verhaltenes Zähneknirschen zu hören.
Bärdel nahm sich zusammen. Jetzt war er wieder dran.
“Wie melancholisch, wie anachronistisch! Weibliches Sentiment! Das Leben, meine Liebe, ist Kampf, und jetzt gerade erlebt die Menschheit das wahre, wirkliche Leben, tragisch wie in der Antike. Du lebst doch jetzt schon lange genug in den USA, um zu wissen, wie das aussieht. Wie das aussehen muss! Keine Kranken-, keine Sozialversicherung, Dumpinglöhne – so ist es richtig. Menschliches Leben ist Kampf ums Dasein! Und da es Schicksal ist, kann niemand etwas daran ändern!“
“Natürlich muss das sein, aber es muss nicht so sein. In der globalisierten Zukunft droht allen nur Zwang und Unfreiheit, daran können wir nichts andern. Aber…“
In den Büschen raschelte es, rauschte es, Zweige knackten, und Kulle brach ungestüm hervor. Er erklärte weder sein Erscheinen, noch entschuldigte er es. Er schien sich zur rechten Zeit am rechten Platz zu fühlen.

Kulle

“Unsinn, die Globalisierung ist kein Schicksal. Sie ist von Menschen gemacht.“ knurrte er. Und feierlich fuhr er fort:
“ In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse…“
Bärdel und Tumu fielen ein:
“…die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt…“
Kulle hatte den Chor mit einem Finger dirigiert und signalisierte jetzt den Abbruch.
“Im Text wird jetzt weiter erklärt, wann und warum die Revolution fällig ist, aber wem sage ich das. Ich gebe zu: Ihr habt mich ertappt. Eigentlich wollte ich euch nicht belauschen, aber ich war doch versucht herauszufinden, welche Tendenz ihr in Sachen Rückkehr oder Bleiben verfolgt. Darüber habe ich leider nichts erfahren. Euer Gespräch hat mich übrigens heftig auf die Bärenpalme gebracht. Das kann doch nicht euer Ernst sein…“
“Nein?“ fragte Tumu.
“Wirklich nicht?“ wollte Bärdel wissen.
“Nein, denn ich weiß doch, dass ihr Bären seid, die…“
“..dass wir Bären sind, die wenigstens wichtige Teile des Vorworts zur politischen Ökonomie von Karl Marx auswendig können, und das nicht, weil wir gerne auswendig lernen, sondern weil wir diese Aussagen für wichtig und richtig halten – richtig?“
“Ja.“
“Also – war das unser Ernst?“
“Nein. “ (Die skizzierten Positionen sind wirklich nicht die von Bärdel und Tumu, wohl aber die mancher europäischer Philosophen (und solcher, die es gern sein möchten))
Also – gehen wir zurück?“
Kulle dachte eine Moment lang nach. Dann sagte er:
“Selbstverständlich. Wir gehen dahin, wo wir uns einmischen können. Als selbstbewusste Bären können wir gar nicht anders. Ich gehe schon mal meine rote Fahne suchen.“
Kulle stapfte davon. Im Gehen murmelte er vor sich hin:
“Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“
Tumu und Bärdel lächelten einander an.
“Das war jetzt aber kein Scherz mehr, oder?“ fragte Tumu sicherheitshalber.
“Nein, meine Position ist klar. Ich gehe und berufe die Bärenversammlung ein. Ich denke, alle werden sich für die Rückreise aussprechen.“
Tumu blieb allein auf der Lichtung zurück und schaute wehmütig in die Ferne. Es war Zeit, Abschied zu nehmen.

LaSals

Manifest der Kommunisten und der Globalisierer

Kulle

Ich empfehle, diese zwei Manifeste im direkten Zeilenvergleich zu lesen -dies ist leichter mit der folgenden PDF-Datei, die browser- und betriebssystemunabhängig ist:

https://baerdel.de/baerdel/manif.pdf

Es folgen die Texte für die Suche:
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.
Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hätte?
Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor.
Der Kommunismus wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt.
Es ist hohe Zeit, daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen.
Zu diesem Zweck haben sich Kommunisten der verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest entworfen, das in englischer, französischer, deutscher, italienischer, flämischer und dänischer Sprache veröffentlicht wird.

Bourgeois und Proletarier
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.
Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.
Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Bourgeoisie.
Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.
Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst.
Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois.
Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.
Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist.
Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der Kommune, hier unabhängige städtische Republik, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft. Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.
Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
|466| Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.
An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.
Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.
Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.
Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.
Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.
Wir haben also gesehen: Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebensoviele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.
An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Herrschaft der Bourgeoisklasse.
Unter unsern Augen geht eine ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.
Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst.
Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.
In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d.h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird. Die Kosten, die der Arbeiter verursacht, beschränken sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedarf. Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit, ist aber gleich ihren Produktionskosten. In demselben Maße, in dem die Widerwärtigkeit der Arbeit wächst, nimmt daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Maße, wie Maschinerie und Teilung der Arbeit zunehmen, in demselben Maße nimmt auch die Masse der Arbeit zu, sei es durch Vermehrung der Arbeitsstunden, sei es durch Vermehrung der in einer gegebenen Zeit geforderten Arbeit, beschleunigten Lauf der Maschinen usw.
Die moderne Industrie hat die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt. Sie sind nicht nur Knechte der Bourgeoisie, des Bourgeoisstaates, sie sind täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, von dem Aufseher und vor allem von den einzelnen fabrizierenden Bourgeois selbst. Diese Despotie ist um so kleinlicher, gehässiger, erbitterter, je offener sie den Erwerb als ihren Zweck proklamiert.
Je weniger die Handarbeit Geschicklichkeit und Kraftäußerung erheischt, d.h. je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Männer durch die der Weiber verdrängt. Geschlechts- und Altersunterschiede haben keine gesellschaftliche Geltung mehr für die Arbeiterklasse. Es gibt nur noch Arbeitsinstrumente, die je nach Alter und Geschlecht verschiedene Kosten machen.
Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.
Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung.
Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz.
Im Anfang kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges an einem Ort gegen den einzelnen Bourgeois, der sie direkt ausbeutet. Sie richten ihre Angriffe nicht nur gegen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, sie richten sie gegen die Produktionsinstrumente selbst; sie vernichten die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand, die suchen die untergegangene Stellung des mittelalterlichen Arbeiters wiederzuerringen.
Auf dieser Stufe bilden die Arbeiter eine über das Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte Masse. Massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter ist noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie, die zur Erreichung ihrer eigenen politischen Zwecke das ganze Proletariat in Bewegung setzen muß und es einstweilen noch kann.
Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also noch nicht ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger. Die ganze geschichtliche Bewegung ist so in den Händen der Bourgeoisie konzentriert; jeder Sieg, der so errungen wird, ist ein Sieg der Bourgeoisie.
Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie immer mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois unter sich und die daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. Stellenweis bricht der Kampf in Emeuten aus.
Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf. Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande.
Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interesse der Arbeiter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt. So die Zehnstundenbill in England.
Die Kollisionen der alten Gesellschaft überhaupt fördern mannigfach den Entwicklungsgang des Proletariats. Die Bourgeoisie befindet sich in fortwährendem Kampfe: anfangs gegen die Aristokratie; später gegen die Teile der Bourgeoisie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten; stets gegen die Bourgeoisie aller auswärtigen Länder. In allen diesen Kämpfen sieht sie sich genötigt, an das Proletariat zu appellieren, seine Hülfe in Anspruch zu nehmen und es so in die politische Bewegung hineinzureißen. Sie selbst führt also dem Proletariat ihre eigenen Bildungselemente, d.h. Waffen gegen sich selbst, zu.
Es werden ferner, wie wir sahen, durch den Fortschritt der Industrie ganze Bestandteile der herrschenden Klasse ins Proletariat hinabgeworfen oder wenigstens in ihren Lebensbedingungen bedroht. Auch sie führen dem Proletariat eine Masse Bildungselemente zu.
In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil dieser Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.
Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.
Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen. –
Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.
Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. Der Proletarier ist eigentumslos; sein Verhältnis zu Weib und Kindern hat nichts mehr gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis; die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, dieselbe in England wie in Frankreich, in Amerika wie in Deutschland, hat ihm allen nationalen Charakter abgestreift. Die Gesetze, die Moral, die Religion sind für ihn ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.
Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen. Die Proletarier haben nichts von dem Ihrigen zu sichern, sie haben alle bisherigen Privatsicherheiten und Privatversicherungen zu zerstören.
Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.
Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.
Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet.
Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehen haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. Der Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herangearbeitet wie der Kleinbürger zum Bourgeois unter dem Joch des feudalistischen Absolutismus. Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.
Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft.
Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.

P.D. Kulle
155 Jahre sind genug – auch große Gedanken überholen sich. Es ist also an der Zeit, dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ eine aktuelle Fassung gegenüberzustellen, und zwar in der Hoffnung, dass diese baldmöglichst auf dem Müllhaufen der Geschichte landet.
Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst der Globalisierung. Alle Mächte der alten Welt haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und Lula, Bin Laden und Kim Il Sung, Attac und deutsche Gewerkschafter.
Wo ist die Regierungspartei, die nicht von ihren oppositionellen Gegnern als globalistisch verschrien worden wäre, wo die Regierungspartei, die den stehen gebliebenen Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf der Globalisierungsfeindlichkeit nicht zurückgeschleudert hätte?
Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor.
Die Globalisierung wird bereits von allen Weltmächten als eine Macht anerkannt.
Es ist hohe Zeit, dass die Globalisierer ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Märchen vom Gespenst der Globalisierung ein Manifest der Globalisierungspartei selbst entgegenstellen.
Zu diesem Zweck haben sich Globalisierer der verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest entworfen, das in englischer, französischer, spanischer, chinesischer und japanischer Sprache veröffentlicht wird.
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne globalisierte Gesellschaft hat die Klassengegensätze bisher noch nicht völlig aufgehoben. Sie hat aber neue Klassen an die Stelle der alten gesetzt.
Unsere Epoche, die Epoche der Globalisierung, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltete sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Globalisierer und Globalisierungsfeinde, deren eine große Fraktion zunächst die Proletarier darstellten.
Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Globalisierer.
Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen den aufkommenden Globalisierern ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schifffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.
Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst.
Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Globalisierer.
Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schifffahrt, der Kommunikation eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen, Auto- und Flugverkehr und Kommunikation sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Globalisierung, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.
Wir sehen also, wie die Globalisierung selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist.
Jede dieser Entwicklungsstufen der Globalisierung war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt: Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der Kommune, hier unabhängige städtische Republik, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft. Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Globalisiererklasse verwaltet.
Die Globalisierer haben in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.
Sie haben, wo sie zur Herrschaft gekommen, alle feudalen, patriarchalischen, ungerechten Verhältnisse zerstört. Sie haben die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen willkürlichen Vorgesetzten knüpften, barmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das Interesse, als die gerechte „bare Zahlung“. Sie haben die unheiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem klaren Wasser individueller Verwirklichung ertränkt. Sie haben an die Stelle der so genannten persönlichen Würde den jedem gegenüber gerechten Tauschwert und die Handelsfreiheit gesetzt. Sie haben, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die Chance zur Entfaltung einer jeden Persönlichkeit gesetzt.
Die Globalisierung hat alle bisher als ehrwürdig geltenden und mit Aberglauben betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre Dienste gestellt.
Die Globalisierung hat dem Familienverhältnis seinen falschen sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein Solidarverhältnis der Generationen zurückgeführt.
Die Globalisierung hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die ihre Gegner so sehr am Mittelalter bewundert, durch geschickte Verhandlungen, zum Beispiel im Rahmen der WTO, ersetzt werden kann. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Die Globalisierung kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Innovation und Bewegung zeichnet die Globalisierungsepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von überkommenen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neu gebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles so genannte Heilige wird entweiht, und die Menschen haben endlich die Chance, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.
Der Wunsch nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen, jagt die Globalisierer über die ganze Erdkugel. Überall müssen sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
Die Globalisierung hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre der Industrie den nationalen Boden unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.
Die Globalisierung reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Globalisierer sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Globalisierer zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.
Die Globalisierung hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Globalisierungsvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.
Die Globalisierung hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert.
Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Nationen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in einen Staatenverbund, eine Freihandelszone, ein supranationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.
Die Globalisierung hat in ihrer kaum zweihundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Atomkraft, Informationstechnologie, Nanotechnik, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.
Wir haben also gesehen: Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Globalisierung heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mussten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.
An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Herrschaft der Globalisierungsklasse.
Unter unsern Augen geht eine völlig andere Bewegung vor. Die globalisierten Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die globalisierten Eigentumsverhältnisse, die moderne globalisierte Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die Gewalten zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nicht mehr die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Globalisierer und ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer wieder die Stärke der ganzen globalisierten Gesellschaft unter Beweis stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen wird eine gesellschaftliche Reinigung vollzogen, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Befreiung von der Überproduktion. Die ökonomisch ungebildete Masse der Gesellschaft glaubt sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt.
Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen eben durch ihre Vernichtung zur Beförderung der globalisierten Eigentumsverhältnisse; sie waren zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden. Die globalisierten Verhältnisse waren zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Globalisierung die Krisen? Einerseits durch die bewusste Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausnutzung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie die Bedürfnisse möglichst vieler Konsumenten zu befriedigen sucht und so die nächste Krise möglichst weit in die Zukunft verlagert.
Die Waffen, womit die Globalisierer den Feudalismus zu Boden geschlagen haben, richten sich auf diese Weise nicht gegen die Globalisierer selbst.
Aber die Globalisierer haben nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr das Leben sichern; sie haben auch die Männer gezeugt, die aufgrund ihrer Herrschaft den Tod finden werden – die einstmals modernen Arbeiter, die Proletarier.
In demselben Maße, worin sich die Globalisierung, d.h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelte sich zunächst das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen mussten, waren eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Die Arbeit der Proletarier verlor durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für den Arbeiter. Er wurde ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wurde. Die Kosten, die der Arbeiter verursachte, beschränkten sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedurfte. Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit, ist aber gleich ihren Produktionskosten. In demselben Maße, in dem die Widerwärtigkeit der Arbeit wuchs, nahm daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Maße, wie Maschinerie und Teilung der Arbeit zunehmen, in demselben Maße nimmt auch die Masse der gesellschaftlich notwendigen lebendigen Arbeit ab.
Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, gibt es nicht mehr. Je weniger die Handarbeit erheischt wird, d.h. je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Proletarier durch die der Maschinen und Computer verdrängt. Es gibt nur noch Arbeitsinstrumente, die verschiedene Kosten machen, wobei die Kosten der Maschinerie zunehmend geringer werden als die der Proletarier. Ist die historische Notwendigkeit proletarischer Lohnarbeit beendigt, so fallen die ehemaligen Proletarier der staatlichen Fürsorge anheim. Die anderen Teile der Gesellschaft, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw., die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen behalten ihre Stellung, teils dadurch, dass ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und für die Konkurrenz mit den größeren Globalisierern uninteressant ist, teils dadurch, dass ihre Geschicklichkeit in gewissen Nischen immer noch eine Nachfrage findet.
Das Proletariat macht also verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf gegen die Globalisierer beginnt mit seiner Existenz.
Im Anfang kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges an einem Ort gegen den einzelnen Globalisierer. Sie richten ihre Angriffe nicht nur gegen die globalisierten Produktionsverhältnisse, sie richten sie gegen die Produktionsinstrumente selbst; sie vernichten die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken die Fabriken in Brand, die suchen die untergegangene Stellung des mittelalterlichen Arbeiters wieder zu erringen.
Auf dieser Stufe bilden die Arbeiter eine über das Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte destruktive Masse. Massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter ist noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Globalisierer, die zur Erreichung ihrer eigenen politischen Zwecke zunächst das ganze Proletariat in Bewegung setzen muss. Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier noch die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger. Die ganze geschichtliche Bewegung ist so in den Händen der Globalisierer konzentriert; jeder Sieg, der so errungen wird, ist ein Sieg der Globalisierung.
Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich zunächst nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft scheint zu wachsen, und es glaubt sie immer mehr zu fühlen. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Globalisierer zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren.
Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Denn die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Zersplitterung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt und gesteuert werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten gegeneinander ausspielen. Es bedarf also bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu isolierten Aktionen zu erklären. Die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Globalisierer mit privaten Rundfunk- und Fernsehsendern umgekehrt identisch in wenigen Jahren zustande.
Die Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wurde also wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst, und sie hat keine Chance, neu zu erstehen.
In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der Proletarierklasse einen so heftigen, so grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Globalisierungsklasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Umgekehrt wie früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil des intelligenteren Proletariats zu den Globalisierern über, und namentlich ein Teil dieser Proletarierideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.
Von allen Klassen, welche heutzutage dem Proletariat gegenüberstehen, sind nur die Globalisierer eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, die Globalisierung ist ihr eigenstes Produkt.
Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen, wenn sie kämpfen, die Globalisierung, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch systematische Medienverdummung ruhiggestellt.
Alle Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, so auch die Globalisierer, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier wollten sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen. Dieses Konzept ist gescheitert.
Es bleibt, wie es immer war: Alle Bewegungen sind Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung wäre nichts anderes gewesen. Aber das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, konnte sich nicht erheben, nicht aufrichten.
Obgleich nicht dem Inhalt, war der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Globalisierer zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes wollte natürlich zuerst mit seinen eigenen Globalisierern fertig werden. Schon diese isolierten Kämpfe waren zum Scheitern verurteilt.
Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er angesichts der zunehmenden Obsoletheit des Proletariats die endgültige Herrschaft der Globalisierer begründet.
Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehen haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. Sie muss benötigt werden. Der moderne Arbeiter, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, dass das Proletariat unfähig ist, jemals die herrschende Klasse der Gesellschaft zu werden und die Lebensbedingungen seiner Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Es ist unfähig zu herrschen, weil es unfähig ist, sich selbst zu erhalten, von anderen ganz zu schweigen.
Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Globalisiererklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung der Globalisierung ist die Nutzung der Arbeit anderer. Der Fortschritt der Industrie, dessen planende und lenkende Träger die Globalisierer sind, setzt an die Stelle des ohnmächtigen Revolutionsversuchs der Arbeiter den immer währenden Konsum. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen des Proletariats die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf es produziert. Sie produziert seinen Totengräber. Ihr Sieg und der Untergang des Proletariats sind gleich unvermeidlich.

Tierische Beziehungen

Kolibri

In ihrer neuen Heimat waren die Bären mindestens genauso neugierig wie in Dehland, und am neugierigsten sind Bären auf neue Zeitgenossen. Deshalb war Bärdel freudig erregt, als er auf einem seiner Streifzüge jemandem begegnete, den er noch nicht kannte. Vorher war er eine Bergwiese hinuntergetrabt, hatte ein wenig herumgetrödelt, den Kolibris beim Nektarsaugen zugesehen und ein paar Serviceberries genascht. Nach seinen ersten Beobachtungen handelte es sich bei dem Fremdling vermutlich um ein Säugetier. Es war deutlich kleiner als ein Bär und bewegte sich auf vier Extremitäten voran. Sein Fell war dunkelgrau bis weiß, und auffällig war der breite, lange und buschige Schwanz. Als Bärdel sich dem Fremden näherte, hob der den Schwanz lotrecht in die Höhe und wandte ihm das Hinterteil zu, wobei er über die Schulter schaute und jede Bewegung Bärdels aufmerksam verfolgte.

Skunk

Das war ein Begrüßungsritual, dem Bärdel bisher noch nie begegnet war. Recht elegant sah es aus, fand er, und deshalb versuchte er seinerseits, seine Annäherung so ästhetisch wie möglich zu gestalten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, verbeugte sich, setzte, wie es Vorschrift war, immer abwechselnd den rechten und den linken Fuß drei beziehungsweise viermal nach hinten und drehte sich anschließend einmal um sich selbst. Diese komplizierte Bewegung war seit undenklichen Zeiten das Bärenzeichen für: „Ich komme als Freund!“ Selbstverständlich wußte Bärdel, daß eben jenes friedenbringende harmonische Schwingen seine Vorfahren in Europa jahrhundertelang zu Tanzbären degradiert hatte, weil die Menschen zu dumm waren, um speziell die Begrüßungsgeste der Bären und allgemein Bären überhaupt zu verstehen. Aber das bereitete ihm jetzt keine Probleme. Hier, in Amerika, dachte er, würde er schon richtig verstanden werden.

„Guten Tag!“ sagte er. „Ich bin Bärdel. Nett, dich zu treffen!“

„SSSSSSS“, sagte der Fremde.

Bärdel dachte nach. Er hatte sich nach Kräften bemüht, so schnell wie möglich die Sprache des fremden Landes zu lernen, und inzwischen hatte er normalerweise auch keine Probleme mehr mit der Verständigung. Jetzt aber verstand er gar nichts. Ramses hatte ihm erzählt, daß in den USA viele Dia-, Sozio- und sonstige -Lekte gesprochen werden, die zum Teil wie fremde Sprachen erscheinen. Bärdel nahm an, daß er es mit einer solchen Subsprache zu tun zu hatte.

„SSS – den Namen habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch neu hier.“ Er überlegte, ob er nochmals sagen sollte, daß er Bärdel war, aber er beschloß, darauf zu verzichten. Die einmalige Erwähnung sollte eigentlich für intelligente Wesen ausreichen.

„ISSSOFFF!“

Jetzt,als Bärdel genauer hinhörte, unterschied er zwei Vokale und zwei Konsonanten, aber er brauchte geraume Zeit, um einen Sinn in die Aussage zu bringen. Endlich aber wurde ihm klar: Der graue Fremde wolte, daß er verschwand.

Bärdel setzte sich auf seinen dicken Hintern und dachte weiter nach. Der Fremde stand unverändert, den Schwanz hoch erhoben. Beide sahen einander erwartungsvoll an.

„Warum möchtest du, daß ich weggehe? Bevor du überhaupt weißt, wer ich bin?“ fragte Bärdel schließlich. „Ganz abgesehen davon, daß ich auch nicht weiß, wer du bist.“

„Ssssicherheit!“ zischte der Fremde.

Jetzt hatte Bärdel sofort verstanden. „Damit hast du zweifellos recht“, antwortete er und machte nach diesem kurzen Satz eine effektvolle Pause. „Aber auch wieder nicht!“ fügte er danach hinzu, als sei diese widersprüchliche Aussage das Selbstverständlichste der Welt.

„Ssssoldasssheissssen?“

Athabasca

„Wenn du alle wegschickst, die zu dir kommen, kann dir niemand gefährlich werden. Aber wenn du niemandem gestattest, dir nahe zu kommen, dann kann dir auch keiner helfen, wenn du Hilfe brauchst. Dann bist du nicht sicher.“

„Ssssstimmt.“

Da der Graue einsilbig blieb, kam Bärdel auf die Idee, ihm eine Geschichte zu erzählen. Das gehört, wie wir wissen, ohnehin zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

„Kennst du Athabasca? Nein? Athabasca ist eine Bärin, die schon lange hier in den LaSals lebt, während ich erst vor kurzem angekommen bin. Aber das kann ich ein andermal erzählen. Von Athabasca kenne ich eine Story der Ute-Indianer. Sie heißt Kröte und Frosch‘ und ist mir auch deshalb besonders sympathisch, weil eine Fröschin darin vorkommt. Aber auch das sollte ich besser später mal erklären. Willst du die Geschichte hören?“

Der Fremde ließ weder eine zustimmende noch eine ablehnende Reaktion erkennen, und so fing Bärdel einfach an.

„Die Kröte hatte Kinder. Die Fröschin kam, um sie zu besuchen. Sie sagte: ‘Ihr werdet ertrinken. Das Wasser wird steigen und euch ersäufen.‘ Kröte dachte darüber nach und sagte dann: ‘Wir ziehen besser um.‘ Sie wanderten hoch auf den Hügel. Es begann zu regnen, es regnete und regnete. Das Wasser stieg hoch. Oben auf dem Hügel gab es einen Teich. Fröschin saß an seinem Ufer. Die kleinen Kröten sagten zu ihr: ‘Wenn das Wasser zurückgeht, wirst du austrocknen und deine Beine in die Luft strecken.‘

Baerdel

Die Kröte ging fort. Als sie nach einiger Zeit zurückkam, lag die Fröschin leblos da, genau so, wie die Kinder es vorausgesagt hatten. Kröte ging zu ihr und spuckte ihr auf die Brust, was ihr Erfischung brachte. Sie öffnete die Augen und sagte: ‘Ich habe geschlafen.‘ So wurde sie ins Leben zurückgebracht.“

Bärdel war fertig und schaute den Unbekannten erwartungsvoll an.

„Gesssschichten erzzzzählen kann ich auch!“, zischte der, und er trat ohne Zögern den Beweis dafür an.

„Eine Gessssellschaft Ssssstachelsssschweine drängte sssich an einem kalten Wintertage recht nahe zussssammen, um durch die gegenssseitige Wärme sssich vor dem Erfrieren zzzu ssschützzzen. Jedoch bald empfanden ssssie die gegenssseitigen Ssstacheln; welchesss sssie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun dasss Bedürfnisss der Erwärmung sssie wieder näher zzzusssammenbrachte, wiederholte sssich jenesss zzzweite Übel, so daßßß sssie zzzwissschen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bisss sssie eine mäßßßige Entfernung voneinander herausssgefunden hatten, in der sssie esss am besssten aussshalten konnten. -“

Die zahllosen Zischlaute bereiteten Bärdel erhebliche Mühe, aber er verstand die Geschichte wohl, und darüber hinaus meinte er, sie schon einmal gehört zu haben. Aber wo nur?

„Na also!“ rief er, „das bestätigt mich doch, oder? Auch Stachelschweine brauchen Wärme und Gesellschaft, sie haben nur Probleme, diese Bedürfnisse zu befriedigen!“

Aber der Freme winkte nur herablassend ab und sprach weiter.

„Ssso treibt dasss Bedürfnisss der Gesssellschaft, ausss der Leere und Monotonie desss eignen Innnern entsssprungen, die Menssschen – und anssscheinend auch die Bären, Frösssche und Kröten – zzzueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenssssschaften und unerträglichen Fehler ssstoßßßen sssie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sssie endlich herausssfinden und bei welcher ein Beisssammensssein bessstehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sssitte. Dem, der sssich nicht in diessser Entfernung hält, ruft man in England zzzu: Keep your dissstanccce. – Vermöge derssselben wird zzzwar dasss Bedürfnisss gegenssseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Ssstich der Ssstacheln nicht empfunden. -“

„Hm“, ich könnte ja jetzt beleidigt sein, weil du mir innere Leere unterstellst, aber immerhin gibst du doch zu, daß wir alle Gesellschaft brauchen und…“

Der Graue unterbrach ihn mit einer gebieterischen Bewegung seines unverändert hoch erhobenen Schwanzes.

“ Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber ausss der Gesssellssschaft weg, um keine Bessschwerde zu geben noch zzzu empfangen.“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, gab er seine drohende Haltung auf und verschwand blitzschnell im nächsten Graben.

Bärdel schüttelte den Kopf. Das war aber ein merkwürdiger Einzelgänger! Nach dem anstrengenden Gespräch mit ihm hatte er das dringende Bedürfnis, nach Hause zu gehen und Tumu und allen anderen davon zu erzählen. Am schnellsten aber wollte er mit Kulle sprechen, denn ihm selbst fiel einfach nicht ein, wessen Gedanken der Fremde gerade zitiert hatte. Sein gebildeter Freund würde das selbstverständlich wissen. Und sie beide würden sich lange über Nähe und Distanz von Bären unterhalten können – ganz ohne Beschwerde.

Er erhob sich voller Vorfreude und trabte auf den Berg zu, in dem sich ihre Höhle befand.

Stachelschwein

Hello, Mr. President

Sehr geehrter Herr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,
Mr. George W. Bush jr.,

ich bin eine Mutter in den USA, die sich um ihre Kinder sorgt. Wahrscheinlich bekommen Sie in diesen Tage viele Briefe von vielen Müttern, denen es wegen ihrer Kinder bange ums Herz ist. Ich sehe im Fernsehen, dass Sie entschlossen sind, die Achse des Bösen zu besiegen. Das will ich natürlich auch. Aber dabei verstehe ich nicht recht, dass diese Achse seit kurzer Zeit nicht mehr aus drei Staaten bestehen soll, sondern nur noch aus einem. Eigentlich, wenn ich die Nachrichten richtig begreife, auch nicht mehr wirklich aus einem Staat, sondern aus einem einzelnen Mann. Ich finde, nebenbei gesagt, dass das ein merkwürdiger Begriff von einer Achse ist. Verzeihen Sie, ich bin eben nur eine dumme Frau.
Athabaska
Jedenfalls wollen Sie diesen Mann besiegen und absetzen. Weil er versucht hat, ihren Vater zu töten, wie Sie sagen. Ich bin, wie gesagt, eine Mutter, ich bin also schon etwas älter. Ich habe vor zwölf Jahren, als Ihr Vater Präsident war und gegen den Irak Krieg geführt hat, auch schon ferngesehen. Deshalb erinnere ich mich daran, dass George W. Bush sr. mehr als einmal versucht hat, Saddam Hussein zu töten. Der von Ihnen genannte Grund scheint mir deshalb ziemlich fadenscheinig zu sein. Entschuldigung, aber eigentlich hätte Saddam mehr Grund, Sie zu töten, als Sie ihn.

Ach, Mr. President, sind Sie vielleicht gerade auf Ihrer Ranch in Texas und reiten einen wilden Mustang zu? Oder sind Sie in der Kirche und beten zu Gott für das Wohlergehen seines eigenen und einzigen Landes? Ich weiß, Sie haben so viele wichtige Dinge zu tun, und mein dummer Brief, den Sie gerade lesen, hält Sie davon ab! Aber ich möchte Ihnen trotzdem noch etwas ganz Wichtiges sagen. Ich will mich auch kurz fassen.

Aus dem Fernsehen weiß ich, dass die Vereinigten Staaten Mitglied in den United Nations sind. Da ist ja fast jedes Land der Welt Mitglied, sogar die Schweiz ist vor ein paar Monaten beigetreten. Fernsehen bildet, wissen Sie! Ich weiß auch, dass es bei den Vereinten Nationen einen Sicherheitsrat gibt, der allein berechtigt ist, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wenn ein Staat andere bedroht – jedenfalls so ähnlich. Jeder Mitgliedsstaat unterschreibt bei seinem Beitritt, dass er diese Regel akzeptiert. Das habe ich alles aus dem Fernsehen – nicht, dass Sie glauben, dass ich diese zersetzenden Zeitungen von der Ostküste lese! Von denen habe ich nur Schlimmes gehört.

Aber jetzt sagen Sie, Mr. President, dass wir den Irak – oder Saddam Hussein, oder wen immer Sie meinen – auch dann angreifen werden, wenn die UN beschließen, nicht anzugreifen! Bestimmt haben Sie gebetet, bevor Sie diesen Beschluss gefasst haben, oh ja, das glaube ich bestimmt!

Aber, Mr. President, ich sagte bereits, dass ich eine Mutter bin. Als Mutter versuche ich, meinen Kindern Regeln beizubringen. Ich sage ihnen, dass man Regeln einhalten muss. Wenn niemand sich an Regeln hält, kann niemand sicher sein, sage ich ihnen. Wenn du deinen Bruder auffrisst, sage ich, dann kannst du nicht sicher sein, dass der Bruder deines Bruders dich nicht fressen will. Du sollst eben nicht töten, nicht wahr? Reiner Selbstschutz ist das.

Sie, Mr. President, sind gerade dabei, wichtige Regeln zu verletzen – ich muss Ihnen das leider sagen. Wohin soll das denn führen, was Sie machen? Wenn Sie jetzt den Irak oder Saddam angreifen, dann greift morgen Indien Pakistan an und übermorgen China Taiwan und in drei Tagen Brasilien Argentinien, und in vier Tagen ist die Welt im Eimer! Wenn Sie mein Kind wären, würde ich Ihnen eins hinter die Ohren geben, aber kräftig. Entschuldigung!

Oh, Mr. President, bestimmt war ich jetzt zu direkt zu Ihnen und ohne den gehörigen Respekt. Aber wissen Sie, wenn man zwei Jahre lang nur mit den Kindern beschäftigt war und dauernd hinter ihnen her sein musste, damit sie die Regeln des Überlebens lernen, dann wird man gegenüber Regelverletzern schnell ungeduldig. Wenn Sie Krieg führen wollen, dann erkläre ich hiermit ausdrücklich, dass Sie das nicht in meinem Namen tun. Not in my name!

Meine Kinder sind jetzt groß. Sie sind zu selbständigen Bären geworden, die gelernt haben, was sich gehört. Sie halten sich an sinnvolle Regeln. Sie bringen niemanden um, auch nicht, wenn sie zufällig gerade stärker sind als ihre Gegner. Sie sollten sich daran ein Beispiel nehmen, Mr. President!

Ach, Sie merken jetzt erst, wer Ihnen diesen Brief geschrieben hat? Oh nein – Sie müssen jetzt nicht Fish and Game oder das Bureau of Land Management aktivieren, um mich zu eliminieren – ich bin ganz friedlich und auch keine Terroristin. Ich ernähre mich von Beeren und Wurzeln. Ich sehe nur ab und zu fern und versuche die spärlichen Nachrichten zu verarbeiten, die ich dort bekomme. Ich muss also nicht abgeschossen werden, und Ihre Sicherheitsdienste brauchen mich auch nicht auf Guantanamo zu internieren, wo meine Bärenrechte einen Bärendreck wert wären.

Mr. President, ich möchte nur, dass Sie endlich erwachsen werden und sich an sinnvolle Regeln halten. Ihr Vater ist ja wohl nicht geeignet, um Ihnen eine ordentliche Ohrfeige zu geben. Ich hoffe auf Mutter Barbara.

Mit freundlichen Grüßen

Athabasca

Athabaska

Elternführerschein

Manfred und Grizzy

Manfred unternahm seinen vorläufig letzten Inspektionsgang in der neuen Bärenheimat. Es war Mitte November geworden, und vor allem in den Senken und den vor dem Wind geschützten Lagen der LaSals versank er schon bis zum Bauch im Schnee. Höchste Zeit also für den Winterschlaf!
Er stellte beruhigt fest, daß alle getan hatten, was für das sichere Überstehen der nächsten Monate notwendig war. Zuerst einmal hatten sie gefressen, was das Zeug hielt, achtzehn, manchmal auch neunzehn Stunden am Tag, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Ramses und das Schwein hatten sich dabei natürlich zurückgehalten – der Frosch brauchte so gut wie keine Reserven für die kalte Jahreszeit, weil er seinen Metabolismus auf Sparflamme stellte, und das Schwein konnte nun einmal nicht mehrere Monate hintereinander schlafen; deshalb hatte es sich Vorräte angelegt und hauptsächlich Eicheln gesammelt. Auch die Bären lagerten kleine Berge von Nüssen, Eicheln und getrockneten Früchten und Pilzen in den Ecken ihrer Höhle. Keiner von ihnen würde die ganze Zeit lang durchschlafen, sondern zwischendurch aufwachen, für kurze Zeit nur und ein bißchen dumpf im Kopf, aber immer hungrig.
Manfred war nicht unterwegs, um zu überprüfen, wie sich die anderen vorbereitet hatten. Ihm ging es um Selbstkontrolle. Er rüttelte an den elektrischen Leitungen, die er verlegt hatte, untersuchte jeden einzelnen Schaltkreis in der Telefon- und Computerzentrale und warf zum Schluß einen Blick in die Bibliothek. Die Regale, die die Bären selbst gezimmert hatten, waren schon recht gut gefüllt. Selbstverständlich enthielten sie kaum noch Nachschlagewerke. Informationsbedarf ließ sich heutzutage in der Regel schneller und aktueller elektronisch befriedigen als mit Hilfe von bedrucktem Papier. Dagegen waren die Abteilungen Literatur, Kunst und Philosophie schon zu beachtlicher Größe angeschwollen. Wahrscheinlich, dachte Manfred, würden auch sie eines Tages verschwinden und durch das e-book ersetzt werden. Oder vielleicht auch nicht. Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß sein altmodischer Vater zum Beispiel Hegels Darlegungen auf einem Bildschirm mit Hilfe eines Lesegerätes zu verstehen versuchte, anstatt mit einem Buch in der Hand herumzuwandern und dabei leise vor sich hin zu schimpfen, weil er die komplizierten Gedankengänge nicht sofort begriff. Und auch Kulle würde wohl die Papierausgabe vorziehen – wie sollte er auch auf einem Bildschirm seine wütenden Anmerkungen unterbringen, die er an den Rand von Texten zu kritzeln pflegte? Er schmunzelte, weil er an die beiden Bären dachte, die er am meisten liebte, abgesehen von seiner Mutter natürlich, und weil er mit seiner Arbeit zufrieden war. Er konnte sich beruhigt der überwiegend traumlosen Winterruhe hingeben, ohne sich zu sorgen, daß draußen der Schnee unermüdlich Zentimeter um Zentimeter höher wuchs und alles Leben unter sich begrub.
Athabasca
Er drehte sich um und fand den Weg zurück zur Höhle versperrt. Athabasca stand dicht vor ihm. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, scheinbar direkt in seiner Kehle. Vergeblich versuchte er zu schlucken und sich zu beruhigen. Hatte er gerade wirklich an die drei Bären gedacht, die er am meisten liebte? Er wollte Athabasca begrüßen, brachte aber keinen artikulierten Ton heraus.
Atti nickte, als wüßte sie Bescheid. „Hi, Manfred“, sagte sie leichthin und beglückte ihn mit einem charmanten Lächeln. „Alles klar fürs Hibernieren?“
Manfred nickte.
„Schön!“ kommentierte die junge Bärin. Und selbstverständlich, als redete sie über eine Nebensächlichkeit, fuhr sie fort: „Wir beide müssen uns übrigens beeilen, wenn wir in diesem Jahr noch ein Kind machen wollen.“
Manfred verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall, der ihn hilflos röcheln ließ. Vielleicht hätte er sich nie wieder davon erholt und wäre elendiglich erstickt, wenn Athabasca ihm nicht energisch auf den Rücken gesprungen und ihm von diesem Sitz aus in die Flanken getreten hätte. Ganz allmählich kam er so wieder zu Atem.
„Was hast Du gesagt?“ japste er endlich.
„Du hast mich ganz genau verstanden!“ entgegnete Atti seelenruhig. „Glaubst Du, ich habe nicht gemerkt, daß Du schon vom ersten Tag an um mich herumschleichst und mir zu imponieren versuchst? Kann das etwas anderes bedeuten, als daß Du mit mir schlafen willst? Ich jedenfalls habe nicht angenommen, daß Du mir das Angebot machen wirst, mich zur Hilfsmedientechnikerin auszubilden! Oder irre ich mich?“
„Nnnein…ja…nein…“ Manfred konnte in seiner Verwirrung nur stammeln.
„Also habe ich recht“, stellte Atti fest. „Du hast Dich nur nicht getraut. Seid Ihr Europäer immer so schüchtern?“
„Nur manchmal…“ Nur mühsam konnte Manfred sich sammeln. Ganz allmählich, wie ein kleines, vom Ausgehen bedrohtes Flämmchen, glimmte in seinem Bewußtsein der Gedanke auf: Sie mag mich! Sie will mit mir schlafen! Er war so begeistert von dieser Erkenntnis, daß er sie laut äußern mußte.
„Du willst mit mir schlafen!“ rief er.
„Das habe ich nicht gesagt.“ Die Bärin war so ernsthaft, daß Manfreds Freude in sich zusammenfiel.
„Zuerst müssen wir klären, ob Du als Vater meiner Kinder geeignet bist.“ Sie zog ein eng zusammengerolltes Blatt Papier aus ihrem dichten Nackenfell, das Manfred bisher nicht bemerkt hatte. Sie breitete es aus und hielt es Manfred hin.
„Da, lies!“
Er gehorchte.

Fragebogen zum Mutterführerschein

1. Was mache ich, wenn ich schwanger bin?
a) Jeden Tag möglichst viel mit dem Fötus reden – das gibt ein kluges Kind.
b) Viel Honigwein trinken, damit das Kind groß und stark wird.
c) Fressen, fressen, fressen – nach der Geburt werde ich die Reserven brauchen.

2. Wie verhalte ich mich bei der Geburt?
a) Ich suche den besten Bärenarzt, den ich finden kann, und wenn er am anderen Ende der Welt wohnte.
b) Ich bitte alte Bärinnen um Beistand.
c) Ich verlasse mich ganz auf meinen gesunden jungen Körper.

3. Während der ersten Wochen
a) weiche ich meinem Jungen nicht von der Seite.
b) muß ich viel schlafen und mich von der Geburt erholen.
c) lasse ich mein Junges seine ersten selbständigen Erfahrungen machen.

4. Auf den Vater meines Kindes
a) kann ich mich verlassen, er hilft mir bei der Erziehung.
b) kann ich nicht bauen, er kümmert sich nicht um das Kleine.
c) Vor dem Vater werde ich das Kleine in Sicherheit bringen, damit er es nicht auffrißt.

5. Selbstverständlich hat mein Junges seinen eigenen Kopf.
a) Gut so – so entwickelt es seine Persönlichkeit.
b) Seinen eigenen Kopf kann es haben, nachdem ich meine Erziehung beendet habe, aber keinen Augenblick früher.
c) Wir werden Differenzen ausdiskutieren, falls sich welche ergeben sollten.

6. Mein Kind hat viele Wünsche
a) Mein Kind bekommt alles, was es haben möchte – ich will schließlich, daß es ein glücklicher Bär wird.
b) Mein Kind bekommt alles, was es sich erarbeitet hat.
c) Ich entscheide das nach Lust und Laune – es geht hier ja auch ums Lustprinzip!

7. Was soll mein Kind lernen?
a) Lernen darf kein Zwang sein – die Jungen wissen selbst am besten, was gut für sie ist.
b) Das Beste ist gerade gut genug! Mein Kind ist intelligent und schafft das schon, auch wenn es schwierig ist.
c) Denken.

8. Was verbiete ich meinem Kind?
a) Alles.
b) Gar nichts.
c) Das weiß ich noch nicht – erst mal sehen, wer mein Kind ist.

Manfred war verwirrt, als er die Lektüre beendet hatte. „Ja…sehr interessant…“ murmelte er. „Und was soll ich jetzt tun?“
„Natürlich die Fragen beantworten, du dummer Bär!“ forderte Atti ungeduldig.
„Warum sollte ich? Das sind doch Fragen zu einem Mütter- und nicht zu einem Väterführerschein“, wehrte Manfred ab.
„Stimmt, aber jeder, der sie beantwortet, verrät dabei, wie viel oder wie wenig er vom Bärenleben versteht. Und genau das will ich von Dir wissen, bevor wir vielleicht zusammen ein Kind zeugen.“
Na gut!“ brummte Manfred. Er wollte Athabasca, er mochte sie, vielleicht liebte er sie sogar, also kam er um den lästigen Fragebogen wohl nicht herum.
„Während der Schwangerschaft frißt Du, so viel Du kannst, und meinetwegen kannst Du mit dem Foetus auch reden. Du wirst allerdings zu beidem wenig Gelegenheit haben, denn überwiegend wirst Du Winterschlaf halten. Bei der Geburt solltest Du nicht leichtsinnig auf Dich selbst vertrauen, aber auch kein Gewicht verlieren, indem Du endlos weit zu einem berühmten Arzt rennst. Vertraue Dich lieber erfahrenen Frauen an. Selbstverständlich wirst Du in den ersten Wochen, ja sogar während der ersten Monate ständig um die Jungen sein, und ich – äh – also der Vater wird Dir dabei helfen. Ein guter Vater wird sich ab und zu auch alleine um die Kinder kümmern. Es ist viel zu gefährlich, daß Bärenkinder schon früh ihren eigenen Kopf durchsetzen, aber wenn sie sich Mühe geben, bekommen sie zur Belohnung auch, was sie sich wünschen. Denken lernen ist meiner Meinung nach das wichtigste Erziehungsziel, und Ge- und Verbote hängen in der Tat stark von der jeweiligen Persönlichkeit ab.“ Nach dieser langen Rede sah er die junge Bärin erwartungsvoll an.
Athabasca reagierte völlig anders, als er erwartet hatte. Sie sah ihn mit einem unendlich verächtlichen Blick an, würdigte ihn keines Wortes, drehte sich schnell wie ein Wirbelwind auf den Hinterpranken herum und war im selben Moment auch schon verschwunden. An ihre Gegenwart erinnerten nur noch einige gelbe welke Blätter, die zu Boden segelten – Atti hatte sie bei ihrem schnellen Abgang abgestreift. Und eine Spur im tiefen Schnee.
Jetzt begriff Manfred gar nichts mehr. Er hatte ihr nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet und hatte nicht die geringste Ahnung, was er falsch gemacht haben könnte. Aber natürlich wollte er es gerne wissen. Nur – wie sollte er das herausbekommen? Atti konnte er wohl kaum fragen, das hatte sie ihm nur allzu deutlich signalisiert. Seine Eltern wollte er nur ungern über sein Problem informieren, und das ist gut verständlich: Kein Kind auf dieser Welt will seinen Eltern offenbaren, daß es Schwierigkeiten mit der Liebe hat. Also blieb nur Kulle übrig.
Manfred wußte, wo er Kulle suchen mußte; jetzt, da die Jahreszeit weite Streifzüge durch die Berge nicht mehr zuließ. Natürlich in der Bibliothek.
Kulle hatte sich in eine Ecke gerollt, die von einer tief hängenden Glühbirne beleuchtet wurde. Er lag auf der Seite und hielt ein aufgeschlagenes dünnes Buch in der Pfote. Als Manfred sich näherte, registrierte er, daß Kulle nur mit dem oberen Auge las. Das untere war geschlossen. Die eigentlich obligatorische Fliege war nicht um seinen Hals geschlungen. Kulle war kurz vor dem Einschlafen und hatte sich schon für den Winterschlaf ausgezogen.
Der junge Bär störte ihn dennoch. Zu drängend war seine Frage, und er wollte nicht riskieren, ein Jahr zu verschenken oder Athabasca vielleicht sogar ganz zu verlieren. Kulle brummte anfangs zwar empört, aber bald hörte er interessiert zu.
Als Manfred seinen Bericht beendet hatte, schüttelte er jedoch den Kopf. „Hmm. Ich verstehe das auch nicht. Soweit ich Dein Verhalten beurteilen kann, entspricht es völlig der Bärenetikette. Die Literatur ist hier, fürchte ich, nur wenig hilfreich. Nietzsche empfiehlt, die Peitsche mitzunehmen, wenn man zum Weibe geht. Lange Zeit habe ich ihn wegen dieses Spruches für einen Masochisten gehalten, aber er hat den Rat anders gemeint. Schopenhauers Aussage über die Dummheit der Frauen ist selbst so dumm, daß er eines Kommentars unwürdig ist. Die Klassiker haben sich zu Frauen wenig geäußert. Am ehesten kann ich mich noch an Marx‘ Brief an Engels erinnern, in dem er ihm kondoliert: „Der Tod der Mary hat uns alle sehr erschüttert…“ Aber gleich danach schreibt er auch schon wieder davon, daß er pleite ist und dringend Geld braucht. Brief an die Kollontai? Falsch – dabei geht es um die Möglichkeit des direkten übergangs zum Kommunismus im feudal geprägten Rußland…Und Bebel sagt viel über die Frau im Sozialismus, aber nichts über einen Mütterführerschein. Außerdem weiß Du ja, daß ich Junggeselle bin. Ich habe keine Erfahrung mit Frauen. Aber Dein Vater kann Dir da sicher weiterhelfen.“
Kulle legte sich wieder hin, ohne eine Reaktion Manfreds abzuwarten. Das Buch, das er die ganze Zeit lang festgehalten hatte, fiel ihm aus der Hand und klappte zu, so daß der Titel lesbar wurde: James D. Doss. Shaman sings. Kulle las einen Krimi! Er mußte wirklich sehr müde sein.
Ohne große Hoffnungen machte Manfred sich auf die Suche nach Bärdel, wie Kulle es ihm empfohlen hatte. Er tat recht daran, keinerlei Erwartungen zu hegen: Sein Vater konnte an seinem Verhalten ebenfalls nichts Falsches finden.
„Frag am besten Deine Mutter!“ riet Bärdel ihm und gähnte dabei herzhaft. „Sie als Frau weiß bestimmt, was Athabasca gestört hat.“
Sein Sohn befolgte den Rat nur ungern. Er wußte nicht genau warum, aber er schämte sich sehr, seiner Mutter gegenüber seine Schwierigkeiten zuzugeben. Es war ihm wesentlich leichter gefallen, mit Kulle und Bärdel darüber zu sprechen.
Tumu schien, ebenso wie die anderen Bärenfrauen, noch gar nicht müde zu sein. Die Frauen schleppten ihre vom angefressenen Speck schweren Körper durch die Schlafhöhle und ordneten alles für die lange Winterpause. Das machten sie bereits mindestens zum fünften Mal, und eigentlich gab es nichts mehr zu räumen, aber sie gaben sich dennoch den Anschein, als herrsche völliges Chaos. Nur mühsam konnte Manfred Tumu dazu bringen, das Neuarrangement der Wintervorräte den anderen Frauen zu überlassen und ihm zuzuhören. Dann aber lauschte sie konzentriert.
„Du hast nichts falsch gemacht“, kommentierte sie, als er fertig war. „Jedenfalls nicht nach unseren Maßstäben. Aber Atti ist wohl noch an archaische Formen des Zusammenlebens gewöhnt. Anders kann ich mir ihre Reaktion nicht erklären.“
Mama“, sagte Manfred und rutschte unruhig von einer gut gepolsterten Hinterbacke auf die andere, „Mama, ich finde nicht, daß es gerade jetzt an der Zeit ist, in Rätseln zu sprechen!“
„Das kann ich nachvollziehen. Aber Du mußt mich auch verstehen: Ich bin gerade im Begriff, einen uralten Schwur zu brechen, den sich alle europäischen Bärinnen seit Jahrhunderten gegeben haben und noch heute geben. Ich muß mein Versprechen zu schweigen brechen, denn sonst kann ich Dir nicht helfen.“
Manfred saß jetzt ruhig und sehr aufrecht. Aufmerksam sah er seine Mutter an. Er wußte, daß sie nie übertrieb. Was sie jetzt zu sagen hatte, mußte wirklich wichtig sein.
Tumu schluckte schwer, bevor sie fortfuhr: „Vor langer Zeit, als es in Europa noch wenige Menschen gab, war das Verhältnis von Bären, also von männlichen Bären, zu ihren Kindern ein ganz anderes als heute. Die Mütter mußten die Jungen vor den Vätern in Sicherheit bringen, damit … damit …“ Tumu mußte dreimal Anlauf nehmen, bis sie das Furchtbare schließlich erklären konnte: „…damit sie sie nicht auffraßen.“
Manfred saß ganz starr. Widerstandslos ließ er es geschehen, daß seine Mutter ihn wie ein kleines Kind in die Arme nahm und streichelte. In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm von Gedanken und Gefühlen.
„Aber warum….“ fragte er nach einer langen, lastenden Pause. Er brach jedoch sofort wieder ab. Es gab zu viele Warums, und er wußte nicht, welches er zuerst beantwortet haben wollte.
Tumu verstand ihn auch ohne Worte. „Vielleicht gab es zu wenig Nahrung. Vielleicht erkannten die Bären ihren eigenen Nachwuchs nicht. Damals lebten wir noch nicht in festen Beziehungen zusammen, sondern streiften einzeln umher. Erwachsene Bären trafen sich oft nur zur Paarung und trennten sich dann wieder. Erst als die Menschen mehr wurden, als wir Bären weniger wurden und näher zusammenrückten, weil wir nur so überleben konnten, hat sich das geändert. Heute sind Bären liebevolle Väter.“
„Aber warum…“ fragte Manfred zum zweiten Mal. Eine Frage war noch immer nicht beantwortet.
„Alle Bärinnen wissen davon. Alle müssen es wissen, schon um der Vorsicht willen. Aber wir schwören, es keinem Mann zu erzählen. Wir wollen nicht, daß ihr ein schlechtes Gewissen habt. Du bist der einzige Bär, der jetzt dieses Wissen hat, aber Du mußt mir versprechen, es keinem anderen Mann mitzuteilen.“
Manfred nickte. Er wußte jetzt alles, aber es würde lange dauern, bis er es verdaut hatte. Die Bärinnen taten recht daran, dieses Wissen für sich behalten zu wollen.
„Meinst Du, daß Attis Reaktion bedeutet, daß die Bären hier in Amerika noch immer…“ Er schauderte und konnte auch diesen Satz nicht beenden.
„Ich nehme es an. Ich werde mit ihr reden. Wenn unsere Vermutung stimmt, dann wird sie Dir zunächst bestimmt nicht glauben, wohl aber mir. Laß mich nur machen!“ Sie stand auf und klopfte ihrem Sohn derb auf den pelzigen Rücken: „Ich finde, ihr paßt gut zueinander!“ Mit diesen Worten stapfte sie aus der Höhle.
Athabasca
Manfred mußte lange auf ihre Rückkehr warten. Währenddessen wurde es um ihn herum immer ruhiger. Ein schlaftrunkener Bär nach dem anderen kam herein, bahnte sich einen Weg möglichst weit nach hinten, weil es da am wärmsten war, und legte sich zum Schlafen. Allmählich wurde der Platz knapp, und Manfred wurde immer weiter zum kühlen Höhleneingang gedrängt. Nach einer ihm unendlich erscheinenden Zeit tauchte Tumu aus der Dunkelheit der längst eingebrochenen Nacht auf. Sie zauste ihrem Sohn das Kopffell, gähnte ungeniert und wies nach draußen. „Sie wartet auf Dich!“
Schon nach den ersten beiden Worten war Manfred auf und davon.
Die Bären in der ersten Tiefschlafphase hörten wenig von dem Toben, Knurren und Brummen, das nicht weit entfernt von der Höhle stattfand. Sie wachten auch nicht auf, als Athabasca und Manfred endlich als letzte auch zum Schlafen kamen. Sie fanden nur noch ein zugiges Plätzchen direkt am Eingang, aber das störte sie überhaupt nicht. Sie kuschelten sich eng aneinander und froren kein bißchen. So hatten es auch die Zellen, die sich in Attis Gebärmutter bald eifrig zu teilen begannen, mollig warm.

 

Scheiße

SCHEISSE

Scheiße

Bären neigen, anders als viele Menschen, keineswegs zum Fluchen. Wenn sie ihrem Unmut Ausdruck verleihen wollen, hauen sie normalerweise ihre rechte Pranke in die linke – Linkshänder machen das natürlich andersherum. So belästigen sie niemanden mit ihren Emotionen, und gleichzeitig wissen sie aufgrund der Wucht des Schlages, den sie ausgeführt haben, wie sehr sie sich ärgern.
Um so verwunderlicher ist es, daß die Bären in ihrer neuen Heimat eine Gewohnheit entwickelten, die stark an menschliches Verhalten erinnert. Fast überall dort, wo sie sich aufhielten, konnte man in unregelmäßigen Abständen ein kräftiges „Scheiße“ vernehmen. Manche, die sich schon an die neue Sprache gewöhnt hatten, brummten oder riefen stattdessen „shit“, aber beides kommt auf das gleiche heraus. Ramses sitzt auf dem Hintern

Ramses und das Schwein verhielten sich übrigens ebenso, aber es ist ungewiß, ob das für sie ungewöhnlich ist – die Fluchgewohnheiten von Fröschen und Schweinen sind bisher noch nicht genau erforscht.
Eines Tages gingen Bärdel und Ramses einander entgegen, aber kurz bevor sie sich trafen, setzten sich beide gleichzeitig unvermittelt mit nach vorne gestreckten Beinen auf die Erde und sagten ebenso gleichzeitig: „Scheiße!“
Als hätten sie lange zusammen ein Ballett eingeübt, standen sie auch zusammen wieder auf und begannen, ihre Sitzflächen zu säubern. Bärdel hatte es leichter als Ramses: Der Kuhfladen, auf dem er ausgerutscht war, war schon ein paar Tage alt und ziemlich durchgetrocknet. Ramses dagegen mußte sich mit einem neueren, deutlich schmierigeren Produkt auseinandersetzen.
„Entschuldigung“, sagten beide, immer noch gleichzeitig, und sagen einander dabei nicht an. Die Angelegenheit schien ihnen peinlich zu sein. Bärdel begann dennoch, darüber zu sprechen.
„Ramses“, sagte er, wir alle finden es sehr schön hier, und wir sind Tussi wirklich dankbar dafür, daß wir hier sein dürfen. Du darft ihr das gerne in unser aller Namen berichten. Aber es gibt da eine Kleinigkeit…“
Ramses nickte. Er nickte so entschlossen, daß ihm der große Froschkopf vom Hals zu fallen schien. „Ja, und das ist übehaupt keine Kleinigkeit. Diese Scheiße überall hier ist mehr, als meine empfindliche Froschnase ertragen kann, und euch Bären geht es vermutlich ebenso. Dazu kommt die Rutschgefahr. Und überall da, wo diese Fladen herumliegen, fehlen die schönsten Blumen. Es ist wirklich fürchterlich!“
„Aber wieso gibt es hier so viele Kuhfladen?“ wollte Bärdel wissen. „Dies hier ist ein National Forest, das…“
Bärdel unterbrach sich, weil auf einmal ganz in der Nähe jemand zu singen begann.

„This land is my land,
this land is your land,
from California
to the New York Island,
from the Redwood Forest
to the Gulfstream Waters
this land belongs to you and me.“

Ein wunderschöner Bariton sang, und Bärdel lauschte andächtig. Er genoß die Stimme, und er mochte das Lied,wenn es auch für seine europäischen Ohren ein wenig sentimental klang. Vergeblich sah er sich nach dem Sänger um – niemand schien hier zu sein.
„Schön, nicht?“ fragte er, und Ramses nickte. „Also, wir sind hier in einem National Forest…“ Diesmal kam Bärdel noch nicht einmal so weit, seinen Nebensatz zu beginnen. Schon bei dem „F“ von „Forest“ fing der unbekannte Musiker wieder an:
„This land is my land…“
Bärdel war Rechtshänder, und deshalb hieb er seine rechte Pranke in die linke.
„Schöön gesungen!“ rief er. „Aber ich möchte hier und jetzt etwas diskutieren, und dazu brauche ich Ruhe! Wer immer mit mir zusammen nachdenken möchte, ist herzlich eingeladen, aber bitte ohne Gesang!“
Ramses nickte zustimmend und schaute nach rechts. Dort raschelte jemand im Unterholz, kleinere Zweige brachen. Manfred, der wohl in der Nähe herumgelungert hatte, bahnte sich seinen Weg durch die Büsche und sah seinen Vater fragend an. Bärdel schaute ebenfalls nach rechts, weil er meinte, daß der Gesang von dort gekommen war. Athabasca schlängelte sich aus dem dichten Gebüsch.
„Atti?“ fragten Bärdel und Manfred gleichzeitig.
„Wer sonst?“ war die ungnädige Antwort. „Und bevor ihr fragt: Ja, ich habe gesungen. Ja, ich singe Bariton. Und ja: Wenn jemand ‚National Forest‘ sagt, dann muß ich singen… Meine Mutter wurde erschossen, als ich ein Jahr alt war. Ein Ranger fand mich und zog mich auf. Das war gegen das Gesetz der Menschen, aber er wurde nicht erwischt. Er ließ mir alle Freiheiten, die ich brauchte, und ich wurde eine richtige Bärin. Ganz nebenbei habe ich auch eine Menge über die Menschen gelernt. Er sang in jeder freien Minute immer dasselbe Lied, und ich fürchte, ich…“
Bärdel dachte nicht daran, daß es in dieser Situation angebracht gewesen wäre, Atti zu trösten. Er hätte ihr auch sagen sollen, daß es richtig ist, Traumata auszuleben, anstatt sie zu verdrängen, daß sie sich also völlig richtig verhielt. Er vergaß alle diese psychologischen Weisheiten, weil ihn eine ihrer Aussagen vollständig überrumpelt hatte.
„Deine Mutter wurde erschossen? Aber wir sind hier doch in einem Na…“ Immerhin war er noch überlegt genug, um das Schlüsselwort zu vermeiden, das Attis Zwangshandlung auslöste. „Ich meine, wir sind hier in einem Gebiet, das der amerikanischen Föderation gehört, also allen. ‚Land of many uses‘, damit machen sie doch Reklame. Wieso wurde deine Mutter dann…“ Bärdel brach ab, weil er es nicht übers Herz brachte, das brutale Verb zu wiederholen.
„Das Land gehört allen – richtig!“ sagte Atti. „Allen Menschen – zumindest vom Anspruch her. Und zu den zahlreichen Möglichkeiten, die ihnen hier geboten werden, gehört auch die Jagd auf Bären und auf andere nette Zeitgenossen. Aber ihr braucht keine Angst zu haben!“ Sie hatte bemerkt, daß Bärdel und Manfred unruhig wurden und sich ängstlich umsahen. „Euch, uns allen wird nichts passieren. Meine Mutter konnte nicht lesen, und das ist ihr zum Verhängnis geworden. Die Forstverwaltung hier ist so ordentlich, daß sie überall plakatiert, welche Tierart wann und wo geschossen werden darf. Wir können den Mördern einfach aus dem Weg gehen.“
„Na ja“, brummte Bärdel. Er war keineswegs beruhigt. Da er aber das Thema jetzt nicht weiter verfolgen wollte und auch nicht wußte, wie er auf die Enthüllung von Attis unglücklicher Jugend reagieren sollte, wiederholte er einfach die Frage, die er schon einmal vergeblich gestellt hatte: „Und wieso gibt es hier so viele Kuhfladen?“
Athabasca zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Die waren schon immer da.“
„Die Kuhfladen“, erklärte Ramses wichtig, „stammen von Rindern.“
„Ach was!“ murmelte Manfred ironisch, schwieg aber angesichts eines strafenden Blickes seines Vaters.
„Viele Rancher aus der Gegend hier haben das Recht, ihr Vieh in den Sommermonaten in den Bergen grasen zu lassen. Wäre das anders, müßten sie zufüttern – weiter unten wächst in den heißen, trockenen Monaten praktisch nichts. Da die Zahl der Rinder nicht begrenzt ist, kommt es zu überweidung. Deshalb liegen überall Fäkalien herum, und deshalb vermissen wir so viele Pflanzen, die es hier eigentlich geben sollte. Sie wurden einfach aufgefressen.“
„Was können wir dagegen machen?“ wollte Manfred wissen.
Ramses wackelte mit dem Kopf. „Dafür hat Tussi mir keine Instruktionen gegeben.“
„Dann müssen wir selber versuchen, das Problem zu lösen“, stellte Bärdel fest. Entschlossenheit blitzte aus seinen Augen. „Heute Abend ist Bärenrat!“

Nachdem Bärdel, Ramses und Atti der Versammlung das Problem erklärt hatten, herrschte zunächst nachdenkliche Stille. Dina meldete sich als erste zu Wort.
„Ganz prinzipiell sehe ich zwei Möglichkeiten“, konstatierte sie. „Entweder leben wir weiter mit und in der Scheiße, oder wir versuchen, etwas dagegen zu tun!“
Die Reaktion des Rates war einhellig: Alle wünschten sich eine Verbesserung, und so mußte über die Vor- und Nachteile dieser Alternative nicht diskutiert werden.
„Gut!“ sagte Dina zufrieden. „Dann müssen wir uns darüber einigen, wie wir die Rinder loswerden, oder ihre Besitzer, oder die Waldverwaltung, die die Weidenutzung erlaubt, oder alle drei!“
Ganz selbstverständlich sprach Dina von der Waldverwaltung, und ebenso wie sie würde am heutigen Abend kein Sprecher den Begriff „National Forest“ in den Mund nehmen. Tratsch verbreitet sich unter Bären noch schneller als früher im dehländischen Bundestag in Bonn.
Nach Dinas Rede herrschte zunächst die bei Bären übliche nachdenkliche Stille, wenn es galt, mit schwierigen Problemen fertig zu werden, aber dann hagelte es mehr oder weniger vernünftige Vorschläge so schnell, daß es schwerfiel zu folgen.
„Wir könnten den Wald kaufen!“
„Oder wir bestechen die Waldverwaltung!“
„Wir vergiften die Rinder!“
„Vergiften ist gemein! Wir jagen ihnen einfach so viel Angst ein, daß sie davonrennen. Schließlich sind wir angeblich wilde Raubtiere!“
„Zur Abschreckung können wir ja so tun, als hätten wir eine Kuh gefressen!“
„Noch abschreckender wäre es, wenn wir einen Rancher fressen!“
„Das ist mir alles zu blutig! Bauen wir doch eine Rutschbahn aus Kuhscheiße an einem steilen Hang – dann rutschen ein paar Rinder aus und brechen sich die Knochen, und alle anderen werden bestimmt an einen anderen Ort verlegt, weil es hier zu gefährlich ist.“
„Wir können auch eine künstliche Eisbahn anlegen, das ist genauso schlüpfrig – ihr kennt doch den Spruch: ‚Die Kuh muß vom Eis‘?“
Tumu hielt sich die Ohren zu und versuchte gleichzeitig, sich zu Wort zu melden. Das war gar nicht so einfach, denn sie konnte mit den Fäusten auf den Ohren nur einen Signalfinger in die Luft strecken. Bevor Bärdel, der die Versammlung leitete, sie endlich bemerkte, hatte sie viel Zeit sich umzusehen. Die männlichen Jungbären reagierten entzückt auf die Vorschläge, Gewalt anzuwenden, und ihr eigener Sohn war offenbar fasziniert von der technischen Herausforderung, mitten in der Wildnis eine Kunsteisbahn zu installieren. Sie schüttelte den Kopf.
„Sagt mal“, schimpfte sie, als sie endlich an der Reihe war, „sagt mal, was werden die Menschen denken, wenn wir einen von euren Vorschlägen verwirklichen? Irgendeinen? Sie werden wissen wollen, wer dahintersteckt, richtig? Und sie werden uns finden, irgendwann. Wenn ich mich korrekt erinnere, sind wir aber hier, weil wir gerade nicht gefunden werden wollen. Auch richtig? Richtig! Also laßt euch bitte etwas Vernünftiges einfallen, bevor ihr hier dumm rumredet!“
Nach Tumus zornigem Beitrag herrschte Stille, und manche Bären senkten beschämt den Kopf. Bärdel ließ einige wirkungsvolle Sekunden verstreichen, ehe er sagte: „Damit ist wohl klar: Wir müssen versuchen, eine Methode zu finden, die die Rinder hier vertreibt, die aber keinen Rückschluß auf uns zuläßt.“
Diese ernüchternde Feststellung dämpfte den Elan der Versammlung erkennbar. Niemand meldete sich zu Wort. Deshalb machte Bärdel einen Beitrag zur inhaltlichen Diskussion: „Wenn die Rinder vertrieben werden, werden die Menschen immer nach der Ursache suchen. Es muß so aussehen, als würden sie aus eigenem Antrieb verschwinden. Ich habe allerdings keine Idee, wie…“
Kulle macht auf schlau!
„Aber ich!“ platzte Kulle dazwischen. „Danke für das Stichwort! Wir machen die Rinder einfach antriebslos, oder besser: trieblos. Wenn die Stiere nicht mehr auf die Kühe steigen, erledigt sich das Problem binnen kurzer Zeit von allein. Bei den Menschen wäre das genauso, wenn…“
„Kulle!“ mahnte Bärdel. Er wie alle anderen wußte natürlich, daß Kulle vor kurzem eine wissenschaftliche Arbeit über die menschliche Sexualität geschrieben hatte, auf die er mächtig stolz war.1 Er wollte bei jeder passenden und, wie man gerade feststellen mußte, unpassenden Gelegenheit darüber reden. Aber zumindest Manfred fand, daß seine Idee einen Kern enthielt, über den nachzudenken sich lohnte.
„Als ich damals bei den Menschen einen Job finden wollte,2 habe ich gesehen, daß sie den Stadttauben ein Mittel ins Futter getan haben, das sie unfruchtbar machte. Das könnten wir doch auch versuchen! Die Möglichkeiten dazu haben wir: In Moab liegen 13 Millionen Tonnen schwach radioaktiven Abfalls leicht zugänglich herum, und hier oben auf der Polar Mesa gibt es zahlreiche alte Schächte – alles Reste des Uranbooms in den fünfziger Jahren. Da sollten sich schon Wege finden lassen, um den Stieren zwar nicht die Lust zu nehmen, sie aber am Kälbchenzeugen zu hindern.“
„Oh nein!“ rief Bärdel. Er hatte völlig vergessen, daß er sich als Diskussionsleiter zurückzuhalten hatte. „Nein! Mit diesem radioaktiven Zeugs will ich nie wieder etwas zu tun haben. Ich habe noch genug von den Problemen, die wir damals in Dehland damit hatten.3 Damit zu spielen ist viel zu gefährlich. Und außerdem: Rinder sind keine Tauben, sie haben einen wesentlich längeren Reproduktionszyklus. Wenn wir unser Problem mit Hilfe deiner Methode lösen wollten, könnten sich vermutlich unsere Enkel über das Ergebnis freuen.“
Bärdels letzten Gedanken kommentierte Kulle mit einem gewichtigen zustimmenden Nicken.
Wieder herrschte Stille. Nach einer Weile murmelte das Schwein gedankenverloren vor sich hin: „Die Kuh, mit der ich am ersten Tag hier geredet habe, fand ich sehr nett. Wir sollten ihr nichts tun, das wäre gemein.“
„Was genau hat die Kuh gesagt?“ erkundigte sich Bärdel. Er fand eigentlich nicht, daß das wichtig war, aber da die Diskussion in einer Sackgasse steckte, fiel ihm nichts Besseres ein.
Das Schwein setzte sich aufrecht hin und sagte schlicht: „Ich zitiere.
‚Menschen?“ Kenn‘ ich nich…Hier gibs nur Mütter unn Kinner, unn Stiere natürlich. Wolln immer bloß das eine, die unverschämten Kerle. Unn Cowboys. Die sinn gefährlich, weil se dich nämlich verbrenn. Oder se machn dirn Loch ins Ohr ohne Betäubung, wie bei mir. Siehste?…Aba die komm nur ganz selten. Unn so ne halbe Portion wie du kümmert die bestimmt nich.‘ Zitat Ende.“4
„Die hat aber ein schlichtes Gemüt“, kommentierte Tumu. „Als hätte sie ihr Leben lang nur ‚WILD‘ gelesen.“
„Hierzulande liest man nicht“, korrigierte Dina. „Hierzulande sieht man fern!“
„Ja, natürlich. Hierzulande sieht man fern.“ Tumu wiederholte die Aussage, als dächte sie intensiv darüber nach. „Ramses, wie ist das hier, wenn die Menschen fernsehen?“
Allmählich, dachte Bärdel, entfernte sich die Diskussion so weit von ihrem Problem, daß sie es nie lösen würden. Zumindest nicht heute Abend. Aber er griff nicht ein, denn ein Gespräch über das falsche Thema war immer noch besser als unbehagliches Schweigen.
„Bei vielen läuft der Fernseher einfach nebenbei, wie in Dehland früher das Radio. Man sieht hin oder läßt es bleiben. Viele Menschen kleben allerdings viele Stunden täglich vor dem Bildschirm, als seien sie angeleimt. Sie stehen nur auf, um sich etwas zu essen zu holen oder um auf die Toilette zu gehen.“
Viele Bären, die von dergleichen absonderlichen menschlichen Gewohnheiten bisher nichts gewußt hatten, wandten sich ihren Nachbarn zu und wollten mit ihnen weiter in kleinen Gruppen darüber reden, aber Tumu schnitt das entstehende Gemurmel mit einer kurzen Handbewegung ab.
„Was essen sie?“
„Meist Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe, die man nur kurz in der Mikrowelle zu erhitzen braucht. Solche Mahlzeiten heißen auch ‚TV-Dinner‘“.
„Und wenn der Kühlschrank gerade mal leer ist, weil die Menschen vor lauter Fernsehen nicht zum Einkaufen gekommen sind?“ In Tumus interessierter Frage schwang Verachtung mit.
„In diesem Fall gibt es vermutlich irgendwo in der Wohnung noch größere Mengen Kartoffel- oder Maischips, Schokoriegel oder ähnliches. Und wenn auch das fehlen sollte – Softdrinks sind immer im Haus, und sie sind so süß, sie haben so viele Kalorien, daß sie den Hunger zumindest für eine Weile vergessen lassen.“
„Danke für die Auskunft“, sagte Tumu zu Ramses. An alle gewandt, fügte sie hinzu: „Ich denke, das ist die Lösung. Bei geschickter Programmauswahl sollte es nicht allzu lange dauern, bis wir hier nicht mehr ausrutschen – selbstverständlich ohne jemandem etwas getan zu haben.“ Sie nickte dem Schwein zu.
Aller Augen starrten sie groß und verwundert an. In ihrem blanken Unverständnis ähnelten sie Fernsehbildschirmen. Es gab nur zwei Ausnahmen. Manfred strahlte, nahm Tumu in die Arme und schwenkte sie durch die Luft. „Mama, du bist genial!“ rief er dabei.
Bären haben Fehler, wie alle Lebewesen auf dieser Erde. Ein typischer bärischer Charakterzug ist falscher Stolz. Wenn ein Artgenosse behauptet, etwas Wichtiges verstanden zu haben, würde ein Bär niemals eingestehen, daß er diesen Sachverhalt nicht begriffen hat. Deshalb fragte niemand nach, worin Tumus Idee bestand, aber die Neugier nagte an vielen, und deshalb wurde in der folgenden Nacht ein Rekord an unruhigen Träumen aufgestellt.

Dabei war doch alles ganz einfach.
An den Stellen, an denen die Rinder sich besonders gern aufhielten, vor allem an ihren Tränken, installierten die Bären große Fernsehbildschirme. Darauf überspielten sie drei Programme. Das eine hatte einen Fernsehprediger im Mittelpunkt, der jedem, ob Mensch oder Tier, das Himmelreich versprach, wenn er nur oft genug ‚Hallelujah‘ rief. Das zweite zeigte eine Reality-TV Show: Neun Kühe auf einer einsamen Insel. Im dritten lief eine Soap-Opera mit dem Titel: ‚Unsere Kuhweide‘. Die 524. Folge hatte als Plot: ‚Mein Stier geht fremd‘.
Wie Tumu es erwartet hatte, waren die Rinder von den Programmen fasziniert und vergaßen darüber zu fressen. Ihren Durst stillten sie an den gewohnten Wasserstellen. Da das Wasser mit Cola- und Pepsikonzentrat versetzt war, vergaßen sie nach den Trinken ihren Hunger und stellten sich wieder vor sie Glotze.
Die Rancher, die ihren Viehbestand ab und an kontrollierten, konnten sich den Rückgang der Fleischqualität ihrer Rinder in den LaSals nicht richtig erklären. Die Tiere verloren zwar kaum an Gewicht, aber ihre Muskelkonsistenz war wässrig-faserig. Schlechtes Fleisch brachte schlechtes Geld. Man vermutete, daß die Freisetzung von radioaktivem Material in den fünfziger Jahren auch nach Jahrzehnten noch auf Pflanzen wirkte. Man wollte kein Risiko eingehen.
Die Rancher beschlossen, ihre Weiderechte in den LaSals einfach ruhen zu lassen.

Bärdel und Ramses gingen einander entgegen. Sie freuten sich an den wunderschönen Blumen, die rechts und links des Weges wuchsen, umarmten einander und waren Tussi dankbar dafür, daß sie hier sein durften.


Fußnoten:

1 vgl. Kulle: Sexualität   To Top

2 vgl. Jobsuch e   To Top

3 vgl. Die Sägebande   To Top

4 vgl. Der erste Tag   To Top

Anasazi

anasazi2

„Das darfst du nicht!“
Bärdel duckte sich instinktiv, als er die ärgerliche Stimme hörte. Er steckte mitten im Unterholz am Rande des Waldes unten in den Bergen, und dichtbelaubte Eichenbüsche, undurchdringlich für die Augen, trennten ihn von dem Sprecher, der sich anscheinend in offenem Gelände aufhielt. Da er nicht entdeckt werden wollte, verzichtete er darauf, sich näher heranzuschleichen. Das Rascheln der Blätter hätte ihn verraten können. Er vertraute allein auf seine Ohren, hockte sich nieder und schloß die Augen, um sich besser auf sein Gehör zu konzentrieren. „Anasazi“ weiterlesen

Morgenspaziergang

Morgenspaziergang

Auch in der neuen Welt wollten die Übersiedler selbstverständlich nicht auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten – schließlich waren sie konservative Europäer. So hatten Bärdel und Kulle ihre morgendlichen Spaziergänge wieder aufgenommen, sobald Kulles Pfoten verheilt waren (vergleiche: „Der erste Tag„). Anders als in Bärenleben aber bestand Bärdel darauf, in Kulles Nähe zu bleiben – er befürchtete weitere unbedachte Taten seines Freundes. Da er es verstand, seinen Mund zu halten, akzeptierte Kulle die Begleitung ohne irgend einen Kommentar.
Morgen in den Lasalls
Wie auch früher hielten sie eine feste Route ein: Ihr Weg führte sie bergauf über eine Wiese bis zu einem Bach, der unterhalb eines Geröllfeldes talabwärts plätscherte, dann parallel zum Hang durch einen lichten Aspenbestand und in einem sanften Bogen wieder hinunter zurück zur Höhle, die sie inzwischen „Zuhause“ nannten. Direkt hinter dem Wäldchen kreuzten sie dabei einen Fahrweg, der nach dehländischen Kriterien den Namen „Straße“ nicht verdiente, hierzulande aber durchaus als solche galt. Allerdings hatten sie noch nie erlebt, daß jemand diese sogenannte Straße benutzte. Bis heute.
Kulle wollte gerade, gedankenverloren wie immer, den Schutz der Bäume verlassen, als Bärdel nach ihm griff und ihn gerade noch am Schulterfell erwischte.
„Stop!“ flüsterte er. „Da ist doch was!“
Auf dem Fahrweg oder auf der Straße, jedenfalls auf dem festgefahrenen Lehm, stand ein Auto. Es sah so aus, als gehörte es nicht hierher in die Berge und als wollte es auch nicht hier sein. Der ehemals weiße PKW war lehmüberkrustet. Der linke Vorderreifen war platt, und unter dem Wagen breitete sich eine übelriechende schillernde Öllache aus. Die Scheiben waren dunkel getönt, aber dennoch konnten die beiden bei genauem Hinsehen erkennen, daß die Vordersitze besetzt waren.
„Menschen!“ Bärdels Stimme war noch leiser als vorhin. „Laß uns verschwinden!“
Kulle schüttelte jedoch den Kopf. Er sah Studienobjekte vor sich, keine unmittelbare Gefahr. „Nicht so eilig“, sagte er. „Die beiden schlafen doch, das sieht sogar eine Blindschleiche. Außerdem sieht es sehr so aus, als ob sie sich verirrt hätten – ihr Auto ist jedenfalls eine einzige Katastrophe. Ich möchte mir das näher ansehen.“
Morgen in den Lasalls
Bevor Bärdel reagieren konnte, sah Kulle sich das näher an, so wie er es verstand: Er ging ohne Umschweife auf das Auto zu und riß die Beifahrertür weit auf. Der Oberkörper eines jungen Mannes in dunkelblauem Anzug rutschte in den frei gewordenen Raum, und der Kopf wäre auf den harten Boden aufgeschlagen, hätte Kulle ihn nicht im letzten Moment aufgefangen.
„Oh“, sagte Kulle überrascht.
„Oh“, sagte der junge Mann und schlug die Augen auf. Er machte die Augen sofort wieder zu, und sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Zuerst schien er skeptisch zu sein, aber dann begann er zu lächeln. Das Lächeln wurde immer strahlender, und als sein Mund so breit war, daß er die Ohren zu berühren schien, schlug er die Augen wieder auf. Er schaute Kulle voller Vertrauen an, hob die Arme hoch über seinen Kopf und senkte sie stufenweise wieder.
Pay Lay Ale“, sagte er dabei.
„Kulle“, sagte Kulle, als er sich seinerseits vorstellte. Er war jedoch verwirrt – so einen merkwürdigen Namen hatte er noch nie gehört, und auch das Begrüßungsritual war ihm unbekannt.
Seine Antwort schien den jungen Mann nicht minder durcheinanderzubringen. Er schloß seine Augen wieder, rieb sich die Stirn, massierte sich die Schläfen und sah Kulle danach zum zweiten Mal an. Diesmal war sein Blick mißtrauischer und klarer zugleich. Er schüttelte den Kopf, als hätte er einen entsetzlichen Fehler begangen, und wandte sich der Gestalt auf dem Fahrersitz zu. Kulle beugte sich tiefer hinab, um besser sehen zu können.
Der Mann auf dem Fahrersitz war ebenso jung und ebenso weiß wie der Beifahrer und trug den gleichen blauen Anzug. Auch er schlief fest oder war vielleicht  ohnmächtig, wie es sein Freund oder Kollege vor wenigen Minuten auch getan hatte oder gewesen war. Kräftiges Schütteln seines Beifahrers brachte ihn jedoch wieder zu Bewußtsein.
„Wasser!“ sagte er.
Damit konnten die Spaziergänger dienen. Seit dem Abenteuer des ersten Tages hatte Bärdel die Höhle nie wieder verlassen, ohne eine große Flasche Wasser mitzunehmen, und sei es auch nur für einen kurzen Ausflug. Und er hatte allen Bärenlebenern eingeschärft, es genauso zu halten. Also drängelte er sich jetzt nach vorne und reichte seine Flasche ins Auto.
„Bitte, trinkt ruhig, soviel ihr mögt. Wir haben genug.“ Selbstverständlich sprach Bärdel amerikanisches Englisch, aber als er sprach, merkte er, daß der junge Mann das nicht getan hatte. „Wasser“ hatte er verlangt. Buchstäblich. „Wasser“ auf deutsch.
Nachdem sowohl der Fahrer als auch sein Begleiter die Flasche gierig geleert hatten und sie, sichtlich beschämt wegen ihrer Gier, zurückgaben, begann Bärdel zu fragen. „Seid ihr Deutsche?“
Beide nickten.
„Verirrt?“ Beide nickten wieder.
„Touristen?“ Beide schüttelten den Kopf.
„Nein, wir sind Miss…“, begann der eine, aber der andere fiel ihm sofort ins Wort. „Dürfen wir euch etwas fragen?“ wollte er wissen.
“Selbstverständlich!“ sagte Kulle spontan. Er war überzeugt davon, daß es keine Frage gab, die er nicht beantworten konnte.
„Glaubt ihr an Gott?“
Das überraschte Kulle denn doch, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann aber holte er tief Luft. „Natürlich ni…“
Morgen in den Lasalls
„Natürlich nimmt diese Frage sich unter völlig Fremden ein wenig merkwürdig aus“, erklärte Bärdel anscheinend seelenruhig beinahe gleichzeitig. Die beiden Fremden sahen jedenfalls nicht, daß er Kulle heftig in die Seite knuffte, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Es ist schließlich eine sehr persönliche Frage, aber ich will sie trotzdem beantworten: „Ja!“
Kulle blies ihm seinen heißen Atem ins Gesicht, als er ihn verblüfft ansah, aber Bärdel zwinkerte oder blinzelte kein bißchen. Stattdessen lächelte er die Fremden harmlos und strahlend an.
Die beiden strahlten zurück. Der Zusammenbruch ihres Autos, ihre offensichtliche Erschöpfung, vielleicht sogar Verletzungen – alles schien wie weggeblasen. „Wir auch!“ sagten sie im Chor. Und ebenfalls unisono: „Es ist schön, euch zu treffen, Brüder!“
„Gut, gut“, brummte Kulle, „dann sind wir uns also einig, und jeder kann wieder seiner Wege gehen.“ Er sah Bärdel auffordernd an. So neugierig er auch war, einen Disput mit religiös Verrückten, die auf einem Waldweg in einem zusammengebrochenen Auto saßen, hielt er für wenig fruchtbar. Bärdel schien jedoch anderer Meinung zu sein, denn er blieb wie angewurzelt stehen und wartete offenbar auf etwas. Er brauchte nicht viel Geduld zu haben.
„Die Botschaft der Bibel ist wunderbar, nicht wahr?“ fragte Fahrer.
Bärdel nickte mit verklärtem Lächeln. Kulle schaute mehr und mehr verwirrt drein.
„Aber…“ sagte Fahrer.
Bärdel runzelte die Stirn. Er schien nicht geneigt, irgend etwas auf die Bibel kommen zu lassen.Kulle sah jedoch, daß er schauspielerte. Er hatte zunehmend das Gefühl, an einer Schmierenkomödie teilzunehmen, die er allerdings nicht kannte.
„Aber was?“ wollte Bärdel wissen.
Seine augenscheinliche Skepsis veranlaßte Fahrer zu einer anderen Strategie. „Aber viele Menschen glauben leider, daß Gott sich heute nicht mehr offenbart“, erklärte er.
„Tut er das denn?“ Das war wieder Bärdel.
Kulle verlor die Geduld. Gut, abstrakt hatte er verstanden, was hier ablief. Die beiden jungen Männer wollten ihn und seinen Freund für ihre Religion keilen. Bärdel hatte das eher begriffen als er und wollte die beiden jetzt genüßlich und ausführlich vorführen. Aber Kulle hatte keine Lust, sich eine langatmige und bestimmt langweilige Religionsgemeinschaftsgründungs- oder Wundergeschichte anzuhören nach dem Schema: Jungfrau Maria erscheint drei armen Bauernmädchen, Gott erscheint viehhütendem Araberjungen, Nomade klettert bei schlechtem Wetter auf einen Berg – oder so ähnlich. Da er in Amerika war, war er sicher, daß in der Story der Beiden Gottvater samt Sohn, vielleicht auch noch begleitet von einer Dunstwolke, einem Knaben erschienen war, der vermutlich Miller oder Smith hieß – eigentlich also nichts Neues. Viel spannender war da doch, was die neue Religion zu bieten hatte.
„Also, das tut er bestimmt, wenn ich euch beide so ansehe. Wer mitten in der Wildnis über nichts anderes reden will als über Gott, dem ist er zweifellos erschienen!“ knurrte er. Bärdel sah ihn böse an, aber die beiden jungen Männer strahlten Kulle an, als sei er der Weihnachtsmann. „Na, dann erzählt mal – wie ist die Kosten-Nutzen-Relation?“
Bärdel fühlte sich genötigt zu übersetzen, als er die Verwirrung der Autofahrer bemerkte. „Mein Freund möchte gerne wissen, was der Gott, an den ihr glaubt, von seinen Dienern verlangt und wie er ihren Dienst belohnt. Mich interessiert das natürlich ebenfalls“, fügte er höflich hinzu.
Jetzt waren die beiden jungen Männer nicht mehr zu halten. Sie stiegen aus ihrem Auto, federnd und energiegeladen, kamen auf Bärdel und Kulle zu, legten ihnen jeweils einen Arm über die Schulter und übertrumpften sich wechselseitig mit ihren Erklärungen.
„Errichtung des Gottesreiches in Amerika…“
„Ewiges Leben im Himmel, in der Anwesenheit Gottes, mit eurer gesamten Familie…“
„…also mit allen Generationen…“
„…selbstverständlich ewige Fortführung der Ehe…“
„Ein glückliches, drogenfreies Leben auf dieser Erde…“
„Ein irdisches Leben ohne überflüssige Zweifel, denn wir gehorchen der Obrigkeit und dem Gesetz…“
„Beistand von geschulten Brüdern und Schwestern bei allen Problemen, mindestens einmal monatlich…“
Das verbale Trommelfeuer der beiden wollte zunächst gar nicht wieder aufhören, aber endlich verebbte ihr Redefluß.
„Das alles und noch mehr gibt es nur für den Zehnten“, sagte schließlich Fahrer. „Und ein bißchen Engagement“, fügte Beifahrer hinzu. Sie schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an.
Kulle suchte den Blickkontakt mit Bärdel, und Bärdel nickte. Kulle hatte freie Bahn. Bärdel sah aus, als freute er sich kräftig auf ein ordentliches show-down, aber Kulle enttäuschte ihn.
„Hmhm“, machte er. „Wir sollten jetzt mal alle kräftig anfassen, den platten Reifen wechseln und euer Auto umdrehen, damit ihr wenigstens bergab rollen könnt und wieder zu euren Leuten kommt. Die Bremsen sind doch in Ordnung, oder?“
Die beiden Männer schwankten eine Weile zwischen dem Wunsch nach der Fortsetzung ihres theologischen Gesprächs und der vorgeschlagenen Rettungsmaßnahme hin und her, entschieden sich schließlich jedoch für Kulles Vorschlag. Als ihr Auto nach einer arbeitsamen Weile mit der Nase bergab zeigte, stiegen sie ein, bedankten sich, versprachen wiederzukommen, schalteten die Zündung ein, lösten die Bremse und legten den Leerlauf ein. Langsam, dann rascher begannen sie zu rollen. Bevor sie hinter der ersten Kurve verschwanden, leuchteten die Bremslichter auf.
Bärdel grinste Kulle an. „Das waren übrigens
LDS“, informierte er ihn. „Ich habe sie sofort erkannt, denn Ramses hat mir inzwischen einiges über sie erzählt. Deshalb dachte ich, daß ich sie dir bei dieser günstigen Gelegenheit gleich live vorführen sollte. Aber sag mal – seit wann bist du denn gegenüber religiösen Eiferern so nachsichtig, daß du auch noch dafür sorgst, daß sie sicher nach Hause kommen?“
„Nachsichtig?“ knurrte Kulle. „Bin ich das? Ihre Ölwanne ist leer, also können sie den Motor nicht anlassen. Der würde sich sofort festfressen. Ohne Motor haben sie keine Bremskraftverstärkung. Auch als LDS-Mitglied sollte man solche simpelsten technischen Sachverhalte kennen. Wenn sie heil unten ankommen wollen, dann brauchen sie also entweder kräftige Muskeln oder einen kräftigen Gott. Haben sie eins von beiden oder beides, dann wünsche ich ihnen ein glückliches drogenfreies Leben unter irgendeinem grausamen, aber selbstverständlich von Gott eingesetzten Diktator. Und wenn ihnen beides fehlt, ist das auch nicht schlimm, denn es erwartet sie ein nicht endendes Leben mit ihrer lieben Familie in Gottes Reich.“
„Um Gottes willen!“ flüsterte Bärdel entgeistert.
„Nun fang du nicht auch noch so an!“ fauchte Kulle. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, erstens. Wir können solche Typen hier oben nicht brauchen, zweitens. Und jetzt ist es Zeit zum Frühstücken.“

 

Identitätsdiebstahl

 

Versammlungsplatz
Manfred war glücklich. So glücklich, daß er in infantile Gewohnheiten zurückfiel und sich ertappte, wie er ein dummes altes Kinderlied vor sich hinbrummte: „Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.“ Dabei drückte er seinen neuen Laptop fest an sich. Die größte Hürde war genommen.
„Wo hast du das Ding denn her?“ wollte Bärdel mißtrauisch wissen, als er den flachen schwarzen Kasten zum ersten Mal zu Gesicht bekam.
„Den habe ich geschenkt bekommen“, sagte Manfred mit der unschuldvollsten Miene, zu der er fähig war. Das war fast gar nicht gelogen,1 Bärdel hatte dennoch das Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmte, aber er war klug genug, vorsichtshalber nicht genauer nachzufragen.
Mit Hilfe des Laptops und seines „Text to Speach“-  Programms lernten die Bären Englisch. Ihre hauptsächliche Hilfe dabei war allerdings Athabasca, die unermüdlich ihre Aussprache korrigierte und ihnen half, auch das kleinste Detail ihrer neuen Umgebung richtig zu benennen. Dabei lernte sie selbst übrigens ausgezeichnet Deutsch.
Natürlich hatten Manfred und seine Freunde den Computer nicht hauptsächlich deshalb „organisiert“, wie sie das nannten, um Englischlektionen abzuhalten. Er war der erste Baustein für den umfassenden Kontakt zur Außenwelt, den die Bären in Dehland gehabt hatten und den sie sich hier wieder wünschten. Einige Besuche in den umliegenden Siedlungen hatten die technische Ausrüstung um elektrische Leitungen, Glühbirnen und Steckdosen ergänzt, und Manfred hatte den nächstgelegenen Transformator angezapft.

Auch in Dehland war das die gängige Methode gewesen, Bedarfsartikel von geringem Wert zu besorgen, aber hier galt es, wesentlich vorsichtiger zu sein, das bemerkten die Bären bald. Die wenigen Menschen, die hier lebten, hatten zwar alle eine gut ausgestattete Werkstatt, aber das gesamte Inventar darin war so sorgfältig sortiert, daß jeder fehlende Gegenstand schnell auffallen mußte. Wer so ordentlich war, war entweder ein analer Charakter oder arm – für die Bären kam beides auf das gleiche heraus. Deshalb rief Manfred eines Nachmittags seine Freunde zusammen. Er kündigte an, es gebe Wichtiges zu besprechen, und so kamen alle. Auch Athabasca gesellte sich neugierig dazu.
„Das hier wird uns helfen, unsere Probleme zu lösen!“ verkündete Manfred der Versammlung. „Das hier“ war eine Büroklammer, eine verbogene Büroklammer, die er für alle sichtbar hochhielt.
Unwilliges Brummen und auch amüsiertes Kichern wurden laut. Da Manfred dergleichen erwartet hatte, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Das soll kein Witz sein“, erklärte er geduldig. „Mit so einem kleinen Ding kann man hervorragend einfache Schlösser öffnen, ohne daß sie Schaden nehmen. Ich werde es euch zeigen!“
Kulle

„Das brauchst du uns nicht zu zeigen, das weiß doch nun wirklich jeder!“ knurrte es unwillig aus einer Ecke. Manfred suchte den Sprecher, der erst jetzt den Kopf in die Höhe reckte, und entdeckte Kulle. Er seufzte. Kulle, der immer besserwisserische Kulle, würde seine Aufgabe nicht gerade erleichtern.
„Also ich weiß zum Beispiel nicht, wie man das macht!“ Athabasca kam Manfred zu Hilfe. Aber der freute sich zu früh, denn sie fuhr fort: „Man braucht das auch nicht zu wissen. Niemand hier schließt sein Haus ab, das sollte euch inzwischen aufgefallen sein. Warum also soll man Schlösser knacken?“
Überall in der Runde nickten die Bären mit dem Kopf. Atti hatte völlig recht – sie hatten ihre kleinen Diebstähle begehen können, ohne durch irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen behindert worden zu sein.
Manfred unterdrückte seinen aufkommenden Unwillen. „Schön und gut“, sagte er. „Aber, Atti, hast du schon mal einen Briefkasten aufgemacht?“
„Natürlich nicht. Warum sollte ich auch? Papier kann man nicht essen, oder ist das in Dehland anders?“ Wieder hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.

Wortlos holte Manfred einen Stapel Papier hinter seinem Rücken hervor und warf ihn schwungvoll in die Versammlung. Briefe, Karten, Hefte und Faltblätter lösten sich voneinander und flatterten durch die Luft. Die wenigsten fielen zur Erde, denn die meistern wurden von den neugierigen Bären aufgefangen. „Das ist der typische Inhalt eines Briefkastens hier in der Gegend“, erklärte er. „Essen kann man den selbstverständlich nicht. Aber seht ihn euch doch mal an – vielleicht ist etwas Interessantes dabei!“
Eine Weile lang war nur noch das Rascheln von Papier zu hören. Dann mischte sich das eine oder andere unterdrückte Kichern darunter. Noch nie zuvor hatten die Bären Post gesehen, die zu über neunzig Prozent aus Überflüssigem bestand, nämlich aus Werbung. Besonders bunt und umfangreich stachen die Gartenkataloge hervor, aber auch die Hersteller von Werkzeugen und elektronischen Artikeln priesen ihre Produkte prahlerisch an. Daneben warben die regionalen Geschäfte mit ihren Sonderangeboten, von denen eines angeblich immer sensationeller und günstiger war als das andere. Wesentlich seriöser gab sich dagegen die Finanzwelt: Versicherungen gegen und für alles wie auch Geld machten das Leben angeblich kalkulierbar, angenehm und sorgenfrei.
„Guck mal hier, ein Plastikbär als Dekoration für den Garten!“
„Toll – auf diesen Fernseher für 69$ gibt es 99$ Rabatt!“
„Hmm, eine Platinum-Kreditkarte, für die man ein Jahr lang keine Gebühren zu zahlen braucht – die hätte ich gerne!“
„Ich auch“, erklärte Manfred. Und deshalb brauchen wir die da!“ Jetzt hielt er nicht nur eine, sondern mehrere verbogene Büroklammern hoch.
Kulle schüttelte enttäuscht den Kopf. Mit Manfred hatte er sich viel Mühe gegeben, sehr viel Mühe sogar. Er war ja auch ein intelligenter Bursche. Aber mit der Logik haperte es bei ihm, wie sich auch jetzt wieder zeigte. „Manfred“, sagte Kulle und legte all die Geduld in seine Stimme, zu der er fähig war – also gar keine. „Manfred, dieses Kreditkartenangebot ist nicht für dich, sondern für…“ Er griff nach dem Briefumschlag. „…für Michael A. Pratt in Castle Valley.“
Wortlos nahm Manfred ihm das Papier aus der Hand, zog einen Kugelschreiber hinter dem Ohr hervor und füllte einige Spalten aus. Dann gab er Kulle alles zurück, immer noch schweigend. Während Kulle las, murmelte er vor sich hin.
„Ja! Ich, Michael A. Pratt, will…Angebot annehmen…keine weiteren Verpflichtungen…keine Jahresgebühr…Castle Valley…Michael Pratt.“ Er holte tief Luft. „Urkundenfälschung!“ brummte er empört.
„Genau: Urkundenfälschung! Na und?“ Manfred ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich verstehe das alles nicht“, beschwerte sich ein Jungbär, der sich gerade erst von seiner Mutter getrennt hatte – genau genommen, hatte sie ihn weggejagt, weil er ihr lange genug am Fell gehangen hatte. Er hieß Del. Jetzt war er zum ersten Mal bei einer Erwachsenenversammlung, worauf er mächtig stolz war. Er hatte sich vorgenommen, sich ganz cool zu geben, und bis eben hatte das auch geklappt.

Als Del sich auf einmal im Mittelpunkt des Interesses bemerkte, wurde er blaß um die Schnauzenspitze, aber er sprach tapfer weiter. „Dieser Michael Pratt bekommt aufgrund von Manfreds Urkundenfälschung demnächst eine Kreditkarte zugeschickt – und was haben wir davon?“
„Manfred hielt seine Büroklammer zum dritten Mal hoch. „Wir klauen ihm die Kreditkarte, und dann haben wir sie, und dann können wir damit einkaufen.“ Er lächelte und war erkennbar stolz auf sich.
„Erst Urkundenfälschung und dann noch Betrug! Schwerer Betrug! Junge, wer hat dir das eigentlich beigebracht?“ Kulle war aufgesprungen, gestikulierte wild und zupfte an seiner Fliege. Er bot ein Bild reinster Empörung.
„Du“, antwortete Manfred seelenruhig. „Nein, natürlich nicht diese Aktion hier konkret.“ Er streckte vorbeugend den Arm aus, um Kulle notfalls abwehren zu können, falls der sich auf ihn stürzen wollte. „Aber abstrakt schon. Wer hat mir denn beigebracht, daß die Expropriateure expropriiert werden müssen? Genau das mache ich hier. Mr. Pratt passiert gar nichts. Wenn er seine erste Kreditkartenabrechnung bekommt, wird er der Firma mitteilen, daß er die entsprechende Karte gar nicht besitzt. Das war‘s. Geschädigt ist die Bank, und die hat nichts Besseres verdient. ‚Was ist der überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer Bank‘, sagt Brecht. Und wer hat mich den Spruch gelehrt? Kulle!“
Kulle sank in sich zusammen und wieder auf den Boden zurück. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich in seinem Gesicht. Zwar fühlte er sich gedemütigt, aber er war auch mächtig stolz auf seinen Schüler Manfred.
„Aber…“, begann Del schüchtern.
„Ja?“ fragte Manfred geduldig.
„Wenn dieser Mr. Pratt der Bank geschrieben hat, dann ist die Karte bestimmt ungültig oder steht auf einer schwarzen Liste, und wer damit einkauft, wird verhaftet. Oder täusche ich mich?“
„Du hast völlig recht. Diese eine Karte können wir nur für kurze Zeit gebrauchen, dann müssen wir sie wegwerfen. Aber es gibt hier viele Briefkästen und viele Kreditkartenangebote. Wir müssen sie nur nutzen. Und dafür brauchen wir diese Büroklammern. Kulle wird euch zeigen, wie man sie ansetzen muß. Er hat vorhin ja gesagt, daß er Experte darin ist.“
„Nun, Experte nicht gerade“, knurrte Kulle, ob des Lobes schon wieder ein wenig mit Manfred versöhnt. „Aber selbstverständlich kann ich…“ Er griff mit der rechten Pfote nach dem Drahtstück, ohne den Satz zu beenden, und faßte mit der anderen das einfache Schloß, das Manfred ihm hinreichte. Aller Augen folgten ihm gebannt, als er die Klammer ins Schlüsselloch einführte, ruckartig hin- und herbewegte – und abbrach. „Das…das ist…ein unbekannter Mechanismus, der…“
Athabaska

Athabasca erlöste ihn aus der peinlichen Situation. Mit spitzen Zähnen zog sie das eingeklemmte Drahtstück aus dem Schloß heraus, bog sich den Rest der Büroklammer zurecht, stocherte ein bißchen – und das Schloß war entriegelt. „Geht wirklich ganz leicht, wenn man die entsprechenden geschickten Finger hat“, kommentierte sie und lächelte spitzbübisch. „Frauenfinger. übrigens Frauen – ich nehme an dieser Versammlung im Auftrag aller jungen Bärinnen teil, um euch zu sagen, daß wir beim nächsten Mal ebenfalls alle kommen werden. Ich bin authorisiert zu sagen, daß wir auch die halbe Wache an den Briefkästen übernehmen und die Hälfte aller Unterschriften fälschen. Und wir fordern einen Computerkurs. Langfristig wollen wir programmieren lernen, zunächst aber werden wir uns mit einer Einführung ins Internet zufriedengeben. Dann können wir nämlich ebenfalls mit ‚unseren‘ Kreditkarten einkaufen.“
Das Brummen der Bären, das jetzt laut wurde, übertönte so manches Zähneknirschen. Aber die Ablehnung blieb versteckt, denn Athabascas Forderungen waren nur gerecht, und Bären geben Fairneß immer den Vorzug, auch wenn eigene Privilegien dadurch gefährdet werden. Kulles und Manfreds Zustimmung waren dagegen uneingeschränkt.
Kulle beschloß, Atti ein wenig theoretisch zu unterweisen, und hatte dabei ‚Die Entstehung der Familie, des Privateigentums und des Staates‘ von Engels und ‚Die Frau und der Sozialismus‘ von Bebel im Sinn. Manfred grinste übers ganze Gesicht und freute sich darauf, Athabasca zu unterrichten. Er war so begeistert von der Idee, daß er völlig vergaß, daß sie nicht allein sein würden.

Kulles Wahl

Heuschrecke, Hase, Erdhörnchen, Luchs und Coyote hockten zusammen und beratschlagten. Da kam Kulle des Wegs. Er grüßte höflich und fragte, ob er sich ihnen zugesellen dürfe. Die Fünf schauten einander an, nickten sich zu, lächelten geheimnisvoll und wiesen auf einen Baum direkt vor ihnen.
„Wir haben uns hier getroffen, weil wir jemanden brauchen, der für uns auf diesen Baum klettert“, zirpte Heuschrecke.
„Allerdings darf nicht jeder dort hinauf!“ ergänzte Erdhörnchen.
Falscher Hase „Nein, keineswegs jeder!“ lispelte Hase und wackelte aufgeregt mit den Ohren. „Nur der, dem wir es erlauben.“
„Nur der, der unsere Fragen zufriedenstellend beantwortet hat“, konkretisierte Luchs.
„Unsere keineswegs einfachen Fragen!“ blinzelte Coyote geheimnisvoll.
Kulle fühlte sich geschmeichelt. Natürlich wollte er gerne für die Versammelten auf diesen Baum klettern, und sei es nur, um ihnen zu beweisen, daß er ihre komplizierten Fragen beantworten konnte. Dennoch ließ ihn seine gute Erziehung zögern.
„Warum braucht ihr einen Fremden für diese Aufgabe?“ wollte er wissen. „Jeder von euch kann auf diesen Baum klettern, denke ich, denn er ist sehr schief gewachsen, und auch Hase und Coyote können auf seinem Stamm emporwandern. Und wer schwierige Fragen stellen kann, wird auch schwierige Antworten wissen.“
„Ja, das stimmt schon!“ gab Luchs zu. „Ich habe aber gerade drei kleine Kinder, die ich versorgen muß. Und wenn ich oben auf dem Baum bin, kann ich nicht für sie jagen.“
„Ich mache lieber hier unten Musik, um eine Frau zu finden, und verstecke mich dabei zwischen den Grashalmen“, flötete Heuschrecke. „Oben in den Bäumen gibt es entsetzlich viele Vögel, die in mir nur eins sehen: ein Nahrungsmittel!“
„Ich interessiere mich nicht für Bäume!“ mümmelte Hase. Erdhörnchen nickte energisch und schloß sich seiner Meinung an.
Kulle registrierte, daß Coyote schwieg. Er sah ihn auffordernd an, jedoch erfolgte keine Reaktion. Also mußte er fragen: „Und warum kletterst Du nicht auf den Baum?“
„Ich bin farbenblind“, sagte Coyote.
Kulle zuckte die Schultern. Natürlich war Coyote farbenblind. Alle Coyoten sind farbenblind, das weiß jedes Biologiebuch. Coyote benutze offenbar eine billige Ausrede, wie die anderen auch.
„Na schön. Keiner von Euch will auf den Baum, also werde ich für Euch raufklettern“, sagte er.
„Halt!“ Alle riefen wie aus einem Mund. „Halt! Wir haben Dir doch gesagt, daß Du erst hinauf darfst, nachdem Du unsere Fragen beantwortet hast!“
Kulle hatte diese Bedingung vergessen, beziehungsweise hatte er nicht mehr an sie geglaubt, nachdem er festgestellt hatte, daß niemand auf den Baum klettern wollte.
„Also gut! Fragt!“ sagte er. Kulle war ein geduldiger Bär.
„Bist Du Demokrat oder Republikaner?“ wollte Hase wissen.
Kulle fand, daß diese Frage indiskret war. Er hatte nicht die geringste Lust, jemandem, den er kaum kannte, seine innerste politische Überzeugung zu verraten. Außerdem verriet die Frage einen äußerst beschränkten politischen Horizont. Er ließ sich jedoch nichts anmerken.
„Ich bin Republikaner“, sagte er und entschied sich damit entsprechend der politischen Theorie für die weitergehende Variante, denn sie schloß immerhin die Existenz einer Monarchie aus.
„Schade!“ sagten Hase, Heuschrecke und Erdhörnchen.
Falscher Hase „Wir haben eigentlich immer Demokraten gewählt“, sagte Heuschrecke zur Erklärung, als Kulle verwundert guckte.
„Nicht immer!“ korrigierte Hase.
„Nein, natürlich nicht immer, Aber immer dann, wenn wir gewählt haben!“ konkretisierte Erdhörnchen. „Weil die Demokraten die besseren Sozialprogramme haben.“
Kulle hatte keine Zeit, um die Stirn zu runzeln, die geballte Faust auf ein imaginäres Rednerpult fallen zu lassen und seinem Publikum eine Grundsatzerklärung über politische Partizipation zukommen zu lassen. Er war vollauf damit beschäftigt, Luchs‘ nächste Frage zu beantworten.
„Was wirst Du für mich tun, nachdem ich Dich gewählt habe?“
„Nachdem Du mich gewählt hast, werde ich Deine Interessen vertreten“, sagte Kulle so langsam, als ob er den Satz aus einm Schulbuch ablesen würde. „In Deinem Fall heißt das, daß Du so viele Tiere jagen kannst, wie Du willst. Für den Fall, daß Dir Fleischfasern im Gebiß hängen bleiben, die Du mit Deiner Zunge allein nicht beseitigen kannst, werde ich einen Fonds einrichten, aus dem Deine möglichen Kosten für einen Zahnarzt bezahlt werden.“
Luchs nickte zufrieden und machte Hase Platz. Wie Kulle erwartet hatte, wollte auch Hase nur das eine von ihm wissen.
„Was wirst Du für mich tun, nachdem ich Dich gewählt habe?“
„Du sollst so viele grüne Wiesen haben, wie Du nur willst. Ich werde alle saftigen Wiesen einzäunen und unter Naturschutz stellen lassen, damit Du immer genug zu mümmeln hast. Raubtiere, die Dich bedrohen, werden erschossen; dafür wird eine Behörde sorgen, die ich einrichten werde.“
Kulle schaute sich um und wartete auf eine Reaktion, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen stellte Heuschrecke ihm die Frage, die er inzwischen sehr gut kannte.
„Für Dich werde ich ein Verbot aller Insektenvertilgungsmittel durchsetzen. Du darfst so viel Gras und sogenannte Nutzpflanzen und Wildkräuter fressen, wie Du möchtest.“
„Danke“, sagte Heuschrecke. „Ich glaube Dir übrigens kein Wort!“
„Na endlich!“ Kulle war ungemein erleichtert. „Ich habe schon befürchtet, daß Ihr hier alle völlig debil seid. Erstens widersprechen sich alle meine Versprechungen, oder, um es kurz zu machen, sie sind antagonistisch, wenn Ihr versteht, was ich meine. Zweitens wäre es völlig hirnrissig zu glauben, daß jemand, der auf einem Baum sitzt, etwas verändern oder veranlassen soll. Er hat von dort oben doch eine völlig falsche Perspektive und sieht nicht, welche Probleme es tatsächlich gibt. Ich bin froh, daß das dumme Spiel hiermit vorbei ist. Jetzt solltet Ihr mir mal erzählen, wass Ihr wirklich von mir wollt!“
„Wir möchten, daß Du für uns auf diesen Baum kletterst!“ sagte Coyote. „Ernsthaft! Wir alle sind nämlich sehr überzeugt von Dir. Natürlich wissen wir, daß Du deine Versprechen nicht halten kannst. Luchs, Hase und Heuschrecke haben entgegengesetzte Interessen, Du kannst einfach nicht jeden zufriedenstellen. Auch wird bestimmt niemand Lust haben, Luchs eine Krankenversicherung für seinen Zahnarzt zu bezahlen. Das alles wissen wir. Aber Du hast überzeugend gesagt, was eigentlich gut für jeden von uns wäre. Vielleicht nicht gut für uns alle. Um das herauszufinden, müßten wir uns mal ernsthaft zusammensetzen. Das würde bestimmt lange dauern und uns davon abhalten, zu jagen und Musik zu machen und Gras zu fressen und was es sonst noch für wichtige Dinge gibt. Das schaffen wir nicht, und deshalb übertragen wir es Dir, für unser Wohl zu sorgen, obwohl wir wissen, daß Du es nicht kannst. Und jetzt rauf mit Dir – Du hast keinen Gegenkandidaten!“
Coyote bleckte die Zähne, und Kulle, der sich zu den klugen, aber nicht unbedingt zu den tapferen Bären zählte, schlug seine Klauen in die Baumrinde und stieg langsam am Stamm hinauf. Coyote, Hase, Heuschrecke, Luchs und Erdhörnchen begleiteten seinen Aufstieg mit Beifall.
„Es lebe unsere neue Regierung!“ riefen sie im Chor.
Kulle suchte sich eine bequeme Astgabel und versuchte, es sich gemütlich zu machen und nach dieser Überraschung erst mal erholsam zu schlafen. Über ein Programm zu Erziehung der hiesigen Bevölkerung würde er nachdenken, wenn er wieder wach war.

Kulle