Ärzte

Ein Blick in den Kalender zeigte ihm, dass es wieder so weit war: Er bekam Besuch wie an jedem ersten Mittwoch im Monat, und er erwartete stets dieselben Gäste zu seinem jour fixe. Zwar war er des Rituals längst überdrüssig, aber immer nur mit sich allein sein mochte er auch nicht. Und: Wen sonst hätte er einladen sollen?

Er hatte bei diesen Treffen stets ein Abendessen parat, bei dessen Zusammenstellung er nicht überlegte, worauf die Eingeladenen vermutlich Appetit hatten, sondern sich nach den eigenen Gelüsten richtete. Außerdem hatten seine Gäste immer auf alles Appetit. Er wartete natürlich nicht selbst auf, wie sollte er das auch, er hatte Besseres und Wichtigeres zu tun als in der Küche zu stehen. Außerdem konnte er gar nicht kochen, aber das hängte er nicht an die große Glocke.

Es war Gretels Aufgabe, die Speisen zuzubereiten und zu servieren.

Er hatte sie aus Mitleid ins Haus genommen. Eigentlich brauchte man heutzutage keine Köchin, wohlschmeckende fertige Mahlzeiten und Getränke konnte man für Geld in Geschäften erwerben, und Geld hatte er genug. Außerdem war bekannt, dass es mit ihrer Ehrlichkeit nicht weit her war. Sie war verfressen und versoffen und stahl, sobald sich die Gelegenheit bot. Wurde sie erwischt, fiel dem einfallsreichen Weib immer eine Ausrede ein. Aber sie hatte ihm leid getan, als sie vor seiner Tür stand und händeringend um Arbeit bat, und sei es nur für Kost und Logis. War er hartherzig genug, sie an den Bettelstab zu bringen? Wer, wenn nicht ein Reicher wie er, konnte einer Hausangestellten Arbeit geben? Und Reiche gab es nur noch wenige unter ihnen. Er hatte sich erweichen lassen.

„Gretel,“ sagte er jetzt, „ich erwarte heute Abend die üblichen drei Gäste, und ich habe Hunger auf Hühnchen. Also sollst Du fünf Hühnchen vorbereiten. Eins davon ist für Dich, das sollst Du jetzt schon wissen, damit Du nicht zu stehlen brauchst. Dazu besorgst Du fünf Flaschen Wein, für wen die fünfte ist, brauche ich Dir nicht zu sagen. Um sieben Uhr servierst Du, verstanden?“

Die Köchin knickste und bedankte sich. Zuerst ging sie in ihre Kammer und legte sich aufs Bett. In früheren Zeiten hätte sie sich sofort zum Hühnerhof aufgemacht und fünf Hennen eingefangen und getötet. Danach hätte es viel Arbeit gegeben, bis das Essen auf dem Tisch stand: Die Vögel ausbluten lassen, ausnehmen, brühen und rupfen, schließlich würzen. Holz hätte gesammelt werden müssen, um ein Feuer unter dem Bratspieß zu entfachen, auf den die Tiere gesteckt wurden. Und dann hieß es drehen, drehen und nochmals drehen. Stundenlang war man damals nur damit beschäftigt, ein paar Hühner zu braten.

Aber heutzutage hatte sie Zeit. Ein Supermarkt mit großen Kühlregalen war nur ein paar Straßenecken entfernt. Die Hühner, die dort auf Kunden warteten, waren bratfertig vorbereitet. Und der Backofen in ihrer Küche brauchte  nur eingeschaltet zu werden. Wählte man eine Heizart und sagte ihm Temperatur und Zeit, erledigte er die Arbeit ganz unbeaufsichtigt.

„Gretel,“ sagte sie fröhlich zu sich, „es geht Dir so unverschämt gut, dass es gar nicht zu sagen ist!“

Ihr Arbeitgeber dagegen litt unter einem Anfall von Selbstmitleid. Von unbegründetem Selbstmitleid, das gab er zu. Er sah sich um: Er saß in einem sowohl ergonomischen wie gemütlichen Sessel in einem gut beheizten großen Wohnraum. Aus hohen Regalen an den Wänden sahen ihn die Rücken seiner besten Freunde an: Hunderte von Büchern, vielleicht tausende. Hinter den großen Fenstern lang ein gepflegter Garten. Die Nachbarn waren so weit entfernt, dass er sie ignorieren konnte. Viele waren es nicht in diesem kleinen Villenviertel.

Er hatte nicht immer so luxuriös gelebt. Sein Vater war Holzfäller gewesen. Der Alte war lange tot, die schwere Waldarbeit hatte ihn früh gezeichnet und seine Gesundheit zerrüttet. Als er einen Sohn bekommen hatte, schwor er sich, der sollte besser leben als er. Und er meinte, der Weg zu einem besseren Leben führte über Bildung.

Armer, naiver alter Vater! Bis zu seinem Tod hat er an diese Idee geglaubt.

Der Vater schund sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend, um dem Sohn die hohe Schule bezahlen zu können, auf die er ihn schickte. Der Junge lernte gerne und gut, aber als der Alte trotz seiner Plackerei das Schulgeld nicht mehr aufbringen konnte, nahm der Sohn die Sache leicht. Er begleitete den Vater heiter in den Wald zur Arbeit, brachte aber wenig zuwege: Er hatte Muskeln im Gehirn ausgebildet, aber nicht in den Armen.

Nein, mit dem Holzfällen und ihm klappte es nicht. Natürlich wollte er das dem Vater gegenüber nicht zugeben; welcher Halbstarke gesteht schon seinem Vater, dass er für etwas zu schwach ist? Lieber ging er pfeifend in den Wald und gab vor, Vogelnester suchen zu wollen. Allerdings stand ihm eher der Sinn danach, in blinder Wut Disteln zu köpfen.

Sein Blick fiel auf eine kleine Glasflasche auf dem Tischchen, das er als Hausbar nutzte. Das Fläschchen war unscheinbar, versteckt zwischen Whisky, Wodka und Brandy, es war nie einem einer Gäste aufgefallen. Für ihn war es sein wertvollstes Gut, der Schlüssel zum guten Leben.

Damals, an dem einen Tag im Wald mit seinem Vater, hatte er diese Flasche gefunden. Sie lag zwischen den Wurzeln einer riesigen alten Eiche, und aus ihr drang ein Stimmchen: ‚Lass mich raus, lass mich raus!‘ So dringlich war das Flehen, dass das Fläschchen im Rhythmus der Stimme zu hüpfen schien. 

Vielleicht hätte ich den Kerl da drin lassen sollen, dachte er manchmal. Ja, natürlich wäre ich dann weder angesehen noch reich. Aber die Demütigung wäre mir erspart geblieben. Das Wissen, dass ich ohne ihn nichts bin.

Er hatte ‚den Kerl‘ nicht drin gelassen, sondern arglos den Korken aus dem Flaschenhals gezogen. Hatte beobachtet, wie dünner Rauch aus dem Flakon quoll, der sich rasch zu einem riesigen Wesen zusammensammelte, das ihm drohte, ihm den Hals zu brechen.

Es war eigentlich eine absurde Situation: Der Geist, oder was immer die Gestalt aus Rauch sein mochte, behauptete, der großmächtige Merkurius zu sein. Merkur! Hermes! Ein Sohn des Zeus! Der Gott des Handels und der Kaufleute, aber auch der Diebe und des Gewinns. Wofür hielt ihn diese Dunstwolke? Er war auf eine hohe Schule gegangen, er kannte sich aus in der Welt der griechischen Götter, er hätte Merkur sofort anhand seiner Attribute erkannt, am Hermesstab, am geflügelten Helm und den Flügelschuhen und auch am Geldbeutel, den er oft in der rechten Hand hielt. 

Nichts dergleichen konnte er an dem Qualmwesen ausmachen. Und noch etwas passte nicht zu einem olympischen Gott: Dass er zur Strafe in einem Fläschchen eingeschlossen gewesen sein sollte und dass er demjenigen, der ihm die Freiheit gab, den Hals brechen musste. Musste! Wer, wenn nicht Zeus persönlich, hätte mit ihm auf diese Weise umspringen können? Und wenn der Göttervater das getan hätte: Hätte er nicht eine entsprechende Göttersage auf seiner Schule gelernt?

Der Kerl hielt ihn offenbar für dumm und log das Blaue vom Himmel herunter. Wer so dreist war, war vermutlich selber dumm – oder äußerst ausgekocht, aber das hier er für wenig wahrscheinlich. Er ging das Risiko ein, stellte sich misstrauisch und appellierte zugleich an die Eitelkeit seiner neuen Bekanntschaft. ‚Wenn Du dieser große Geist bist, dann kannst Du sicher auch wieder in Deine Flasche zurückschlüpfen.‘

Er hatte richtig kalkuliert. Schwuppdiwupp war der Kerl wieder durchsichtiger Rauch im Fläschchen.

Schluss mit den Erinnerungen! befahl er sich nach einem Blick auf seine Smartwatch. Zeit für die Sprechstunde!

Empfang, Warte- und Sprechzimmer hatte er im vorderen Teil seines Hauses eingerichtet. Seine Praxishelferin war perfekt darin, die Patienten um ihre Krankenversicherungskarte zu bitten, die sie in den Computer einlas. Mehr als Gesundheitskartendaten enthielt der Rechner nicht. Es gab keine Patientenakten oder Abrechnungen. Wozu auch? Er brauchte sich nichts zu merken, und er brauchte kein Geld. Er wahrte nur den Schein.

Zum Schein gehörte auch, dass seine hübsche Helferin nicht nur bis drei zählen konnte. Er hatte ihr beigebracht, bis hundert zu kommen. So viele Kranke suchten bisweilen an einem Tag seine Hilfe, aber dennoch brauchte niemand sehr lange zu warten. Er erledigte seine Arbeit zügig.

Dabei vermied er den Eindruck, ein Wunderheiler zu sein. Stethoskop und Blutdruckmessgerät waren stets zur Hand, auch ließ er seine Besucher erzählen, was sie plagte, ohne sie zu unterbrechen. Er machte währenddessen eine interessierte Miene, ohne allerdings zuzuhören. Zu gegebener Zeit bemerkte er: ‚Da kann ich wohl helfen‘. Wenn er diesen Satz sagte, berührte er den Kranken mit dem Ballen seiner rechten Hand. Anschließend unternahm er gar nichts oder verordnete ein belangloses Medikament oder eine unwirksame Therapie.

Manchen seiner Patienten entging nicht, dass er an der rechten Hand ein Pflaster trug. Es reichte vom Handballen über die Daumenwurzel bis zum Handrücken. Die Mutigeren, die es wagten, einen Arzt nach seinem persönlichen Befinden zu fragen, erkundigte sich nach der Art seiner Wunde. Er antwortete, es handele sich um ein Ekzem. Da anscheinend niemand mit dieser Auskunft etwas anfangen konnte, benutzte er sie dauernd.

Er sonnte sich in der Dankbarkeit all derer, die er heilen konnte, und wütete insgeheim darüber, dass die medizinische Kunst, die er anwendete, nicht aus seinen Kenntnissen erwuchs, sondern aus der Kraft, die einem schäbigen Lappen innewohnte. Dem Lappen, den er, getarnt als Pflaster, auf seiner Hand befestigt hatte. Dem Lappen, den der Geist aus der Flasche ihm als Belohnung gegeben hatte, dafür, dass er ihn zum zweiten Mal aus seinem Gefängnis befreit hatte.

Er hütete sich, einem Kranken mit dem Pflaster auf dem Handrücken nahe zu kommen. Wem oder was er mit diesem Ende des Lappens nahe kam, der oder das wurde zu Silber.

Seit dem Tag im Wald hatte er keine finanziellen Sorgen mehr: Seine Axt, die er sowieso nicht ordentlich schwingen konnte, machte er sogleich zu Silber. Als wissbegieriger Mensch setzte er später seine Studien fort. Aber trotz aller Bemühungen um Wissen blieb es dabei: Kranke heilen konnte er nicht mit seinen medizinischen Kenntnissen, sondern mit einem magischen Lappen.

Es gab nur wenige Menschen aus seiner Heimat, die so gebildet waren wie er. Wenn man es genau nahm, gab es nicht einmal einen fähigen Mediziner. Unter den sehr wenigen, die als Ärzte galten, hatte er seine nähere Gesellschaft gewählt.

Zuerst waren es sechs Gäste, die er an die Tafel in seiner Villa bat. Die drei Chirurgen waren unterhaltsame Zeitgenossen und wussten viel aus ihrem bewegten Leben zu erzählen, aber es stellte sich rasch heraus, dass ihr Leben für seinen Geschmack zu bewegt gewesen war. Sie waren aufgrund unglücklicher Umstände, bei denen natürlich die verliebte Selbstvergessenheit eines dummen jungen Weibes die zentrale Rolle spielte, Opfer von Organtransplantationen geworden, die sie allerdings selbst initiiert hatten. Sie hatten beabsichtigt, sich selbst eigene Organe zu entnehmen und nach einer gewissen Zeit wieder zu implantieren, um ihre Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen. Wegen der Verliebtheit der jungen Frau, die nicht auf ihre gefräßige Katze aufgepasst hatte, mussten sie jedoch mit Ersatzteilen vorlieb nehmen, die nicht ihre eigenen waren.

Daran, dass einer der drei ein Auge hatte, mit dem er in der Nacht besser sah als am Tag, weil es von einer Katze stammte, konnte er sich gewöhnen. Auch daran, dass er beständig von Mäusen redete.

Schon schwerer fiel es ihm, das ungebührliche Benehmen des zweiten zu tolerieren, der auf allen vieren unter dem Tisch und in allen Ecken herumschnüffelte, was ihm sein Schweineherz zu befehlen schien.

Beim dritten allerdings hatte seine Toleranz ein Ende: Nach seinem Besuch waren seine wertvollen Uhren verschwunden. Der Arme hatte sich statt seiner eigenen die Hand eines Diebes annähen müssen, der am Galgen geendet hatte.

Da die drei Chirurgen unzertrennliche Freunde waren, strich er sie von seiner Gästeliste.

Die ersten beiden seiner Gäste heute waren pünktlich. Dqs war keine Überraschung, denn sie waren immer auf die Minute pünktlich, während der dritte zuverlässig eine Viertelstunde zu spät kam. Dessen erste Frage war dann stets: „Sind hier alle gesund, oder ist ein Kranker unter Euch?“ Er trat erst dann, sichtlich erleichtert, ins Haus, wenn ihm versichert wurde, alle seien gesund und munter.

Zuerst kamen also Krebs und seine Frau. Beide waren gemütlich, dick und rotgesichtig.

Krebs trat ein, sah sich um und bemerkte zutreffend: „Ich bin der erste.“

Seine Frau nickte und bestätigte ihn: „Du bist der erste.“

„Dann bist Du die zweite!“ folgerte Krebs.

„Ich bin also die zweite!“ echote seine Frau.

„Es fehlt noch der dritte, denke ich.“

„Ja, es fehlt sicher noch der dritte.“

„Bin ich nicht ein kluger Krebs?“ Er schaute seine Frau an und wünschte sich Lob von ihr.

„Oh ja, Du bist ein sehr kluger Krebs!“

Heilige Einfalt! Nein, in Zukunft würde er sich diesen Schwachsinn sicher nicht mehr anhören wollen. Aber da die beiden Einfaltspinsel nun einmal da waren, konnte er sich auch einen Spaß mit ihnen machen.

Er bot ihnen Wein an, sagte, man werde in ein paar Minuten leckere Hühnchen zu essen bekommen, und fragte dann: „Nun, Doktor Allwissend, was machen die Studien?“

„Ach, Herr Kollege, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Ich plage mich mit meinem ABC-Buch nach Kräften, aber noch ist es mir nicht gelungen, das gesamte Alphabet zu durchdringen. Es ist ja auch so anspruchsvoll! Momentan stecke ich beim Buchstaben ‚K‘ fest. Aber das macht ja nichts – ich habe nun mal meine Reputation. Dass ich die Diebe in einem sensationellen Fall enttarnt habe, das kann mir niemand nehmen!“

„Der Buchstabe ‚K‘,“ sagte er mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Ein interessanter Buchstabe! Welche Erkenntnisse haben Sie aus dem Studium dieses Buchstabens gewonnen?“

Krebs beugte sich vor und flüsterte konspirativ: „Es gibt einen neuen Drachen!“

„Aber ‚Drache‘ fängt doch mit ‚D‘ an!“

„Natürlich fängt ‚Drache‘ mit ‚D‘ an. Ich spreche nicht von der Art, ich spreche von seinem Namen.“

„Ah, er hat einen Namen. Wie heißt er denn?“

„Kemtrell.“

„Kemtrell? Diesen Namen habe ich noch nie gehört.“

„Wie gut, dass Sie mich kennen. Ich kann Sie also vor ihm warnen. Aber gesehen haben Sie seine Spuren am Himmel bestimmt schon.“

„Spuren am Himmel?“

„Wenn der Himmel bedeckt ist, versteckt er sich hinter den Wolken. Aber bei blauem Himmel kann er sich nicht tarnen. Er stößt weißen Rauch aus, der lange sichtbar bleibt.“

„Was hat er vor, der Drache Kemtrell?“

„Er steht im Dienst des mächtigen Königs Monsanto von Bayer. Er besprüht mit seinem Gift alle Ackerböden der Welt, um Saatgut unbrauchbar zu machen. Das Saatgut des Königs Monsanto dagegen ist gegen das Drachengift immun. Er will noch reicher werden, als er schon ist, und den Bauern sein Saatgut verkaufen.“

„Das wissen Sie alles aus Ihrem ABC-Buch?“

„Aber nein. Das weiß ich alles von meiner Frau.“

„Das weiß er alles von mir,“ bestätigte die Frau.

„Und woher weiß die Frau das?“ wollte er wissen, ohne sich direkt an den Mann oder die Frau zu wenden.

Die Frau wurde rot und zog einen kleinen viereckigen flachen Gegenstand aus der Rocktasche. Sie hielt ihn hoch. „Daher!“ sagte sie.

„Was ist das denn?“ fragte ihr Mann. „Das kenne ich ja gar nicht.“

„Kein Wunder, dass Du das nicht kannst. Du steckst ja den ganzen Tag mit deiner Nase in Deinem dummen Buch, in dem Du nicht weiter kommst. Dein vieles Geld gibst Du vor lauter Studieren nicht aus, also tue ich das. Ich habe mir ein Smartphone gekauft und lasse mich von ihm unterhalten. Lesen oder gar schreiben muss man dabei nicht können, nur wischen. Und schon bekommt man von überall her interessante Neuigkeiten, von WhatsApp, Facetime, Instagram, TikTok und noch viel mehr.“

„Das klingt wunderbar!“ Krebs, der sich Doktor Allwissend nannte, war beeindruckt. „So einen Apparat will ich auch haben. Dann bin ich über die Welt informiert und muss mich nicht mehr mit dem ABC-Buch herumquälen. Frau, ich bin beeindruckt!“

In diesem Moment erschien Gretel, um anzukündigen, dass sie jetzt das Essen servieren werde, es sei denn, die Herrschaften hätte Appetit auf verkohlten Gockel, aber sie könne alle Hühner auch selber essen. Gleichzeitig war die Türklingel zu hören.

„Gretel, öffne die Tür für meinen dritten Gast, und dann kannst Du auftragen“, wurde sie angewiesen.

„Sind hier alle gesund, oder ist ein Kranker unter Euch?“ Ein dünner Mann trat ein, die gewohnte Frage auf den Lippen. Alle versicherten, gesund zu sein.

„Guten Abend, Kollege!“ dröhnte Krebs dann. „Haben Sie in der letzten Zeit viele Kranke geheilt?“

Er meinte die Bemerkung nicht böse, aber er erregte den Zorn des übel gelaunten Neuankömmlings. 

„Wie Sie wissen sollten, praktiziere ich nicht mehr. Und Sie, Krebs, haben noch nie praktiziert. Sie sind nichts anderes als ein Hochstapler, der eine Kinderfibel unter dem Arm trägt und reich ist, weil er mit mehr Glück als Verstand einmal eine Diebesbande enttarnt hat.“

Er ließ sich auf einen Stuhl am Tisch fallen und wandte sich an den Gastgeber. „Ich bitte um Verzeihung, aber ich glaube, ich bin ihm gerade wieder begegnet. Haben Sie vielleicht ein Glas Wein für mich?“

Gretel ließ sich nicht lange bitten. Der Mann kippte den Wein in einem Zug hinunter. Danach wollte die Köchin das Essen servieren, aber der Hausherr bedeutete ihr, noch zu warten.

„Wem sind Sie wieder begegnet?“

„Dem Gevatter.“

„Einem Paten Ihres Kindes?“

„Dem Paten meines Jüngsten. Niemand wollte Gevatter stehen, ich hatte zu viele Kinder und war arm. Da habe ich geträumt, wen ich fragen sollte: Den ersten, den ich am nächsten Morgen treffen würde.“

„Und?“

„Er war bereit, und er machte mich zu einem Heiler. Nicht zu einem Arzt, denn ich verstehe nichts von der medizinischen Kunst. Er gab mir ein Heilwasser, das alles vermochte. Fast alles.“

„Fast alles?“

„Die Entscheidung, wer mit dem Wasser geheilt werden konnte und wer nicht, lag nicht bei mir. Jedesmal war der Tod mit dabei. Ich hab mich stets an seine Anweisungen gehalten. Einmal wollte ich dem Paten erzählen, wie es mir bisher ergangen ist, und habe ihn in seinem Haus besucht. Dort war es unheimlich, es war ein schauriges Spukhaus, und er selbst hatte lange Hörner auf dem Kopf. Er hat das aber geleugnet und gesagt: ‚Ei, das ist nicht wahr!‘ Und eben gerade steht er hier vor Ihrer Tür…“

„Der Teufel?“

„Der Teufel?“

„Der Teufel?“

„Der Teufel?“ Fragte alle vier wie aus einem Munde.

Gretel erholte sich als erste.

„Die Hühnchen!“ mahnte sie. „Es ist Zeit zum Essen!“

„Du hast recht. Trag auf. Und iss mit uns – allein in der Küche schmeckt es Dir bestimmt nicht so gut wie in Gesellschaft.“

Man schmauste. Die Köchin war gierig. Sie verschluckte sich an einem Knöchelchen und rang nach Luft. Röchelte. Griff sich an den Hals. Lief rot an. Wurde aschfahl im Gesicht. Ruderte mit den Armen in der Luft herum.

„So tut doch was!“ schrie die Frau Krebs.

Der Doktor Allwissend steckte die Nase in sein ABC-Buch und tat, als gäbe es ihn nicht.

Der Hausherr tastete mit der linken Hand nach seiner rechten, aber der dritte Gast warnte ihn: „Halt!“

„Wieso? Dieser Lappen an meiner Hand…“

„…verrichtet nichts gegen den Willen des Teufels. Tod und Teufel stehen zu Füßen der Köchin. Das heißt, dass sie sterben muss. Wir müssen den höheren Mächten gehorchen.“

„Aber warum gerade Gretel? Warum keiner von uns? Wir sind alle drei Hochstapler, und die Krebsin ist dumm wie Bohnenstroh, was eine Beleidigung für Bohnenstroh ist.“

Gretel tat ihren letzten röchelnden Atemzug.

„Haben Sie wirklich keine Ahnung? Tod und Teufel, die Herren dieser Welt, können unsereinen gut vertragen: Betrüger und Hochstapler. Dumme und Leichtgläubige. Aber Menschen wie Gretel, die den Zusammenhang von Ursache und Wirkung kennen und sich selbst genug sind? Die brauchen sie nicht.“

Er sprach nie wieder eine Einladung aus. Er hatte nämlich keine Köchin mehr.

November 23