

Kulle hatte anders als gestern keine Dehlandkopfschmerzen mehr, sagte er, aber er sei damit beschäftigt, einen Kommentar für eine renommierte Tageszeitung über die dehländische Art, Probleme zu bewältigen, zu schreiben. Selbstverständlich werde nur eine ausländische Zeitung eine solche Analyse veröffentlichen. Er werde, erklärte er Bärdel, darauf hinweisen, dass die dehländische politische Klasse, trotz oder gerade wegen der in Berlin regierenden Großen Koalition, die drängenden politischen Probleme wie Eindämmung der Arbeitslosigkeit und die Sanierung des defizitären Staatshaushalts ebenso wenig in den Griff bekomme wie das „Problem“ Bruno. Ersteres sei allerdings dem Zugriff der Politik in einem kapitalistischen System weitestgehend entzogen, Verschuldung dagegen lasse sich seht wohl bekämpfen, greife man in die richtigen Portefeuilles, nämlich in die dicken. Erhöhungen von Verbrauchssteuern wie der Mehrwertsteuer seien dagegen das falsche Mittel. Gegenwärtig würden diese zentralen politischen Probleme allerdings in den Hintergrund geschoben, und zwar durch Sensationsmeldungen über den Bären „Bruno“ und über die Fußballweltmeisterschaft.
Wahrscheinlich, dachte Bärdel, kann Kulle die Fußball-Weltmeisterschaft nicht ertragen. Natürlich sahen sich die Bären keine Übertragung auch nur eines einzigen Spiels an, widersprachen die Fußballregeln der Menschen doch ihren eigenen diametral1. Aber die lautstarken Hupkonzerte der Autokorsos, mit denen die Menschen den Sieg der dehländischen Nationalmannschaft oder einer anderen Equipe feierten, waren selbst in Bärenleben nicht zu überhören.
Bärdel ging also auch am nächsten Morgen wieder allein spazieren. Hinter demselben Busch, in dem er ihn am vorigen Tag weinend gefunden hatte, erschien Del und ging ihm zögernd entgegen. Bärdel schmunzelte. Der Kleine war nicht leicht zufrieden zu stellen, und das war gut so.
„Gut geschlafen?“ fragte er leichthin. Er wollte, dass Del selbst auf das Thema zu sprechen kam, das ihn beschäftigte.
„Danke, ja. Ich habe geträumt, ich glaube von Bruno – du weißt schon, von dem wilden Bären, der in Bayern und Österreich ist. Bruno ist von Hunden gehetzt worden, aber die haben ihn nicht stellen können. Bruno hat sich davongemacht und erst mal gefressen – Honig aus einem Bienenstock und zwei Kaninchen. Oder ein Kaninchen und ein Meerschweinchen – die Zeitungen waren sich darin nicht einig.“
Del machte eine Pause und sah Bärdel erwartungsvoll an.
„Das klingt nach einer guten Mahlzeit“, bemerkte Bärdel.
„Das finde ich auch“, bekräftigte Del.
„Keine Frage!“ Bärdel ließ Del bewusst auflaufen.
„Also – gestern hast du mir erklärt, dass Bruno Gesetze der Menschen verletzt, dass er stiehlt und raubt. Du hast gesagt, er sei ein wilder Bär, und wir seien keine, weil er sich nicht an die Gesetze der Menschen hält. Wir dagegen, hast du gesagt, täten das.“ Del machte eine Pause.
„Alles richtig!“ bestätigte Bärdel.
Del räusperte sich. Das, was er jetzt zu sagen hatte, fiel ihm offensichtlich nicht leicht.
„Bärdel, wir leben hier im Verborgenen, aber die Menschen sind nicht weit entfernt. Alles hier gehört ihnen. Wir leben trotzdem gut. Gestern Mittag hatten Athabasca und das Schwein Küchendienst. Es gab in Honig gesottenes Rindfleisch und als Nachtisch Waldbeeren und gebackene Bananen. Ich schätze, in dem köstlichen Essen für uns alle steckten 50 Kilo edles Fleisch und 20 oder 25 Kilo Bananen. Das einzige, was wir uns legal allein haben besorgen können, waren die Waldbeeren. Bärdel, wovon leben wir?“
Einmal muss er es ja doch erfahren, dachte Bärdel.
„Ich, ähem, ich gebe zu – ja, also, ich war gestern nicht ganz korrekt. Wenn man etwas braucht, was man nicht hat, zum Beispiel etwas zu essen oder Bücher oder Computer, kann man es entweder kaufen oder stehlen. Wir kaufen. Wir besorgen uns das dafür notwendige Geld, indem wir Kreditkarten benutzen, die uns nicht gehören. Wie das funktioniert, haben wir in den USA gelernt. Damit fügen wir niemandem Schaden zu außer der Kreditkartenfirma, und die hat Geld genug.“
„Kaufen?“ Del war völlig perplex. „Aber…aber es gibt hier in der Nähe doch gar keine Geschäfte, jedenfalls keine, in denen man eben mal so 50 Kilo Rindfleisch kauft, ohne aufzufallen. Außerdem haben wir uns vorgenommen, so wenig wie möglich mit Menschen in Kontakt zu kommen, obwohl wir uns gut als Menschen tarnen können. Also – wo kaufen wir?“
„Wenn der Kunde nicht zum Geschäft kommen kann, muss das Geschäft zum Kunden kommen!“ schmunzelte Bärdel. „Wir bestellen, was wir brauchen, und lassen es uns anliefern.
Vielleicht hast du hier in der Gegend ab und zu einen Lkw gesehen, auf dem „Rungis-Express“ stand? Der kommt immer zu uns, die Firma liefert die feinsten Lebensmittel in Europa. Was du gestern gegessen hast, das waren Rinderbacken aus Irland, das Kilo für 16,90€.“
Bärdel wartete – er ahnte, wie die nächste Entgegnung lauten musste.
„Das ist alles nicht logisch, was du sagst. Zu einer Lieferung gehört eine Lieferadresse, und wir haben keine, weil wir uns vor den Menschen verstecken!“
„Du hast Recht. Aber warte mal!“
Bärdel langte hinter sein rechtes Ohr, hinter dem sein lockerer Pelz eine kleine Tasche bildete, und holte ein kleines schwarzes Plastikteil hervor, das einer Fernbedienung ähnelte. Allerdings hatte es nur zwei große Knöpfe, einen roten und einen grünen.
„Pass auf!“ sagte Bärdel. Und er drückte auf den grünen Knopf.
Del, der eben noch mitten zwischen Büschen im Gras gestanden hatte, fühlte auf einmal den Asphalt einer gut gepflegten zweispurigen Straße unter seinen Tatzen. Ungläubig schaute er zu Boden, aber als er den Blick hob, wurden seine Augen vor Staunen groß wie Suppentassen. Ein paar Meter entfernt lag ein großzügiger gekiester Parkplatz, der Raum für zahlreiche Pkws und sogar Busse bot. Aber das Erstaunlichste sah er dahinter: ein zweistöckiges sehr gepflegtes Hotel im Landhausstil, davor eine große Sonnenterasse, auf der etliche Tische zum Essen eingedeckt waren.
„Was – was ist das denn?“
„Pass auf!“ sagte Bärdel statt einer Antwort. Und er drückte auf den roten Knopf.
Alles war wie vorher.
Del griff sich an den Kopf. „Entschuldigung, ich habe Kopfschmerzen. Was hast du gemacht? Was ist wirklich, die Büsche oder das Hotel?“
„Was wirklich ist, ist sehr schwierig zu beantworten. Was ich gemacht habe, ist viel einfacher: Ich habe Lichtwellen und elektromagnetische Wellen manipuliert. Genauer: Nicht ich war das, sondern dieser kleine Apparat. Manfred hat ihn konstruiert. Du hast doch Harry Potter gelesen, nicht wahr? Harry bewegt sich unbemerkt unter seiner Tarnkappe durch Hogwarts. Damit etwas unsichtbar ist, müssen Lichtwellen um es herum fließen, so dass der Beobachter nur das Licht sieht und nicht ahnt, dass da noch etwas anderes sein könnte, zum Beispiel Harry. Manfred hat diese Theorie umgedreht – ich weiß auch nicht genau, wie das funktioniert. Jedenfalls gaukeln seine Lichtwellen etwas vor, wo nichts ist, zum Beispiel dieses Hotel. Und das macht durchaus den Eindruck, dass da viele Gäste Appetit auf ziemlich viel Rindfleisch haben könnten, oder?“
Del staunte lange mit offenem Mund.
„Und wenn der Rungis-Express kommt, dann steht da Tumu oder Atti oder eine andere Bärin, gut getarnt als Menschenfrau, lässt sich die Köstlichkeiten auf die Türschwelle legen oder in die Küche bringen, und bezahlt mit einer Kreditkarte, die ihr nicht gehört?“ fragte er schließlich.
„Genau!“
„Und du hast mir gestern gesagt, wir seien keine wilden Tiere!“
„Dazu stehe ich auch immer noch!“ grinste Bärdel. „Schließlich handeln wir nach den Gesetzen der sogenannten Zivilisation. Meistens jedenfalls.“ Ernst sagte er: „Erinnerst du dich an gestern? Die Menschen können einander nicht lieben. Wir Bären dagegen schon.“
- Im Menschenfußball bemühen sich elf Menschen gegen elf andere, einen einzigen Ball in eines von zwei Toren zu bugsieren, wobei jeweils ein Tor von einer Menschenmannschaft verteidigt wird. Beim Bärenfußball treten zwei Bären nacheinander gegeneinander an. Ihre Aufgabe besteht darin, elf unmarkierte Bälle in elf Tore zu befördern, wobei keines dieser Tore verteidigt wird. Die Schwierigkeit besteht darin, mit dem richtigen Ball das richtige Tor zu treffen, denn anders als für die Schiedsrichter sind für die Spieler Ballmarkierungen nicht erkennbar. Wer die meisten richtigen Treffer erzielt, hat gewonnen. ↩︎
2006