Endzeit-Faschismus

Bei ihrem Morgenspaziergang überlegten Bärdel und Kulle häufig, welche Themen sie der abendlichen Dorfversammlung in der Höhle vorschlagen sollten. 

„Was meinst Du: Ist es nicht höchste Zeit, dass wir die neuen politischen Verhältnisse in den USA diskutieren?“ schlug Bärdel vor.

„Höchste Zeit ist es in der Tat, da gebe ich Dir recht. Aber im Moment ist das Abendtreffen der falsche Ort.“

„Warum?“

Na, hast Du etwa nicht genug Fantasie, um Dir vorzustellen, wie das ablaufen dürfte? Ich höre schon die unsinnigen Vorschläge:

  • Hegseth wird als Kreuzritter nach Jerusalem geschickt
  • Trump besteigt eine von Musks Starship-Raketen und stürzt damit ab, oder das Ding landet tatsächlich auf dem Mars
  • Kennedy wird von Aktivisten mit Masern infiziert … und immer so weiter.

Was wir brauchen, ist kein Kreisen um Personen, sondern eine Auseinandersetzung mit Strukturen.“

„Aha!“ sagte Bärdel ratlos. „Und wie stellst du Dir das vor?“

„Es gilt zu untersuchen, wer aus welchen Gründen die disruptiven Maßnahmen initiiert und durchführen lässt, die für so viel Aufregung sorgen. Mit anderen Worten: Mit wessen Agenda haben wir es zu tun?“

„Mit der Agenda von Superreichen, die gar nicht so viel Geld ausgeben können, wie sie haben, aber trotzdem immer noch mehr davon haben wollen“, schlug Bärdel vor.

„Das ist richtig, aber nicht zentral. Und auch nicht neu. Neu ist: Staatliche Regulierungsmöglichkeiten sollen verschwinden, Bildung und Wissenschaft  werden marginalisiert, medizinische Erkenntnisse werden ignoriert, internationale Hilfe wird  auf Null reduziert, Lügen ersetzen Fakten. Warum das alles?“

„Das alles kann nur ein Mensch wollen, dem andere Menschen völlig egal sind.“

„Wir kommen der Sache näher. Altruismus ist erkennbar nicht die Triebfeder. Profitgier allein sicher auch nicht. Was also dann?“

Bärdel war hilflos. „Ich weiß nicht“, murmelte er. „So niederträchtig kann ich nicht denken.“

„Glückwunsch!“ kommentierte Kulle. „Ich eigentlich auch nicht. Aber ich habe mich genug mit Menschen beschäftigt, um ihre Gedanken und Motive nachvollziehen zu können.

Komm, setzen wir uns. Was ich Dir jetzt zu sagen habe, solltest Du besser in stabilem Gleichgewicht erfahren.“

„Ist es so schlimm?“

„Schlimmer.“ Kulle holte tief Luft. „Hinter dem ganzen Schlamassel steht die Erkenntnis einiger Wissender, dass Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen bald nicht mehr gebraucht werden. Überflüssig sind. Lästig sind. Sogar schädlich sind.“

„Wieso?“

„Selbstlernende Maschinen, die sogenannte KI, werden in den nächsten Jahren große Teile der jetzt noch von Menschen ausgeübten Erwerbstätigkeiten übernehmen. Niemand weiß heute, wie viel das sein wird. 70 Prozent? 80? 90? Oder noch mehr? Menschen werden arbeitslos sein. Man kann Arbeitslose natürlich durchfüttern: Stichwort ‚bedingungsloses Grundeinkommen‘. Man kann aber auch darauf setzen, ihre Lebensgrundlage zu verschlechtern. Dann erledigt sich das Problem biologisch.“

„Kulle, Du bist zynisch!“

„Ich nicht. Aber manche Menschen.“

Bärdel rutschte auf seinem dicken Hintern hin und her, während er nachdachte. Nach einer Weile sagte er: „Natürlich weiß ich auch Bescheid über das Böse im Menschen. Aber Deine Annahme enthält einen Denkfehler. Die Menschen, die arbeitslos werden sollen, sind Wähler. Sie werden sich wehren.“

„Ich wünschte, Du hättest recht. Leider spricht etliches dagegen. Laut glaubwürdigen Rankings sind nur noch gut 30 Länder sogenannte funktionierende Demokratien, also Länder mit einer politischen Realität, die freie Wahlen, Gewaltenteilung und so weiter ermöglicht. Anders formuliert: In den anderen 170 Staaten gibt es defizitäre Demokratien oder Autokratien, dazwischen natürlich Mischformen. Den meisten Menschen ist es also verwehrt, ein wirklicher Wähler zu sein.

Hinzu kommt, dass das Zauberwort ‚Demokratie‘ schon lange seine Aura verloren hat. Dem in Wahlkampfzeiten hofierten ‚Souverän‘ fällt sehr wohl auf, dass er während der Legislatur oft behandelt wird wie der letzte Dreck – als Niedriglöhner oder Empfänger von sozialen Almosen. Oder schlimmer, wenn er auf sich selbst zurückgeworfen ist.

Also: Sowohl die politische Klasse als auch die Bevölkerung hat das Interesse an der Demokratie verloren.“

„Schade.“ Bärdel dachte nach. „Und wer steckt Deiner Meinung nach hinter dem Ganzen?“

„Menschen mit Visionen.“

„Visionen können von sehr unterschiedlicher Qualität sein.“

„Richtig. Meine rote Fahne von früher zum Beispiel…“

„Warum hast Du die eigentlich eingemottet?“

Kulle biss sich auf die Zunge. Warum hatte er ausgerechnet jetzt von seinen früheren Idealen sprechen müssen?

„Das erzähle ich Dir ein andermal. Wir wollen jetzt nicht vom Thema abweichen. Die Visionäre in den USA träumen von sehr unterschiedlichen Dingen: von der Besiedelung des Mars zum Beispiel wie Elon Musk oder vom ewigen irdischen Leben wie Peter Thiel. Alle sind sich aber in einer Beziehung einig: Niemand soll ihnen irgendwelche Vorschriften machen dürfen. Die meisten lehnen den Staat ab. Aktiengesellschaften, in denen sie die Regeln bestimmen, sind ihnen lieber. Deshalb sind sie auch alle besessen von Kryptowährungen, die unterliegen keiner Kontrolle von Notenbanken oder Staaten.“

„Und in ihren famosen Aktiengesellschaften können sie natürlich nur die Menschen gebrauchen, die ihnen Nutzen bringen. Ich erinnere mich: Früher galt ‚Humankapital‘ mal als Unwort. Heute schmückt man sich vermutlich damit, über das beste Menschenmaterial zu verfügen.“ Bärdel nickte. „Ich glaube, ich hab’s begriffen. Fast jedenfalls.“

Er stand auf und klopfte Kulle gönnerhaft auf die Schulter. „Wenn ich Dir glauben soll, dann haben diese Visionäre, wie Du sie nennst, einen Plan. Nun haben sie aber mit ihren Millionen und ihrem sonstigen Einfluss ausgerechnet einen Mann ins Präsidentenamt gehievt, der die personifizierte Planlosigkeit ist. Das passt doch nicht zusammen!“

„Du brauchst gar nicht so ein Siegergesicht zu machen“, brummte Kulle. „Auf den ersten Blick hast Du recht: Das ist ein Widerspruch. Donald Trump war auch nicht der Wunschkandidat der Strippenzieher. Deren Problem war, dass sie auf die Schnelle keinen anderen gefunden haben, der die Chance hatte zu gewinnen. Er hat einen hohen Bekanntheitsgrad aufgrund seiner Fernsehauftritte, er kann Massen begeistern. Und vergiss eins nicht: Noch sind die USA eine Demokratie, noch bestimmen die Wähler letztlich, wer ins Weiße Haus einzieht.“

„Und was meinst Du allwissender Bär: Wie geht es weiter?“

„Peter Thiel, das ist der mit dem ewigen Leben, wie Du Dich erinnern wirst, baut seinen Lieblingskandidaten der Zukunft sorgfältig auf. Der nächste POTUS soll J. D. Vance heißen: katholisch, Vorzeige-Familienvater, skrupellos, leicht formbar. Wart’s nur ab!“

„Hm. Und was machen wir heute Abend in der Dorfversammlung?“

„Wir sollten uns allmählich an das Gesamtthema ranschleichen. Was hältst Du von einem Vortrag von Manfred zur Einführung: ‚Was ist künstliche Intelligenz, und was haben wir von ihr zu erwarten?‘ Das macht ihm bestimmt Spaß, und wir bekommen auf diese Weise Informationen zu einem Aspekt des Themas.“

„Gute Idee. Ich rede mit meinem Sohn.“

Bärdel und Kulle waren am Ende ihrer Morgenrunde und fast schon wieder im Dorf angekommen.

„Sag mal“, erinnerte sich Bärdel, „Du wolltest mir doch noch was anderes erzählen. Ich weiß aber nicht mehr, was…“

„Ich auch nicht. Komm, wir frühstücken erst mal.“

Kulle hatte wirklich viel von den Menschen gelernt. Er konnte schon fast genau so gut lügen wie sie.

Juni 2025