Ein König hatte eine Tochter, die war über alle Maßen schön, aber dabei so stolz besonders aber machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz oben stand und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. „Ei,“ rief sie und lachte, „der hat ein Kinn, wie die Drossel einen Schnabel,“ und seit der Zeit bekam er den Namen „Drosselbart“. Der alte König aber, als er sah, dass seine Tochter nichts tat als über die Leute spotten, und alle Freier, die da versammelt waren, verschmähte, ward er zornig und schwur, sie sollte den ersten besten Bettler zum Manne nehmen, der vor seine Türe käme. (Märchen der Gebrüder Grimm)
Prinzessin I
„Wie geht es meiner Frau?“
„Es gehr ihr recht gut. Sie leidet unter dem postpartalen Stimmungstief, sie hat den Babyblues. Das kennen wir ja schon, sie hatte diese Verstimmungen auch nach den ersten beiden Geburten.“
„Ich kann mich aber nicht erinnern, dass es bei unseren älteren Kindern so schlimm war. Man kann gar nicht mehr mit ihr reden, sie weint immer und hört mir nicht zu.“
„Das wird schon wieder. Ich habe ihr ein leichtes Schlafmittel verordnet, weil sie schlecht Ruhe findet. Das wird ihr helfen, sich besser zu konzentrieren, wenn sie wach ist. Bis zum offiziellen Fototermin in vier Wochen ist sie wieder auf der Höhe, das kann ich versprechen.“
„Fragt sie nach mir?“
„Nein.“
„Fragt sie nach dem Jungen?“
„Bisher nicht – nein.“
„Und wie reagiert sie, wenn man ihn ihr bringt?“
„Um ehrlich zu sein: Sie reagiert gar nicht. Sie starrt unverändert irgendwohin. Sie sieht noch nicht einmal weg.“
„Spricht sie überhaupt?“
„Sie murmelt vor sich hin. Aber sie ist nicht ansprechbar.“
„Sollte man vielleicht einen Psychiater hinzuziehen?“
„Ich bitte um Verzeihung, Königliche Hoheit – ich bin der Psychiater. Um genau zu sein, die Psychiaterin.“
„Sag mal, Du wirst hier ja besser bewacht als die Kronjuwelen! Diese Krankenhausdomestiken wollten sich doch tatsächlich weigern, mich zu Dir zu lassen! Ich musste ordentlich Krach schlagen und mit dem König drohen, um sie einzuschüchtern.
Gibt es hier keinen Stuhl? Ach was, ich setze mich einfach auf dein Bett. So!
Ganz nett hast Du es hier. Zu viele Blumen – gut, dass ich nicht auch noch welche mitgebracht habe. Werden die wenigstens am Abend ausgeräumt? Der Duft ist ziemlich schwer, finde ich.
So, und jetzt gib mir Deine Hand. Die ist ja ganz kalt – frierst Du? Nein? Gut.
Dann erzähl mal.
Kannst Du vielleicht ein bisschen lauter sprechen? Nein, ich glaube nicht, dass Du hier abgehört wirst. Wovor hast Du Angst?“
…
„Wovor ich Angst habe? … Vor allem. … Vor dem Leben. … Vor ihm. … Vor mir.“
Sie hat mich nun mal geheiratet. Sie wusste, worauf sie sich einlässt. Vielleicht war die Einwilligung nicht ganz freiwillig, es gibt dynastische Verpflichtungen, auch im 21. Jahrhundert, aber im 21. Jahrhundert kann eine junge Frau aus dem Hochadel immerhin ‚Nein‘ sagen, theoretisch wenigstens.
Eine Monarchie braucht Thronfolger. Die Funktion der Ehefrau eines Königs ist in erster Linie die Produktion von Nachwuchs, von gesundem Nachwuchs. Söhne sind eher erwünscht als Töchter. Das alles hat sie gewusst, verdammt noch mal!
Ich hab sie wirklich gemocht. Sie hat bei allen offiziellen Auftritten bella figura gemacht, wie die Italiener sagen, und im Bett – na ja, im Bett war sie passabel. Wir wussten beide, dass wir einen Pflichtakt vollzogen, dass wir Kinder zeugen mussten, dass es nicht um Spaß ging. Aber wir haben so getan, als ob.
Der Bruch kam vor zwei Jahren. Wir hatten das dritte Kind angesetzt. Die Öffentlichkeit wurde erst mal nicht informiert, wie wir das immer tun, bis die pränatalen Untersuchungen grünes Licht signalisierten. Im dritten Monat kam dann die Diagnose: Trisomie. Natürlich war das ein No-Go.
Die Familie hat beschlossen, die Schwangerschaft abzubrechen. Die königliche Familie, nicht sie. Nicht die Mutter.
Seitdem ist auch das kaputt, was noch nicht kaputt war. Ich weiß nicht, ob sie das Kind gewollt hätte. Die ersten beiden Kinder von mir hat sie ja auch nicht gewollt. Aber vielleicht wollte sie dieses Kind, weil ich es nicht wollte, weil es nicht perfekt sein würde, so wie ich alles perfekt haben wollte. Weil es nicht so perfekt sein würde, wie sie es in meinen Augen nicht war.
Sie hat nicht mehr mit mir geredet. Sie ist mir ausgewichen, wann immer sie konnte.
Wir hatten bis dahin zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Zu wenig, um wirklich sicher zu sein. Wirklich sicher ist man natürlich nie, aber je mehr Kinder, desto besser. Gesunde Kinder natürlich. Aber auch die können einer neuen Seuche wie Corona zum Opfer fallen.
Also mussten wir nochmal ran. Ich hatte keine Lust, und sie natürlich auch nicht. Wir hätten diese modernen Wege gehen können, invitro Fertilisation oder wie man das nennt, aber das war dann doch unter meiner Würde. Ich spritz’ doch nicht in ein Glas ab, damit mein königlicher Samen hinterher … nein,danke!
Es war furchtbar. Sie lag im Bett wie ein Brett, und ich hatte Mühe. Mehr als Mühe. Natürlich konnte ich mir keinen Porno ansehen, um in Fahrt zu kommen, aber es gibt ja immer noch das Kopfkino. Ich habe mir vorgestellt …also das würde jetzt zu weit führen. Jedenfalls wurde sie wieder schwanger, und es gab keine Komplikationen. Bis jetzt.
Wenn sie den Jungen ablehnt, wie es scheint, wird sich das vertuschen lassen. Natürlich säugt sie nicht, das hat sie nie getan, Säugen schadet der Figur, es ruiniert die Brüste. Für die Erziehung gibt es die Gouvernante und in ein paar Jahren das Internat.
Das Problem ist ein anderes. Die Familie möchte sicher gehen und wünscht sich ein viertes Kind von mir. Natürlich mit ihr – mit wem sonst?
Prinzessin II
Liebes Tagebuch!
Ich habe Dich hier im Ort gekauft. Mein Bruder hat mich auf einem Spaziergang begleitet. Allein darf ich nicht mehr aus dem Haus. In einem Schreibwarengeschäft habe ich Dich gefunden und auch einen Stift. Mein Bruder wollte wissen, wozu ich so ein dickes Heft brauche. Um ein Haushaltsbuch zu führen, habe ich behauptet. Damit war er zufrieden. Wahrscheinlich weiß er noch nicht mal, was das ist, ein Haushaltsbuch. Aber mit dem Wort ‚Haushalt‘ war er zufrieden. Das Wort passt zu der Zukunft, die mein Vater für mich geplant hat.
Mein Vater war mein liebster Mensch. Er hat alles für mich getan. Sonntags sind wir im Sommer Eis essen gegangen und im Winter Schlittschuh laufen. Meine Mutter hat geschimpft, weil das immer viel Geld gekostet hat. Aber er hat nur gelacht. „Für meine Prinzession ist nichts zu teuer,“ hat er ihr geantwortet.
Sogar meine Schule durfte ich mir aussuchen. Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium und Abitur machen. Natürlich war meine Mutter auch dagegen. Aber ich war eine gute Schülerin, die Lehrer sagten, ich würde das spielend schaffen. Darauf hat sich mein Vater berufen. „Das Kind soll Spaß haben, solange es geht,“ hat er gemeint.
Ich habe mir nichts bei diesen Worten gedacht. Ich habe geglaubt, es würde immer so gehen.
Nach der Schule wollte ich studieren. Ich wusste noch nicht genau, was. Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Architektur. Irgendwas mit Bauen jedenfalls. Ich würde von zu Hause ausziehen und mit anderen Studis in einer WG leben. Neben dem Studium würde ich jobben. Mit dem Verdienst und mit Bafög würde ich über die Runden kommen, ohne meinen Eltern weiter auf der Tasche zu liegen. Ich habe das genau durchgerechnet.
Mit meinen drei Freundinnen habe ich viel zusammen gemacht. Für die Schule gelernt natürlich, aber wir sind auch in Konzerte gegangen, Konzerte für junge Leute, meine ich, und auf Parties. Auf so etwas haben meine Eltern genau aufgepasst, nicht nur meine Mutter, mein Vater eigentlich noch mehr. Ich musste ihnen versprechen, immer mit meinen Freundinnen zusammen zu bleiben. Mich nicht mit Jungen einzulassen. Und immer vor Mitternacht zu Hause sein.
Das mit den Jungen war kein Problem, ich kann an Männern nichts finden. Überhaupt ist Sex nicht mein Ding. Neugierig bin ich schon, na klar, wer ist das nicht. Aber dass mein Körper auf einen Mann reagiert? Fehlanzeige. Eher wohl schon auf eine Frau, aber das könnte ich meinen Eltern nie sagen.
Am Tag nach den mündlichen Abiprüfungen sind wir vier zum Feiern losgezogen. Ich war ausgelassen und total losgelöst, habe abgetanzt, bis ich fast umgefallen bin, und habe die Zeit völlig vergessen. Als ich nach Stunden zum ersten Mal auf die Uhr gesehen habe, war es halb drei.
Natürlich fuhr keine Straßenbahn mehr und auch kein Bus, ich musste nach Hause laufen. Als ich eine Stunde später vor unserem Haus ankam, sah ich die Katastrophe: Unsere Wohnung war hell erleuchtet.
Alle drei saßen in der Küche am Tisch, voll angezogen: Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder. Mein Vater stand auf, kam auf mich zu, ohne ein Wort zu sagen, und gab mir eine solche Ohrfeige, dass ich gegen die Wand flog. Dann setzte er sich wieder und wartete, dass ich mich aufrappelte. Als ich hochkam, taumelig und benommen, wollte ich mich auch an den Tisch auf meinen Stuhl setzten, aber er schrie mich an: „Du bleibst gefälligst stehen!“ Er hatte mich noch nie geschlagen und auch nicht angeschrien. Ich war völlig durcheinander.
„Hast Du Dich vergessen?“ Das war dann meine Mutter.
„Ich habe die Zeit vergessen, das ist alles. Es tut mir leid!“ Irgend so was habe ich wohl gesagt, ich weiß es nicht mehr genau.
„Jetzt wird sie auch noch frech, die Schlampe!“ Das war der Kommentar meines lieben Bruders.
Sie schickten mich auf mein Zimmer. Schlafen konnte ich natürlich nicht, aber sie auch nicht. Ich hörte sie leise miteinander reden.
Am nächsten Morgen kam meine Mutter, natürlich wie immer ohne anzuklopfen. Sie eröffnete mir, dass ich Hausarrest habe. Genauer: Zimmerarrest. Ich wusste, nicht, ob das legal war. Zwar war ich noch nicht achtzehn, ein paar Wochen fehlten noch bis zum Geburtstag, aber eine angemessene Erziehungsmaßnahme war das bestimmt nicht. Andererseits: was sollte ich machen? Abhauen? Wohin? Also fügte ich mich.
Meine Mutter brachte mir zu essen, ich durfte auch ins Bad. Niemand redete mit mir. Niemand sagte, wie es weitergehen sollte. Ich hatte das Gefühl durchzudrehen.
Nach ein paar Tagen befahl mir meine Mutter, mich anzuziehen. Wir würden ausgehen. Sie sagte nicht wohin.
Ich fand mich in einer Frauenarztpraxis wieder. Sie hatte mich dort zu einer Untersuchung angemeldet, zu einer Routineuntersuchung, sagte die Arzthelferin an der Rezeption. Es werde nicht lange dauern, wir möchten kurz im Wartezimmer Platz nehmen.
Tatsächlich wurde ich bald in ein Besprechungszimmer gebeten. Meine Mutter ging einfach mit. Der Arzt kam herein und grüßte: „Merhaba!“ „Merhaba!“ antwortete ich automatisch, obwohl ich die türkische Sprache fast vergessen habe. Zuhause sprechen wir deutsch, denn mein Vater sagt, nur so können wir uns integrieren.
Nach dem üblichen Vorgeplänkel – warum ich gekommen sei (weiß ich nicht), ob ich Beschwerden hätte (nein) – wurde ich im Untersuchungszimmer auf diesen merkwürdigen Stuhl gesetzt oder besser gelegt, den ich noch nicht kannte. Ich empfand die Situation als äußerst unangenehm. Ein fremder Mann, mochte er Arzt sein oder nicht, hatte mich in eine entwürdigende Lage gebracht und machte sich an meinen Genitalien zu schaffen. Das einzig positive war, dass meine Mutter nicht dabei sein durfte.
Als ich endlich meine Beine wieder zusammenlegen durfte, absteigen konnte und mich angezogen hatte, gab es einen kurzen Abschluss im Besprechungszimmer. Der Arzt sagte zu meiner Mutter, ja, zu meiner Mutter, nicht zu mir: „Alles in Ordnung.“ Und ich sah meine Mutter lächeln. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich meine Mutter überhaupt je habe lächeln sehen.
Das gute Wetter hielt aber nicht an. Zu Hause war alles wie gehabt. Ich saß wieder in meinem Zimmer. Tagelang. Bis mein Vater zu mir kam. Anders als meine Mutter klopfte er vorher an die Tür, er wartete aber nicht, bis ich ‚Herein!‘ rief.
„Du darfst Dich freuen, Prinzessin!“ sagte er. „Wir machen Urlaub. In unserem Land. Die ganze Familie. Nach all der Lernerei hast Du Dir das verdient. Morgen fliegen wir.“
‚In unserem Land‘. Noch nie hatte er die Türkei ‚unser Land‘ genannt. Ich merkte, dass etwas verrutscht war. Aber ich wusste nicht was.
Am nächsten Morgen fuhren wir alle vier in aller Herrgottsfrühe zum Flughafen und bestiegen einen Flieger nach Ankara. Natürlich braucht man für so etwas Ausweise, um so etwas habe ich mich nie gekümmert. Meine Mutter legte bei der Passkontrolle türkische Ausweise vor, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Für mich war das neu: Ich hatte also einen türkischen Pass.
Ankara liegt mitten in der Türkei in Anatolien, aber mein Vater hatte von Urlaub gesprochen. Ich rechnete also damit, dass wir weiterfahren würden, irgendwo ans Meer, aber stattdessen brachte uns mein Vater zum Bahnhof, und wir stiegen in einen Zug in Richtung Kars. Genau wusste ich nicht, wo das war, aber ganz bestimmt ziemlich weit im Osten und ganz bestimmt nicht am Meer. Ich schien die einzige in unserer Familie zu sein, die sich über den Reiseplan wunderte. Alle anderen hielten ihn für vernünftig.
Wir stiegen an einem kleinen Bahnhof aus dem Zug. Das Stationsgebäude sah aus, als wäre es aus dem Film ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ entsprungen. Selbst das Fliegengesumm konnte man hören. Aber niemand brachte uns um. Jedenfalls nicht gleich.
Ein Onkel holte uns ab, ein Bruder meines Vaters, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte. Er hatte einen großen Pickup mit einer Fahrerkabine für vier, so dass wir alle Platz fanden. Unsere Koffer kamen hinten auf die Ladefläche. Der Onkel hatte seinen Bruder umarmt und seine Schwägerin, also meine Mutter, nur angelächelt. Mit meinem Bruder hatte er einen Fistshake gewechselt. Mich hatte er nicht mal angesehen.
Das kam mir schon ziemlich komisch vor.
Der Onkel fuhr uns zu seinem Haus. Es war groß, er hatte Familie, eine Frau, drei Söhne. Die Frau hatte gekocht, es gab zu essen und zu trinken, es schmeckte gut.
Obwohl mir alles fremd war, fühlte ich mich ganz wohl, ich hatte Hunger und Durst gehabt, und jetzt war ich zufrieden. Wir waren früh aufgestanden, ich war müde und wollte schlafen. Niemand hatte etwas dagegen, dass ich ins Bett ging. Ich schlief fast sofort ein.
Die anderen blieben am Tisch sitzen.
„Sie ist also noch Jungfrau, das ist bestätigt?“
„Ja.“
„Kann sie kochen?“
„Na ja. Meine Frau hat ihr das eine oder andere beigebracht.“
„Also nicht. Kann sie unsere Sprache?“
„Als Kind hat sie sie gelernt. Aber in den späteren Jahren…“
„Also nicht. Kann sie nähen? Einen Haushalt führen? Kann sie mit Vieh umgehen?“
„Also wenn Du mich so fragst: Nein.“
„Was soll sie dann hier?“
„Sie soll Deinen ältesten Sohn heiraten.“
„Warum? Er kann hier im Dorf viele Frauen finden, hübsche Frauen, Jungfrauen, die können kochen, nähen, einen Haushalt führen und mit Vieh umgehen. Und türkisch können sie sowieso. Also?“
„Sie wird nicht wollen.“
„Um so schlimmer!“
„Um so schlimmer? Um so besser! Sag, welche Deiner Dorfschönheiten hier würde sich gegen Deinen Sohn wehren? Na?“
„Keine, denke ich doch.“
„Na also. Welcher Mann will seine Herzensdame nicht erobern? Sie muss sich wehren, um wirklich sein zu sein. Und er muss sie unterwerfen, damit sie gefügig ist und weiß, dass sie sein ist. Er muss sie lehren zu tun, was ihm gefällt. Sie muss seine Befehle in seiner Sprache befolgen. Du siehst – meine Tochter ist genau die richtige Frau für deinen Sohn.“
„Na ja…“
„Wir haben ein Brautkleid aus Mannheim mitgebracht. Etwas Schöneres gibt es in der ganzen Türkei nicht. Brautschmuck auch – schweres Gold. Sie wird schön sein. Dein Sohn wird zufrieden sein.“
Natürlich habe ich dieses Gespräch nicht gehört. Ich weiß auch nicht, ob es sich so abgespielt hat. Aber dass ich verkuppelt werden sollte, kriegte ich beizeiten mit.
Ich sollte zum Friseur. Meine Fingernägel wurden manikürt und lackiert. Freundinnen, von denen ich nicht wusste, dass ich sie hatte, kamen zu Besuch, aßen Kuchen, den meine Tante gebacken hatte und den ich nicht mochte, und beglückwünschten mich. Wenn ich fragte: Wozu? kicherten sie und drucksten herum.
Wenn die Mädchen nicht um mich herumwuselten, war mein Bruder immer an meiner Seite, sobald ich das Haus verließ. Das war mir ziemlich egal. Wer mich eigentlich interessierte, war mein Vater. Er sollte mir Rede und Antwort stehen. Aber er ging mir aus dem Weg.
Endlich erwischte ich ihn. Es war ein Nachmittag, er kam zusammen mit seinem Bruder aus der Moschee. Vom Freitagsgebet. In Deutschland hat er am Freitag Nachmittag immer ein Bier getrunken in Vorfreude auf das Wochenende, an dem er mit mir zusammen etwas unternommen hat. Aber das sagte ich ja schon.
„Lütfen, baba…“ Da war es mit meinem Türkisch schon wieder zu Ende. „Kann ich mit Dir sprechen?“
Es wurde kein Gespräch. Es wurde ein Vortrag, bei dem ich nicht zu Wort kam. Sobald ich den Mund aufmachte, drohte er mich zu schlagen.
Er sagte, ich hätte die Familienehre beschmutzt. Beinahe jedenfalls. Aber es sei ja gerade noch mal gut gegangen, wie der Arzt bestätigt habe. Noch einmal werde ich ihn nicht in eine solche Situation bringen. Er sei zu nachsichtig mit mir gewesen. Jetzt werde er durchgreifen. Ich werde heiraten, und zwar meinen Cousin. Hier. In der Moschee. Der Imam sei einverstanden. Wir würden die Hochzeit feiern, wenn auch nur in kleinem Kreis. Höchstens 200 Gäste. Das gehe leider nicht anders. Meine Mutter, mein Bruder und er würden danach nach Deutschland zurückfliegen. Ich würde mit meinem Mann hier leben.
Endlich war er fertig.
Ich hatte nur noch eine kurze Frage: „Und wenn ich nicht will?“
„Der Prophet sagt:’ Eine Jungfrau darf nur verheiratet werden, wenn sie der Heirat zustimmt.’“
„Dann ist ja alles klar. Jungfrau bin ich, und ich werde dieser Heirat nicht zustimmen.“
„Der Prophet sagt auch: ‚Eine Jungfrau gibt dadurch ihr Jawort, daß sie schweigt.‘“
Das war’s also. Ich hatte keine Chance: Keine Papiere, kein Geld, keine Sprachkenntnisse, keine Freunde.
Er hat mich also geheiratet, indem ich geschwiegen habe. Natürlich bin ich jetzt keine Jungfrau mehr. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht hat meine Schwiegermutter das blutbeschmierte Bettlaken triumphierend aus dem Fenster gehängt.
Ich lerne jetzt türkisch. Ich lerne kochen. Ich kann auch schon Ziegen melken und Käse machen. Ich trage einen Türban. Ich widerspreche meinem Mann nicht.
Und ich führe dieses ‚Haushaltsbuch‘. Das hilft mir irgendwie. Ich verstecke es gut. Vielleicht findet es einmal jemand. Irgendwann.
April 2024