Nach ihrem Unterricht in Menschenkunde und Mathematik waren Na und Nuk nicht zu bremsen: In Physik, Chemie und Biologie eigneten sie sich die wichtigsten Kenntnisse im Pfotenumdrehen an, und danach entwickelten sie sich zu Geografie-Expertinnen. Bei den Geisteswissenschaften haperte es dagegen – die kleinen Eisbärinnen wollten nicht so recht an Literatur oder Philosophie und Geschichte heran, und selbst Kulle drängte nicht darauf, sie mit seinen ureigenen Forschungsgegenständen zu befassen.
Eines Tages aber geschah, was geschehen musste. Na und Nuk hatten sich das richtige Opfer ausgespäht. Sie erwischten Kulle auf seinem Morgenspaziergang und fragten: “Onkel Kulle, wir möchten gerne wissen, was Politik ist. Guten Morgen übrigens. Guten Morgen auch Dir, Onkel Bärdel!“
“Guten Morgen, Guten Morgen! Also, Politik ist…“
Bärdel und Kulle hatten gleichzeitig zu sprechen begonnen und hörten ebenso gleichzeitig auf. Sie schauten einander unsicher an.
“Also…“ machte Kulle nach einer Kunstpause einen weiteren Versuch, aber Nuk, als Erstgeborene die Mutigere, fiel ihm ins Wort.
“Onkel Kulle, wir ahnen, dass Du jetzt überlegst, welche von den Dutzenden Definitionen von Politik, die Du kennst, also welche davon Du uns jetzt als die richtige verkaufst. Das wollen wir aber gar nicht wissen. Nachgeguckt haben wir selber. Wir wollen nicht wissen, wie man Politik definieren kann, sondern was Politik ist!“
Kulle fragte: “Was meint Ihr damit?“
“Wir möchten das Sein des Seins’Politik‘ erfahren, das meinen wir damit!“ Es gelang Na ohne Mühe, ernst zu bleiben, denn sie ahnte nicht, wie fremd ihre Formulierung am Beginn des 21. Jahrhunderts klang.
“Ihr möchtet also Politik erleben – ist es das?“ vergewisserte sich Bärdel.
“Genau, Onkel Bärdel!“ jubelten die Zwillinge und sahen die alten Braunbären erwartungsvoll an.
“Ich fürchte“, brummte Kulle so leise vor sich hin, dass ihn die Eisbärenkinder gar nicht und Bärdel nur mit Mühe hören konnte, “ich fürchte, das läuft auf ein Spiel hinaus!“
“Bloß das nicht!“ flehte Bärdel. Er hatte mit Spielen so seine Erfahrungen.
Aber sein Entsetzen beeindruckte die Kinder überhaupt nicht.
“Toll!“ brüllten sie. “Wir spielen ein Spiel! Ein Spiiieell!“
Bei der Versammlung am Abend, als Bärdel den Bärenlebenern verkündete, was ihnen bevorstand, wenn sie sich auf den Wunsch von Nanuk einließen, reagierten viele ablehnend, und Tumu gehörte dazu.
“Wenn Ihr Politik spielen wollt – meinen Segen habt Ihr. Wir haben seit Deinem letzten Geburtstag eine wunderschöne Freilichtbühne neben unserer Höhle. Da könnt Ihr den Kindern vormachen, wie Politik funktioniert, und viele andere kommen bestimmt auch gerne zum Zugucken. Ein Realspiel lehne ich dagegen ab – das letzte liegt mir noch in den Knochen.“
So waren Bärdel und Kulle zum Theaterspielen verurteilt. Sie überlegten sich ein Konzept, suchten sich Manfred als Helfer und begannen mit den Proben. Schon nach ein paar Tagen kündigten sie die erste Aufführung an und erklärten, es handele sich dabei um Jugendtheater. Die Erwachsenen sollten, so wünschten sie, der Aufführung fern bleiben.
Der Zuschauerraum war zwar nicht gut gefüllt, aber alle Jungbären der Gegend waren anwesend, und auch Piggy das Schwein und Ramses der Frosch waren gekommen, denn sie betrachteten sich in der Bärengemeinschaft immer noch als unwissend, also in gewisser Weise als jung. Da es keinen Theatervorhang gab, konnten alle beobachten, wie Bärdel die Bühne betrat. Er trug eine Krone aus Goldpapier auf dem dicken Schädel und ließ sich schwer in einen geschmückten Sessel plumpsen, der mitten auf der Bühne stand und wohl einen Thron darstellen sollte.
Bärdel wandte sich an sein Publikum: Guten Abend, junge Bären!“” grüßte er freundlich. “Ich bin Euer König. Das heißt also, ich bin Euer Herrscher. Wenn ich freundlich zu Euch bin, dann bin ich nicht einfach freundlich, sondern huldvoll. Das heißt, ich bringe Euch Wohlwollen entgegen, ich will Euch wohl. Dafür will ich von Euch Abgaben, aber die verwende ich nicht immer nur für mich alleine – wenn Ihr angegriffen werdet, will ich Euch gerne verteidigen, vorausgesetzt, Ihr helft mir dabei!“
Unruhe entstand im Publikum.
“Habt Ihr dazu etwa irgend welche Fragen?“ wollte Bärdel wissen.
“Heißt das“, erkundigte sich Del, “heißt das, dass Du als König auf unsere Kosten lebst?“
“Nein, natürlich nicht. Ich lebe auf Kosten der Gnade Gottes, ich bin König von Gottes Gnaden. Gott hat mich über Euch gesetzt, damit ich hier auf Erden seinen Willen exekutiere. Dafür geht es mir materiell ein bisschen besser als Euch, das gebe ich zu.“
Und welche Rolle spielen wir in diesem Spiel?“ fragte Del weiter.
“Na ja,“ erklärte Bärdel, “wie ich schon sagte: Ihr zahlt und kämpft im Krieg. Im übrigen gehorcht Ihr und seid fromm und dankbar dafür, dass es Euch so gut geht.“
“Das gefällt uns nicht!“ sagten Na und Nuk gleichzeitig,
“Mir auch nicht!“ rief Kulle, der jetzt auf die Bühne gelaufen kam. Er trug eine große bunte, mit Schellen besetzte Kappe. “Mit gefällt das auch nicht, weil ich nämlich der Hofnarr dieses Königs bin. Wollt Ihr wissen, was der König den ganzen Tag lang macht?“
“Jaaa!!!“ rief das Publikum.
“Am Morgen steht der König auf, am Abend geht der König zu Bett, und tagsüber langweilt er sich mit seinen Sorgen, mit seinen Dienern, seinem Gold, Silber, Samt, seiner Seide, langweilt sich mit seinen Kerzen. Sein Bett ist prunkvoll, aber man kann darin auch nicht viel anderes tun als schlafen.
Die Diener machen am Morgen tiefe Verbeugungen, jeden Morgen gleich tief, der König ist daran gewöhnt und schaut nicht einmal hin. Jemand gibt ihm die Gabel, jemand gibt ihm das Messer, jemand schiebt ihm den Stuhl zu, und die Leute, die mit ihm sprechen, sagen Majestät und sehr viele schöne Worte dazu und sonst nichts.
Nie sagt jemand zu ihm:’Du Trottel, du Schafskopf‘, und alles, was sie ihm heute sagen, haben sie ihm gestern schon gesagt.
So ist das.
Und deshalb haben Könige Hofnarren.
Die dürfen tun, was sie wollen, und sagen, was sie wollen, um den König zum Lachen zu bringen, und wenn er über sie nicht mehr lachen kann, bringt er sie um oder so.“
(Vielen Dank an Peter Bichsel. Das Zitat stammt aus: “Amerika gibt es nicht“, in: Kindergeschichten)
Bei seinen letzten Worten schleppte Kulle eine kleine Guillotine auf die Bühne, legte sich unter das Fallbeil und spielte kokett mit der Schnur.
“Lass das sein, Onkel Kulle!“ heulten Nanuk auf. Sieh lieber zu, wie wir diesen König loswerden!“
““Nichts leichter als das!“ schmunzelte Kulle, zog sich die Narrenkappe vom Kopf und setzte als Ersatz eine rote Mütze auf. “Auch ein König kann unter der Guillotine sterben.“
Bärdel zog eine jämmerliche Grimasse, nahm die Krone vom Kopf, heftete sich stattdessen eine blau-weiß-rote Kokarde hinters Ohr und hängte sich ein Schild um den Hals, auf dem “Bürger Capet“ stand.
Kulle entrollte feierlich eine Pergamentrolle und las daraus vor: “Der Nationalkonvent erklärt Louis Capet, den letzten König, der Verschwörung gegen die Freiheit der Nation und des Anschlags gegen die allgemeine Sicherheit des Staates für schuldig. Der Nationalkonvent verhängt die Todesstrafe über Louis Capet.“
“Darf ich noch beichten?“ fragte Bärdel.
“Klar!“ sagte Kulle. “Das wird sich bestimmt lohnen – Du hast ja genug auf dem Kerbholz. Aber beeil Dich damit – der erste Akt ist gleich zu Ende!“
Bärdel kniete sich hin, Manfred kam als Priester verkleidet angesaust, legte für eine Sekunde lauschend die Hand hinter sein Ohr, nickte, schlug das Kreuz über Bärdel und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Bärdel legte sich ergeben unter die Guillotine. Kulle verdeckte die Szene mit einer großen blau-weiß-roten Flagge. Im Publikum hörte man, wie das Fallbeil herabsauste und zur Ruhe kam.
“Onkel Bärdel! Bärdel!“ heulten alle auf.
Die Fahne sank in sich zusammen. Dahinter erhob sich Bärdel unverletzt. “Der König ist tot“, erklärte er, “aber der Schauspieler lebt selbstverständlich. Jetzt machen wir erst mal eine Pause, und danach dürft Ihr Euch wünschen, welche Art von Politik Ihr als nächstes vorgeführt haben möchtet. Eben seid Ihr übrigens mit der Monarchie bekannt gemacht worden, also mit der Herrschaft eines Königs, und mit der Revolution. So nennt man es, wenn eine Staatsform oder eine Regierungsform gewaltsam gestürzt wird.“
In der Pause wurde Himbeersaft serviert wie in einem richtigen Theater für erwachsene Bären, und das jugendliche Publikum diskutierte eifrig darüber, was es im zweiten Akt geboten bekommen wollte.
“Also, ich fand das gemein, was eben mit dem König passiert ist“, sagte Del. “Man sollte ihn wieder in sein Amt einsetzen und ihm sagen, dass er sich in Zukunft besser benehmen soll. Er darf zum Beispiel seinen Hofnarren nicht umbringen, nur weil er sich langweilt.“
“Das geht aber nicht!“ wandte Ramses ein. “Erstens ist der König tot, und eine Leiche als Herrscher haben sich selbst die verrückten Menschen bisher noch nicht ausgedacht. Und zweitens lässt ein Alleinherrscher seine Macht nicht beschränken, jedenfalls nicht ohne Zwang. Außerdem wäre es für uns langweilig, wenn der König wieder auferstünde – die Monarchie kennen wir doch jetzt!“
“Aber was wollen wir dann?“ fragte Piggy. “Wir kennen sonst doch nichts!“
“Das stimmt nicht ganz“, widersprach Nuk. “Ich gebe zu, dass ich noch nicht regelmäßig in der Zeitung lese, aber ab und zu werfe ich einen Blick hinein. Daher weiß ich, dass es hier in Dehland keinen König gibt. Politik muss es doch aber immer geben, oder? Das ist so, weil alle intelligenten Lebewesen – na ja, ich meine jetzt auch die Menschen – Spielregeln für ihr Zusammenleben brauchen. Ich bin dafür, dass wir uns im nächsten Akt die Art von Politik wünschen, die es in Dehland gibt.“
Na sah ihre ältere Schwester bewundernd an. “Das finde ich gut!“
Alle anderen stimmten ebenfalls zu und begaben sich erwartungsvoll wieder in den Zuschauerraum.
Die Bühne war inzwischen umdekoriert worden. An allen drei Seiten hingen große Plakate, die riesige Fotos von Bärdel, Manfred und Kulle zeigten. Auf den Postern stand außerdem noch jeweils ein kurzer Text:
“Bärdel ist Zukunft. Und Zukunft bedeutet Tempolimit.“
“Die Zukunft heißt Tempolimit mit Kulle.“
“Zukunft? Tempolimit? Manfred!“
Bärdel erschien und schmunzelte.
“Ihr seht, dass wir euch bespitzelt haben. Auch das gehört bei den Menschen zur Politik – Berufspolitiker wollen immer wissen, was das Volk denkt und wünscht. So können sie es am besten besch… – ich meine, am besten manipulieren. Ihr wollt die Politik in Dehland erleben, haben wir gehört. Das ist technisch ein bisschen schwierig, denn die Art von Politik, die in Dehland gemacht wird, nennt sich Demokratie, und daran sind viele Menschen beteiligt, jedenfalls ab und zu. Wir hier auf und hinter der Bühne sind aber nur zu dritt. Aber Ihr kennt ja Manfreds Tricks – er wird das schon schaffen.
Hinter mir seht Ihr Wahlkampfplakate – in Dehland werden Abgeordnete, die Gesetze beschließen, nämlich vom Volk gewählt. In dem Wahlkampf, den Ihr gleich sehen werdet, spielt ein Tempolimit auf Autobahnen eine große Rolle. Lasst euch überraschen!“
Bärdel ging ab, und die Bühne wurde dunkel. Nach wenigen Sekunden aber wurden drei Filme abgespielt, die ähnliche Situationen zeigten: Unter freiem Himmel sprachen drei Redner, nämlich Bärdel, Kulle und Manfred, zu einem interessiert zuhörenden menschlichen Publikum. Die Präsentation begann als Stummfilm, aber allmählich wurde der Ton hochgefahren, und zwar so, dass man in ständigem zufälligem Wechsel einen Redner laut und die beiden anderen nur ganz leise hörte.
“…wichtig für die Menschen“… “eine wichtige Entscheidung“… “mehr als wichtig, eine wahre Richtungsentscheidung“… “denn die Zukunft“… “denn unsere Zukunft“… “unsere und vor allem die Zukunft unserer Kinder“… “verantwortungsvolles Handeln“… “Handeln aus dem Bewusstsein der Verantwortung“… “Handeln und Verantwortung übernehmen“… “Grenzen erkennen und akzeptieren“… “wir haben eine Grenze erreicht, und wir müssen akzeptieren“… “auch wenn es schwerfällt: Wir müssen erkennen“… “und deshalb fordern wir“… “und deshalb werden wir“… “und so werden wir mit aller Kraft“… “ein Tempolimit einführen“… “das überfällige Tempolimit auch in diesem unseren Land durchsetzen“… “endlich auch hier so fahren wie unsere europäischen Nachbarn: mit Tempolimit“.
Die Filme verblassten, und die Zuschauer applaudierten höflich wegen Manfreds technischer Meisterleistung, sahen einander danach aber verunsichert an.
“Ich bin mir nicht sicher“, brach Na als erste tapfer das Schweigen, “aber – haben die nicht alle dasselbe gesagt?“
Bevor jemand antworten konnte, ertönte ein Gong, und dazu erklang eine Stimme aus dem Off. “Hier ist das erste dehländische Fernsehen mit der Tagesschau.“ Eine hübsche junge Frau wurde sichtbar und verlas eine Meldung: “Am Vorabend der Wahlen zum dehländischen Bundestag haben die Spitzenkandidaten der drei großen Volksparteien auf Kundgebungen für ihre Programme geworben. Da unterschiedliche Positionen dabei nicht zu erkennen waren, rechnen Experten für den morgigen Sonntag mit einer nur geringen Wahlbeteiligung.“
“Also“, sagte Piggy und kringelte das Schwänzchen ganz eng zusammen, was ein untrügliches Zeichen von Empörung war. “Also, ich würde mich an dieser Veranstaltung auch nicht beteiligen. Was ist das denn für eine Wahl, wenn man keine Wahl hat?“
Die Tagesschau-Sprecherin wurde für kurze Zeit unscharf und und verlas gleich darauf die nächste Meldung. “Nach den ersten Hochrechnungen liefern sich die drei großen Volksparteien ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Insgesamt entfielen 90 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen auf sie. Die Wahlbeteiligung war noch niedriger als erwartet: Nur 45 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.“
Die Tagesschau-Sprecherin verschwand, und an ihrer Stelle tauchte jemand auf, mit dem wirklich niemand gerechnet hatte: Athabasca. Sie war als Professorin verkleidet und wandte sich an Na und Nuk. “Hallo, Ihr Beiden, ich wollte mich nur kurz als Eure Mathelehrerin in Erinnerung bringen. Zwei Parteien, die zusammen 60% der Stimmen erhalten haben, werden sich in ein paar Tagen zusammenschließen, um die Regierung zu bilden. So etwas nennt man Koalition. Gewählt haben nur 45% der Wahlberechtigten. Auf wie viel Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung wird sich die künftige Regierung stützen können?“
“Das ist doch pipileicht, Tante Atti! Auf 27 Prozent!“
“Aber das ist ja entsetzlich!“ rief Ramses.
““Nö, Onkel Ramses, das ist nicht entsetzlich, das ist richtig!“ protestierten Nanuk.
“Ja, natürlich ist das richtig, aber das ist ja das Entsetzliche. In einer Demokratie wie in Dehland leiten die Politiker ihr Recht, Gesetze zu machen und zu regieren, davon ab, dass das Volk sie damit beauftragt hat. Aber sind 27% das Volk? Welchen Rückhalt hat eine Regierung, die sich auf eine so kleine Minderheit stützt?“
“Hervorragende Frage“, lobte Bärdel, der wieder leibhaftig auf der Bühne erschienen war. “Eine solche Regierung hat in Wahrheit gar keinen Rückhalt. Aber wir wollen mal sehen, ob es den Politikern darauf überhaupt ankommt. Nach einer Bundestagswahl tritt irgendwann der neue Bundestag zusammen, das heißt, dass sich gut 600 gewählte Abgeordnete in einem Saal treffen und einen Regierungschef wählen, den Kanzler. Die Partei, die das macht, ist die Regierungspartei. Wenn eine Partei nicht ausreicht, schließen sich mehrere zusammen und bilden eine Koalition. Nachdem das passiert ist, fangen sie an, Gesetze zu machen. Dabei sind sie jetzt gerade. Sie debattieren über ein Tempolimit auf dehländischen Autobahnen. Ihr dürft zuhören.“
Wieder wurde ein Film eingespielt, der suggerierte, dass sich das Theaterpublikum auf der Besuchertribüne des Bundestages befand. Man sah von weit oben auf das Rednerpult herab, hinter dem Manfred stand.
“Als Kanzler der Bundesrepublik Dehland ist es meine Pflicht, meine Damen und Herren Abgeordneten, meine Pflicht als Regierungschef, das Wohl der Allgemeinheit im Blickfeld zu behalten. Es wäre vollkommen kurzsichtig, nur der sogenannten Umwelt zuliebe ein Tempolimit auf Autobahnen zu verhängen. Freie Fahrt dem freien Bürger! – Das ist das Motto des AD….“ Manfred verschluckte sich und trank einen Schluck Wasser aus dem frisch gefüllten Glas vor ihm. “Das Motto des adulten, also des erwachsenen Dehländers. Natürlich, meine Damen und Herren, wollen wir gute Europäer sein, und wir sind es auch. Aber wir setzen uns ein für ein Europa der Vielfalt, nicht für ein Europa der Konformität. Mit mir, und das sage ich in aller Deutlichkeit, wird es ein Tempolimit nicht geben!“
Bärdel als Sprecher der Opposition war als nächster dran.
“Ich bin betrübt“, sagte er. “Das gehört sich nicht, ich weiß. Politiker sind immer optimistisch oder geben sich zumindest so, als könnten sie das Ruder noch herumreißen, obwohl klar ist, dass sie hoffnungslos in der Minderzahl sind. Ich spiele dieses Spiel jetzt mal nicht mit, denn wir sind in einem anderen Spiel, und zudem in einem didaktischen.
Also: Ich bin betrübt. Denn meine Partei wollte – und will – ein Tempolimit, weil das nämlich aus verschiedenen Gründen vernünftig ist. Aber die Lobbies aus Autobauern und Energiekonzernen, die übrigens häufig identisch sind und sich populärer Sprachrohre wie des ADAC bedienen, die Gelder für Parteien spenden und für abgehalfterte Politiker lukrative Jobs bereit halten, diese Lobbies haben offenbar die besseren’Argumente‘. So werden wir weiterhin mehr CO2 als nötig in die Umwelt pusten und mehr Tote und Verletzte in Kauf nehmen, als nötig und vernünftig wäre.“
Der letzte Redner war Kulle.
“Die Kulle-Partei, meine Damen und Herren, ist, wie Sie alle wissen, nicht irgendeine Partei. Wir sind die Vertreter der kleinen Leute. Wir wissen, wo das Herz des Dehländers schlägt. Wir kennen seine Sorgen, seine Nöte. Viele von uns teilen seine Biografie des Nicht-Erfolgs.
Was bleibt dem kleinen Dehländer? Er gewinnt nicht im Lotto, obwohl er das jede Woche hofft, und er kann sich das Traumhaus, in dem er gerne lebte, nicht leisten. Was er sich aber leisten kann, ist sein Auto. Nein, keinen Porsche Carrerra, noch nicht mal einen VW Touareg, aber einen kleinen Suzuki oder Skoda, vielleicht auch einen Golf. Darüber freut er sich. Das ist sein Shangri-La. Damit fährt er auf die Autobahn.’180‘ sagt der Tachodisplay, vielleicht ein bisschen weniger oder ein bisschen mehr. Und die Schilder am Straßenrand? Die sollen’130‘ sagen oder vielleicht nur’120‘? Das, meine Damen und Herren, wäre Kastration, wäre Vergewaltigung, wäre Verhinderung eines Lebensgefühls, auf das der kleine Mann in Dehland angewiesen ist wie auf das tägliche Brot – ja, vielleicht noch mehr. Ein Tempolimit auf Autobahnen ist dem Dehländer nicht zuzumuten, das ist eine schlichte, unumstößliche Wahrheit. Und deshalb, meine Damen und Herren, wird es keines geben. Mit uns nicht!“
Damit endete der Film, und die drei Schauspieler erschienen persönlich auf der Bühne und verbeugten sich. Nur Bärdel erhielt Applaus, während Kulle und Manfred kräftig ausgebuht und beschimpft wurden.
“Ihr lügt ja, wenn Ihr den Mund aufmacht!“
“Volksvertreter wollt ihr sein? Ihr vertretet doch nur Euch selber!“
“Und das große Geld!“
“Eure Demokratie gefällt uns nicht!“
Bärdel hob beschwichtigend die Pranken, und allmählich gelang es ihm, den Tumult zu beenden.
“Uns gefällt diese Demokratie auch nicht, das dürft Ihr uns glauben. Immerhin: Gegenüber der Monarchie, die wir Euch im ersten Akt gezeigt haben, hat sie einen großen Vorteil: Das Volk kann seine “Vertreter“ bei den nächsten Wahlen loswerden, wenn es das möchte, und zwar ohne Gewalt.“
Das leuchtete dem Publikum ein, aber zufrieden waren die Zuschauer dennoch nicht.
“Könnt Ihr uns denn nicht zum Schluss eine richtig gute Politik zeigen?“ fragte Del.
“Nein, denn Schluss ist jetzt. Beim nächsten Mal vielleicht. Wir werden dann nämlich das spielen, was Eurer Meinung nach richtig gute Politik ergibt. Wir sind sehr gespannt darauf, was Euch einfallen wird.“