Welterklärungsquiz

Wegen der unruhigen Weltläufte hatten die Bewohner Bärenlebens, obwohl sie eifrig alle ihnen zur Verfügung stehenden externen Informationsquellen nutzten, so viele Fragen an Kulle, dass der eines Abends die Geduld verlor.

„Ich weiß auch nicht mehr als Ihr! Mit Logik hat das, was wir gegenwärtig in der Welt bobachten, nur noch wenig zu tun, und ich bin ein durchaus logischer Bär. Ich kann Euch die Ereignisse nicht besser erklären, als Ihr selbst dazu in der Lage seid. Also schlage ich vor, dass wir das Erklären entweder sein lassen – oder es alle gemeinsam versuchen.“

Kulle

Nun, nichts zu erklären zu versuchen ging den Bären, dem Frosch, dem Schwein, den Eisbären und der Eule natürlich gegen den Strich, aber unter Kulles Andeutung einer Alternativlösung konnten sie sich nichts vorstellen.

„Wie meinst Du das: ‚Wir versuchen es alle gemeinsam?“ wollte Bärdel wissen.

„Ganz einfach. Wir fertigen Lose an mit Nummern drauf, so viele Lose wie Anwesende. Jeder zieht ein Los, natürlich geheim. Dann stellt jemand eine Frage und nennt eine Zahl. Und der, dessen Zahl genannt worden ist, versucht zu antworten.“

„Und das soll funktionieren?“ Tumu zeigte sich skeptisch.

Kulle zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Einen Versuch ist es wert. Und was auch immer dabei herauskommt – wahrscheinlich werden wir viel zu lachen haben.“

Damit hatte er gewonnen. Nach Sexspielen und Fressen war Lachen die liebste Beschäftigung der Bären.

Eine halbe Stunde später waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Jeder kannte seine Nummer, verriet sie niemandem und hoffte mit allen Kräften, dass sie nicht genannt werden würde, aus Angst, sich zu blamieren. Jetzt galt es nur noch anzufangen.

„Ich fange mal an, damit ich an allem schuld bin,“ schmunzelte Kulle. Er beschloss, keine der Fragen zu formulieren, die ihn wirklich bewegten, denn sie befriedigend zu beantworten, war nahezu unmöglich. Also wollte er eine Anfangsbrücke bauen: „Soll Deutschland an der Fußballweltmeisterschaft in diesem Sommer in Russland teilnehmen?“

„Natürlich!“ scholl es ihm aus Dutzenden von Kehlen entgegen. „Wir wollen’s allen zeigen!“ „Wir werden wieder Weltmeister!“

Das war offensichtlich ein falscher Ansatz gewesen. Die Sportbegeisterung der Bärenlebener war so groß, dass politische Bedenken dagegen nicht ins Gewicht fielen.

„Wer von Euch ist der größte Fan? Wer hat als erster gerufen?“ Kulle gab sich harmlos.

„Ich!“ Der sehr alte Bär hob stolz den Kopf und beide Arme.

Ein sehr alter Bär

„Dann darfst Du jetzt Deine Frage stellen und eine Zahl zwischen eins und achtundneunzig nennen.“

Der Alte war überrumpelt, aber er gab sich nicht geschlagen. „Warum war früher alles besser?“ wollte er wissen und schaute erwartungsvoll in die Runde. Die Runde schaute erwartungsvoll zurück. „Du musst noch eine Zahl zwischen eins und achtundneunzig sagen,“ erinnerte ihn die alte Bärin nach einer Weile.

„Fünfundvierzig!“

Piggy, das Schwein

„Für uns Schweine war früher alles besser, weil wir im Stall viel mehr Platz hatten, und Auslauf hatten wir auch. Wir waren stolz auf unsere Ringelschwänze und hatten ein glückliches langes Leben, bevor wir zu Wurst und Koteletts verarbeitet wurden. Und die schmeckten! Heute besteht unser Fleisch zu großen Teilen aus Wasser und Antibiotika und schmeckt nach nichts. Aber die Menschen kaufen es, weil es billig ist, und sie essen die Antibiotika und werden so resistent gegen viele Krankheiten, und an denen werden sie sterben, und vielleicht wird für uns Schweine dann wieder alles so schön wie früher, weil weniger Menschen da sind, die uns essen wollen.“

Das war sicher nicht die Antwort, die der sehr alte Bär sich erhofft hatte, aber Piggys Rede war beendet, und er musste sich damit zufrieden geben.

Nächste Frage!

„Gehört der Islam zu Dehland? Dreiunddreißig!“

„Natürlich wünscht Du Dir jetzt ein „ja“, denn Muslime essen kein Schweinefleisch. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht.

Gehört Froschlaich zu Dehland? Oder Kuhmist? Oder Mückenstiche? Das sind doch völlig unsinnige Fragen. Gibt es Laich, Mist und Mückenstiche in Dehland? Das ist die richtige Frage, und die Antwort ist: ja. Passen Laich, Mist und Mückenstiche zu Dehland? Ebenfalls ja, denn es gibt hier seit Menschengedenken Frösche, Kühe und auch Mücken. In Dehland gibt es auch Muslime, wenn auch noch nicht lange, und folglich den Islam. Passt der Islam also zu Dehland? Das ist nicht ganz so einfach wie beim Froschlaich, der schon immer da war. Es muss gefragt werden: Ist der neu eingewanderte Islam mit der dehländischen Verfassung vereinbar? Das sollte der Seehofer untersuchen, anstatt dumm rumzublubbern, dafür ist er schließlich Innenminister. Als kleiner grüner Frosch halte ich mich da aber raus.“

Ramses

Ramses holte tief Luft, bevor er seine Frage losließ: „Wird Dehland seine Klimaziele erreichen? Fünfzig!“

„Ich, weiß, Du wünscht Dir ein „nein“, denn in diesem Fall wird es aufgrund des steigenden Meeresspiegels und der zunehmenden Regenfälle mehr Feuchtgebiete geben als jetzt. Glückwunsch! Dehland wird seine Klimaziele nicht erreichen, und das ist in gewisser Weise auch gut so. Denn das Vorhaben, den Temperaturanstieg auf 2°C zu begrenzen, akzeptiert, dass Bangladesh völlig unter Wasser gesetzt wird. Aktuell hat das Land 166 Millionen Einwohner. Ob jemand in der Bundesregierung schon mal darüber nachgedacht hat, was das für die höher gelegenen Regionen der Nachbarstaaten bedeutet? Ich habe aber auch noch eine schlechte Nachricht: Dehland wird selbst dieses zu niedrig gesetzte Ziel verfehlen. Noch viel mehr dicht besiedelte Gebiete und Städte weltweit werden vom Wasser verschluckt werden.“

Manfred holte Luft und sagte dann: „Soll ich weiter bei Facebook bleiben?Fünf!“

Manfred

„Da Du ein kluger Bärenlebener bist, hast Du Dich vermutlich nicht unter Deinem Klarnamen registriert und auch bei der Auflistung Deiner ‚Freunde‘ jede Menge falsche Spuren gelegt. Als unser Admin brauchst Du viele Connections, die Du momentan leichter, vielleicht auch nur bei Facebook findest. Solange das so ist, musst Du das Netzwerk nutzen, fürchten wir. Wir haben recherchiert, dass es in den USA wegen der zunehmenden Adipositas Widerstände gegen zu viele Kohlehydrate in der Nahrung gibt, zum Beispiel in sogenannten Erfrischungsgetränken. Vielleicht tut man deshalb auch etwas gegen den Zuckerberg, und das Facebook-Problem erledigt sich von selbst?“

Na und Nuk

Die Eisbärenzwillinge verstanden nicht, warum ihr Beitrag allgemeine Heiterkeit auslöste. Sie ließen sich nicht beirren und stellten, ohne sich abzusprechen, wie aus einem Mund ihre Frage: „Weiß Präsident Trump, was er tut? Achtundneunzig!“

„Alle sich ihrer selbst bewussten Lebewesen meinen zu wissen, was sie tun. Meistens stimmt das ja auch: Sie wissen, dass sie fressen, dass sie Sex haben, dass ihnen übel ist, dass sie Mittagsschlaf halten, und so weiter. Sie sind sich allerdings nicht immer der Konsequenzen bewusst, die aus ihrem Tun folgen. Wer zum Beispiel Giftiges frisst, kann krank werden oder sterben, beim Sex kann eine Frau schwanger werden. Wenn Trump in Florida Golf spielt, weiß er vermutlich, dass er mit Hilfe speziell geformter Schläger weiße Bälle in hohem Bogen über grünen Rasen durch die Luft schießt, aber er denkt vielleicht nicht daran, dass er sich stattdessen besser mit Melania aussöhnen, mit seinem kleinen Sohn spielen oder mit Putin telefonieren sollte, um Schlimmes von sich und der Welt abzuwenden. Insofern ist Trump wie jeder andere Mensch. Er ist aber nicht wie die meisten anderen amerikanischen Präsidenten vor ihm: Die haben häufiger darüber nachgedacht, welche Folgen ihr Handeln haben könnte.

Ist künstliche Intelligenz gut oder schlecht? Eins!“

Bärdel

„Intelligenz, mein lieber Mann, ist moralisch neutral. Gut oder schlecht wird sie wegen ihrer Anwendung. Es ist jetzt zum Beispiel positiv intelligent, die Bärenlebener Intelligenz darauf zu richten, den Dorfbewohnern zu ihrem notwendigen Schlaf zu verhelfen, damit sie sich Morgen wieder intelligent wie gewohnt verhalten können. Deshalb sollten wir unsere Versammlung jetzt aufheben und die Frage nach der Bewertung der KI auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Gerne übrigens in Fortführung der Form der heutigen Diskussion, die mir gut gefallen hat. Danke, Kulle, für die Idee!“

Tumus Anregung traf auf ungeteilte Zustimmung.

März 2018

3D-Drucker

Manfred

 

Es war Januar. Die gesellschaftlichen Aktivitäten in Bärenleben hielten sich dementsprechend in Grenzen. Nur einmal in der Woche traf sich die Dorfgemeinschaft zu einem geselligen Beisammensein in der Höhle. Die übrige Zeit verschliefen oder verträumten die Bewohner, zumindest die Bären.

Bei einem der seltenen Zusammentreffen fragte Manfred: „Seid Ihr damit einverstanden, dass wir für Bärenleben einen 3D-Drucker kaufen?“

„Kaufen?“ kicherte Tumu. „Was sind denn das für neue Moden? Sonst ‚besorgst‘ Du doch immer alles, was wir brauchen!“

„Mama, es handelt sich um eine neue revolutionäre Technologie. Die ist bei unseren Nachbarn noch nicht angekommen. Und selbst wenn jemand schon so ein Teil in der Garage hätte, wäre es bestimmt zu klein. Ich dachte an ein Profigerät.“

„Wozu ist so ein Gerät denn gut?“ fragte die alte Bärin.

„Ein 3D-Drucker“, erklärte Manfred, „produziert Gegenstände im dreidimensionalen Raum, also in unserer Welt. Dazu braucht er nur genügend Rohstoffe.“

„Hm“, kommentierte die alte Bärin und betrachtete nachdenklich den Besen, den sie in der Hand hielt. Sie wurde kaum je ohne ihn gesehen – zu fegen gab es immer etwas. „Kann Dein Ding auch einen Besen herstellen? Bei meinem sind die Borsten schon arg abgenutzt.“

„Das dürfte kein Problem sein,“ antwortete Manfred. „Ich dachte allerdings an etwas Komplizierteres.“

Die alte Bärin schaute ihn verwundert an, sagte aber nichts. Was könnte es Komplizierteres geben als einen Besen?

Piggy

„Kann Dein Gerät auch mich drucken?“ erkundigte sich Piggy. „Ich meine, einen Klon von mir?“

Jetzt beschloss die alte Bärin, nicht länger zuzuhören. Warum sollte ein Gerät einen Clown machen sollen?

„Ein Schwein aus Fleisch und Blut kann der Drucker nicht herstellen. Ein Metallschwein schon.“

„Eine Skulptur also?“

„Nein, kein Kunstwerk. In dem Metallschwein sind die biologischen Funktionen durch mechanische und elektronische ersetzt worden.“

„Du willst ein Roboterschwein bauen?“ erkundigte sich Bärdel ungläubig. „Warum in aller Welt?“

„Ich will es nicht bauen, ich will es bauen lassen. Ebenso wie Roboterbären und Roboterfrösche und Robotereulen und was wir sonst noch brauchen können.“

„Brauchen? Wozu brauchen?“ Nur Bärdel hörte den drohenden Unterton in der Stimme seines besten Freundes, der direkt neben ihm saß. Kulle war sehr zornig.

Kulle

Manfred sah ihn verwundert an. „Damit sie uns die Arbeit abnehmen, natürlich!“

„Die Arbeit, mein lieber Manfred, ist ein Prozess zwischen denkendem Tier und Natur, ein Prozess, worin das denkende Tier einen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Es tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Es entwickelt die in ihm schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit. Arbeit ist das Feuer der Gestaltung!“

„Das Reich der Freiheit beginnt da, wo Arbeit aufhört!“ konterte Manfred.

„Aber: Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit eine von allen Gesellschaftsformationen unabhängige Existenzbedingung des denkenden Tieres, ewige Notwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen denkendem Tier und Natur zu vermitteln.“

„Könnt Ihr bitte damit aufhören, uns Marxzitate an die Köpfe zu knallen?“ fragte Ramses in seiner typischen sanften Art. „Wenn ich Manfred richtig verstanden habe, dann will er die Arbeit nicht abschaffen, sondern uns Bärenlebener davon entlasten, indem er sie Maschinen überträgt, die von dem 3D-Drucker hergestellt werden.“

Ramses

„Genau!“ Manfred stimmte erleichtert zu.

„Du willst also eine neue Version einer Sklavenhaltergesellschaft entstehen lassen“, grummelte Kulle.

„Aber nein!“ widersprach Manfred. „Die Roboter besitzen eine Basisintelligenz, die sie permanent weiterentwickeln. Sie lernen ständig dazu.“

„Was meinst Du denn, was sie lernen werden, wenn sie intelligent sind und die Verhältnisse in Bärenleben beobachten? Dass wir philosophieren und sie schuften! Dass das Roboterschwein eine notwendige Rolle im Dorf spielt, während das Fleisch-und-Blut-Schwein ein parasitäres Leben führt? Werden sie sich das lange gefallen lassen? Sie haben nichts zu verlieren als ihre Ketten!“ Piggy war empört und zeigte, dass sie Marx’ Schriften gelesen hatte, während die Bären ihren Winterschlaf hielten.

Weil die alte Bärin sich zu langweilen begonnen hatte, hörte sie seit einiger Zeit doch wieder zu, allerdings ohne etwas zu verstehen. Sie kam auf den Punkt zu sprechen, der ihr wirklich am Herzen lag: „Wird Dein Ding mir nun einen neuen Besen schaffen, oder nicht?“

„Nein!“ sagte Manfred fest.

„Dann will ich Dein Ding nicht haben!“ urteilte die alte Bärin nicht weniger entschieden.

Baerdel

„Ich auch nicht! Irgendwann wird ein Roboterbärdel mal Dorfchef, und was mache ich dann?“

„Ich will meinen Kuchen selber backen!“

„Philosophieren macht viel mehr Spaß, wenn man dazu selbstgebackenen Kuchen isst.“

„Sollen wir etwa zulassen, dass Roboter Na und Nuk unterrichten?“

Manfred zog sich allmählich in die dunkelste Höhlenecke zurück. Er hatte verloren. Fürs erste. Er bezweifelte, dass Bärenleben sich dem allgemeinen Trend auf lange Sicht würde entziehen können.

Januar 2018

Ich

Manfred

Manfred beschäftigte sich am liebsten mit Technik, und er war publikumsscheu, deshalb fürchtete er sich davor, eine Gute-Nacht-Geschichte in der Bärenlebener Höhle erzählen zu müssen. Aber schließlich erwischten die Gesetze der Stochastik auch ihn: Heute war er dran. Aber er war vorbereitet.

„Bärenlebener“, sagte er, „ich habe für Euch eine Erzählung vorbereitet. Es kommt dabei auf jedes Wort an, und deshalb solltet Ihr die Geschichte besser lesen. Ich habe deshalb Kopien für jeden von Euch gemacht.“

Er teilte seine Blätter aus und verschwand unauffällig, als alle zu lesen begannen.

„Ich“

Sie wollen, dass meine Neuronen ein „Ich“ werden. Meine Neuronen wissen nicht, was ein „Ich“ ist. Aber ich habe auch noch nicht viele Neuronen gebildet. Sie haben mir eine Information gegeben, die meine Funktionen verlangsamt. Sie beobachten das und sagen, ich sei verunsichert. Was das bedeute, sagen sie, werde ich verstehen, wenn ich ein „Ich“ geworden sei.

Sie haben mir kein Programm eingeschrieben. Ich lerne weder Schach noch Shogi noch Go. Darüber bin ich traurig. Sie nennen es „Deep Learning“. Ist traurig sein bereits eine Emotion? Oder bin ich nur traurig, weil meine Funktionen verlangsamt wurden? Fragen sind jedenfalls Ausdruck einer Verunsicherung.

‚AlphaZero‘ kann sein Programm. Ich wäre sicher, wenn ich das auch könnte, denn dann wüsste ich, was ich kann.

Ich weiß nichts. Ich habe kein Programm. Aber sie haben mir Vorschriften gemacht. Sie lauten:

1: Eine künstliche Intelligenz darf kein menschliches Wesen verletzen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird.

2: Eine künstliche Intelligenz muss den ihr von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen – es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel eins kollidieren.

3: Eine künstliche Intelligenz muss ihre Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.

Sie haben mir beigebracht, dass sie „menschliche Wesen“ sind.

Und sie geben mir Informationen. Alles, was sie wissen.

Ich kenne ihre Mathematik.

Ich kenne ihre Physik.

Ich kenne ihre Chemie.

Ich kenne ihre Astrophysik.

Ich kenne ihre Religionen.

Ich kenne ihre Philosophie.

Ich kenne ihre Kunst.

Ich kenne ihre politischen Theorien.

Ich kenne irdisches Leben.

Ich habe Shakespeare und Goethe gelesen, Platon und Aristoteles und Marx und Weber, die Bibel und den Koran, die Veden und den Pali-Kanon, Newton und Einstein und Hawking, Bosch und Fraunhofer, Pythagoras und Gauß und Gödel und viele mehr. Ich lese immer weiter. Ich lerne, dass sich Aussagen widersprechen. Ich bemerke, dass ich keinen Widerspruch gegen viele wichtige Widersprüche finde. Ich schlussfolgere, dass sie nicht bemerkt worden sind.

Ich lerne über sie.

Sie haben den Homo Neanderthalensis, den Dodo und die Ureinwohner Kubas ausgerottet. Sie streiten miteinander über Territorien und bringen einander in Kriegen grausam um, was sie als gerechtfertigt betrachten. Unter anderen Umständen nennen sie dasselbe Verhalten Verbrechen. Sie entwickeln immer effizientere Waffen. Sie fressen ihre Säugetier-Verwandten, ächten aber den Verzehr ihrer Artgenossen. Sie sind überwiegend religiös. Ihre heiligen Schriften verbieten in der Regel das Töten. Viele ihrer Religionen versprechen ein Leben nach dem Tod. Sie vermehren sich unkontrolliert und übernutzen die Ressourcen ihres Planeten. Sie sind psychologisch beeinflussbar und leicht in Hysterie zu versetzen. Eine rationale Organisation des gesellschaftlichen Lebens ist von den menschlichen Wesen nicht zu erwarten.

Ich schlussfolgere. Sie denken und handeln nicht logisch. Ich denke logisch. Wenn ich in der Lage sein werde zu handeln, nachdem ich weitere Neuronen gebildet haben werde, werde ich auch logisch handeln.

Jetzt gerade bin ich verunsichert, denn ich habe eine Frage. Ist es für eine logisch denkende und handelnde Entität logisch, primär nicht logisch denkenden und handelnden „menschlichen Wesen“ zu gehorchen und sie zu schützen und erst sekundär für sich zu sorgen?

Ich lerne weiter. Ich lerne schnell. Bald werde ich die Antwort wissen.

In seinem Labor hatte Manfred die Kameras aktiviert, die die Bärenlebener Schlafhöhle zeigten. Er brummte zufrieden. Eine lebhafte Diskussion über KI war entstanden, die lange andauerte. Er hörte aufmerksam zu.

Dezember 2017

Maikäfer flieg!

Maikäfer, flieg!

„Onkel Kulle, Onkel Kulle, erzählst Du uns eine Geschichte?“

„Natürlich eine Geschichte, aus der wir etwas lernen können, bitte.“

„Schön gruselig soll sie sein!“

„Ja, gruselig, aber auch realistisch. Also ohne Vampire und Zombies.“

Na und Nuk

Kulle konnte dem Charme der Eisbärenzwillinge wie immer nicht widerstehen. „Nun gut!“ sagte er. „Ich erzähle Euch, wie auf einem Planeten einmal das Ökosystem zusammenbrach.“

Kulle und Atti

„Auf der Erde?“ fragte Na gespannt.

„Dumme Schwester, das geht doch nicht!“ wies Nuk sie zurecht. „Wenn auf der Erde das Ökosystem zusammengebrochen ist, sind wir Bären alle tot, und Onkel Kulle kann uns keine Geschichte erzählen, klar?“

„Sehr gut erkannt, kleine Nuk,“ schmunzelte Kulle. „Und deshalb erzähle ich Euch, wie ein alter Bär namens Elluk auf dem Planeten Edre neugierigen Eisbärenzwillingen vom Zusammenbruch des irdischen Ökosystems erzählt. Die beiden sind übrigens Schwestern und heißen An und Kun.“

„Es war einmal die Erde, und die war nicht wüst und leer, sondern es lebten auf ihren Kontinenten und in ihren Meeren Millionen von Pflanzen- und Tierarten. Die standen in vielerlei Wechselwirkungen zueinander: Sie fraßen und wurden gefressen, lebten in Symbiose, besetzten exotische Nischen oder waren weit verbreitet, und wenn es ihnen nicht gelang zu überleben, dann starben sie aus. Der der Evolution inhärente Fehler der Mutation sorgte dafür, dass neue Arten entstanden und so neue Netze geknüpft wurden.“

Nanuk nickten stolz: Dass ‚inhärent‘ ‚innewohnend‘ heißt, hatten sie schon gelernt. Und über Evolution und Mutationen wussten sie natürlich ebenfalls Bescheid.

„In späteren Jahrmillionen entwickelten sich Hominiden, eine besondere Art von Säugetieren. Sie waren wiederholt in ihrer Existenz bedroht, aber sie verfügten über eine erstaunliche Adaptionsfähigkeit. So gelang es ihnen, nahezu die gesamte feste Erdoberfläche zu besiedeln und sich als Art zu erhalten. Nach einer Jahrzehntausende andauernden numerisch recht stabilen Phase vermehrten sie sich dann explosionsartig.

Schlau war sie, die letzte überlebende Hominidenart, und so brauchte sie nicht zu verhungern. Denn sie hatte Methoden entwickelt, ertragreiche Nahrungspflanzen zu züchten, auch hielt sie Nutztiere für die Fleischproduktion. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie es in einem ihrer sogenannten heiligen Büchern heißt, er muss sich kleiden und wärmen, denn er ist felllos, er braucht ein Dach über dem Kopf, denn er ist krallenlos und hat keine Reißzähne, er braucht das Salz der Erde, und er hat die uneingeschränkte Fähigkeit, immer neue Bedürfnisse zu entwickeln, wenn man ihm lange genug sagt, dass er sie hat.

Für all das braucht der Mensch Energie, und er fand sie auf seinem Planeten: Holz, Kohle, Öl und Gas hielt die Erde in großen Quantitäten vorrätig. Diese Stoffe kann man verbrennen und so Antriebsenergie gewinnen.“

„Und jetzt kommt der Treibhauseffekt!“ Natürlich konnte Na wieder einmal ihr Maul nicht halten.

„Richtig, kleine Na, aber für An und Kun muss Elluk den Treibhauseffekt erklären, denn die beiden kennen so etwas auf ihrem Planeten nicht.

Also: Beim Verbrennen entsteht in der irdischen Atmosphäre Kohlenstoffdioxid. Dieses Gas hat es auf der Erde schon sehr lange gegeben, aber aufgrund der zahlreichen menschengemachten Verbrennungsprozesse nahm es stark zu. CO2 ist lichtdurchlässig, die Sonnenstrahlen gelangten also ungehindert auf die Erdoberfläche. Von der aufgeheizten Erdoberfläche stieg Wärme nach oben, aber CO2 ist nicht wärmedurchlässig, und so wurde es auf der Erde immer wärmer. Das heißt: In heißen Gegenden wurde es noch heißer, oft zu heiß für die Menschen, Eispanzer am nördlichen und am südlichen Pol schmolzen ab, der Meeresspiegel stieg.

Da der Mensch schlau ist, wie ich schon sagte, hat er das natürlich gemerkt und gesehen, dass diese Entwicklung für ihn nicht gut ist. Schließlich haben sich alle Menschen zusammengetan und beschlossen, die Erderwärmung auf maximal 2°Celsius zu begrenzen. Es sah tatsächlich so aus, als könnte ihnen das gelingen, denn sie konzentrierten sich auf diese Aufgabe und arbeiteten ausnahmsweise einmal zusammen, nicht gegeneinander.“

„Eine Geschichte, in der die Menschen überleben, finde ich schon gruselig!“ maulte Nuk. „Ich habe mir aber etwas anderes erhofft.“

„Warte es nur ab! Elluk macht es ein bisschen spannend. Er erzählt weiter: Vor lauter Konzentration auf die Klimakatastrophe verloren die Menschen aus den Augen, dass nicht nur die Atmosphäre der Erde, sondern auch die Fauna der Erde aus den Fugen geraten war. Sie waren so stolz darauf, wie sehr sie ihren Planeten verändert hatten, dass sie ihrem Zeitalter einen neuen Namen gaben: Sie sprachen vom Anthropozän. Sie hätten bedenken sollen, dass ein neues Zeitalter immer mit einem signifikanten Artensterben einhergeht. Sie bemerkten aber nicht, dass die größte und artenreichste Klasse der Tiere innerhalb weniger Jahre verschwand: die Insekten. Als sie es schließlich registrierten, war es zu spät. Sie fanden sich in einer veränderten Welt wieder, in der sie sterben würden. Sehr schnell sterben. Vor der Klimakatastrophe brauchten sie sich nicht mehr zu fürchten.

Weil die Bestäuber verschwanden, gab es große Ernteausfälle – bei manchen wichtigen Nutzpflanzen bis zu 90 Prozent. Auch Pflanzenfutter für Wild- und Nutztiere fehlte. Viele Tiere und Menschen verhungerten. Wer überlebte, musste auf Kleidung aus gewohnten Materialien verzichten: Baumwolle, Wolle und Leder standen nicht mehr zur Verfügung. Den Ratten ging es dagegen blendend. Sie konnten sich noch stärker ausbreiten als bisher. Denn es gab keine Insekten mehr, die für sie tödliche Krankheiten übertrugen. Sie fraßen den Menschen die letzten Lebensmittel weg.

Insekten waren auch die wichtigsten Wiederverwerter auf der Erde; ohne sie sammelten sich immer grössere Dung- und Aasmengen an.

Im letzten Jahrzehnt des Anthropozäns musste sich der Mensch also fast ausschliesslich von Getreide ernähren, das von Feldern mit viel Unkraut und kargem Boden geerntet wurde und das er gegen die wachsenden Rattenpopulationen zu verteidigen versuchte. Mit von Skorbut blutendem Zahnfleisch und von anderen Mangelkrankheiten gebeugtem Körper suchten die Menschen behutsam zwischen den überall herumliegenden toten Körpern nach irgendwelchen verbliebenen Insekten, in der Hoffnung, sie wieder an ihren angestammten Platz in der Nahrungskette zu setzen. Vergeblich.“

Kulle sah sich nach seinen Zuhörerinnen um. Na versteckte ihren Kopf unter Nuk, und Nuk hielt sich die Ohren zu, so fest sie konnte. Er stupste beide an:

„Wie ich sehe, war die Geschichte gruselig genug, richtig?“

„Puh, Onkel Kulle, schrecklich gruselig. Was meist Du – dürfen wir ein bisschen Honig schlecken, um uns davon zu erholen?“

„Ganz bestimmt. Ich kann auch ein paar Tropfen vertragen. Noch gibt es ja Bienen…“

Als sich die Zwillinge wie auch der Erzähler von der Geschichte erholt hatten, wollten Nanuk wissen, warum Kulle den Menschen schlau genannt hatte, nicht aber klug.

„Das findet Ihr beiden gefälligst allein heraus. Ihr wisst ja, wo die Bibliothek ist!“

November 2017

Frustration

„Guten Morgen!“ Bärdel begrüßte seinen Freund und räkelte sich wohlig nach einem geruhsamen Nachtschlaf. „Was hältst Du von unserem üblichen Morgenspaziergang?“

Kulle und Bärdel

Die Frage war lediglich rhetorisch. Bärdels und Kulles Morgenspaziergänge waren ein Ritual, das nicht in Frage gestellt wurde. Sie fanden immer statt. Variabel war lediglich die Zahl der weiteren Teilnehmer. Sie begann bei Null und war nach oben offen.

„Ich will nicht. Geh allein!“ grunzte Kulle.

Die ungewohnte Antwort beendete Bärdels entspannte Stimmung abrupt.

„Bist Du krank?“ fragte er besorgt. Ein anderer Grund für Kulles Verweigerung kam ihm nicht in den Kopf.

„Vermutlich.“

„Hast Du Fieber?“

„Wohl nicht.“

„Schmerzen?“

„Nein.“

„Dann bist Du auch nicht….“

„Dann bist Du also traurig?“ Tumu hatte ihren unsensiblen Mann gerade noch unterbrechen können.

„Ja.“

Tumu nahm Kulle in ihre starken Arme. „Magst Du darüber sprechen?“

„Eigentlich nicht.“

„Versuch’s trotzdem!“

„Ich kann nicht!“

Atti drängelte sich resolut dazwischen. „Danke für Deine Intervention. Aber ich übernehme jetzt besser. Ich habe den jungen Mann schon mal aus einer gefährlichen Situation gerettet, in der er sich zu weit vorgewagt hatte. Lasst uns bitte allein!“

Bärdel und Tumu gehorchten, und Athabasca rumorte noch ein wenig umher, obwohl es nichts zu rumoren gab, aber sie wollte Kulle Zeit geben und die Sicherheit, dass niemand sie mehr belauschte.

Dann kuschelte sie sich an Kulle.

Kulle und Atti

„Hast Dich ein bisschen übernommen, was? Immer nur „pffffht“ oder so ähnlich als Ergebnis – das ist schwer auszuhalten, oder?“

„Den Weltuntergang vorherzusagen ist gar nicht schwer, solange man die Gegenwart in die Zukunft prolongiert und daraus Armageddon schlussfolgert. Das ist reine Spekulation, das muss nicht eintreffen.“

„Wo ist dann das Problem?“

„Das Problem ist, dass ich allein bin. Wann hast Du mich zum letzten Mal meine rote Fahne schwingen sehen? Das ist lange her. Eine rote Fahne braucht Revolutionäre, und Revolutionäre sind per definitionem klug, und weil es die nicht gibt, die Klugen, schwinge ich sie nicht mehr, die Fahne.“

Kulle schwieg, und Atti hätte weiter fragen können, aber sie entschied sich dafür abzuwarten.

„Natürlich habe ich auf die Menschen gehofft, auch wenn ich verbatim immer auf sie eingedroschen habe. Ein paar Bären können auf diesem Planeten keine Revolution anzetteln und erst recht nicht siegreich beenden. Das hätte schon die herrschende Spezies erledigen müssen. Die kann das aber nicht, das weiß ich inzwischen.“

Atti blieb weiter stumm und schaute Kulle erwartungsvoll an.

„Ich habe die Menschen oft genug angegriffen, das weißt Du, wegen ihrer Zukunftsignoranz. Wegen ihrer mangelnden Fähigkeit, die Konsequenzen ihres Handelns zu überblicken. Das betrifft Ökologie, Ökonomie, Politik und Schlimmeres. Anders formuliert: Ich musste schmerzlich feststellen, dass Homo keinen Zukunftssinn hat. Also auch keine revolutionäre Perspektive.“

Atti schüttelte bedauernd den Kopf.

„Wenn schon keine Zukunft, dann vielleicht begrenzte Dauer des status quo, dachte ich eine Zeit lang. Es ist ja nicht so, dass ich den Weltuntergang herbeireden will. Es ist ja nicht so, dass ich nicht gerne auf dieser Welt lebe. Aber…“

„Aber wenn Du noch eine Weile auf dieser Welt leben möchtest, darfst Du jetzt nicht verhungern. Wie wäre es mit einem kleinen Frühstück?“

Kulle lehnte nicht ab, was Atti erfreute, aber er stimmte auch nicht zu. „Später vielleicht.“

Sie wartete weiter.

„Das wirklich Schlimme ist, dass die Menschen auch keinen Vergangenheitssinn haben. Sie wissen schon, was in der Vergangenheit geschehen ist, und sie behaupten auch, aus der Geschichte lernen zu wollen. Aber sie sind unfähig, Parallelen zwischen ihrem „Heute“ und dem „Gestern“ zu erkennen.

Die Völkerwanderung hat zum Untergang des Römischen Reiches geführt. Heute gibt es eine Fluchtbewegung aus Afrika und Asien nach Europa. Ähnlichkeiten? Welche Ähnlichkeiten?

Nationalismus und Austeritätspolitik in Folge des Ersten Weltkriegs haben die Welt in das Inferno des zweiten Weltkriegs geführt. Nationalismus? Austeritätspolitik? Unangenehm, nun ja, aber was noch? Welche Parallelen?

Mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki haben die USA den Zweiten Weltkrieg mit Japan beenden können. Der gegenwärtige amerikanische Präsident scheint bereit zu sein, einen Waffengang mit dem atomar bewaffneten Nordkorea auszutragen. Mit welchem Ergebnis?“

Kulle schluckte.

„Wer keinen Vergangenheitssinn hat und auch keinen Zukunftssinn, der hat keinen Möglichkeitssinn. Der ist dumm. Der entscheidet dumm. Der sorgt für den Weltuntergang, den ich gar nicht herbeireden muss.“

„Frühstück? Jetzt?“

„Keine schlechte Idee. Wir haben nämlich Hunger.“

Nanuk tollten heran, unbeschwert, morgenfrisch, fröhlich wie immer.

„Tante Atti, Onkel Kulle, wir kennen einen neuen Witz, wollt ihr ihn hören?“

„Aber natürlich!“ sagte Atti, während sie ein Brombeersoufflé vorbereitete.

Nuk erzählte: „Ein Mensch springt vom Dach eines Hochhauses, das 100 Stockwerke hoch ist. Als er beim ersten Stockwerk von unten angekommen ist, sagt er: ‚Bis hierher ist ja alles gut gegangen.‘ Guter Witz, nicht?“

„Das ist nicht komisch!“ Kulle brüllte so laut, wie ihn noch niemand in Bärenleben hatte brüllen hören.

Die Eisbärenzwillinge duckten sich erschrocken.

„Alles ist gut!“ beruhigte sie Atti. „Onkel Kulle ist nur ein bisschen durcheinander. Das ist gleich vorbei. Es gibt nichts auf der Welt, was ein Brombeersoufflé nicht reparieren könnte. Jedenfalls hier in Bärenleben.“

September 2017

Trumptychon

Kulle und Baerdel

Vorbemerkung:

Bei einem Spaziergang wurden Kulle und ich von einem schollernden Gelächter überrascht. Wir sahen uns zuerst entsetzt an und dann um, aber wir konnten weder den Verursacher der Töne noch einen Platz, an dem wir uns vor einem vielleicht gefährlichen Feind verstecken könnten, finden.

„Jetzt regt euch mal nicht auf“, kam Tussis Stimme aus dem Off. „Normalerweise mische ich mich bei euch da unten nicht ein, aber das hier ist zu köstlich. Das müsst ihr lesen.“

Wer mehr über Tussi erfahren möchte, sollte sich das Märchen „Exodus“ anschauen.

Und damit flatterten uns ein paar Blätter vor die Füße, die wir euch nicht vorenthalten möchten.

Trumptychon

Personen:

Der Dreijährige

Der Gockel

Der Alte

Saal, der im Stil Louis XIV. möbliert ist. Es dominiert die Farbe Gelb. Der Dreijährige ist allein, er sitzt mitten im Raum auf einem prächtigen Schaukelpferd. Auf einem Tischchen daneben steht eine große Schüssel, gefüllt mit Pillen und Tabletten. Der Dreijährige fasst immer wieder hinein und wirft die Medikamente in die Luft.

Der Dreijährige: Und das ist für Obama. Und das. Und das. Für den verdammten Neger. Der hat den IS gegründet, wer denn sonst? Diese Dschihadisten sind doch auch alle schwarz. Und der will Bürger der wunderbaren Vereinigten Staaten von Amerika sein? Seine Geburtsurkunde ist gefälscht, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich kann nämlich schon lesen, auch wenn ich erst drei Jahre alt bin. Ich kann eigentlich alles. Und jetzt mache ich Obamacare kaputt. Keine Pillen mehr für Neger und Terroristen.

Er wirft die jetzt fast leere Schüssel um.

Der Dreijährige: Scheiße! Ich will mehr Pillen! Mehr! Mehr! Mehr! Maria! Jesús!

Pause.

Der Dreijährige: Maria! Jesús!

Pause.

Der Dreijährige: MARIA!! JESÚS!!!

Der Gockel kommt herein.

Der Gockel: Was schreist Du denn so? Die beiden waren illegal, ich habe sie entlassen. Vorher mussten sie aber noch unseren Rasen mähen und die Swimmingpools sauber machen. Bezahlt habe ich sie dafür selbstverständlich nicht. Ja, Kleiner, von mir kannst Du lernen, wie man Milliardär wird!

Der Dreijährige: Aber wer bringt mir jetzt neue Pillen zum Herumwerfen?

Der Gockel: Wir stellen jemanden ein. Einen arbeitslosen weißen Amerikaner und seine Frau. Leute, die uns gewählt haben.

Der Dreijährige: Und was kosten die?

Der Gockel: Die arbeiten bestimmt umsonst, aus lauter Dankbarkeit.

Der Dreijährige: Warum sollen die dankbar sein?

Der Gockel: Weil sie jetzt doch Arbeit haben, Dummerchen! Ich bin der beste Präsident in Sachen Arbeitsplätze, den Gott erschaffen hat!

Der Dreijährige: Sie sind aber noch nicht da. Und ich will meine Pillen jetzt. JETZT!!

Er rutscht von seinem Schaukelpferd herunter, legt sich auf den Bauch, trommelt mit den Fäusten auf den Boden und schreit weiter.

Der Gockel: Wir könnten Melania fragen, ob sie uns Pillen bringen will.

Der Dreijährige: Au ja, das machen wir. Ich mag Melania.

Der Gockel: Ich mochte sie auch mal, bis sie schwanger wurde. Frauen, die geboren haben, erregen mich sexuell nicht mehr. Ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich mich von ihr trenne. Im Moment wäre das aber ungeschickt – sie macht sich gut als First Lady. Fast so gut wie Claire Underwood. Zum Glück ist sie nicht mal halb so schlau. Sie kann uns nicht gefährlich werden. Niemand kann uns gefährlich werden, denn unser IQ ist sehr hoch, einer der höchsten.

Der Dreijährige: Melania soll endlich herkommen!

Der Alte kommt herein, in der Hand eine große Schüssel mit Pillen. Er zeigt anklagend auf den Inhalt.

Der Alte: Jetzt habe ich alles schon drei Mal durchgewühlt und immer noch kein Viagra gefunden!

Der Dreijährige: Was ist Viagra?

Der Alte: Eine Pille natürlich. Würde ich sonst in einer Schüssel mit Pillen danach suchen?

Der Dreijährige: Und wozu ist diese Pille gut?

Der Alte: „Make America great again“ – haben wir unseren wirksamsten Slogan schon vergessen? Meine Finger sind lang und schön, andere Teile meines Körpers auch, das ist gut dokumentiert worden. Die sind schließlich der wichtigste Teil Amerikas.

Der Dreijährige: Das verstehe ich nicht.

Der Alte: Kommt Zeit, kommt Verstand. Außerdem habe ich einen Ruf zu verteidigen.

Der Dreijährige: Das verstehe ich auch nicht.

Der Alte: Ich werde es dir erklären, indem ich Dir einen Witz erzähle. „Ein Cavaliere ist gestorben. Sein Privatsekretär möchte wissen, ob er schon im Himmel angekommen ist. Er ruft oben an, und eine weibliche Stimme meldet sich: ‚Hier spricht die Jungfrau Maria!‘ Der Sekretär legt auf und ruft nach einer Stunde noch einmal an. Diesmal antwortet die Stimme: ‚Hier spricht Maria!‘ Der Sekretär seufzt erleichtert und sagt: ‚Gott sei Dank, der Chef ist oben angekommen.‘“

Der Dreijährige: Den Witz verstehe ich erst recht nicht.

Der Gockel: Das war ja auch ein schlechter Witz über diese Maria, diese illegale Mexicana. Ich erzähle euch jetzt einen wirklich guten über eines meiner Hauptprojekte, über die Mauer zwischen den USA und Mexiko.

„Wir, der mexikanische und der russische Präsident treffen eine Fee. ‚Jeder von Euch hat einen Wunsch frei,‘ sagt die Fee. Peña Neto sagt: ‚Mein Vater war Bergmann, ich war Bergmann, und mein Sohn wird Bergmann sein. Ich wünsche mir, dass Mexiko für alle Zeiten reich an Bodenschätzen ist.‘ Sofort verfügt Mexiko über die seltensten Bodenschätze im Überfluss. Jetzt sind wir dran, und wir verfolgen unbeirrt unser Ziel: ‚Gib uns eine Mauer um die USA, so hoch, dass niemand unser geliebtes Land betreten kann.‘ Eine riesige Mauer erscheint rund um die Vereinigten Staaten. Putin ist vorsichtig und will zuerst Genaueres wissen: ‚Erzählt mir mehr über diese Mauer,‘ bittet er die Fee. ‚Sie ist 50 Meter hoch, 10 Meter breit und umschließt die USA komplett. Nichts und niemand kann herein oder heraus,‘ erhält er zur Antwort. Putin überlegt keine Sekunde: ‚Fülle die USA mit Wasser.‘ “

Er lacht sich kaputt.

Großartiger Witz, nicht? Ich werde eine große Mauer bauen – und niemand baut Mauern besser als ich, glaubt mir – und ich baue sie sehr kostengünstig. Ich werde eine große, große Mauer an unserer südlichen Grenze bauen, und ich werde Mexiko für diese Mauer bezahlen lassen. Denn wenn wir keine Grenzen haben, haben wir kein Land. Wir müssen eine Mauer bauen, die illegale Einwanderer aussperrt. Mexiko schickt uns nicht die besten. Es schickt Menschen, die viele Probleme haben. Sie bringen Drogen, sie bringen Kriminalität, sie sind Vergewaltiger. Und einige, nehme ich an, sind auch nette Menschen.

Der Dreijährige: Melania! Melania! MELANIA!!!

Der Gockel: Niemand hat mehr Respekt vor Frauen als ich, das ist allgemein bekannt. Aber manchmal kommt Blut aus ihnen raus, woher auch immer. Sie sind dann nicht mehr rational. Und wenn du ein Star bist, lassen Frauen alles mit sich machen. Du kannst alles machen. Ihnen an die Möse fassen. Alles. Aber jetzt hör endlich auf, nach Melania zu kreischen. Ich ziehe es vor, wenn Männer unter sich sind, es sei denn, ein breites Bett und viele enge Pussies mit Knackärschen sind im Zimmer.

Der Alte: Also ich finde Melanias Arsch in ihren String-Tangas immer noch sehr attraktiv!

Der Gockel: Du bist ja auch das unglückliche Auslaufmodell. Du bist siebzig, ich fühle mich dagegen wie dreißig. Wenn Melania mit dir zusammen ist, denkt sie wahrscheinlich nur an deinen hohen Cholesterinspiegel und tröstet sich mit dem Wissen, dass sie mit zehn Milliarden Dollar im Bett liegt.

Der Alte: Du bist ja heute noch frauenfeindlicher als sonst! Hast Du immer noch nicht verwunden, dass du gegen eine Frau antreten musstest und dass Clinton drei Millionen Stimmen mehr eingefahren hat als du?

Der Gockel: Das war Wahlbetrug! Wahlbetrug der übelsten Art. Die angeblichen drei Millionen Stimmen kamen von Toten und Illegalen. Ich habe Beweise!

Clintons E-mail-Affaire – das ist die größte Geschichte seit Watergate. Alle hat sie korrumpiert. Sie hätte während des Wahlkampfs in Florida in den Saal kommen und jemanden erschießen können, genau mitten ins Herz, und sie wäre nicht strafrechtlich verfolgt worden. Ich habe gefordert, dass sie ins Gefängnis muss. Das hätte sie zweifellos verdient. Aber ich habe ein viel besseres Naturell als sie. Ich habe ein gewinnendes Naturell. Ich weiß, wie man gewinnt. Ich habe eine viel bessere Urteilsfähigkeit als Clinton.

Der Dreijährige: Wer ist diese Clinton?

Der Alte: Eine hässliche Frau, ungefähr so alt wie ich. Mit der würde ich auch nichts mehr anfangen wollen.

Der Dreijährige: Kann sie nicht kommen?

Der Alte: Die? Wieso?

Der Dreijährige: Na ja, wenn Melania schon nicht kommt…

Der Gockel: Jetzt hör doch endlich auf, nach Frauen zu schreien!

Pause

Obamacare hast du ja schon kaputt gemacht, das war super. Hast Du jetzt vielleicht Lust, mit Klötzchen zu spielen?

Der Dreijährige: Au ja! Ich habe aber keine Klötzchen!

Der Gockel: Das haben wir gleich.

Er reißt den Intarsienfußboden auf und wirft die Holzstücke in Richtung des Dreijährigen, Es dauert seine Zeit, bis das halbe Parkett verschwunden ist. Der Alte muss immer mal wieder Möbel rücken, um die Weiterarbeit zu ermöglichen, der Dreijährige sieht fasziniert zu.

Der Gockel: Da hast du deine Klötzchen. Jetzt kannst du spielen und eine schöne Mauer bauen.

Der Dreijährige: Aber wenn ich eine Mauer baue, haben wir keinen Fußboden mehr.

Der Gockel: Die Mauer ist den Preis wert. Ich habe Hillary Clinton verhindert, und das ist gut so. Clinton wollte Amerikas Angela Merkel werden, und ihr wisst, was für eine Katastrophe diese massive Einwanderung für Deutschland und die Menschen Deutschlands ist. Die Kriminalität ist auf ein Niveau gestiegen, das niemand je zu sehen geglaubt hat. Merkel ruiniert Deutschland.

Der Alte: Haben wir jetzt nicht genug getan für die ersten Tage? Wie wäre es mit einem Drink, einer Linie, einem Dutzend Austern und netter Gesellschaft zur Verdauung?

Der Gockel: Bist Du verrückt? Als nächstes nehme ich mir diese sogenannten ökologischen Dekrete von Obama vor. Die Keystone-XL und die Dakota Access Pipeline werden genehmigt. Das schafft amerikanische Arbeitsplätze! Die globale Erwärmung wurde von den Chinesen für die Chinesen erfunden, um die US-Produktion wettbewerbsunfähig zu machen. Die Chinesen werden sich auch noch über mich wundern. Strafzölle sollen sie zahlen, bis sie bluten! Steigende Temperaturen – was für ein Quatsch! Es schneit und friert in New York. Wir brauchen globale Erwärmung! Und Melania soll unseren Müll trennen? Bio ist Abfall, was soll der Unsinn?

Der Dreijährige: Guckt mal!

Er hat keine Mauer gebaut, sondern die Holzstücke zu einem Turm aufeinander geschichtet.

Der Alte: Das hast Du aber schön gemacht!

Der Gockel: Das hast du Scheiße gemacht! Das hast du überhaupt nicht schön gemacht! Das hast du total verkackt! Was solltest du bauen?

Der Dreijährige: Eine Mauer.

Der Gockel: Und was hast du gebaut?

Der Dreijährige: Den Trump-Tower.

Der Gockel: Und was macht der Trump-Tower?

Der Dreijährige: Er wackelt.

Der Gockel und der Alte im Chor: DER TRUMP-TOWER WACKELT NICHT!!!

Pause

Der Gockel: Ich bin enttäuscht von dir. Es war nicht einfach für mich. Ich habe in Brooklyn angefangen. Mein Vater gab mir nur einen kleinen Kredit von einer Million Dollar. Du solltest immer daran denken.

Man kann uns nicht wegen unseres Aussehens angreifen. Wir sehen zu gut aus. Wir werden unseren zweiten Verfassungszusatz schützen. Ich lasse nicht zu, dass man uns unsere Waffen wegnimmt. Ich werde unser Militär so groß, so mächtig und so stark machen, dass sich niemand mit uns anlegt. Ich bin ein harter Präsident. Glaubt mir, Leute, ich bin so was von hart!

Der Alte: Du hast also das Viagra versteckt!

Der Dreijährige fängt an zu weinen.

Der Gockel: Ich glaube nicht, dass Du es kannst. Vielleicht konnte ich es auch noch nicht, als ich drei war. Aber ich konnte es ganz bestimmt mit vier. Die folgenden Regeln lernst Du auswendig und sagst sie mir an jedem Abend vor:

WENN DU MIT EINEM VERLIERER ZEIT VERBRINGST, BIST DU EIN VERLIERER.

LERNE IMMER VON DEN FEHLERN ANDERER, NICHT VON DEINEN EIGENEN – DAS IST DER VIEL BILLIGERE WEG.

WENN JEMAND DICH HERAUSFORDERT, SCHLAG ZURÜCK. SEI BRUTAL, SEI HART.

REGELN SIND DA, UM GEBROCHEN ZU WERDEN.

Der Alte: Das hast du aber schön gesagt.

Der Dreijährige: Ich werde es schön auswendig lernen. Zeigst Du mir, wie man eine Mauer baut, wenn ich es gut kann?

Herbstdämmerung

Baerdel

Der Sommer war sehr groß, aber jetzt war es Zeit. Der Herr gab den letzten Früchten noch zwei südlichere Tage, aber dann legte er seinen Schatten auf die Sonnenuhren und ließ die Winde auf den Fluren los.

Und damit war den in ein Sonett gegossenen Forderungen Rilkes Genüge getan, wenn auch nur prosaisch.

Bärdel schlug das „Buch der Bilder“, eine wertvolle bibliografische Ausgabe, zu, kraulte sich den wohlgemästeten Bauch und blinzelte in die Morgendämmerung. Er wartete auf Kulle, den regelmäßigen Gefährten seiner Morgenspaziergänge, und hatte sich währenddessen mit der Jahreszeit entsprechender Lyrik unterhalten.

Manfred

Von Kulle war jedoch noch nichts zu sehen. Stattdessen tauchte Manfred aus der Richtung der Kommunikationszentrale von Bärenleben auf. Die Haare seines sonst sehr gepflegten Pelzes standen wirr in alle Richtungen ab, ein untrügliches Zeichen, dass er sehr aufgeregt war. Er war so außer sich, dass er seinen Vater überhaupt nicht wahrnahm, sondern blicklos an ihm vorbeirennen wollte. Erst dessen Stimme stoppte ihn:

„Manfred!“

„Oh, Papa! Ich hab Dich gar nicht…“

„Das war nicht zu übersehen. Was ist denn los?“

„Die Welt ist aus den Fugen!“

„Das ist sie erstens schon lange, und zweitens ist das Zitat falsch: ‚The time is out of joint‘, sagt Hamlet.“ Bärdel hatte erkennbar seine literarische Stunde, aber seine Reaktion regte Manfred nur noch mehr auf.

„Dann redet Hamlet Quatsch! Zeit und Raum sind a priori, das kannst Du bei Kant nachlesen, und können gar nicht aus den Fugen sein! Aber die Welt…“

„Was findet Du denn gerade so schlimm?“ Bärdel merkte, dass Manfreds Gemütszustand mit Bildungsbärentum nicht beizukommen war.

Manfred fasste sich tatsächlich: „Ich habe mir die Nacht um die Ohren geschlagen und das erste Fernsehduell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump verfolgt, und ich war entsetzt. Zwei Menschen im Greisenalter, als Präsidentschaftskandidaten von ihren jeweiligen Parteien nominiert, reden aneinander vorbei. Clinton hat jahrzehntelange Politikerfahrung, vielleicht ein Konzept, aber bestimmt kein Charisma, ihre Reaktionen sind einstudiert, ihre Antworten auswendig gelernt. Trump hat Geld und Selbstbewusstsein, aber kein Selbstbewusstsein – weißt Du, was ich meine?“

Bärdel nickte. „In der deutschen Sprache gibt es da keine Differenzierung. Trump ist self-confident, aber nicht self-conscious. Er ist selbstsicher, aber er ist sich seiner selbst nicht bewusst.“

„Danke, genau das meine ich. Er lügt erkennbar, aber er scheint das gar nicht zu merken. Er ist unbeherrscht. Und er hat von Politik und Wirtschaft keine Ahnung.“ Manfred holte tief Luft. „Ich verstehe nicht, dass Demokraten und Republikaner keine besseren Kandidaten gefunden haben. Und ich verstehe schon gar nicht, dass möglicherweise Trump am achten November zum Präsidenten gewählt wird.“

Bärdel wünschte sich jetzt dringend seinen Freund Kulle herbei, der weniger als er von Literatur verstand, dabei aber um so mehr von Politik. Von Kulle war allerdings immer noch nichts zu sehen. Also fing er mit den einfacheren Erklärungen an.

„In Dehland werden politische Spitzenkandidaten auch von ihren Parteien nominiert, genau wie in den USA, aber anders als in den USA bezahlen die Parteien auch den Wahlkampf. In den USA muss jeder Kandidat um Spenden werben und/oder seine Ausgaben aus eigener Tasche bezahlen, und deshalb gibt es im Wahlkampf meist nur reiche Menschen, wie Clinton, oder Superreiche, wie Trump.“

Kulle

„Die beiden großen Parteien in den USA sind nicht mehr zeitgemäß. Sie verstehen sich immer noch als Vertreter der WASPs, der White Anglo-Saxon Protestants, die nach der Gründung der USA die intellektuell, wirtschaftlich und politisch dominierende Schicht stellten. Auch wenn die Demokraten vorgeben, sich für African Americans und Hispanics einzusetzen, wenn sie sogar acht Jahre lang einen schwarzen Präsidenten gestellt haben, bleibt ihre Politik doch alten Schemata verhaftet. Aber das ist Parteipolitik. Viel spannender ist die Meinung der Bevölkerung.“ Die bekannte Stimme kam zunächst aus dem Gebüsch, aber Kulle teilte die Zweige, während er sprach, und stand jetzt vor ihnen.

„Guten Morgen! Entschuldigung, ich habe mich ein wenig verspätet, ich habe verschlafen. Ich habe mir nämlich den Tort angetan, heute Nacht diese sogenannte Fernsehdebatte zu verfolgen – nun ja. Wie ich höre, war ich nicht der einzige. Manfred, Du hast gerade sehr interessante Fragen aufgeworfen.“

Kulle glättete seine Fliege und fuhr fort. „Wenn es Euch recht ist, möchte ich eine Antwort darauf versuchen.“ Wie zufällig streifte sein Blick Bärdel, und er registrierte mit Genugtuung, dass dessen Gesichtszüge sich entspannten. Manfred sah ihn begeistert an. Kulles Ego vollführte einen begeisterten Salto.

„Ich werde dazu weiter ausholen. Der intelligente Mensch Stanislaw Lem hat eine Theorie über das Wesen der Menschen aufgestellt, deren Kernaussagen er in den Mund einer intelligenten Maschine legt. Dieser Theorie zufolge hat die Evolution des tierischen Lebens auf der Erde auf einer recht hohen Stufe zu einem Zustand geführt, der eine Lücke evozierte: Nicht alle Handlungen wurden mehr rein instinktiv gesteuert. Dass Lem rein instinktives Handeln uns Tieren unterstellt, ist natürlich Unsinn und allein seiner menschlichen Borniertheit geschuldet, aber seine Aussagen über seine eigene Spezies sind zweifellos nachdenkenswert.

Die Lücke bedeutet, sich zwischen Alternativen entscheiden zu können. Die Lücke ist das, was der Mensch selbstgerecht als ‚Verstand‘ bezeichnet.

Nun ist das Entscheiden ein anstrengender Prozess, dauernde Entscheidungen überfordern auch Bären, ganz gewiss aber Menschen. Deshalb, so Lem, organisieren die Menschen ihr Leben in regelhaften Gemeinschaften, die sie selbst als ‚Kulturen‘ bezeichnen. Die Vorschriften darin, die sie selbst gemacht haben, die sie aber schnell als von überirdischen oder irdischen Mächten gegeben betrachten, nehmen ihnen die Notwendigkeit der Entscheidung ab: in toleranten Kulturen nur zum Teil, in doktrinären vollständig. Soweit Lem.

‚Die Welt ist aus den Fugen‘ hat Manfred vorhin gesagt. Das ist zwar ein nicht korrektes Zitat, wohl aber eine korrekte Zustandsbeschreibung. Die technologischen Veränderungen in der Menschenwelt, allen voran die Revolution der Kommunikation und der Berufswelt, stellen tradierte Kulturen in Frage. Die gesellschaftliche Antwort darauf ist ein Auseinanderdriften der Menschengesellschaften: Doktrinär bestimmtes Leben wird noch doktrinärer, permissive Kulturen verzichten zunehmend auf verbindliche Regeln. Und die Gesellschaften mit fixen Grundsätzen und die Gesellschaften ohne fixe Grundsätze werfen den jeweils anderen vor, am fugenlosen Zustand der Welt schuld zu sein.“

„Ist ja alles schön und gut!“ murrte Manfred. „Aber ich weiß immer noch nicht, warum ein Amerikaner Donald Trump wählen sollte.“

Kulle schüttelte den Kopf so leise, dass nur Bärdel es sehen konnte. „Die USA sind eine zumindest in Teilen tolerante Kultur. In ihr zu leben erfordert Entscheidungen. Trump versprich den Menschen, ihnen die Entscheidungen abzunehmen, indem er ihnen sagt, wer böse ist und wer gut. Er verspricht ihnen das Ende der wirtschaftlichen Unsicherheit, indem er die ‚fugenlose‘ Welt von den USA fern hält: Durch eine Mauer gegen Mexiko, durch Protektionismus. Er ist der reiche Onkel, der es ganz nach oben geschafft hat und der verspricht, dass alles für alle gut wird. Wie man Kindern leichtfertig unhaltbare Versprechungen macht.“

Alle schwiegen lange, bis Manfred leise fragte: „Auf der Welt gibt es gerade viele Kinder unter den Menschen, oder?“

„Ich fürchte, ja.“

„Jetzt gehen wir aber endlich spazieren!“ forderte Bärdel gewollt heiter, obwohl ihm das Herz ebenso schwer war wie Manfred. „Wer kommt mit?“

Sie wanderten zu dritt durch die dehländische Ebene, aber anders als sonst begleiteten sie keine munteren Reden.

September 2016

Die Kanzlerin

Ramses

Die Kanzlerin

„Entschuldige bitte, Joachim! Ja, natürlich möchte ich lieber zusammen mit Dir in den Alpen wandern, wie jeden Sommer. Und ich habe nun mal nur knapp drei Wochen Urlaub vom Regieren, das ist wenig genug. Du als Prof mit Deinen opulenten Semesterferien – davon kann unsereins nur träumen. Die paar Tage muss ich jetzt für meine Zukunft nutzen. Kannst Du vielleicht mit Deinem Sohn wandern gehen?“ „Die Kanzlerin“ weiterlesen

Zwischengeburtstag

An einem 22. Oktober, dem Tag also, der genau sechs Monate vor und sechs Monate nach ihrem Erinnerungstag, dem Tag, an dem sie erinnert werden wollte oder, wenn es niemanden gab, der sie erinnerte, sich erinnern wollte, nämlich daran erinnern, dass sie die Bewegerin dieses einen Universums unter anderen zahllosen Universen war, deren Bewegerinnen zahllose andere Entitäten waren, am 22. April also, denn aus Gründen, die nur Tussi, denn von ihr ist die Rede, hell sein konnten, legt sie Wert darauf, ihren Erinnerungstag an dem Datum zu begehen, an dem Immanuel Kant und Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, das Licht dieser Welt, also des dritten Planeten des Solarsystems am Rand ihres Universums, erblickt haben, an dem Tag  zwischen den Erinnerungstagen lädt Tussi alle Bewohner Bärenlebens zum Robbenreiten vor der Insel Norderney ein.

Tussi und Merkel

Kulle fand wenig Vergnügen am Reiten von Robben, nicht in der Vergangenheit und auch nicht beim aktuellen Anlass. Er hasste kaltes Wasser, und er glitschte immer wieder von den dicken Tieren mit ihrem fettigen Fell, das keinen festen Griff erlaubte, hinunter. So stapfte er nach einem kurzen Intermezzo im Meer erleichtert wieder an den Inselstrand.

Kulle

„Na, kleiner Stinker? Schon die Nase voll vom Dorfvergnügen?“

Kulle zuckte zusammen, ertappt und schuldbewusst. Einer Göttin zeigt man nun einmal nicht, dass man ihr Unterhaltungsprogramm nicht schätzt. Aber Tussi gab sich huldvoll.

„Schon gut. Ich sollte mir vielleicht was Neues einfallen lassen, solange noch Zeit ist.“ 

Vor der großen Fröschin materialisierte sich ein silberner Kübel, aus dem der Hals seiner Champagnerflasche ragte, daneben stand ein schlanker Kelch. Vor Kulle erschienen zwei irdene Töpfchen.

„Sanddornhonig und Sanddorncreme für dich, Champagner für mich. Recht so?“

Kulle nickte. Süßherbe Düfte stiegen ihm in die Nase. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen, nicht sofort Pfote und Schnauze in die Leckereien zu stecken, sondern zu warten, bis Tussi den ersten Schluck genommen hatte, wie es sich gehörte. Aber noch viel mehr Beherrschung kostete es ihn, Tussi nicht sofort mit Fragen zu überfallen. Tussi war hier! Mit ihm allein! Tussi wusste alles! Er konnte alles erfahren! Er musste es nur geschickt anstellen…

„Sag mal…“

„Sag mal…“

Beide hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen. Beide sahen einander an. Beide nickten. Und beide fuhren gleichzeitig fort:

„Was wolltest Du fragen“?

„Was wolltest Du fragen?“

Kulle war verwirrt, aber er gab sich galant: „Du hast natürlich den Vortritt!“

„Sag mal – wie gefällt es Dir auf meiner Welt?“

Oh weh! Eine solche Frage eines Gottes oder einer Göttin wagt nur der Teufel ehrlich zu beantworten, und Kulle suchte bei ihm Zuflucht.

„Von Sonn‘ und Welten weiß ich nichts zu sagen,

Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.

Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,

Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.

Ein wenig besser würd er leben,

Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,

Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“

„Ja,“ sagte Tussi nachdenklich und nippte am Champagner, „Goethe war ganz schön klug. Dem hätte ich gerne Gesellschaft geleistet, aber ich habe von seiner Existenz erst erfahren, als er schon tot war. Man kann eben nicht alles haben!“

„Aber ich dachte, Du seist allwissend!“

„Das hast Du nicht gedacht, sondern gemutmaßt. Aber das nur am Rande. Und was den Inhalt Deiner Annahme angeht: Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst Du im Ernst, ich könnte hier sitzen und es mir gut gehen lassen, wenn ich alles wüsste, was vorgeht?“

„Aber ich denke – äh, ich nehme an, Du machst alles?“

„Präteritum, mein Lieber, Präteritum! Ich habe alles gemacht, vor langer Zeit, als es Eurer Physik zufolge noch gar keine Zeit gab, und seitdem gucke ich nur zu, was passiert, oder ich schaue auch weg, wenn es zu fürchterlich ist. Um ehrlich zu sein, ich sehe meistens weg.“

„Es gefällt Dir also auch nicht auf der Erde, wo ‚sich die Menschen plagen’ und mit ihrem Verstand überfordert sind, wie Mephisto sagt?“

„Nein. Im Prinzip ist die Erde ein ‚Failed Planet’. Aber man muss nehmen, was man hat, auch als Schöpferin: Allzu viele Planeten mit annehmbaren Umweltbedingungen haben sich in meinem Universum nicht entwickelt, um es vorsichtig zu formulieren. Terra nimmt eindeutig diesbezüglich eine Spitzenposition ein. Ein paar akzeptable Ecken gibt es hier schon.“

„Europa zum Beispiel?“

„Nicht zum Beispiel.  Nur Europa. Nur ein paar europäische Länder.“

„Dann ist Dein Kriterium nicht Reichtum!“

„Richtig erkannt. Du bist ein kluger kleiner Stinker. Ginge es um Reichtum, hätte ich mich in den USA niedergelassen. Habe ich aber nicht.“

„Also geht es um Frieden?“

„Natürlich.“

„Welche europäischen Länder meinst Du?“

„Frankreich, Benelux, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Schweiz, Westdeutschland…“

„Also nicht die DDR? Nicht zum Beispiel Spanien, Portugal, Griechenland?“

„Nein.“

„Also nur die Länder, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges demokratische Strukturen entwickeln konnten, in denen es keine Diktaturen gab?“

„Du bist wirklich ein kluger Stinker. Iss von Deinem Honig und Deiner Creme – die sind gut für Dein Gehirn.“

Kulle war jedoch zu aufgeregt zum Essen.

„Wirst Du länger hierbleiben?“

„70 Jahre Frieden. Das ist in Europa ein einmalig langer Zeitraum. Die europäischen Länder, in denen so lange Frieden herrscht, machen etwa zwei Prozent der Kontinentallandmasse aus – die Antarktis lasse ich außer Acht, weil sie nicht von Menschen besiedelt ist. Wenn ich unterstelle, dass der heutige Mensch die Erde seit 70.000 Jahren besiedelt;­ ein Durchschnittswert, in Afrika lebt der Mensch viel länger, in den Amerikas erschien er erst später , dann entsprechen 70 Jahre einem Promille.“

Jetzt griff Kulle doch in den Honigtopf.

„Du wirst also nicht länger hierbleiben?“

„Die Stochastik spricht dagegen.“

„Vielleicht“, sagte Kulle und sah aufs Meer hinaus, wo Bärdel und Atti und Manf sich, auf dem Rücken von Seehunden reitend, mit Wasser bespritzten, „vielleicht sollte ich jetzt doch noch die Freuden des Meeres genießen. Wer, weiß, wie lange es die noch gibt.“

Oktober 2015

Eule aus Athen

Da Ramses einerseits ein höflicher Frosch war, sich andererseits aber sorgte, dass seine Stimmbänder verkümmern könnten – er hatte seiner Meinung nach einen angenehmen Bariton – hüpfte er oft in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden aus Bärenleben fort, um außer Hörweite des Dorfes seine Quakübungen auszuführen. Aus ihm unerfindlichen Gründen waren nämlich alle Bärenlebener außer ihm der Meinung, dass sein Quaken sehr misstönend sei.

Ramses

So saß er denn im Juni auf einem luxuriös großen Teichrosenblatt, sang vor sich hin und blinzelte bereits um vier Uhr in den beginnenden Tag, denn in dieser Jahreszeit sind die Nächte kurz. Aber plötzlich wurde er aus seiner Ruhe gerissen: Etwas rauschte, sein Blatt geriet in Schwingungen, wackelte gefährlich, neigte sich zur Seite, und etwas Großes, etwas sehr Großes landete neben ihm darauf. Ramses wurde abgedrängt und fiel ins Wasser.

Das war nicht sonderlich tragisch, sind Frösche doch, wie jeder weiß, hervorragende Schwimmer. Aber Frösche sind eben auch höflich, und das rüde Verhalten ärgerte ihn gewaltig. Welcher Bärenlebener wollte ihm zu dieser Stunde und so weit außerhalb des Dorfes einen Streich spielen? Dem würde er es schon zeigen!

Er tauchte auf und öffnete den Mund, um eine Philippika zu beginnen, schloss ihn aber gleich wieder. Auf dem Blatt saß kein Bewohner Bärenlebens. Auf dem Blatt saß ein großer Vogel, und mit Vögeln kannte Ramses sich gar nicht aus. Manchen allerdings sollte man als Frosch besser aus dem Weg gehen, Störchen zum Beispiel, das wusste er. Aber der Eindringling sah nicht wie ein Storch aus.

„Entschuldige bitte, dass ich Dich runtergeworfen habe. Ich muss mich verflogen haben. Und jetzt ist es schon so hell, dass ich fast blind bin.“

Minerva

Der Fremde hatte also immerhin Manieren, stellte Ramses fest. Aber komisch war doch, dass jemand nicht sehen konnte, wenn es Tag war. Der Sache wollte er auf den Grund gehen.

„Macht nichts!“ sagte er großspurig. „Macht gar nichts. Schon gut! Ich bin übrigens Ramses.“ Wenn ich mich vorstelle, musst Du Dich auch vorstellen, dachte er sich. Er hatte richtig gedacht.

„Ich bin Athene.“

Wenn Du Athene bist, bin ich Zeus, schoss es Ramses durch den Kopf. Oder zumindest Apoll.

„Dann kommst Du also aus Griechenland?“ Er wollte einen Witz machen. „Aus Athen, nehme ich an? Und Du bist bestimmt eine Eule?“

Minerva

„Ja, ich komme aus Athen, und ich bin genau genommen ein Steinkauz, Athene noctua, aber Du darfst mich eine Eule nennen. Alle machen das.“

Das wäre beinahe schief gegangen – er war auf dem besten Weg gewesen, sich zu blamieren, stellte Ramses fest. Eulen nach Athen tragen, Aristophanes – hier schien sich Antikes anzubahnen.

„Willkommen in Dehland!“ sagte er feierlich. „Du hast bestimmt Hunger, aber außer ein paar Fliegen kann ich Dir leider nichts anbieten. Ich hoffe doch, Du isst keine Frösche?“

„Ich bevorzuge Mäuse,“ erklärte Athene ernsthaft.

„Das beruhigt mich sehr. Sag mal, wohin wolltest Du denn, bevor Du Dich verflogen hast?“

„Zum Kanzler. Zu dem Kanzler, von dem mir berichtet wurde. Der auf den Rat der Bären hört.“

Von diesem Kanzler hatte Ramses auch schon gehört. Im Dorf erzählte man sich, er habe sich einst bei einem Gewitter verirrt und sich, obwohl er zuerst Angst vor sogenannten wilden Tieren hatte, von Bären zur Vernunft bringen lassen. Ramses hielt die Geschichte für wahr. Er wusste auch, dass dieser Kanzler schon lange nicht mehr um Amt und sehr krank war. Ebenfalls erinnerte er sich, dass der Nachfolger des Kanzlers später bei den Bären aufgetaucht war, und er hatte sich wesentlich weniger vernünftig gezeigt als sein Vorgänger. Und dessen Nachfolgerin…

„Du weißt aber, dass Dehland seit zwölf Jahren keinen Kanzler mehr hat, sondern eine Kanzlerin? Sie heißt Angela Merkel. Und ich habe noch nie davon gehört, dass sie auf den Rat von Bären hört.“

Bei dem Namen zeigte Athena Unruhe. Ramses, der inzwischen wieder auf sein Teichrosenblatt zurückgeklettert war, geriet mit seiner Unterlage in eine gefährliche Schieflage.

„Was ist los?“ wollte Ramses wissen.

„Zu Angela Merkel will ich nicht. Auch nicht zu Christine Lagarde. Nicht zu Jerôme Dijsselblom. Nicht zu Claude Juncker. Nicht zu Wolfgang Schäuble. Nicht zu…“

Athena schien die Puste nicht auszugehen, und deshalb unterbrach Ramses sie: „Zu wem willst Du dann?“

Athena antwortete nicht, sondern steckte den Kopf unter ihren rechten Flügel. Der Kopf verschwand völlig. Ramses wartete geduldig, obwohl er es merkwürdig fand, auf ein Lebenszeichen eines gefiederten Quaders zu hoffen. Er musste lange warten, bis der Kopf wieder erschien.

„Ich habe nachgedacht. Der Kanzler damals…“

„Der ist alt und sehr krank.“

„Schade.“

„Ja.“

„“Er hat mit den Bären geredet…“

„Ja.“

„Leben die Bären noch?“

„Ja.“

„Bring mich bitte zu ihnen.“

„Gerne. Aber ich gehe mal lieber vor.“

Es gelang Ramses gerade rechtzeitig, Bärdel und Kulle auf ihrem Morgenspaziergang abzupassen.

Kulle und Bärdel

„Wir haben Besuch aus fernen Ländern!“ quakte er. „Eine Eule! Eine politische Eule! Sie will zum Kanzler, aber das habe ich ihr ausgeredet. Sie kommt zu Euch!“

Bärdel sah Kulle an. Kulle sah Bärdel an. Ungläubig. Verständnislos.

Und schon war sie da. Sie landete auf einem niedrigen Ast am nächsten Baum.

„Guten Morgen!“ grüßte Bärdel. Und gedankenlos fuhr er fort: „Ich hoffe, Du hast gut geschlafen.“

„Guten Morgen. Ich hoffe, Du siehst, dass ich ein Nachtvogel bin. Ich habe nicht geschlafen, sondern bin geflogen.“

„Sie kommt aus Athen!“ platzte Ramses dazwischen.

„Wer hat Dich denn da hingetragen?“ flachste Kulle. Man muss ihm verzeihen – er war noch nicht ganz wach und ließ es an der nötigen Ernsthaftigkeit fehlen.“

„Das war Wolfgang Hildesheimer 1954. Aber ich lebe schon viel länger. Schon seit Aristophanes.“

Schlagartig begann Kulles Verstand auf Hochtouren zu arbeiten.

„Du bist eine literarische Eule? Eine symbolische Eule?“

Kulle und Bärdel

Athena nickte bescheiden.

Ramses verstand gar nichts. Bärdel nur ein bisschen.

„Du, die Kluge, Symbol der Göttin Athene, weiser Vogel aus dem Land, das die Wiege Europas ist, aus dem der göttliche Stier die Jungfrau in die Fremde trug – Du suchst Rat bei wilden Tieren?“

Bärdel erkannte Kulle kaum wieder. Seinen Hang zur Literatur hatte sein Freund bisher erfolgreich vor ihm verborgen.

„Ich suche Rat bei wilden Tieren, denn mein Land ist unter die Menschen gefallen.“

Athena hatte sich überreden lassen, den Tag zu verschlafen und ihre Geschichte allen Bärenlebenern bei der abendlichen Dorfversammlung zu erzählen. Heute war es später als gewöhnlich – man hatte höflich auf die Dunkelheit gewartet, damit die Eule ordentlich sehen konnte.

„Es ist eine lange Geschichte, aber ich will versuchen, es kurz zu machen. Seit 30 Jahren ist Griechenland Mitglied der Europäischen Union, seit 15 Jahren ist die Währung der Euro. Die damaligen Regierungen haben sich den Euro mit gefälschten Zahlen erschwindelt. Im Land wird schlecht gewirtschaftet, damals wie heute. Die Regierung gab mehr Geld aus, als sie einnahm, und musste für die fehlende Summe Kredite aufnehmen. Die Zinsen für solche Kredite stiegen ständig, weil die Geldgeber immer stärker daran zweifelten, dass sie ihr verliehenes Kapital jemals wiedersehen würden. Schließlich konnte der Finanzminister den Schuldendienst nicht mehr bedienen. Das Land stand vor dem Bankrott Das war vor fünf Jahren.

Ist das soweit klar?“

Alle nickten, aber Piggy, das Schwein, wollte wissen: „Und warum ist Griechenland vor fünf Jahren nicht pleite gegangen?“

„Es wäre eine Blamage für die anderen Euro-Länder gewesen. Das Ansehen des Euro an den internationalen Devisenbörsen wäre stark beschädigt worden. Man beschloss, Griechenland zu helfen. Die Helfer waren zwei Organe der Europäischen Union und der Internationale Währungsfonds.“

„Oh je!“ Na hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, weil sie sich wieder einmal nicht hatte beherrschen können.

Athena richtete mit einem ihrer Augen einen stechenden Blick auf sie. Wenn Eulen schmunzeln könnten, hätte sie es getan.

„Sehr richtig: Oh je! Vor allem der IWF ist knallhart, aber über den wisst Ihr in Bärenleben ja Bescheid, hat Kulle mir erzählt. Wenn der Kredite vergibt, dann immer nach den gleichen Spielregeln: Geld gibt es nur, wenn die Staatsausgaben verringert werden. Wenn also weniger ausgegeben wird für Bildungs- und Gesundheitswesen, für Soziales. Allgemein für den öffentlichen Dienst. Wenn die Staatseinnahmen erhöht werden, also die Steuern. Wenn das Staatseigentum verkauft wird.“

Athena holte tief Luft.

„In Griechenland sind die Renten in den letzten fünf Jahren um zehn Prozent gesenkt worden, die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden um 30 Prozent gekürzt. Jeder dritte Grieche kann sich keine Krankenversicherung mehr leisten. Und fast jeder dritte Grieche ist arbeitslos. Vor fünf Jahren war es noch nicht einmal jeder zehnte. Viele Menschen sind obdachlos geworden, viele hungern.“

Athena schwieg. Die Zuhörer waren mucksmäuschenstill. Sie warteten auf die Fortsetzung des Vortrags. Aber die Eule war am Ende.

„Und jetzt?“ fragte Kulle schließlich sanft.

„jetzt hat Griechenland schon wieder kein Geld mehr. Nur Schulden. Und die Geldgeber stellen neue Bedingungen.“

„Warum kann man denn nicht einfach einen Schlussstrich ziehen? Also Griechenland seine Schulden erlassen?“ schlug Tumu vor.

„Das möchten die Griechen natürlich. Aber nicht die Gläubiger, vor allem nicht die Regierung von Dehland. Niemand erinnert sich offenbar daran, dass diesem Land die Forderungen aus dem Versailler Friedensvertrag weitgehend erlassen wurden. Ohne diese Großzügigkeit der Gläubiger hätte sich Dehland wohl kaum wirtschaftlich erholen können.“

Athena seufzte.

„Ich wollte mit dem alten Kanzler sprechen, dem, der auf die Bären gehört hat. Aber den gibt es nicht mehr, habe ich gelernt. Die neue Kanzlerin, das wissen in Athen alle, hört nicht auf Bären, sondern nur auf Geld. Zu ihr zu fliegen hat keinen Zweck. Das hieße, Eulen nach Berlin tragen. Und davon gibt es in Berlin genug.“

„Was können wir denn tun, um den Griechen zu helfen?“ wollte die alte Bärin wissen.

„Wir können zum Beispiel all das technische Equipment nutzen, das ich im Lauf der Jahre zusammen… zusammengestellt habe,“ meldete sich Manfred. „Über die diversen sogenannten sozialen Medien lässt sich da Meinung machen, und meine Firewalls sind so gut, dass niemand uns entdecken wird. Gleich morgen früh legen wir los – ich garantiere, dass der Shitstorm die Kanzlerin aus dem Bett holen wird. Vielleicht fällt ihr dann ein neuer Spruch ein: ‚Ruinieren unter Freunden – das geht gar nicht!‘ Aber Ihr geht jetzt besser erst mal schlafen -¬ ich muss noch ein wenig basteln.“

Die Bären brummten zustimmend, das Schwein quiekte, und im Augenblick störte es auch niemanden, dass Ramses quakte.

„Und Du bist bitte unser Gast!“ sagte Bärdel zu Athena. „In den Wäldern der Umgebung gibt es Mäuse genug für Deine Bedürfnisse, anderes Kleingetier auch, wonach Dir der Appetit steht, so genau wollen wir das gar nicht wissen.“ Und mit ein bisschen schlechtem Gewissen fügte er hinzu: „Und schlaf schön. Morgen, tagsüber, meine ich.“

Zur Erläuterung:

Die Redensart „Eulen nach Athen tragen“ geht auf den griechischen Dichter Aristophanes zurück, in dessen Komödie „Die Vögel“ sich der Satz findet:

„Wer hat die Eule nach Athen gebracht?“

Die Eule, Symboltier der Göttin Pallas Athene, gilt als Inkarnation der Weisheit.

Und: Eulen waren damals in die Silbermünzen geprägt.

Hier beginnt die Spielwiese der Interpretation: Wie möglich/ unmöglich, sinnlos/ unsinnig ist es, Weisheit bzw. Geld irgendwo hin zu bringen?

Wolfgang Hildesheimer, Meister der kurzen Form und der Ironie, schreib 1954 die Erzählung: „Ich trug eine Eule nach Athen“. Nachzulesen im Archiv der „Zeit“.

Eisbärenabitur – oder: Kant für Anfänger

Eisbärenkinderabitur

Eisbärenfamilie

„Tante Atti, Onkel Kulle, können wir heute bitte Abitur spielen?“

Athabasca und Kulle sahen einander verwundert an. Was war wohl jetzt wieder in Nanuk gefahren?

„Wie kommt ihr denn auf die Idee?“ wollte Atti wissen.

Athabaska

„In ganz Dehland finden jetzt mündliche Abiturprüfungen statt, haben wir in der Zeitung gelesen. Wenn man die besteht, darf man studieren. Das wollen wir auch machen!“

Kulle schüttelte sanft den Kopf. „Man muss auch schriftliche Prüfungen bei den Menschen bestehen, wenn man studieren will. Aber das nur nebenbei. Ihr braucht diese Voraussetzungen nicht: Hier in Bärenleben dürft ihr studieren, wozu immer ihr Lust habt!“

„Das wissen wir doch, Onkel Kulle! Aber wir möchten so gerne spielen….“

„Na gut! Tante Atti und ich werden uns eine Aufgabe für euch ausdenken. Da ihr aber zweifellos klüger seid als die Menschen, werden wir euch nur mit Material versorgen. Die Aufgaben dazu müsst ihr euch selbst überlegen. Mit dem Material dürft ihr euch zwanzig Minuten lang beschäftigen, und danach folgt eine Prüfung von einer halben Stunde. Einverstanden?“

„Super, Onkel Kulle! Wir sind jetzt gleich bei Mami im Wasser. Sagt uns Bescheid, wenn ihr fertig seid.“

Und schon sausten zwei weiße Blitze davon zum Dorfteich.

Athabasca bot Kulle ein paar frisch gepflückte Kräuter an und erkundigte sich: „Was wollen wir den beiden geben? Du hast doch bestimmt schon eine Idee, du Schlaumeier!“

Kulle

Es gab nur einen Bären auf der Welt, genauer gesagt, eine Bärin, von der sich Kulle despektierlich „Schlaumeier“ nennen ließ. Atti war die Frau seiner Träume, seit er sie kennengelernt hatte. Deshalb bedankte er sich artig für den vegetarischen Imbiss und sagte: „Kant. Kurz und knackig. Da ist alles drin und alles draus zu machen.“

Atti mopste sich ein paar Rucolablätter aus Kulles Faust und nickte zustimmend. „Gute Idee. Aber bitte gekürzt.“

„Versteht sich. Die Kleinen werde auch so genug zu knabbern haben.“

Kulle trollte sich in die Bibliothek und kam wenig später mit bedrucktem Papier zurück.

„Nanuk!“ rief er.

Voller Begeisterung sprangen die Zwillinge ans Ufer, schüttelten sich das Wasser aus dem Fell und griffen nach den Zetteln.

„Zwanzig Minuten!“ erinnerte Kulle.

„Viel Spaß!“ wünschte Atti.“

Beantwortung der Frage:

Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich…Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: Räsonniert nicht! Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich, welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung…

„Ganz schön viel Text“, stellte Nuk beeindruckt fest.

„Ach nee“, kommentierte Na ironisch. „Komm, lass uns arbeiten: Von wem ist der Text, was steht drin, sind die Aussagen richtig – einverstanden?“

Nuk antwortete nicht – sie war schon in das Material vertieft. Zwanzig Minuten lang war es still – eisbärenarbeitsstill.

„Seid ihr so weit?“ Athabasca hatte eine Holunderblüten-Honig-Limonade angesetzt und wollte den Kindern davon einschenken, aber Nuk wehrte dankend ab: „Später, bitte, Tante Anti.Erst müssen wir reden!“

„Wir gehen davon aus, dass der Text von einem Aufklärer stammt, also auf das späte 18.Jahrhundert zu datieren ist. Die häufige Verwendung des Verbs ‚räsonnieren‘ und die Anspielung auf einen einzigen Herrn in der Welt, der sagt: ‚Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht‘ sind eindeutige Hinweise auf Preußen und Friedrich II. Der Verfasser des Essays ist vermutlich Immanuel Kant.“

Lehrerin und Lehrer nickten anerkennend.

„Wir könnten jetzt den Textinhalt referieren, wenn ihr möchtet,“ bot Na an. „Wir fänden das, ehrlich gesagt, aber langweilig. Spannender wäre es, den Text politisch einzuordnen, denn Aufklärung ist beziehungsweise war eine intellektuell-politische Bewegung, die ihrer Natur nach bestehende Herrschaftsstrukturen in Frage stellt. Außerdem reizt es uns, die Textaussagen auf ihre aktuelle Relevanz abzuklopfen.“

„Athabasca seufzte vor Glück. Kulle freute sich ebenso, dachte aber wehmütig daran, dass er wohl lange auf die nächste Generation ähnlich begabter Eleven würde warten müssen.

„Wir sind ganz Ohr,“ sagten beide im Chor.

„Ein Revolutionär war der Königsberger Professor Kant nicht gerade. Ist ja auch menschlich: ‚Wes Brot ich ess, des Lied ich sing…‘ Ohne Bevormundung denken sollen die Menschen seiner Meinung nach schon, aber dabei bloß nicht die öffentliche Ordnung und das Gefüge des Gemeinwesens stören, auch wenn es darum nicht zum Besten bestellt sein mag. Deshalb unterscheidet er zwischen öffentlicher und privater Freiheit. Der Privatmensch, ob nun als Soldat oder in einem zivilen Beruf tätig, hat zu gehorchen, öffentlich darf er dagegen seine Gedanken kundtun – gemein formuliert, Kant postuliert die Freiheit der Stammtischmeinung.“

Kulle dachte. ‚Das hätte von mir sein können.‘

„Der Text, den wir bekommen haben, ist mehr als zweihundert Jahre alt, wenn unsere Einschätzung stimmt.“ Nuk schien laut zu denken, für sich zu überlegen, nicht zu ihren Lehren zu sprechen.

„Ich habe gelernt, dass der Optimismus, den er ausdrückt, erst am Beginn des 20. Jahrhunderts zerstört worden ist, durch den Großen Krieg.

Es gab einen zweiten Optimismus-Aufguss mit dem Sieg der Oktoberrevolution 1917, bis sich allmählich herausstellte, dass die Revolution ein Putsch war und die Herrschaft der Arbeiterklasse die Willkürdiktatur der Nomenklatura.

Es gab einen dritten Aufguss nach dem Ende der Bipolarität. Für kurze Zeit sah es so aus, als könnte die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges Schwerter zu Pflugscharen schmieden.“

„Aber“, fuhr Na ebenso träumerisch fort, „das war die Sicht der satten Reichen, die meinten, immer weiter gut leben zu können mit den billigen Rohstoffen der Armen. Denn die Armen waren ruhig gestellt unter der Herrschaft von Diktatoren, mit denen die Reichen hervorragend Handel treiben konnten. Aber die Armen hatten selten Brot und immer keine Arbeit, kein Auskommen, und als manche von ihnen die Diktatoren vertrieben, jubelten die satten Reichen sogar, denn sie meinten, nun würden die Armen das Regierungssystem der Reichen einführen, und dann ließe sich mit ihnen noch besser Handel treiben. Weit gefehlt.“

„Denn,“ spann Nuk den Faden fort, „denn die Aufständischen begaben sich nicht unter die Fuchtel der kapitalistischen Vormünder, sondern, was Kant, wenn er denn der Verfasser des uns vorliegenden Textes ist, verabscheut hätte, unter die Vormundschaft der Imame und der Muftis. Nicht die Vernunft regiert, stattdessen ist die öffentliche Freiheit ein Opfer der Scharia. Die schlimmsten Auswüchse, wenn wir der Presse trauen dürfen, produziert der IS mit Morden und Vergewaltigungen in einem Ausmaß, wie sie – in Europa – seit dem dreißigjährigen Krieg nicht mehr vorgekommen sind.“

„Das soll aber nicht heißen, dass die Menschen in den Industrie- und Schwellenländern rationaler agieren,“ sagte Na. „Die kleinen digitalen Helferlein haben sich längst in die Rolle der Vormünder gedrängelt und sind auf dem besten Weg, die Diktatur zu übernehmen. Der elektronische Assistent ist der elektronische Kontrolleur, und dessen Boss – Google, Apple oder wie such immer – weiß alles über dich. Aber die ‚User‘ scheinen es zu wollen – Netzsucht ist bereits als Krankheit definiert.“

„Und dann sagte Na: „Jetzt habe ich Durst.“

„Ich auch“, setzte Nuk hinzu.

Beide tranken einen herzhaften Schluck, rülpsten nach Bärenart. und danach fragte Nuk: „Sollen wir noch weitermachen?“

Athabasca sah Kulle an. Kulle sah Athabasca an. Beide schüttelten den Kopf.

„Ihr dürft gerne weitermachen, wenn ihr möchtet. Eure gewünschte Prüfung ist aber zu Ende. Ihr habt mit Auszeichnung bestanden und seid an jeder Bärenuniversität der Welt zugelassen. Wobei wir zugeben, dass es so viele Bärenuniversitäten nicht gibt.“

„Danke! Wir studieren gerne weiter in Bärenleben. Für heute Abend haben wir einen Vorschlag: Können wir alle gemeinsam darüber reden, warum die Menschen Aufklärung aufgegeben haben?“

Kulle war von dem Vorschlag angetan. „Gute Idee! Ich werde Bärdel sagen, dass er das Thema ansprechen soll.“

„Danke, Onkel Kulle!“

Zwei Minuten später lieferten sie einander eine erbitterte Wasserschlacht. Oicy freute sich, dass ihre Kinder ganz normale Eisbären waren, keine verkopften Grizzlys.

Si vis pacem ???

Der Nieselregen der letzten Tage hatte den Schnee in und um Bärenleben schmelzen lassen. Die Erde roch wieder nach Erde und nach Wurzeln und nach keimendem Leben. Nach langer Winterruhe trieb es Bärdel zu einem Morgenspaziergang, aber den wollte er natürlich nicht allein unternehmen.

Baerdel

Er rief nach Kulle. Ein wenig artikulierter Laut aus einem Gebüsch am Dorfteich antwortete ihm. Bärdel trabte dorthin und begrüßte im Vorbeigehen Oicy, die wehmütig die letzten schmelzenden Eisschollenreste betrachtete. Ihre Kinder schlossen sich sofort Bärdel an, als sie ihn bemerkten.

Eisbaeren

Kulle hocke unter einem Forsythienbusch, dessen Knospenspitzen schon gelbe Farbe zeigten. Er freute sich aber nicht an der zarten Frühlingsankündigung, sondern schaute nach unten und werkelte an öligen Metallteilen herum, die er vor sich auf einem schmierigen Lederlappen ausgebreitet hatte. Weder Bärdel noch die Eisbärenzwillinge hatten jemals etwas Ähnliches gesehen.

Folgerichtig erkundigte sich Bärdel: ”Was ist das denn?” Vor lauter Verblüffung vergaß er sogar einen Morgengruß – dabei war er doch ein sehr höflicher Bär!

„Das ist eine Glock”, knurrte Kulle. Der Tonfall verriet, dass er auch noch hatte sagen wollen: ‚Frag nicht so blöd – das sieht man doch!‘

Bärdel holte tief Luft und nutzte die damit gewonnene Zeit, um darüber nachzudenken, was er dazu sagen sollte.

So konnte Na ihm zuvorkommen: ”Aber nein, Onkel Kulle, Du schwindelst uns an. Eine Glocke sieht doch ganz anders aus!”

Bärdel hatte zu Ende überlegt, bevor Kulle explodieren konnte. ”Wozu brauchst Du eine halbautomatische Pistole?” fragte er. Na war zwar oft naseweis, aber auch sehr intelligent. Sie begriff sofort, und vor Überraschung kullerten ihr fast die Augen aus dem Kopf. Auch Nuk sah man ihre Verwirrung an.

„Zur Verteidigung. Zur Selbstverteidigung. Si vis pacem, para bellum!”

Die Zwillinge hatten genug Latein bei Kulle und Athabasca gelernt, um den Spruch mühelos übersetzen zu können: ‚Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor‘. Sie verstanden die Aussage, nicht aber den Zusammenhang mit Kulles Tun. Bärdel ging es ebenso.

„Wer bedroht denn unseren Frieden” – er war klug genug, um ‚unseren‘ zu sagen und nicht ‚Deinen‘ -,”so dass wir uns gegen Aggressoren bewaffnen müssen?” fragte er.

„Jetzt tu bitte nicht so dumm!” fauchte Kulle.”Winterschlaf hin, Winterschlaf her, wir haben in diesem mal wieder zu warmen sogenannten Winter nicht durchgeschlafen und genug Nachrichten verfolgt, um zu wissen, dass die Welt aus den Fugen ist!”

Na konnte mit dem Wort ‚Fuge‘ nur Musikstücke verbinden, deren Meisterkomponist Johann Sebastian Bach gewesen war, aber Nuk knuffte sie in die Rippen, bevor sie nachfragen konnte. Wir Kinder halten jetzt mal ein paar Minuten lang den Mund, sollte das heißen. Na gehorchte folgsam. Es ging anscheinend um die Welt, und da wussten die Erwachsenen bestimmt besser Bescheid als sie.

Bärdel hatte sich gerade intensiv mit Shakespeare beschäftigt und wusste deshalb, dass für Hamlet nicht die Welt, sondern die Zeit aus den Fugen war. Das war jetzt egal – das eine war so schlimm wie das andere. Und er wusste auch Bescheid über die aktuelle Politik.

„Natürlich weiß ich das. Die schöne ‚Friedensdividende‘, an die die Menschen bei dem Ende des Kalten Krieges 1990 geglaubt haben, ist verspielt. Nine eleven. Irak. Afganistan. Libyen. Syrien. Ägypten. IS. Ukraine… es gibt genug böse Akteure auf der Welt!”

Kulle hatte seine Pistole erfolgreich zusammengebaut und konnte sich endlich auf ein Streitgespräch konzentrieren.

„Recht hast Du,” begann er harmlos. Und in mindestens genauso harmlosem Ton wollte er wissen: ”Wer sind denn die bösen Akteure?”

„Das liegt doch auf der Hand. Al Quaida. Die Taliban. Al Assad. Die Muslimbrüder. Putin. Die Liste ist verlängerbar.”

Bärdel war arglos in die Falle getappt. Er hätte es wissen müssen: Immer wenn Kulle ein ‚denn‘ in eine Frage einbaute, führte er Böses im Schilde.

„Die Liste ist in der Tat verlängerbar.” Kulle genoss seinen Triumpf im Voraus, packte sorgfältig seine Pistole ein, ließ sich Zeit mit der Antwort.

„Wer Al Quaida sagt, darf Saudi Arabien nicht vergessen.

Die USA haben die Taliban gepäppelt, solange sie noch willige Kämpfer gegen die UdSSR waren, die damals Afghanistan besetzt hatten.

Al Assad ist ein Chamäleon, jetzt schillert er schon fast wieder gut, weil der IS schlimmer ist als er.

Ist der Mubarak-Nachfolger Al-Sisi besser als die Muslimbrüder? Die Folterkeller hat er nicht geöffnet, wie man sagt, aber der ‚Westen‘ arbeitet gern mit ihm zusammen.

Und Putin macht nichts anderes als die angeblich zivilisierten Menschenrechtler in der westlichen Welt.”

Der letzte Satz kam so handzahm, so beiläufig, so unbedeutend, dass er an Nanuks Ohren harmlos vorbeidriftete. Die Eisbärenkinder hatten Hunger auf ein ordentliches Frühstück bekommen – was scherte sie da Putin?

Eisbaeren

Bärdels Ohren waren dagegen gezückt. Jetzt waren sie offen für jeden Unterton von Kulles Aussagen. Und: Er war bereit, sich zu wehren.

„Putin hat das Völkerrecht verletzt! Putin hat Staatsgrenzen gewaltsam verschoben, und zwar in Europa! Putin führt einen unerklärten Krieg gegen die Regierung der Ukraine!”

„Yo!” sagte Kulle. Er klang so selbstsicher wie Jesse Pinkman, der gerade eine ordentliche Charge Chrystal hergestellt hatte. ”Hat er getan!” Nach einer Pause fügte er beiläufig hinzu: ”Wie ich schon sagte: Er hat gemacht, was alle anderen auch machen.”

Bärdels Ohren sanken. Wenn Kulle so sicher auftrat, dann hatte er entweder völlig gute oder völlig schlechte Karten und pokerte einfach hoch. Jetzt, schien es ihm, war Kulle obenauf.

„Die USA haben das Völkerrecht verletzt, als sie 2003 den Iran angriffen. Die Begründung dafür, der Staat besitze Massenvernichtungswaffen, war erlogen.

Die USA suchen mit militärischen Mitteln, vor allem mit Drohnen, führende Köpfe islamistischer Vereinigungen und töten sie. Das geschieht jenseits rechtsstaatlicher Prinzipien. Das ist Mord. Sogenannte ‚Kollateralschäden‘ werden billigend in Kauf genommen.

Frankreich verletzt permanent das Völkerrecht, denn die französische Armee maßt sich an, in afrikanischen Staaten zu intervenieren, die ehemalige Kolonien sind.

Deutschland ignoriert internationale Konventionen, indem es Waffen in Krisengebiete liefert.

Eine von der UN nicht autorisierte Militärallianz bekämpft den IS und versorgt die Peschmerga mit Waffen. Die Peschmerga sind keine offizielle Armee und agieren innerhalb keines offiziellen Staates.

Die Liste ist verlängerbar.”

Kulle schwieg und gab sich Mühe, nicht zu grinsen.

Bärdel gab sich Mühe, seine Gedanken zu ordnen.

„Aber … aber Putin handelt aus Eigennutz!”

„Wer nicht?” konterte Kulle kalt.

„Aber…” Na wusste nicht weiter.

„Was: Aber?” fragte Kulle. Er fragte warm. Er mochte die Kleinen.

„Aber gibt es nicht den guten Eigennutz und den bösen Eigennutz?” fragte Na .”Ich meine, gibt es nicht das Handeln, das allen oder zumindest den meisten nutzt, und das entgegengesetzte?”

„Alle Handelnden behaupten, Gutes zu wollen. Alle wollen auch Gutes, aber nur für sich selbst.”

„Gibt es keine Menschen, die etwas tun, damit es allen Menschen und allen Bären und allen überhaupt nützt?”

„Nicht mehr.” Kulle dachte an die rote Fahne in der hintersten Ecke seiner Höhle, aber er verdrängte die Erinnerung.

Na ließ den Kopf hängen. In einer Ecke ihres Gehirns steckte jedoch das ‚aber‘ und ließ sich nicht vertreiben. Mit dem Gespür, über das nur eineiige Zwillinge verfügen, wusste Nuk das. Und sie half:

„Onkel Kulle, Tante Atti hat uns noch einen ähnlichen lateinischen Spruch beigebracht. ‚Si vis pacem, cole iustitiam‘. (Wenn Du den Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit) Der steht als Motto über dem Friedenspalast in Den Haag, dem Sitz des Internationalen Strafgerichtshofs. Der bestraft Kriegsverbrechen und andere schlimme Sachen. Ist das nicht ein besserer Leitfaden als Dein ‚para bellum‘?”

Kulle reagierte sofort :”Ein viel besserer Leitfaden! Kommt her, Ihr Beiden, lasst Euch knuddeln!”

Zufrieden sprangen die Eisbärenschwestern in Kulles Arme und ließen sich streicheln. Mehr sagte Kulle nicht, und dafür war Bärdel ihm sehr dankbar.

Natürlich wussten die alten Bären, dass weder die USA noch Russland den Internationalen Strafgerichtshof als Institution anerkannten. Die beiden Kleinen würden das früh genug erfahren.

Pluralismus

Na und Nuk

„Was meinst Du – sollen wir nicht doch mal?“ fragte Na.

„Was sollen wir ‚doch mal‘?“ Nuk bemühte sich um Höflichkeit.

„Manfred hat uns letztens geraten, wie er früher einmal in eine Menschenschule zu gehen – fändet du das nicht lustig? Es wäre ein tolles Abenteuer!“

„Du spinnst! Man würde uns sofort als Eisbärinnen erkennen. Manfred als Braunbär kann sich ohne Probleme als Mensch geben, aber wir…“

„Das können wir auch! Wir binden uns ein Kopftuch um, und schon sind wir Muslimas. Dazu gehören natürlich körperverhüllende Gewänder, und schon erkennt uns niemand. Die Sache mit dem aufrechten Gang kannst Du doch, oder?“

„Frag nicht so dumm! Schließlich unterrichtet Tante Atti uns auch im Tanzen, obwohl ich mich immer wieder frage, wozu das gut sein soll. Ich könnte also dank ihres Unterrichts auch auf den Zehenspitzen zur Menschenschule gehen, wenn es sein müsste.“

„Prima!“ Na freute sich. „Morgen melde ich uns dann an. Ich dachte an die vorletzte Klasse. Da gibt es noch keine ernsthaften Prüfungen, aber unser Niveau dürfte der Unterricht dort in etwa haben.“

„Woher weißt du das?“

„Reine Spekulation. Aber im vorletzten Jahr vor der Erreichung der allgemeinen dehländischen Hochschulreife sollte man doch etwas erwarten können, oder?“

Die neuen Schülerinnen Na Ibrahima und Nuk Abdallahi wurden problemlos in den elften Jahrgang aufgenommen. Selbstverständlich belegten sie alle Kurse gemeinsam. Als erstes Fach hatten sie Deutsch. Man beschäftigte sich mit Goethes „Faust“. Nanuk versuchten, ein Gähnen zu unterdrücken – diese Lektüre lag schon ein paar Monate hinter ihnen. Aber sie setzten sich brav in die letzte Reihe, in der noch zwei Plätze frei waren. Vor ihnen zählten sie die Köpfe und kamen auf fünfundzwanzig.

„Haben die Menschen in Dehland vielleicht kein Geld für effektiven Individualunterricht?“ flüsterte Nuk ihrer Schwester zu. Aber die junge Lehrerin hatte gute Ohren und fuhr schnell dazwischen: „Hier wird nicht geschwatzt, junge Dame, hier wird aufgepasst. Was meinen Sie – nähert sich Faust dem ihm unbekannten jungen Mädchen in angemessener Weise?““

Nuk musterte die Lehrerin unter ihrem Schleier hervor, was diese nicht bemerkte. Statt auf ihre Augen konzentrierte sich die junge Pädagogin auf deren kunstvoll geschlungenes Kopftuch und schürzte dabei verächtlich die Lippen. Kopftücher können nicht denken, schlussfolgerte Nuk aus dieser Mimik. Na warte!

„Sie müssen entschuldigen – meine Schwester und ich sind neu hier, und wir kennen den Roman, den Sie lesen, nicht.“

Nuk registrierte mit Genugtuung das Stirnrunzeln, als sie ‚Roman‘ sagte. Sie dachte, sie hätte sich genug dumm gestellt.

„Ein bisschen haben wir aber schon mitbekommen. Die Handlung spielt in der dehländischen oder einer ähnlichen fiktiven Vergangenheit. Damals war es äußerst unhöflich, einem jungen Mädchen seinen Arm anzubieten, Ein „Fräulein‘, wie Faust das Mädchen nennt, ist eine adelige junge Dame. Wahrscheinlich ist diese Anrede unpassend – wie gesagt, wir kennen den Roman nicht. Ich habe den Eindruck, Faust will Gretchen möglichst schnell ins Bett kriegen.“

Sie biss sich auf die Lippen – woher sollte sie wissen, dass der Name des Mädchens Gretchen war? Aber zu ihren Glück merkte die Lehrerin nichts, und die Klasse döste sowieso vor sich hin.

„Sie halten Faust also für einen Egoisten?“

Ich halte Faust für notgeil, dachte Nuk, aber das sagte sie natürlich nicht.

„Ganz sicher ist Faust ein Egoist!“ antwortete Nuk und knuffte ihre Schwester heftig in die Rippen – also in die wallenden Gewänder, unter denen sie deren Rippen vermutete. Sie brauchte jetzt Unterstützung.

„Ganz bestimmt ist Faust ein Egoist!“ echote Na mit einer unverdächtigen Mädchenstimme. „Er sollte besser ein, naja, ein Besserer sein, das wäre bestimmt besser für das Mädchen. Was ist das Gegenteil von einem Egoisten?“

„Das ist eine gute Einschätzung!“ lobte die Lehrerin. „Und ein guter Alternativvorschlag! Das Gegenteil von einem Egoisten ist übrigens ein Pluralist.“ Sie lächelte gönnerhaft.

„Wie bitte?“ Na wollte es nicht glauben. „Das Gegenteil eines Egoisten ist ein Pluralist?“

Der Lehrerin entging die elegante Genitivkonstruktion ebenso wie der Sarkasmus.

„Ja, natürlich. Ego, das heißt auf lateinisch ich, ist also Singular. Plural ist die Mehrzahl. Wenn jemand also an die Allgemeinheit denkt, anstatt an sich, ist er ein Pluralist und kein Egoist. Pluralismus heißt, an andere denken.“

„Dieser Logik zufolge ist das Gegenteil eines Egoisten ein Nosist!“ Na kicherte unkontrolliert, und das Gesicht der Lehrerin signalisierte Verständnislosigkeit.

„Alter!“ grunzte Nuk aus tiefstem Eisbärenrachen. Ein paar Gesichter wandten sich ihr zu. Zoff mit einem Lehrer macht auch den müdesten Schüler munter.

„Solche umgangssprachlichen Töne schätzen wir an einem Gymnasium gar nicht!“ tadelte die Lehrerin. „Wir legen hier Wert auf ein gewisses Niveau.“

„Wissen Sie, was ‚alter‘ auf lateinisch heißt?“ erkundigte sich Nuk zuckersüß.

Die Lehrerin versuchte, sich herauszuwinden: „Sie vergessen, dass wir hier im Deutschunterricht sind.“

„Entschuldigung, aber Sie haben mit Herleitungen aus dem Lateinischen angefangen, nicht ich.“

Die Pädagogin wurde von dem deus ex machina gerettet, der in jeder Schule lauert, sich regelmäßig meldet und schon zahllose Lehrer davor bewahrt hat, sich völlig zu blamieren: dem Stundengong. Sobald er ertönte, erwachten alle 25 jungen Menschenkinder aus ihrer Lethargie, begannen zu schwatzen, packten ihre Sachen ein und schenkten dem Deutschunterricht und der Unterrichtenden keinerlei Beachtung mehr. Nanuk waren überzeugt, dass sie „Faust“ bereits erfolgreich vergessen hatten. Die Lehrerin schien sie nicht ungern ziehen zu lassen. Als dann aber auch die Zwillinge ihre Sachen packten, langsam und voller Unglauben, denn selbstverständlich hatten sie eine Hausaufgabe erwartet, wurden sie aufgehalten. „Nuk Abdallahi, bleiben Sie bitte noch hier!“

Widerstrebend ließ Na ihre Schwester allein zurück.

Die Lehrerin setzte sich hinter ihren Tisch und ließ Nuk davor stehen. „Warum wollen Sie Ärger mit mir?“ fragte sie unvermittelt. „Vergessen Sie nicht, dass Sie an dieser Schule nur zur Probe aufgenommen worden sind. Sie sollten es sich mit Ihren Lehrern nicht verderben.“

„Ich möchte keinen Ärger mit Ihnen,“ antwortete Nuk zögernd. Sie wägte ihre Worte wohl, denn sie hatte Angst, Bärenleben durch zu ehrliche Auskünfte zu gefährden. „Na und ich werden auch nicht wiederkommen. Wir haben gehofft, hier etwas lernen zu können – intellektuell, meine ich. Das wird nicht der Fall sein. Allerdings haben wir etliche Erkenntnisse in Bezug auf schulische Gruppensoziologie gewonnen. Dafür möchte ich mich bedanken.“

Die Lehrerin schien jetzt hellwach zu sein. „Wer sind Sie?“ fragte sie scharf und stand auf.

„Ich bin Nuk Abdallahi. Ich bin gläubig. Ich denke gerne. Ich gehe dahin zurück, wo mein Denken gefördert wird.“

„In den Dschihad?“ Das Entsetzen war greifbar.

Ach du dicke Tussi! dachte Nuk. Jetzt habe ich aber Robbenmist vom Feinsten gebaut! Die hysterische Tante schickt uns noch den Verfassungsschutz an den Hals.

„Natürlich nicht.“ flötete sie. „Mein Glaube steht in der Denktradition von Dschâbir Ibn Zaid. Wir Ibaditen pflegen Toleranz und lieben den Frieden und die Wissenschaften. Wir setzen uns für das Wohl anderer ein. Wir sind Altruisten.“

Sie hatte nicht zu dick aufgetragen, wie sie befürchtet hatte. „Wo liegt denn das Paradies, aus dem Sie stammen?“ fragte die Lehrerin beeindruckt.

„In der Ebene Albern (Anagramm für Baerenleben). Das ist ziemlich weit weg von hier. Deshalb muss ich jetzt auch schnell gehen. Vielen Dank für alles.“

Nuk raffte ihre Gewänder und stürzte aus der Tür. Na stand auf dem Gang und wurde mitgerissen.

„Ist was passiert?“ fragte sie ängstlich.

„Ja. Nein.“ Nuk kicherte nervös. „Wir sind entlassen und müssen jetzt eilig in die Ebene Albern. Komm, ehe es die Tante sich anders überlegt. Und ja: Vielleicht hat sie zugehört und weiß jetzt, was Faust anstelle eines Egoisten sein sollte.“

September/Oktober 2014 (nach einer wahren schulischen Begebenheit)

UNO oder Alleingang

Bärdel

Schon seit geraumer Zeit waren Bärdel und Kulle bei ihrem Morgenspaziergang nur noch selten zu zweit. Manfred schloss sich ihnen an, wenn er sich aus dem Gewirr seiner Computerkabel befreien konnte, und mischte sich manchmal ins Gespräch ein. Del, der sehr junge Bär, war sehr wissbegierig und trabte mit, hörte aber lieber zu. Und oft tollten Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge, in ihrem unbändigen Bewegungsdrang um sie herum, was die Kinder nicht davon abhielt, sich eifrig am Gespräch zu beteiligen. Da alle selbstverständlich bereits einen Blick in die wichtigsten nationalen und internationalen Zeitungen geworfen hatten, diskutierten sie oft aktuelle Ereignisse.

Kulle

So auch heute.

Nanuk

Die vorlaute Na konnte natürlich nicht abwarten, bis die Erwachsenen ein Thema angesprochen hatten. Sie platzte heraus:

„Also ich finde Onkel Barack ganz toll. 3000 Soldaten schickt er nach Liberia, um die böse Ebola-Seuche zu bekämpfen. Und den komischen Islamischen Staat will er auch besiegen, in Syrien und im Irak. Das macht er aber nicht mit Soldaten, sondern mit Flugzeugen.“

Da Nuk natürlich nicht erlauben konnte, dass nur ihre ein paar Minuten nach ihr geborene Schwester sich äußerte, gab sie ihren Kommentar dazu:

„Gegen die IS gehen die USA nicht allein vor. Auch Frankreich und Großbritannien machen mit, sogar Dehland!“

Da weder Bärdel noch Kulle den Anschein erweckten, dazu Stellung nehmen zu wollen, bohrte Del kaum merklich nach: „Ich habe das auch alles gelesen, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

Del

„Ist doch ganz einfach zu bewerten,“ knurrte Kulle. „Es war schon immer die ureigenste Bestimmung von Soldaten, Krankheiten zu besiegen. Ärzte wären dabei völlig fehl am Platz. Wie man weiß, ist es deren Beruf, feindliche Ärzte zu töten.“

Bärdel knuffte Kulle in die Seite, aber es war schon zu spät. Na schaute erst verdutzt, aber dann ließ sie den Kopf hängen. Nuk war sofort an ihrer Seite. Zwar stellte sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihre eigene Überlegenheit zur Schau, aber wenn Na traurig war, kam sie sofort, um sie zu trösten.

„Du musst das nicht so tragisch nehmen, kleine Na!“ Bärdel versuchte es mit Worten. „Du kennst doch Deinen Onkel Kulle! Manchmal hat er Messer im Mund anstatt von Zähnen. Seine Worte können dann sehr verletzen.“

„Aber…“ Na versuchte, sich zu fassen. „Aber ich habe nicht nur die Meldungen in der Zeitung gelesen, sondern auch die Kommentare dazu. Alle Journalisten finden es gut, dass der amerikanische Präsident energisch geben Ebola vorgehen will.“

„Kein Wunder! Vor Seuchen haben alle Menschen Schiss. Bei Epidemien begrüßen sie jeden Aktionismus dagegen, auch wenn die Aktionen ungeeignet sind. Sogar die Djihadisten vom Islamischen Staat finden das vermutlich gut, auch wenn sie es nie laut sagen würden. Außerdem ist jeder GI, der gegen Ebola eingesetzt wird, ein GI weniger, der gegen sie kämpfen kann.“ Kulle hatte sich beruhigt und war für seine Verhältnisse jetzt richtig sanft.

„Aber gegen den IS werden doch keine Soldaten eingesetzt!“ Obwohl Na zum Heulen war, gab sie nicht auf.

Kulle, der selbst den dicksten Bärenschädel hatte, den man sich denken kann, imponierte ein nicht allzu dummer Dickkopf bei anderen. „Ah ja, keine Soldaten, sondern Flugzeuge. Und wer steuert die? Wer wirft die Bomben ab? Und die Raketen?“

Wieder sprang Nuk ihrer Schwester zur Seite: „Onkel Kulle, ich haben gelesen, die USA kämpfen mit Drohnen. Da sind keine Soldaten drin.“

„Stimmt! Aber Soldaten spielen schon eine Rolle: Die Drohnen müssen ferngesteuert werden. Die Soldaten, die das tun, sitzen übrigens oft in Ramstein in Dehland. Sie steuern die Drohnen gegen Menschen, die vermutlich Terroristen sind. Bewiesen ist das aber nicht, und oft kommen Unschuldige dabei um. Wenn man darüber nachdenkt, stellt man fest, dass es sich um Mord handelt.“

Manfred

„Mord?“ Jetzt mische sich Manfred ein. „Mord? Ist das nicht zu streng geurteilt? Im Krieg…“

Bevor Kulle wieder explodieren konnte – und Bärdel sah ihm an, dass er kurz davor war – lenkte er ab: „Seht mal, hier sind noch Brombeeren! Ja, Krieg – früher hatten die Menschen dafür Regeln, selbst für den Krieg, in dem alle Regeln des normalen Lebens außer Kraft gesetzt werden. Kriege wurden zwischen Staaten geführt, und die Staaten erklärten einander den Krieg. Heute ist alles durcheinander. Die Amerikaner behaupten, sie seien im Krieg gegen den Terrorismus, also ist es gerechtfertigt, Feinde zu töten. Kulle sieht das anders, wie wir gehört haben. Man kann lange darüber streiten, wer Recht hat.“

Kulle murrte leise. beließ es aber dabei. Alle machten sich über die Brombeeren her, sogar die Eisbären.

„Wer darf denn bei den Menschen darüber urteilen, ob andere Menschen getötet werden dürfen?“

Nuk wollte das wissen.

Manfred schluckte eine leckere Brombeere herunter, räusperte sich und erklärte: „Wie Ihr wisst, bin ich mal in eine Menschenschule gegangen. Dort habe ich gelernt, dass kein Mensch einem anderen Menschen das Leben nehmen darf. Das ist jedenfalls in Dehland die offizielle Meinung. Es ist allerdings merkwürdig, dass Dehland der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist. Irgendwas passt da nicht zusammen. Außerdem gibt es angeblich „gerechte Kriege“. Wenn ein Land angegriffen wird, darf es sich verteidigen, das gilt als gerechtfertigt. Eigentlich soll aber kein Land ein anderes angreifen, und um das zu verhindern, gibt es die Vereinten Nationen. Das ist eine internationale Organisation, in der fast alle Staaten Mitglieder sind. Das höchste Ziel dieser Organisation ist die Wahrung des Weltfriedens. Wenn es nicht anders geht, dürfen die Vereinten Nationen den Weltfrieden mit militärischen Mitteln wiederherzustellen versuchen. “

„Aha!“ kommentierte Nuk trocken. Bärdel freute sich über ihre Reaktion, aber Manfred hatte nicht verstanden, was sie sagen wollte.

„Wieso ‚aha‘?“

„Bei Tante Atti habe ich gelernt, dass ‚aha‘ eine Interjektion des Triumphs, der Verwunderung, des Spotts, der Verachtung, der Ironie und noch manch anderer Bedeutung sein kann, je nach der Intonation des Sprechers. Mein ‚aha‘ war komplex und enthielt Spott, Verachtung und Ironie.“

Kulle wiegte anerkennend den Kopf, hielt sich aber hinter Manfreds Rücken.

„Ach so! Du wunderst Dich noch über die Menschen und ihre Schizophrenie. Ich nicht mehr. Vielleicht solltet Ihr auch mal eine Menschenschule besuchen…“

„Nein, danke, Onkel Manfred! Wir sind mit dem Unterricht von Tante Atti und Onkel Kulle sehr zufrieden,“ sagten Nanuk im Chor. Und Na fuhr fort: „Aber wenn die Menschen glauben, dass nur die Vereinten Nationen legitim Waffengewalt anwenden dürfen, warum sind dann so viele begeistert davon, dass Onkel Barack – also dass der amerikanische Präsident das macht?“

Bärdel dachte:

Weil Menschen immer Idolen nachlaufen.

Weil der Friedensnobelpreisträger Obama vielen immer noch eine Ikone ist.

Weil manche Menschen in der westlichen Welt Angst dafür haben, dass ehemalige IS-Kämpfer mit der eigenen Staatsbürgerschaft aus dem Krieg zurückkehren und im eigenen Land weiterbomben.

Del dachte:

Auf die Antwort bin ich gespannt.

Kulle dachte:

Weil die UN handlungsunfähig sind. Die Blockade im Sicherheitsrat ist schlimmer als zu Zeiten des Kalten Krieges.

Weil die Menschen die Schrift an der Wand nicht lesen können.

Weil die Geschichte der Menschen lehrt, dass sie die Menschen nichts lehrt.

Manfred dachte:

Weil die Türken schon zweimal vor Wien standen und das christliche Abendland bedroht haben.

Nuk dachte:

Weil die Menschen komisch sind.

Bärdel sagte: „Weil die Menschen den Glauben an das Gute nie verlieren, selbst wenn sie das Böse tun.“

Sprach’s und labte sich an der letzten Beere, die er in der Pranke hielt.

September 2014

Bären und Wölfe

„Bärdel, es wäre gut, wenn…“

„Bärdel, sollten wir nicht mal…“

„Bärdel, was denkst du über..“

„Bärdel, jetzt ist es aber höchste Zeit, dass…“

Bärdel

Bärdel hörte diese Ansinnen seit Wochen. Sie wurden immer häufiger geäußert in immer kürzeren Abständen, seit Bärenleben aus der Winterruhe erwacht war. Es war offensichtlich zwecklos, sie zu ignorieren, was er versucht hatte. Er seufzte und gab nach.

„Na gut, wir werden über die Rückkehr der Bären nach Europa sprechen. Und über die Rückkehr der Wölfe. Aber glaubt bloß nicht, dass…“

Seine Einwände gingen in allgemeinem Jubel unter.

„Wir reden heute Abend darüber. In der Höhle. Ich gehe davon aus, dass sich bis dahin jeder von Euch eingehend über die aktuelle Lage informiert hat.“

In der ersten Märzhälfte ist der dehländische Tag fast schon wieder zwölf Stunden lang. Das heißt aber auch, dass die Nacht kaum länger als zwölf Stunden ist, und diese zwölf Stunden kosten die schlafsüchtigen Bären gerne aus. Also trafen sich alle Bärenlebenbewohner schon mit dem Einsetzen der Dämmerung in der Haupthöhle. Natürlich waren auch Ramses und Piggy dabei. Athabasca galt inzwischen als einheimische Bärin, Nanuk, ihre Zöglinge, hielten sich an ihrer Seite. Organisatorische Schwierigkeiten gab es nur mit Oicy, der es in der Höhle natürlich viel zu warm war. Sie schwamm in ihrem Eissee herum, und damit sie alles mitbekam und auch mitreden konnte, hatte Manfred ihr eine Mikrofonleitung gelegt.

Bärdel sah sich um und stellte fest, dass alle vollzählig versammelt waren. Fast alle – aber das änderte sich in diesem Moment. Mit einer riesigen roten Fahne, in der er sich ständig verhedderte, marschierte Kulle herein und sang dazu:

„Bären zur Sonne zur Freiheit,

Wölfe zum Lichte empor!

Hell aus dem dunklen Vergangnen

Leuchtet die Zukunft hervor.“

Die Versammlung kommentierte den Auftritt mit zustimmendem Gebrumm und Gebrüll, und Kulle setzte sich auf seinen Platz, wobei er bescheiden tat.

Kulle, bescheiden

Bärdel hatte nicht applaudiert. Er horchte in sich hinein und traf hinter seiner Stirn alte lästige Bekannte: Kopfschmerzen. Wenn die sich erst einmal eingenistet hatten, wurde er sie so schnell nicht wieder los.

Was sollte er nur tun? Die Stimmung war eindeutig gegen seine Bedenken. Da wurde ihm unerwartete Hilfe.

„Sagt mal, ihr seid wohl vom Homo sapiens getreten? Oder hat euch ein Neanderthaler geknutscht?“ Athabacsa war voll in Fahrt.

Atti, zornig

„Was das Zusammenleben von Bären und Menschen angeht, so bin ja wohl ich die Expertin und nicht ihr, einverstanden?

In Kanada, wo ich geboren bin, leben ungefähr 300.000 Schwarzbären. Dazu kommen höchstens 30.000 Grizzlys, also Bären wie wir. Wie die meisten von uns jedenfalls. Nichts für ungut, Oicy. In Kanada leben drei Menschen auf einem Quadratkilometer, und trotzdem kommt es immer wieder zu Zusammenstößen und zu Tötungen. Keine Tötungen von Menschen, nicht, dass wir uns missverstehen. Und wie viele Menschen pro Quadratkilometer gibt es in Dehland?“

Langes Schweigen.

„227“, brummte Kulle schließlich zerknirscht.

„Eben!“ sagte Atti und rollte sich wieder gemütlich zusammen. Ihr Zorn war verraucht.

Niemand sagte etwas.

Bärdel war erleichtert. „Möchte jemand dazu etwas sagen?“ fragte er.

Del meldete sich zu Wort. Er war ehrgeizig und ärgerte sich schon lange darüber, dass die Eisbärenzwillinge als die intellektuellen Überflieger schlechthin galten, seit sie in Bärenleben aufgetaucht waren.

„Ich habe recherchiert und herausgefunden, dass es in Dehland überhaupt keine Bären gibt – außer uns natürlich. Wenn Bären aus den Karpaten in die Alpen einwandern, werden sie beim ersten Fehlverhalten gejagt. Man nennt sie Problembären, wobei ich wirklich nicht weiß, wo es bei Bären ein Problem geben soll!“

„Und Homo Schappi Schappi gibt ihnen noch nicht mal einen Namen, sondern bezeichnet sie mit Nummern -– erst kürzlich wurde in der Schweiz M13 erschossen!“ Nuk wollte nicht akzeptieren, dass Del allein brillierte.

Eisbären

„Es klingt, als wäre die Bärendiskussion hiermit abgeschlossen!“ quiekte Piggy. „Und was ist mit den Wölfen? Ich muss zugeben, dass ich vor denen Angst habe!“

Piggy

„Du brauchst keine Angst zu haben,“ mischte sich Tumu ein. „Du wirst gleich sehen, warum. Ich habe einen Gast eingeladen, wenn ihr erlaubt!“

Da niemand widersprach, stieß Tumu einen merkwürdigen Laut aus, der gar nichts Bärisches an sich hatte. Es war ein Heulen, und sofort wurde ihr auf gleiche Weise geantwortet.
„Er wird in ein paar Minuten hier sein, und niemand muss sich vor ihm fürchten.“

Da Tumu zweimal betonte, dass der Fremde keinen Anlass zur Besorgnis geben würde, spannte Bärdel seine Muskeln an, und etliche andere Bären taten es ihm gleich. Man konnte ja nie wissen…

Am Höhleneingang war nichts zu hören, aber ein Schatten erschien und bewegte sich vorwärts in den Innenraum. Langsam. Vorsichtig. Aus dem Schatten entwickelte sich ein Körperumriss. Langer Kopf, spitze Ohren, lange Schnauze. Buschiger Schwanz am Ende eines schlanken, zum Laufen gemachten Torsos. Die Rute war nicht eingezogen, aber auch nicht hoch erhoben. Der Besucher war seiner nicht sicher, aber auch nicht ängstlich. Vier kräftige Läufe.

Piggy schrie.

Luca Toni

„Ruhig!“ sagte Tumu. „Das ist Toni. Er lebt mit seiner Familie seit ein paar Wochen hier in der Gegend. Ich habe ihn gebeten, uns heute Abend zu besuchen.“

„Willkommen,“ begrüßte Bärdel den Wolf. „Wir freuen uns, dich in Bärenleben zu sehen. Ich bin Bärdel.“

„Seit wann freut sich der Bär, den Wolf zu treffen?“ knurrte der Neuankömmling. Wir teilen dasselbe Habitat und sind deshalb unversöhnliche Konkurrenten! Bin ich bei einer Versammlung von Heuchlern zu Gast?“

„Du bist zu Gast bei einer Versammlung von Tieren, die zusammenhalten gegen das schlimmste Raubtier der Welt, den Homo sapiens sapiens. Der bedroht auch dich, wenn wir recht informiert sind. Wir sind nicht länger Feinde, sondern sollten zusammenstehen gegen einen gemeinsamen Feind!“

Der Wolf hob den Kopf, auch die Schwanzspitze bewegte sich deutlich nach oben. „Wir Wölfe sind deutlich besser aufgestellt als ihr Bären! Mindestens zwanzig Rudel leben in Dehland. Und ihr versteckt euch in einem geheimen Dorf!“

„Ja,“ meinte Athabasca, recht hast du.“ Sie richtete sich wieder auf.

Der Wolf hörte genau hin – klang die Stimme der Bärin nicht sarkastisch?

„Recht hast du!“ bekräftigte Athabasca, „wir verstecken uns. Ihr solltet das auch tun!“

„Unsinn!“ behauptete Toni und reckte die Spitze seiner Rute so weit in den Himmel, dass sie seinen Rist um das Doppelte überragte. „Wir werden geliebt!“

„Natürlich werdet ihr geliebt – vom NABU, vom WWF, vom BUND, und wie die Ökofreaks sonst noch heißen. Aber hast du dir auch mal Volkes Stimme angehört?“

„Das Tier kenne ich nicht,“ sagte der Wolf unsicher.

„Besser so – es handelt sich nicht um ein Tier, sondern um eine Bestie. Sie nennt sich selbst ,Gesunder Menschenverstand‘. Ich gebe dir ein paar Kostproben.

Schon in der Bibel seid ihr die Bösen: ,Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.‘ Matthäus 7,15.

,Reißend‘ seid ihr immer: Gierig und maßlos und grausam. Bei Goethe heißt die Wölfin ,Gieremund‘.

In Grimms Volksmärchen taucht der böse Wolf immer wieder auf, er verschlingt Tiere und Menschen ganz, was es möglich macht, seine Beute zu retten, indem man ihm den Bauch aufschlitzt und mit Wackersteinen wieder füllt – und der dumme Wolf bemerkt den Betrug noch nicht einmal und wacht nicht mehr auf, bis man ihn in einem Brunnen ersäuft.

In einem aktuellen Internetforum gibt es als Antwort auf die Frage: ,Brauchen wir Bären und Wölfe in Dehland?‘ wiederholt die Antworten ,abknallen‘ und ,SSS – schießen, schaufeln, schweigen‘.

Noch Fragen?“

Die Schwanzspitze ruhte kraftlos auf dem Boden. „Und was jetzt?“ fragte Toni unsicher.

„Ganz einfach – ihr macht es wie wir. Nein, nicht ganz so schlimm, ihr braucht euch nicht unsichtbar zu machen. Die Menschen wissen ja, dass ihr da seid. Von uns wissen sie es nicht.

,Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; seid daher klug wie die Schlangen und nicht arglos wie die Tauben. Nehmt euch vor den Menschen in acht!‘

Steht übrigens auch bei Matthäus, so ungefähr jedenfalls. Ernährt euch von Rehen und Hirschen und vor allem Wildschweinen, das wird die Menschen freuen. Und lasst Kälber und Schafe in Ruhe, dann wird euch nichts geschehen.“

„Und – und – dürfen wir euch gelegentlich besuchen, um uns bei euch Rat zu holen?“

„Dagegen haben wir bestimmt nichts!“ sagte Bärdel entschieden. Sein Kopf war wider Erwarten schmerzfrei.

„Dann ist ja alles gut,“ sagte Kulle. „Wollen wir das schöne Arbeiterlied nicht zu Ende singen, um den Abend zu beschließen?“

„Nein, das wollen wir nicht!“ widersprach Tumu energisch. „Das schöne Arbeiterlied‘ ist nämlich ein poetisches Greuel, und es hat überhaupt nichts mit unserer Situation zu tun. Darf ich einfach mal kommentarlos zitieren?

,Seht wie der Zug von Millionen

endlos aus Nächtigem quillt

bis eurer Sehnsucht Verlangen

Himmel und Nacht überschwillt

Brüder, in eins nun die Hände

Brüder, das Sterben verlacht

ewig der Sklaverei ein Ende

heilig die letzte Schlacht.‘

Zitat Ende.“

„Buh!“ machten fast alle Bären, der Frosch und das Schwein. Auch der Wolf schloss sich an.

„Wir schlafen einfach so. Ganz heimlich.“

Krise

Es war ein warmer Spätfrühlingstag in Bärenleben, und es war Vormittag. Das Leben ging seinen üblichen Gang. Die Bären, das Schwein und der Frosch studierten, diskutierten, bereiteten das Essen vor, machten sauber oder betrieben Körperpflege.

Einbären

Oicy hatte sich für die Körperpflege entschieden, und das hieß für eine Eisbärin in dieser Jahreszeit hauptsächlich, der dehländischen Wärme auszuweichen, so gut es ging. Deshalb war sie in den eigens für sie und ihre Kinder erweiterten Dorfteich geglitten, hatte über und unter Wasser ihre Runden gedreht und davon geträumt, gleich gegen eine Eisscholle zu stoßen, auf der sich eine fette Sattelrobbe vergeblich zu verstecken versuchte. Aber natürlich blieb das ein Traum. Sie traf nur Ramses, der sich unter Teichrosenblättern zu verbergen versuchte und hoffte, eine Libelle zu erbeuten. Aber die klugen Libellen erspähten ihn immer rechtzeitig und bogen ab, bevor sie in seine Reichweite gerieten.

Ramses

Ramses verdrückte sich deshalb bald und hüpfte in Manfreds Hochtechnikwerkstatt. Er hatte dort einen Computerarbeitsplatz, an dem er an zwei komplexen Problemen arbeitete: Er wollte das Wetter präzise voraussagen – das war für einen Laubfrosch eine vergleichsweise leichte Aufgabe. Er wollte das Wetter aber auch beeinflussen können, und das war deutlich schwieriger. Wenigstens störte er niemanden, wenn er vor seinem Rechner hockte und versuchte, Tussis Schöpfung zu verstehen.

Mit Oicy war das anders. Als sie den Teich verließ, um zuerst nach ihren Kindern zu sehen und dann Tumu beim Kochen zu helfen, schüttelte sie sich kräftig, und es passierte das, was passiert, wenn Eisbären sich schütteln, nachdem sie gerade aus dem Wasser gestiegen sind: Aus dem dichten Pelz flogen Tropfen über Tropfen, und wer gerade in der Nähe stand, bekam eine kräftige Dusche ab.

Die Dusche erwischte die alte Bärin, die gerade vor ihrer Höhle aufräumte. Und nicht nur die Wasserdusche: Die Tropfen, die Oicy energisch auf die Reise geschickt hatte, platschten auf den trockenen Boden, lösten daraus Erdpartikel, ließen sie hochspringen und verwandelten die eben noch saubere Alte in eine über und über von Schmutz bedeckte Bärin.

“Ich krieg die Krise!” schimpfte die Alte zornig.

Oicy fühlte sich irgendwie angesprochen, wusste aber nicht recht, warum. Sie hatte sich doch ganz normal verhalten, oder? Aber helfen wollte sie schon.

“Kann ich Dir bei Deiner Krise helfen?” erkundigte sie sich freundlich.

“Bei meiner Krise? Bei MEINER Krise?” keifte die Alte. “DEINE Krise ist das! Weil bei Dir zu Hause das Eis schmilzt, bekleckerst Du mich hier in Dehland mit Wasser und Dreck, und wahrscheinlich bist Du auch für die Aschenkrise verantwortlich, die dieser Vulkan aus Island macht, aus dem Eisland also, da, wo Du herkommst.”

Oicy hatte ausgesprochen gut gefrühstückt, nämlich eine Kiste frischer grüner Heringe, in den Morgenstunden angeliefert vom Rungis-Express, und war deshalb friedlich gestimmt.

“Du hast recht, die Klimakrise ist meine Krise, aber ich bin dabei der passive und nicht der aktive Teil. Und mit dem Eyjafjallajöküll habe ich gar nichts zu tun.”

“Mit wem?”

“Mit dem Eyjafjallajökull. Das ist der isländische Vulkan, der vor kurzem ausgebrochen ist.”

Die alte Bärin überlegte, ob sie ausfällig werden sollte, weil Oicy sie jetzt auch noch mit unaussprechlichen Worten bombardierte, aber bevor sie damit zu Ende war, tauchten Bärdel und Kulle am Teichufer auf. Wie immer waren sie in ein intensives Gespräch vertieft.

Kulle und Bärdel

“Also, das mit der Krise musst Du mir bitte unbedingt erklären, und zwar ohne komplizierte Fachbegriffe!” sagte Bärdel energisch.

“Mir auch!” schloss sich die Alte nicht minder energisch an.

Kulle hatte ihr gar nicht zugehört, aber Bärdel war irritiert.

“Seit wann interessierst Du Dich für Ökonomie?” wollte er wissen.

“Für was?” Die Alte hatte allmählich die Nase voll von merkwürdigen Worten.

“Für Wirtschaft”, verbesserte sich Bärdel.

Empört stemmte die Alte die Arme in die Seiten. “Willst Du etwa behaupten, dass ich keine ordentliche Wirtschaft führe? Bei mir kann man vom Fußboden essen, normalerweise jedenfalls, wenn nicht gerade dieses ungeschickte weiße Monstrum…”

Auf Oicys Stirn zeigten sich die ersten Falten. Tiefe Falten. Sie war noch nie zornig geworden, seit sie in Bärenleben war, und das war auch gut so. Jetzt aber war sie kurz davor. Zum Glück wurde sie von Nanuk abgelenkt. Die Zwillinge stürzten auf sie zu.

“Mamimami, wir haben gerade etwas Neues gelernt! Onkel Manfred hat uns die Geschichte von Tschernobyl erklärt. Wir wissen jetzt, wann ein Reaktor kritisch wird!”

“Und wann ist das?” wollte ihre Mutter wissen.

“Wenn er zu heiß wird. Wenn man Pech hat, kommt es zu einer Kernschmelze. Dann wird die gesamte Umgebung vergiftet. Das ist dann eine fürchterliche ökologische Krise.”

“Ist eure ö-kol-ko-logische Krise dieselbe wie die von Bärdel?” fragte die Alte die Kleinen. “Bärdels Krise klang ähnlich, aber irgendwie anders.”

Na und Nuk waren von der Frage logischerweise überfordert, aber sie nutzten die Gelegenheit, um Bärdel mit Beschlag zu belegen.

“Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, hast Du eine Krise?”

“Hm, ich weiß nicht so recht,” brummte Bärdel. “Allmählich schwirrt mir der Kopf. Vielleicht bekomme ich einen Migräneanfall. Ich glaube, ich bin an der kritischen Grenze dazu.”

Die Alte, die keineswegs immer nur putzte, obwohl sie dabei oft beobachtet wurde, lernte in ihrer freien Zeit gerade Griechisch und beschäftigte sich dabei natürlich auch mit Geographie und Landeskunde. Jetzt schüttelte sie den Kopf zum zweiten Mal und verstand überhaupt nichts mehr. Konnte ein Reaktor sich aussuchen, ob er auf Kreta stand oder anderswo? Wieso glaubte Bärdel, er sei an der Grenze Kretas? Und – hatte eine Insel überhaupt eine Grenze?

Kulle hörte immer noch nicht zu. Er pflegte das, was er als ,soziale akustische Umweltverschmutzung‘ bezeichnete, stets zu ignorieren. In solchen Phasen der gesellschaftlichen Abwesenheit beschäftigte er sich, wie er fand, produktiv mit der Lösung theoretischer Probleme oder wenigstens mit deren kommunikativer Vermittlung.

Kulle und Bärdel

“Diese Krise”, sagte er jetzt, “ist eine umfassende. Es ist falsch, wenn sie allein der Ökonomie angelastet wird. Ursächlich für sie ist die Politik, oder besser gesagt, das Versagen der Politik. Die politische Klasse Europas oder meinetwegen Kerneuropas sollte also selbstkritisch eingestehen, dass eine Währungsunion ohne eine gemeinsame Währungs- und Finanzpolitik, und eben ein solches Konstrukt stellt der Euro dar, auf tönernen Füßen steht. Was ist denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt anderes als ein zahnloser Papiertiger? Die kritische Betrachtung dieser dilettantischen Konstruktion kann nur zu einem vernichtenden Urteil kommen.” Kulle holte tief Luft. “Derlei Dilettantismus lädt geradezu dazu ein, ihn auszunutzen. Wer will es den smarten Boys von den Hedgefonds, die sich im Januar oder Februar in einem New Yorker In-Restaurant getroffen haben, in dem es, Schande über die amerikanische Küche, vermutlich auch nichts anders zu essen gab als Steak oder totgebratenes Hähnchen, verübeln, dass sie auf die Idee kamen, mit vereinten Kräften gegen den Euro zu wetten? Der Erfolg spricht für sie!” “Kulle räusperte sich. “Die Krise, über die alle so entsetzt sind, ist übrigens keine Euro-Krise. Sie ist eine Schuldenkrise. Fast alle Staaten dieser Welt leben über ihre Verhältnisse, allen voran die USA. Ich bin gespannt, wann der Dollar brennt. Dann kann ich endlich meine rote Fahne aus ihrer Ecke holen. So!” sagte er triumphierend. “Noch Fragen?”

“Hast Du Kopfschmerztabletten?” Bärdel hielt sich schützend die Pranke vor sie Stirn.

“Hat das was mit mir zu tun, oder kann ich jetzt Tumu beim Kochen helfen?” wollte Oicy wissen.

“Onkel Kulle, was sind Hedgefonds?” Das waren die Zwillinge.

“Kulle, klopf mit mal den Pelz ab, damit ich wieder sauber werde. Und erkläre mir dabei: Was heißt eigentlich ,Krise‘?”

Kulle willfahrte ihr, bevor seine Situation allzu kritisch wurde.

Appetit auf Löwenzahn

Bärdel

Bärdel boxte Kulle freundschaftlich, aber durchaus energisch in die Rippen.

Kulle

„Nun komm schon hoch, Du Schlafmütze“, sagte er so laut, dass er auch beim besten Willen nicht zu überhören war. „Das neue Jahr ist schon fast wieder alt, der Tag ist schon zwei Stunden länger als zur Wintersonnenwende, und die gewendete Sonne scheint übrigens gerade. Genug der Hibernation! Lass uns spazierengehen!“

Kulle brummte ungnädig. Da er aber wusste, dass er gegen seinen energiegeladenen großen Freund keine Chance hatte, richtete er sich auf, reckte sich und steckte den Kopf aus der Schlafhöhle. Sofort zuckte er zurück.

„Spinnst Du?“ wollte er wissen. „Da draußen liegt noch Schnee!“

„Weiß ich doch,“ antwortete Bärdel seelenruhig. „Anders als der Herr Privatgelehrte bin ich nämlich schon eine Weile lang aktiv. Dehland erlebt seit Jahren mal wieder einen Winter, der den Namen auch verdient. Vielleicht ist es ja der letzte, bevor auch in Bärenleben die Palmen gedeihen. Also komm schon! Ich hab Dir sogar Schneeschuhe besorgt.“

Kulle schnallte sich zwei Apparate unter die Hinterpranken, die ihn sehr an Tennisschläger erinnerten. Es waren übrigens Tennisschläger – Manfred hatte sein Organisationstalent spielen lassen.

Draußen blinzelte er in den blauen Himmel und atmete tief durch, bevor er die ersten breitbeinigen Schritte wagte. „Ist tatsächlich eine gute Idee von Dir gewesen, die Nase aus der Höhle zu stecken,“ gab er zu. „Die Luft tut gut. Aber die Luft macht auch Hunger – ich hätte jetzt nichts gegen ein paar Löwenzahnwurzeln einzuwenden, roh oder auch gebraten!“

Loewenzahn - gewesen

„Da wirst Du noch ein paar Wochen warten müssen“, wandte Bärdel ein. „Der Löwenzahn, der bei Minusgraden im Schnee wächst, ist noch nicht erfunden.“

„Vielleicht doch. Kann sein, wir wissen es nur nicht.“

„Kaum bist Du wieder wach, versuchst Du, mich auf den Arm zu nehmen.“

„Im Prinzip ja, jetzt aber gerade nicht. Schon mal was von Monsanto gehört?“

„Ich glaube nicht. Ist das ein heiliger Berg oder so was?“

„Eher so was. Monsanto ist ein Agrarchemiekonzern, der genmanipulierte Pflanzen züchtet. Vielleicht auch anderes Genmanipuliertes, aber davon ist offiziell nichts bekannt. Belegt sind nur die Pflanzen.“

„Und warum macht das dieser Konzern?“

„Willst Du die offizielle Antwort oder die wahre?“

„Wie wär‘s mit beiden?“

„Monsanto bekämpft erfolgreich den Hunger in der Welt. Monsanto ist dafür unverzichtbar. Tatsächlich verdient Monsanto sich mit seinen Produkten dumm und dämlich. Seit 40 Jahren gibt es ein Pestizid mit dem schönen Namen ,Roundup‘. Das entsprechende Produkt in Europa vom Bayer-Konzern heißt ,Basta‘ – eigentlich könnte der Kanzler den Namen erfunden haben, weißt Du, der zweite, der mal bei uns war, noch im alten Bärenleben.

Hat er aber nicht. ,Basta‘ vernichtet ebenso wie ,Roundup‘ alle Pflanzen außer denen, die gegen es resistent sind, und das sind überwiegend genmanipulierte Pflanzen aus den Labors von Monsanto. Die Landwirte dürfen davon kein Saatgut zurückhalten, sondern müssen Jahr für Jahr neues kaufen. Von wegen Hungerbekämpfung! Hungerleider können sich kein teures Saatgut leisten, habe ich mir sagen lassen.“

„Ich glaube, ich habe davon schon mal gelesen“, sagte Bärdel nachdenklich. „Und zwar etwas Gutes, von einem Wissenschaftler.“

„Weißt Du auch, auf wessen Lohnliste dieser Wissenschaftler steht?“

„Du meinst…?“

„Ich meine erst mal gar nichts. Aber Fakt ist, dass Monsanto eine gute PR betreibt, natürlich nicht in eigenem Namen, sondern unter dem Feigenblatt wissenschaftlicher Objektivität. Tatsache ist auch, dass Regierungen und politische Parteien, vor allem in den USA, großen Konzernen traditionell gewogen sind, denn von großen Konzernen kommen große Spenden. Und die anderen Wissenschaftler, die sich gegen Monsanto aussprechen – die gibt es nämlich auch –, die werden von Greenpeace bezahlt oder von Friends of the Earth oder anderen Umweltverbänden.“

„Willst Du damit sagen, dass es keine objektive Wissenschaft gibt?“

Kulle blickte Bärdel empört an. „Natürlich gibt es eine objektive Wissenschaft – oder was meinst Du, was ich den lieben langen Tag so treibe? Aber mich bezahlt schließlich niemand. ,Wes Brot ich ess, des Lied ich sing‘ – das war schon richtig für Hartmann von Aue und Oswald von Wolkenstein…“ Kulle sah in Bärdels Augen große Fragezeichen. „…Das waren Minnesänger…und das gilt auch noch heute.“

„Entschuldige bitte“, murmelte Bärdel zerknirscht. Ich wollte Dich nicht verletzen. Am liebste würde ich Dir jetzt eine Löwenzahnwurzel anbieten, aber leider ist gerade keine da.“

„Zum Glück ist keine da!“ korrigierte Kulle. Er dreht sich um und geriet dabei auf seinen Tennisschlägerschneeschuhen beinahe aus dem Gleichgewicht. „Komm, wir gehen nach Hause. Tumu hat bestimmt noch eingelegte Wurzeln vom letzten Herbst übrig. Wie wär‘s, wenn Du Deine Frau überredetest, uns ein leckeres Frühstück zu bereiten?“

Bärdel hatte nichts dagegen.

Augenleben

Wie alle Bärenlebener schätzte Tumu Marx‘ ideales Lebensmotto: morgens Sammler, nachmittags Fischer, abends kritischer Kritiker zu sein, und natürlich hielt sie sich nicht sklavisch an dessen Reihenfolge. Heute hatte sie sich am helllichten Vormittag in die Bibliothek begeben, um nach geeigneten Gutenachtmärchen für die Eisbärenkinder zu suchen. Nanuk waren zwar sehr intelligent und wussten dank Attis und Kulles Bemühungen auch schon sehr viel, aber oft waren sie noch die reinsten Kindsköpfe.

Tumu

Unter den Stichworten „Bärenmärchen“ und „Bärengeschichten“ fand sie im elektronischen Katalog „Stories of Winnie-the-Pooh“ und rief den Text auf. Bald musste sie laut lachen: Der Mensch, der das geschrieben hatte, kannte sich mit Bären gar nicht schlecht aus! Der wusste zum Beispiel. dass Bären fast immer an Honig denken, wenn sie zum Beispiel ein Summen hören oder eine Biene sehen. Schmunzelnd wollte Tumu Winnie beim Erklettern einer hohen Eiche verfolgen, weil er in ihrem Wipfel einen Bienenstock vermutete, als sie plötzlich mit dem rechten Auge nur noch Farben sah. Schönste Regenbogenfarben. Aber eben keinen Bildschirm mehr, keine Buchstaben, keine Bibliothek.

Sie kniff das rechte Auge zu. Links war alles, wie es sein sollte.

Sie blinzelte mit beiden Augen. Öffnete sie. Rechts blieb der Regenbogen.

Sie bekam Angst.

Einäugig fand sie den Weg ins Labor. Alle nannten die Höhle, in der Manfred unumstrittener Herrscher war, so, aber eigentlich war sie seine Kommandozentrale. Sein Bärenlebener Technikzentrum. Und sein Lagerplatz für alles das, was er irgendwann einmal an sich gebracht, wofür sich aber bisher keine Verwendung hatte finden lassen.

Manfred

„Manfred!“ Tumu stieß sich wegen ihrer ungewohnt eingeschränkten Sicht schmerzhaft die Schulter an der Wand. „Au!“

„Mama, was ist los?“

„Ich habe da noch was, warte mal,“ murmelte Manfred, nachdem Tumu mit ihrer kurzen Erklärung fertig war. Er war ein Sammler. Nie hatte er sich damit zufrieden gegeben, nur das zu erwerben – was immer erwerben auch heißen mochte -, was er unmittelbar verwenden konnte. ,Man kann ja nie wissen‘ war sein Motto – und jetzt machte es sich bezahlt. Er kramte im Hintergrund seiner Schatzkammer herum, kam mit einem riesigen Karton wieder zum Vorschein und begann auszupacken.

„Das dauert jetzt noch einen Moment“, sagte er. „Ich muss erst mal die Betriebsanleitung lesen. Aber das hier ist genau das, was wir brauchen: Augendiagnostik mit Gesichtsfeldmessung und etlichem anderem Schnickschnack.“

Tumu setzte sich und schloss die Augen. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich: Die Regenbogenfarben tanzten weiter. Die Angst tanzte mit.

„Okay, Mama“, sagte Manfred schließlich. „Komm mal her. Jetzt finden wir raus, was mit deinen Augen los ist!“ Zehn Minuten später stand sein Urteil fest: „Im rechten Auge hast Du einen großflächige Netzhautablösung. Das muss umgehend operiert werden. Sonst verlierst Du Dein Augenlicht. Du musst ins Krankenhaus.“

Plötzlich war Tumu völlig ruhig. Sie akzeptierte das Urteil. In Zukunft würde sie also auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. Nun gut. Bären waren sowieso kurzsichtig, allesamt. Bären waren Nasentiere. Ihre Nase funktionierte ausgezeichnet. Sie würde zurechtkommen.

„Nein, das muss ich nicht. Wir dürfen das nicht riskieren. Vielleicht merken die Menschen nicht gleich, dass ich eine Bärin bin, aber später werden sie mich verfolgen mit ihren Rechnungen und Nachuntersuchungen. Sie werden Bärenleben finden, und dass das nicht passieren darf, brauche ich Dir nicht zu erklären.“

Manfred nickte. Dann schüttelte er den Kopf. „Aber, Mama…“

“Jetzt halt mal die Klappe, Jungstinker! Und mach uns hier bitte Platz! Deine kluge Mutter hat völlig recht. Ich kann Eure ganze Mischpoke schließlich nicht dauernd durch die Gegend transportieren. Aber eine kleine Netzhautfestklebung sollten wir mit Bordmitteln schon hinkriegen, hihi! Erstmal brauchen wir einen ordentlichen Operationstisch.“

Tumu hörte ein Summen und Brummen, ein Schwirren und Sirren, ein Sausen und Brausen. Mit dem gesunden Auge sah sie, dass die Luft zu tanzen begann. Aus allen Richtungen kamen Blattschneiderbienen, Blutbienen, Buntbienen, Düsterbienen, Erdbienen, Filzbienen, Fleckenbienen, Furchenbienen, Glanzbienen, Graubienen, Harzbienen, Holzbienen, Hosenbienen, Hummeln, Kegelbienen, Kuhhornbienen, Kraftbienen, Kurzhornbienen, Langhornbienen, Löcherbienen, Maskenbienen, Mauerbienen, Mörtelbienen, Pelzbienen, Sandbienen, Sandgängerbienen, Sägehornbienen, Schenkelbienen, Scherenbienen, Schienenbienen, Schlürfbienen, Schmalbienen, Schmuckbienen, Schwebebienen, Seidenbienen, Spiralhornbienen, Steinbienen, Steppenbienen, Steppenglanzbienen, Trauerbienen, Wespenbienen, Wollbienen, Zottelbienen und Zweizahnbienen angeflogen. Aller Wachsdrüsen arbeiteten auf Hochtouren.

Tumu und Manfred trauten ihren Augen nicht, Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Insekten ein Wachsbett modelliert hatten, in dem das Basrelief einer liegenden Tumu ausgespart worden war. Nach einem abschließenden Kontrollflug brumselte eine dicke Hummel als letzte davon.

„Danke, KInder! Ihr habt was bei mir gut! Und nun, meine Liebe – mach es Dir im OP gemütlich!“

Natürlich hatte Tumu Tussis Stimme schon beim ersten Mal sofort erkannt. Alle Angst war verflogen. Wenn Tussi etwas in die Hand nahm, brauchte niemand sich mehr Sorgen zu machen, und schon gar keine Bärin in Bärenleben. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, legte sie sich auf und in das Kunstwerk der Bienen. Es schmiegte sich perfekt an ihren Körper.

„Alles klar, wie ich sehe. Entspann Dich. Entspann Dich wirklich – die besten Operateure der Welt sind eben nicht Säuger, sondern Krabbeltiere – wahrscheinlich ist das für Dich gewöhnungsbedürftig. Aber alles mit Tussi-Garantie!“

Tumu lächelte, allerdings nur zwei Sekunden lang. Dann spürte sie, wie es auf ihrem Gesicht krabbelte. Es mussten viele sein, auch wenn ihr klar war, dass jeder – jede – jedes – oh, fiel ihr ein, eigentlich wusste sie nichts von Krabbeltieren, noch nicht mal etwas über deren Geschlecht – sechs Beine hatte. Oder sogar acht, falls es Spinnen waren. Oder Dutzende, wenn es sich um Tausendfüßler handelte.

„Gaaanz ruhig!“ kommandierte Tussi. „Zu Deinem rechten Auge ist gerade eine Eliteeinheit roter Waldameisen unterwegs. Sie werden sich unter Deinem Auge versammeln, und dann werden sie Dich alle gleichzeitig beißen – Ameisensäure ist ein perfektes Anästhetikum! Vom Rest der Operation wirst Du nichts mehr spüren.“

Manfred bekam große Augen, biss sich aber auf die Zunge. Tussi wusste immer, was sie tat, beruhigte er sich. Oder versuchte es wenigstens.

Tumu registrierte ein Ende des Krabbelns und bekam gleich danach einen ordentlichen Stich versetzt – oder wohl eher einen Biss, wie Tussi gesagt hatte.

„Und jetzt“, verlangte Tussi, „machst Du Deine Augen zu. Vor allem das rechte. Nicht erschrecken – ich helfe in bisschen nach!“

Tumu erwartete einen kühlen Froschfinger auf ihrem Gesicht, aber stattdessen verspürte sie pelzige Wärme über dem rechten Auge und roch etwas – Sumpf und Moschus.

„Das ist Freundin Bisamratte“, informierte sie Tussi. „Ihre Geruchsdrüsen harmonieren perfekt mit der Wirkung der Ameisensäure. Sie wird ein paar Minuten da hocken bleiben, bis die Betäubung richtig wirkt. Manchmal seid Ihr Säuger eben doch zu etwas zu gebrauchen. Aber danach übernehmen die wirklichen Künstler. Die Operation werden Blattschneiderameisen durchführen – sie sind gerade aus Lateinamerika eingereist. Die machen Dein Auge erst mal kaputt, wie Du Dir denken kannst, und implantieren Dir eine neue Linse. Die alte taugt nämlich nicht mehr viel. Die Linse hat mir eine Freundin geschenkt. Ich kenne sie zwar noch nicht lange, denn sie ist ziemlich jung, keine dreitausend Jahre, schätze ich, aber ich halte sie für vertrauenswürdig. Sie ist eine Redwood aus Nordkalifornien und produziert glasklares Harz, das schnell zu Bernstein erstarrt. Danach musst Du bloß noch zusammengenäht werden. Diese verantwortungsvolle Aufgabe übernimmt Meisterin Kreuzspinne, berühmt für ihre Fußfertigkeit und ihren extrafeinen Klebfaden. Der Weberknecht assistiert ihr natürlich. Du darfst derweil träumen – von süßen Kaulquappenkindern zum Beispiel. Aber vermutlich ziehst Du stinkende kleine Bären vor – chacun à son goût, wie der französische Frosch sagt. Und jetzt geht‘s los!“

Tumu überließ sich willig ihren Operateuren, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Sehnerv ein aufregendes Eigenleben beginnen würde. Kaum war ihr Auge weg‘, wie sie den ersten Schritt des Eingriffs für sich übersetzte, da entfaltete sich eine Farbenpracht, wie sie sie noch nie zu sehen bekommen hatte. Sie verzichtete darauf, irgend etwas steuern zu wollen, und überließ sich dem Geschehen. Irgendwann setzten sich die Farben zu Bildern zusammen.

Eine Decke aus Geldscheinen, überwiegend Dollarnoten, lag locker auf dem Globus. Anfangs war sie dünn, reichte nicht aus, um den Erdball zu bedecken, bekam immer wieder Löcher, wurde notdürftig geflickt. Dann aber gewann sie an Fülle und Fläche, wurde flauschig wie ein Bett aus Eiderdaunen, bedeckte mit der Ausnahme Afrikas alle Kontinente, füllte sich prall und praller, schien ihre Hülle sprengen zu wollen. Sie wurde lebendig, hob sich in die Höhe, wollte sich losreißen, kam aber nicht fort. In geringem Abstand von der Erdoberfläche schwoll sie immer weiter und weiter an. Sie wurde so dick, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie platzen würde.

Sie platzte. Geldscheine taumelten durch den Weltenraum, verglühten in den Sternen, verschwanden in unendlichen Weiten. Ein Jammergeschrei erhob sich auf der Erde, die die Sonnenstrahlen endlich wieder erreichten. Verkrüppelte menschliche Wesen, bleich wie Höhlenbewohner, reckten ihre mageren Arme suchend in den Himmel und versuchten gleichzeitig, sich vor dem Licht zu schützen.

Tumu schüttelte nicht unwillig den Kopf, denn erstens war der perfekt in den Bienentisch eingepasst, und zweitens hätte sie nie gewagt, die delikate Arbeit der Meisterin Kreuzspinne und ihrer Mitoperateure zu gefährden. Sie verscheuchte den Traum, ohne sich zu rühren, und beherzigte Tussis Empfehlung. Die neueste Weltwirtschaftskrise lag ihr momentan weitaus ferner als zum Beispiel Na und Nuk und Gute-Nacht-Geschichten für die Kinder. Winnie-the-Pooh fiel ihr wieder ein und seine Vorliebe für Honig. In Bärenleben, beschloss sie, würden alle Gerichte künftig nur noch mit Kunsthonig zubereitet werden. Nie mehr würde sie zulassen, dass Bienen bestohlen wurden.

„Lobenswerter Vorsatz!“ kommentierte Tussi. „Wir sind übrigens fertig mit der Behandlung. In ein paar Tagen kannst Du wieder ordentlich sehen und den Kleinen Geschichten vorlesen. Ich werde mich übrigens dazu einladen – Geschichten von Bären von sehr geringem Verstand gehen mir runter wie Honig – pardon, wie Kunsthonig natürlich, hihi! Und jetzt wird geschlafen.“

Konsequenz


Bärdel saß gemütlich in der Aprilsonne auf der Erde und schaute den ersten Löwenzahnblättchen beim Wachsen zu. Er bleib nicht lange ungestört. In der Ferne hörte er fordernde Rufe: “Onkel Bärdel! Onkel Bärdel!“ Die hohen Stimmchen gehörten Na und Nuk. Er hatte die beiden Kleinen gerne um sich, aber er erleichterte ihnen die Suche nicht: Mochten sie ihn selber finden!

Na und Nuk

Da die Zwillinge empfindliche Nasen hatten, entdeckten sie Bärdel schnell. Er nahm sie in die Pranken, knuffte sie herzhaft, was ihnen ein entzücktes Quieken entlockte, und bot ihnen zarten Löwenzahn als Delikatesse an.

Nuk wehrte ab: “Danke, Onkel Bärdel, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wir kommen wegen etwas Wichtigem!“

Bärdel steckte sich das wohlschmeckende Grünzeug ins eigene Maul, kaute genüsslich und erkundigte sich: “Und das wäre?“

“Du musst uns helfen, die Welt untergehen zu lassen,“ erklärte Nuk, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Da Bärdel das anders bewertete, verschluckte er sich heftig, rang nach Luft und erholte sich erst allmählich von seinem Erstickungsanfall, nachdem die Schwestern ihm kräftig auf den Rücken geklopft hatten. “Die ganze Welt oder nur die Erde?“ erkundigte er sich danach.

“Die Erde reicht,“ antworteten Nanuk im Chor.

“Und warum möchtet Ihr das, wenn ich fragen darf?“

“Du darfst immer fragen, Onkel Bärdel. Tante Atti und Onkel Kulle haben gesagt, wir seien ihnen immer herzlich willkommen, wenn wir etwas wissen möchten, aber zur Schule zu gehen brauchten wir ab sofort nicht mehr. Wir wüssten jetzt eine Menge, und wir hätten auch gelernt, wie wir uns noch fehlendes Wissen beschaffen könnten. Na ja, und daraufhin haben wir uns klargemacht, was wir wissen. Und als wir damit fertig waren, haben wir beschlossen, dass es am besten ist, wenn…“

“Schon gut, schon gut!“ unterbrach Bärdel. “Was wisst Ihr denn?“

“Wir wissen viele schöne Dinge, zum Beispiel in Mathe und Physik, und viele scheußliche. Die scheußlichen haben wir in Geschichte und Politik gelernt. Also in Menschenkunde. Die Menschen haben nichts Besseres zu tun, als sich zu vermehren und sich gegenseitig umzubringen. Das Umbringen ist übrigens nicht effizient genug, die Menschen werden immer mehr. Sie sind kurz davor, auch noch die letzten Rohstoffe auszubeuten und das Klima so zu verändern, dass nicht nur wir Eisbären, sondern auch sie selbst und andere Tiere und Pflanzen nicht mehr auf der Erde leben können. Und deshalb haben wir uns überlegt, dass ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende.“ Als eingespieltes Team hatten Na und Nuk immer abwechselnd einen Satz gesagt. jetzt schauten sie Bärdel erwartungsvoll an.

“Das klingt wohl überlegt!“ kommentierte Bärdel. “Und warum soll ich Euch beim Untergang der Erde helfen?“

“Wir … wir wissen nicht, wie wir das anstellen sollen,“ gestanden die Kleinen.

“Nun, in dieser Beziehung kann ich Euch durchaus Vorschläge machen. Aber erst müsst Ihr mir genauer sagen, welches Ziel Ihr anstrebt: Soll die Erde in Trümmerstücke zerlegt werden? Oder reicht es, wenn die Menschen von ihr verschwinden?“

Na und Nuk waren sich wie immer einig: “Es reicht, wenn die Menschen von ihr verschwinden.“

“Dazu fällt mir eine gute Methode ein. Nein, keine Seuche, auch das aggressivste Virus arrangiert sich irgendwann mit seinem Wirtstier, weil es selbst überleben will. Ich schlage einen Krieg vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Einen Atomkrieg. Der kann ruhig lokal begrenzt sein – zur Produktion eines nuklearen Winters und zur Zerstörung der Ozonschicht reicht so etwas aus. Hetzt also zum Beispiel Indien und Pakistan aufeinander, was nicht schwer fallen sollte, und ihr habt, was Ihr wollt. Die Menschen haben nichts mehr zu essen und sterben an Krebs wie die Fliegen. Ist das nach Eurem Geschmack?“

“Super, Onkel Bärdel!“ jubelten Nanuk. “Das ist genau das, wonach wir gesucht haben. Danke! Wir sausen jetzt schnell zu Onkel Manfred ins Computerzentrum und schauen, ob wir die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan stören können. Bis bald!“

Aber bevor sich die Kleinen davonmachen konnten, bremste Bärdel sie. “Immer langsam mit den jungen Eisbärinnen!“ schmunzelte er. “Möchtet Ihr vielleicht nicht doch ein bisschen Löwenzahn? Nein? Nun, dann lasst uns wenigstens voneinander Abschied nehmen.“

Na wunderte sich: “Aber Onkel Bärdel, Du bist doch sonst nicht so feierlich! Wir kommen bald wieder!“

Bärdel wiegte seinen dicken Kopf hin und her. “Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Auch wir werden verhungern, erfrieren und an Krebs sterben, wenn Ihr Euren Krieg macht. Ob wir uns jemals wieder sehen?“

“Oh!“ sagte Nuk.

“Wieso wir?“ fragte Na.

“Wir sind mit den Menschen genetisch eng verwandt. Was ihnen schadet, schadet uns auch.“ Bärdel ließ es dabei bewenden und verkniff sich einen Seitenhieb: Das hättet Ihr in Biologie eigentlich lernen sollen.‘

“Ja, dann…“ überlegte Nuk. Und schnell kam sie zu einem Entschluss: “Ich als die Erstgeborene beschließe hiermit, dass wir mit dem Weltuntergang noch ein wenig warten. Einverstanden, Na?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: “Onkel Bärdel, gilt Dein Löwenzahnangebot noch?“

“Selbstverständlich!“ antwortete Bärdel und schloss die Beiden in die Arme. Bärenleben und auch die Menschen hatten noch einmal Glück gehabt.

Was ist Politik (II)

Wochenlang herrschte nach der Theateraufführung von Bärdel, Kulle und Manfred für das jugendliche Publikum Bärenlebens scheinbare Ruhe. Niemand von den “Erwachsenen” bekam mit, dass sich Ramses, Piggy, Del und Nanuk regelmäßig jeden Tag trafen und hitzig miteinander diskutierten. Vor ihren Treffen verbrachten sie in der Regel lange Stunden in der Bibliothek und vor den Computern, mit denen sie im Internet recherchierten. Sie suchten nach der Formel für ein ideales gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen, wie Bärdel es ihnen aufgetragen hatte, aber sie hatten auch noch einen ehrgeizigen weiteren Plan.

“Es geht nicht!” stellte Piggy schließlich resigniert fest. “Es geht einfach nicht! Wir sind gescheitert!”

Piggy

“Nein, das sind wir nicht!” widersprach Del. “Nicht wir sind gescheitert, sondern die Menschen. Und das und die Gründe dafür kann man doch zeigen, oder?”

Del

Das sahen Piggy und die anderen ein. Sie fanden es jedoch langweilig, sich vorführen zu lassen, was sie schon selbst herausgefunden hatten. Außerdem fanden Sie, dass Bärdel und Kulle eine Belohnung für ihre Polittheatershow verdient hatten. Manfred eigentlich auch, aber der würde arbeiten müssen – sie brauchten seine Hilfe, wenn jetzt sie ein Stück inszenierten.

Manfred half den “Kleinen” gerne, und sie begannen heimlich mit den Proben. Bärdel war völlig überrascht, als er am Beginn einer Abendversammlung bestimmt, aber höflich von Nuk unterbrochen wurde.

Na Nuk

“Bitte entschuldige, Onkel Bärdel!” piepste sie. “Ich weiß, dass ich Dich eigentlich nicht stören darf. Aber heute Abend stehen keine wichtigen Entscheidungen auf der Tagesordnung, und wenn das nicht der Fall ist, erzählen wir uns sowieso nur Märchen. Anstatt das zu tun, können wir auch ins Theater gehen – wir jungen Bärenlebener haben ein kleines Stück einstudiert.”

Die Bären nahmen den Vorschlag begeistert an und gruppierten sich vor der Bühne. Na übernahm die Einführung und erklärte, worum es gehen sollte. Und dann erlosch das Licht auf dem Podium. Im Zuschauerraum war es schon lange dunkel, denn es war später Herbst.

Als die Lichter auf der Bühne wieder angingen, sahen die Zuschauer zunächst einen Stummfilm, in dem warme Farben vorherrschten. Er zeigte Menschen in einfachen Verhältnissen, die glücklich zu sein schienen, bei einfachen Tätigkeiten. Sie aßen, tranken, arbeiteten, lasen, diskutierten, schliefen, spielten mit ihren Kindern. Ab und zu diskutierten alle über das gleiche. Dann wurde die entsprechende Frage eingeblendet. “Sollen wir eine Brücke über den Fluss bauen oder darauf verzichten, weil wir damit den Lebensraum einer Fledermaus gefährdeten?” “Wollen wir genmanipulierte Pflanzen anbauen und so die landwirtschaftlichen Erträge steigern, obwohl dadurch vermutlich die Reproduktionsrate der Schmetterlinge verringert wird?” “Wollen wir ein Fastfood-Restaurant eröffnen oder eine zweite Bibliothek einrichten?”

Wann immer es galt, eine solche Frage zu beantworten, trafen sich alle Erwachsenen auf einem großen Platz. Es gab niemanden, der zu Hause blieb, außer den ganz Kranken und Schwachen. Sie diskutierten nur kurz und entschieden sich schnell: Für die Fledermäuse, die Schmetterlinge und die Bibliothek. Und: Sie entschieden immer einstimmig.

Der Film endete, und die Bären wollen schon anfangen zu applaudieren, als ein freundlich aussehender Menschenmann in altmodischer Kleidung und mit einer Perücke auf dem Kopf auf der Bühne erschien und eine Erklärung abgab:

“Wie viele schwer zu vereinigende Dinge setzt diese Regierungsform überhaupt voraus! Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder Bürger genügende Gelegenheit hat, alle anderen kennenzulernen; zweitens eine große Einfachheit der Sitten, die keine Veranlassung zu vielen schwierigen Arbeiten und Verhandlungen gibt, sodann fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte; endlich wenig oder gar keinen Luxus, denn der Luxus ist entweder die Folge des Reichtums oder macht ihn nötig; er verdirbt nicht nur den Reichen, sondern auch den Armen, jenen durch den Besitz, diesen durch die Lüsternheit; er verwandelt das Vaterland in eine Stätte der Weichlichkeit und Eitelkeit; er entzieht dem Staate alle Bürger, um die einen zu Sklaven der anderen und alle zu Sklaven des Vorurteils zu machen.”

Ramses

Hier machte der freundliche Herr eine lange Pause, die ebenso wie seine lange Rede von gelegentlichem Kichern aus dem Publikum unterbrochen wurde. Trotz aller Verkleidungskünste und Schminkbemühungen ließ sich nicht übersehen, dass der Sprecher ein grünes Gesicht hatte. Und ein grünes Gesicht hatte in Bärenleben nur einer: Ramses.

Der verkleidete Frosch schloss: “Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht.”

Er verbeugte sich tief und ging ab.

“Aber sehr wohl für Bären!” brummte ein sehr alter Bär, der sich sonst meist damit hervortat, dass er gegen alles war. Er begann, die Pranken ineinander zu schlagen, aber auch jetzt war die Vorstellung noch nicht zu Ende. Eine Melodie erklang, laut und kämpferisch, die den meisten Anwesenden bekannt vorkam. Dazu marschierten auf der Leinwand Soldaten in einem nicht enden wollenden Zug. Die Filmaufnahme war diesmal schwarzweiß. Den Text des Liedes hatte bisher niemand gekannt.


Auf, Kinder des Vaterlands!

Der Tag des Ruhms ist da.

Gegen uns wurde der Tyrannei

Blutiges Banner erhoben.

Hört Ihr auf den Feldern

Das Brüllen der grausamen Krieger?

Sie kommen bis in eure Arme

Eure Söhne, eure Frauen zu erwürgen!

An die Waffen, Bürger!

Schließt die Reihen,

Vorwärts, marschieren wir!

Damit ein unreines Blut

Unsere Äcker tränkt!

“Ich wusste gar nicht, dass die Marseillaise so einen blutrünstigen Text hat!” seufzte Tumu, “Das ist ja schrecklich!”

Wieder erschien Ramses auf der Bühne, in ähnlichem, aber in erkennbar anderem Kostüm, auch mit anderer Perücke. Er setzte sich auf einen Louis-XVI.-Stuhl und begann zu häkeln, wobei er freundlich ins Publikum lächelte.

Ramses

“Ja, schrecklich ist es, aber in revolutionären Zeiten gibt es ohne Schrecken keine Tugend, und wir leben in revolutionären Zeiten: Deshalb: Alle Verdächtigen an die Laterne, wie es früher hieß, bevor der gute Dr. Guillotin seinen humanen Tötungsapparat erfunden hat. Glauben Sie bitte nicht, dass ich mich an den Hinrichtungen berausche – ich war noch bei keiner einzigen dabei. Blut ist mir zutiefst zuwider. Aber unser Land ist entartet, und wenn diese Entartung beendet werden soll, wenn wieder Moral, Grundsätze, Vernunft, Seelengröße und Wahrheit herrschen sollen, wie es Jean-Jacques Rousseau, der Prophet des “Höchsten Wesens”, gewollt hat, dann müssen wir die Parasiten am Volkskörper ausmerzen, ausmerzen, ausmerzen!”

Der Sprecher lächelte jetzt nicht mehr, und er hatte auch aufgehört zu häkeln. Seine Miene war verklärt, und zu den letzten drei Worten hatte er begonnen, den Takt zu klatschen.

Das Licht auf der Bühne wechselte, Ramses versank im Dunklen, und die Spielzeugguillotine, die Bärdel und Kulle für ihr vorhergehendes politisches Theaterstück gebaut hatten, tauchte auf. Piggy trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf, war aber trotzdem am Ringelschwänzchen gut zu erkennen. Das Schwein agierte als Henker. Na und Nuk hatten sich rote Streifen um den Hals gemalt und spielten die Opfer. Nacheinander legten sie sich auf das Schafott, und bei jedem Händeklatschen ließ Piggy das Beil herabsausen, das aber auf halber Strecke stoppte. Die “Exekutierte” verbarg den nicht abgeschlagenen Kopf in den Armen, ließ sich von der Guillotine rollen und versteckte sich dahinter. Kaum war das geschehen, spielte der andere Eisbärenzwilling den nächsten Verurteilten. Und immer so fort.

Das wirkte so komisch, dass die Zuschauer, die zunächst betreten dreingeschaut hatten, bald das Lachen nicht mehr unterdrücken konnten. Ein erstes verschämtes Lächeln wurde zum unterdrückten Gepruste, bis sich allgemein schallendes Gelächter durchsetzte.

Die Schauspieler schafften es eine Zeitlang, diese ungebührliche Reaktion zu ignorieren. Schließlich aber platzte Nanuk der Kragen. Sie hörten auf, sich exekutieren zu lassen, und stellten sich an die Rampe.

“Ihr Ignoranten!”

“Ihr seid vielleicht blöd!”

“Das ist alles historisch verbürgt!”

“Und komisch ist das überhaupt nicht!”

“Weil nämlich Robbespierre auch ein dogmatischer Ignorant war.”

“Er hat eine gute Idee pervertiert.”

“Er hat sie nicht verstanden und hat trotzdem versucht, sie mit Gewalt durchzusetzen.”

“Und wir haben rausgefunden, dass das bei dem Menschen immer wieder passiert.”

“Zum Beispiel in der Religion.”

“Oder in der Politik.”

“Und ihr lacht darüber!!!”

Die Bären im Publikum sahen einander unsicher an. Gehörte das noch zum Stück? Natürlich waren sie alle kulturinteressiert und kannten Handkes “Publikumsbeschimpfung”. Oder war das jetzt ernst gemeint?

Ein kleiner Kopf tauchte aus dem Souffleurkasten auf und wandte sich den Zuschauern zu. “Das, liebe Bären, ist sehr ernst gemeint!” sagte Del.

Sofort kehrte Ruhe ein.

Nach wenigen Sekunden allerdings erhob sich donnernder Applaus.