PD Kulle
Bemerkungen zur Soziologie der menschlichen Gruppe
Einführung in den Forschungsgegenstand
Das Zusammenleben der Menschentiere ist geprägt durch einerseits Dominanz und andererseits Submission von Individuen oder Gruppen von Individuen, erstere durch Siege in Rangkämpfen erworben, letztere als Resultat von Niederlagen erzwungen hingenommen. 1
Menschliche Soziologen, die sich mit diesem Problemkomplex zu beschäftigen versuchen, was ihnen selbstredend nicht gelingen kann, da Selbst-Erkenntnis Kenntnis des Selbst voraussetzt, über die Menschen nicht verfügen, trennen zwischen Groß- und Kleingruppen. Wir folgen dieser Unterscheidung nicht, ist der Unterschied doch nur ein gradueller, kein qualitativer. Gruppenbeziehungen ändern sich nicht dadurch, dass sie codifiziert werden. 2
Aus dieser These lassen sich unter anderem die folgenden analytischen Fragen ableiten: Wie ist der Begriff der Gruppe 3 zu definieren? Welche Eigenschaften eines Individuums sind erforderlich, damit ein Gruppenmitglied von seinen “Peers” als Herrscher anerkannt wird? In welchen Formen kann sich Dominanz äußern? Wie lässt sich eine dominierende Stellung im sozialen Gefüge erringen und, was mindestens ebenso schwierig sein kann, auf Dauer festigen?
Merkmale archaischer Gruppenbeziehungen
Als Gruppe bezeichnen wir mindestens zwei 4 Individuen, deren Zusammenleben durch Aspekte wechselseitiger Abhängigkeit geprägt ist. Der Prototyp der Gruppe ist das heterosexuelle Paar im sexuell aktiven Alter, das nolens volens geschlechtliche Arbeitsteilung praktiziert. Bei größeren Gruppen verliert der sexuelle Aspekt in der Regel 5 an Bedeutung, während ökonomische Ziele 6 in den Vordergrund treten.
Welchem Partner in der heterosexuell organisierten Zweiergruppe 7der dominante Part zufällt, ist ex ante nicht generell entscheidbar. Es wird jedoch immer derjenige sein, der – nicht zwangsläufig objektiv, aber nach Maßgabe der Meinung der Beteiligten – mehr zur Erhaltung der Art beiträgt als der andere. Dieser Beitrag kann in einer überzeugenden Fortpflanzungsleistung gesehen werden, aber auch in herausragenden physischen Fähigkeiten wie Schnelligkeit oder Körperkraft, die effizient eingesetzt werden, um der eigenen Allesfressergruppe tierisches Eiweiß zu verschaffen, was wiederum indirekt fortpflanzungsrelevant ist. In Bezug auf diesen letztgenannten Aspekt gewinnen auch intellektuelle Kapazitäten an Bedeutung, sind sie doch eine wichtige Waffe des Raubtieres Mensch, wenn es gilt, andere Tiere 8 in die Falle zu locken. Nicht nur zur Manipulation anderer Spezies, auch zur Lenkung der eigenen Art, zur Lenkung der eigenen Gruppe, wird das Großhirn genutzt. 9 Wie wir sehen, neigt sich die Waagschale der Dominanz tendenziell dem männlichen Geschlecht zu. 10
Dominanz, wie hier beschrieben, bedarf keiner Legitimation durch andere. Sie legitimiert sich selbst gegen Herrschaftsansprüche anderer, indem sie vom Alpha-Tier ausgeübt und verteidigt wird. 11 Sie beruht auf dem Recht des Stärkeren, auf nichts sonst; auf Ungleichheit der Individuen, resultierend aus Stärke eines Individuums.
Merkmale moderner Gruppenbeziehungen
Man vergegenwärtige sich das folgende Szenario: In einer Gruppe, die vor einer Entscheidung steht, hat jedes Mitglied ungestörtes Rederecht, sofern es ein bestimmtes Ding in Händen hält, das dieses Recht symbolisiert. Die Entscheidung wird per Abstimmung herbeigeführt. 12
Vergleichen wir die hier skizzierten Mechanismen mit den im vorigen Kapitel dargestellten. Die Dominanz, bisher einem Alpha-Tier inhärent, ist ihm entäußert worden, ist strukturell entäußert worden, denn sie gehört gar keinem Individuum mehr quasi organisch an, sondern wird, in Form des ungestörten Rederechts, einem jeden Gruppenmitglied temporär zugestanden. Mehr noch: Nicht nur bei der Entscheidungsfindung, sondern auch bei der bindenden Beschlussfassung haben alle ein Mitwirkungsrecht, wobei jedes Votum das selbe Gewicht hat wie ein anderes. 13 Das hier herrschende Rechtsprinzip ist das der Gleichheit der Individuen, resultierend nicht aus einem Faktum wie dem der nachgewiesenen individuellen Stärke, sondern basierend auf dem Axiom der Gleichwertigkeit aller – bekannt unter dem Namen Demokratie. 14
Es versteht sich von selbst, dass dermaßen revolutionäre Veränderungen habitueller Strukturen nicht Ergebnis einer allmählichen Entwicklung, sondern allein Resultat einer revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse sein können und müssen. 15
Zur Bewertung moderner Gruppenbeziehungen
Ausnahmsweise interessiert an dieser Stelle nicht die Meinung des Verfassers, obwohl nicht unterschlagen werden soll, dass sich dessen Position von selbst versteht, sondern die Stellungnahme der in die Gruppenstruktur Involvierten, denn sie allein sind es, die Entscheidungsprozesse bewahrend oder verändernd gestalten können. Hier ist es notwendig, quantitative und qualitative Aspekte gesondert zu beleuchten.
Die Zahl der Alpha-Tiere in einer Gruppe ist allemal geringer als die der von ihnen Geführten, also erhöht sich unter den Bedingungen moderner Gruppenbeziehungen quantitativ der Zufriedenheitskoeffizient. Ein reziproker Prozess ist bei der Teilmenge der Alphas zu beobachten. Moderne Gruppenbeziehungen berauben sie ihres exklusiven Status und ihrer weitreichenden Handlungsfähigkeit.
Wie oben dargelegt, resultiert die dominante Stellung eines Führungstieres aus seiner “Stärke”. Diese “Stärke” verwandelt sich nicht in Schwäche, sie dissipiert nicht, weil sie gesellschaftlich nicht mehr erwünscht ist, sondern bleibt latent, potentiell vorhanden. Ihre Träger sinnen in Anbetracht der revolutionierten gesellschaftlichen Verhältnisse darauf, ihre alte gesellschaftliche Stellung wieder zu erlangen, wobei sie akzeptieren, dass dieses Ziel nur im Rahmen der neuen Gruppenbeziehungen erreicht werden kann 16.
Die Archaisierung moderner Gruppenbeziehungen
Wie wir gezeigt haben, bestehen die revolutionären Merkmale moderner Gruppenbeziehungen in gleichen Artikulations- und Mitbestimmungsrechten aller. Beides müssen die Alphatiere gemäß ihren Bedürfnissen modifizieren, wobei sie darauf zu achten haben, dass die Modifikation den anderen Gruppenmitgliedern verborgen bleibt. 17
Der erste und entscheidende Schritt besteht darin, der Gruppengefolgschaft die Überzeugung zu vermitteln, dass sie angesichts der Komplexität und Kompliziertheit der zu bewältigenden Probleme nicht nur nicht in der Lage ist, über diese zu befinden, sondern dass sie sich nicht angemessen artikulieren kann, ja, noch nicht einmal “Ja” oder “Nein” zu sagen im Stande ist. Auch wird suggeriert, diese beschränkte Artikulationsfähigkeit bestehe nur an wenigen Tagen innerhalb mehrerer Jahre. Wird diese Behauptung akzeptiert, ist eine parlamentarische “Demokratie” institutionalisiert. 18
Mit diesem ersten Schritt, mit der Selbstentmündigung der meisten Gruppenmitglieder, ist das entscheidende Ziel der Alphas bereits erreicht. Wer sich noch nicht einmal angemessen artikulieren kann, wird neidlos und dankbar gegenüber denjenigen, die sich der Mühe des Denkhandelns unterziehen, anerkennen, dass er im Gegensatz zu ihnen zu sinnvollen Entscheidungen nicht fähig ist. 19
Um eventueller Unzufriedenheit der Gruppenmehrheit vorzubeugen, wird ihr von den Alphatieren suggeriert, dass jeder Gruppenangehörige die Chance habe, dem Kreis der Entscheidungsträger anzugehören, wenn er sich dafür qualifiziere. 20
Fazit
Moderne Gruppen sind ebenso hierarchisch organisiert wie archaische, obwohl die herrschende Ideologie das Gegenteil behauptet. In beiden Formen dominiert das Prinzip des “divide et impera”. Wir wagen allerdings die Behauptung, dass moderne Gruppen stabiler sein können als archaische, versprechen sie doch potentiell allen Gruppenmitgliedern, Alphatiere werden zu können, während in traditionellen Formen des Zusammenlebens dieses Privileg einer kleinen Zahl vorbehalten blieb. Wird dieses Versprechen nicht nur akzeptiert, sondern internalisiert, ist eine Kritik an der Gruppenstruktur verunmöglicht.
Im menschlichen Zusammenleben herrscht also nach wie vor das Recht des Stärkeren, obwohl eben dieses Prinzip als menschenunwürdig verdammt wird, was den wenigsten menschlichen Akteuren als Ironie erscheinen dürfte 21. Der Mensch lebt in Gruppen und ist insofern ein gesellschaftliches Tier, ein “zoon politikon”, ein politisch, also selbst-bewusst agierendes Tier ist er dagegen nicht 22 – q.e.d.
Endnoten
1 Wir gehen bei unseren Betrachtungen vom Normalfall aus, vom Normalfall des menschlichen Zusammenlebens nämlich; wobei wir keineswegs die Meinung vertreten, dass der Mensch als solcher als Normalfall zu betrachten ist. Da jedoch, wo er auftritt, und er tritt häufig und immer häufiger auf, und wo er auftritt, wächst kein Gras mehr, wo er also auftritt, tritt er gehäuft auf, nicht allein. “Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei”, wird bereits in den älteren Menschenmythen wie dem Pentateuch in verblüffender Selbsterkenntnis postuliert, und dabei handelt es sich um eine der wenigen von Menschen für Menschen aufgestellten Regeln, an die Menschen sich zu halten pflegen. Am Rande sei bemerkt, dass diese Maßregel auch für Bären gilt. Darin jedoch erschöpfen sich, soziologisch betrachtet, Parallelen zwischen Homo sapiens sapiens und Ursus ursus.
2 Was der Chef meint, ist Folgendes: Wichtig ist nicht, dass es Gesetze gibt, sondern dass alle sich daran halten, auch wenn es keine gibt. Jetzt klar? Die Sekretärin
3 “Gruppe” meint im Folgenden immer “Menschengruppe”.
4 Wir stellen uns dem zu erwartenden Vorwurf, die Zahl zwei sei inadäquat, unerschrocken. Das Merkmal der Arbeitsteilung, das das Zusammenleben in Gruppen prägt, lässt sich exemplarisch bereits in der Paarbeziehung nachweisen. Auch der oben zitierte Satz aus dem Pentateuch (vgl. Fußnote 1) untermauert diese These, drückt er doch die Erkenntnis des in diesem Text angenommenen Schöpfergottes aus, der von ihm aus Erde geschaffene Menschenmann bedürfe einer Frau.
5 Es sei denn, man hat es mit orientalischen Haremsbedingungen oder, was nur ein gradueller Unterschied ist, mit den verbotenen und offiziell nicht mehr praktizierten Familienstrukturen der Mitglieder der “Church of Jesus Christ of the Latter Day Saints”, vulgo Mormonen, zu tun.
6 Ökonomische Ziele werden zum Zwecke der Erhaltung der dominanten Stellung in der Gruppe von den Alpha-Tieren häufig als politische oder ideologische bezeichnet, wobei es sich jedoch stets um Verschleierungsmanöver handelt.
7 Die dargestellten Mechanismen gelten auch für größere Gruppen, die sich aus heterosexuellen Zweiergruppen rekrutieren, und – mit Schwerpunkt auf den intellektuellen Fähigkeiten – für Gruppen, die ökonomische Ziele verfolgen.
8 z. B. arglose Bären
9 Die Menschen selbst benutzen für die gewaltfreie Führung einer Gruppe den Begriff “Charisma”.
10 Dabei soll nicht vergessen werden, dass in der objektiv kurzen, aber aus der Bärenperspektive subjektiv viel zu langen Phase der Existenz der menschlichen Art matriarchalische Strukturen einen wesentlich größeren Zeitraum eingenommen haben als patriarchalische, was unter anderem der Tatsache geschuldet ist, dass den Menschen der (verglichen mit der Leistung der Frau geringe) Beitrag des Mannes zur Arterhaltung erst in historisch jüngerer Zeit bewusst wurde.
11 Dabei handelt das Alpha-Tier in größeren Gruppen in der Regel taktisch. Es versetzt einige Gruppenmitglieder tatsächlich oder scheinbar in Positionen, die sie über andere erheben, in der Hoffnung, dass diese Beta- oder Gammatiere es selbst in Gefahrensituationen verteidigen werden, um die eigene privilegierte Stellung nicht zu verlieren.
12 vgl. William Golding, Der Herr der Fliegen
13 Es ist für unsere Überlegungen nicht von Bedeutung, ob Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip oder einstimmig, also entsprechend der volonté générale, gefasst werden. In Bezug auf das Prosperieren einer Gruppe allerdings ist nur das Verfahren, das den Gemeinwillen zur Entscheidungsgrundlage macht, langfristig Erfolg versprechend. (Ich habe den Chef gebeten, das zu erläutern, aber er meint, das sei zu banal. Entschuldigung – die Sekretärin)
14 Eine noch modernere Gruppenstruktur würde auf das Aufstellen von Regeln jenseits physiologischer Gegebenheiten verzichten können, also nur noch die Mensis als Regel akzeptieren, und damit auch eine Struktur negieren; eine solche Gruppe würde sich je nach Problemlage neu konstituieren und autopoetisch regulieren. Vertreter der menschlichen Avantgarde haben dergleichen Anarchismus genannt.
15 Wir ersparen es an dieser Stelle dem Leser und uns, genauer auf die Mechanismen und historischen Emanationen der bürgerlichen Revolution, denn um diese handelt es sich, einzugehen.
16 Sie sind ja nicht doof.
17 Dieses Ziel ist insofern realistisch, als diese Gruppenangehörigen in der Tat häufig doof sind.
18 Glauben die Gruppenmitglieder dagegen weiterhin an ihre Fähigkeit, “Ja” oder “Nein” sagen zu können, halten sie an Volksentscheiden fest.
19 Was wiederum die Berechtigung der Fußnote 17 erhärtet.
20 Diese Qualifikationsmöglichkeit wird nicht nur auf politischem, sondern auch auf ökonomischem Gebiet behauptet und existiert graduell auch – in eben jenem Grade, der Beta-Tieren schon immer von Alphas zum Zweck der Stärkung ihrer eigenen Position eingeräumt worden ist.
21 Wir verweisen zum zweiten Mal auf die Fußnote 17.
22 Daran ändert auch nichts, dass Karl Marx anderer Meinung war.