Der Mann stank.
Jeder stinkt nach einer Nacht in der Ausnüchterungszelle.
Er wusste das aus leidvoller Erfahrung.
Hemd oder Pullover oder Jacke sind immer voll von Resten von Erbrochenem, die Hose ist nass von Urin. Oder von Kot und Urin. Der Atem ist sauer. Auch der Schweiß ist sauer, bitter, ätzend.
Er wünschte sich weg von hier.
Aber das Wünschen mochte vielleicht früher geholfen haben, in märchenhaften Zeiten.
Jetzt hatte er hier zu sein, ein Verhör durchzuführen. Ein Verhör mit einem Mann, der gestern Abend gewalttätig geworden war, nur schwer zu bändigen von den Kollegen von der Streife. Nicht ansprechbar. Volltrunken. Reif für die geflieste Zelle mit der Hocktoilette und der abwaschbaren Liege auf dem Betonsockel.
Jetzt war der Mann friedlich. Der ihn begleitende Polizist hatte ihn losgelassen. Er blieb in der Tür stehen, wartete ab. Seine Augen waren blutunterlaufen, auf dem rechten verschwollenen blühte ein Veilchen, aber der Blick schien klar. Die Schultern ließ er hängen. So sah keiner aus, der den Sieger geben wollte.
Er versuchte, möglichst viel Abstand von dem Geruch zu gewinnen, und zog sich in die hintere linke Ecke des Vernehmungsraumes zurück. Groß war seine Chance nicht: Der Tisch, an dem der Delinquent Platz zu nehmen hatte, stand in der Mitte des kleinen niedrigen Raumes. Noch nicht einmal ein Fenster gab es, mit dem man sich hätte Frischluft verschaffen können.
„Setzen Sie sich!“ Er zeigte auf den Stuhl, der weiter von ihm entfernt war als der andere. Wenn auch nur minimal.
Der Mann ließ sich fallen. Luft infiltrierte seine Hose und ließ eine neue Gestankswolke frei.
Er zog den zweiten Stuhl so weit wie möglich vom Tisch ab, setzte sich und lehnte sich zurück. Aber einmal musste er sich noch in den Dunstkreis der Hölle begeben und das Handy einschalten, das auf dem Tisch lag, um das Gespräch, das man offiziell nicht Verhör nennen durfte, zu dokumentieren.
„Sie sind doch damit einverstanden, dass ich unsere Unterhaltung aufzeichne, nicht wahr?“
Der Mann nickte resigniert.
„Dann fangen wir mit den Formalitäten an. Sie heißen?“
„Prinz.“
„Vorname?“
„Nur Prinz.“
„Aber…“ Er unterbrach sich selbst. „Na gut. Das können wir später klären. Geburtstag, Geburtsort?“
„Als meine Mutter niederkam. Im Königreich meines Vaters.“
„Keine Kalenderdaten? Keine geographischen Angaben?“
Der Mann war völlig in sich zusammengesunken, er schien im Boden verschwinden zu wollen.
„Ich weiß nicht, wovon Du redest. Kalender? Daten? Geograf? Was ist das alles?“
Der Kerl verstellt sich nicht, beschloss er. Er ist vielleicht auch nicht dumm. Aber er hat von nichts Ahnung. Jedenfalls nicht von dieser Welt. Wahrscheinlich ist er noch nicht mal unhöflich. Kann sein, er kennt nur die Anrede „Du“.
Er beschloss, die Strategie zu wechseln.
„Weißt Du, wie Du hierher gekommen bist?“
„Mit ihm. Oder mit einem anderen, der genauso aussah.“ Er zeigte auf den Wachtmeister, der immer noch im Türrahmen stand. „Er hat mich gezwungen.“
„Warum hat er Dich gezwungen?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe nur meine Ehre verteidigt.“
Wir kommen der Sache näher, dachte er. Ein Ehrenhandel. Eigentlich typisch für Orientalen. Muslime. Aber so sah der gar nicht aus. Helle Haare, kein dunkler Teint. Immerhin – er schien bereit zu reden. Das sollte man belohnen.
„Möchtest Du einen Kaffee?“
„Nein, danke. Vor CAFFEE wurde schon gewarnt, als die Grimms uns gesammelt haben. Aber wenn Dir ein Brunnen zur Verfügung steht, würde ich gern Wasser trinken.“
Die Sache mit dem Kaffee und den Grimms und dem Sammeln verstand er gar nicht. Aber der Bitte um Wasser kam er selbstverständlich nach. Er ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und füllte einen Plastikbecher.
„Bitte,“ sagte er.
„Danke,“ sagte der Mann und sah den Becher an. Er fragte : „Wie kommt der Brunnen in die Wand?“
„Wasserleitung, Kanalisation. Das ist hier so. Technik. Kein Wunder. Trink erst mal.“
Der Mann trank den Becher leer und rülpste. „Das ist ein guter Brunnen mit gutem Wasser,“ lobte er.
„Danke. Du kannst gern mehr haben,“ sagte er und fragte dann: „Du hast Deine Ehre verteidigt. Kannst Du mir das erklären?“
„Die Ehre meiner Frau.“
„Was ist mit der Ehre Deiner Frau?“
„Meine Frau ist das ehrenhafteste Wesen, das je auf der Erde gelebt hat. Als ich sie gefunden habe, war sie wunderschön, unbescholten und dem Tode nah. Sie war dem Tod schon vorher nur zwei Mal um Haaresbreite entgangen.“
„Jemand wollte sie töten? Wer wollte sie umbringen?“
„Ihre Stiefmutter.“
„Warum wollte sie das tun?“
„Aus Eitelkeit.“
„Eitelkeit?“
„Ja. Sie fand sich sehr schön. Sie war auch sehr schön. Sie konnte es nur nicht ertragen, dass jemand schöner war als sie.“
Es lag nahe, fand er, die Schwiegermutterspur weiter zu verfolgen, aber ein Impuls verleitete ihn zu der Frage: „Wie geht es Deiner Frau?“
„Es gehr ihr nicht gut. Sie versucht, es vor mir zu verbergen, aber sie hat Angst. In ihren Träumen, sagt sie, presst etwas ihre Rippen zusammen und drückt ihr die Luft aus den Lungen. Und niemand darf ihr Haar kämmen. Sie sagt, der Kamm wird sie vergiften.“
„Du sagst, Du hast Deine Frau gefunden?“
„Ja.“
„Meinst Du das wörtlich?“
„Ja.“
„Wo und wie?“
„Ich war auf der Jagd. Es war Zufall, dass ich ihren Sarg sah.“
„Ihren Sarg?“
„Ja, einen gläsernen Sarg. Sie lag darin, als wäre sie lebendig. Ich habe mich sofort in sie verliebt. Also habe ich die Wächter des Sarges aufgefordert, ihn zu öffnen.“
„Die Wächter des Sarges?“
„Sie haben mir gleich gehorcht. Es waren Zwerge.“
„Zwerge?“
„Ja. Aber nicht die Zwerge von der habgierigen Sorte. Sondern die, die ein bisschen Silber abbauen und danach zum Schlafen nach Hause kommen und vorher ein wenig essen und trinken. Genügsame Zwerge. Zwerge, die zuerst verunsichert waren, als plötzlich ein junges Mädchen bei ihnen auftauchte. Zwerge, die schnell glücklich waren, als dieses Mädchen es übernahm, ihren Haushalt zu organisieren.“
„Wie viele Zwerge waren das?“
„Sieben.“
„Sieben Männer? Kleine Männer, aber eben doch – Männer?“
„Männer, ja, natürlich.“
„Und Du hast nie daran gezweifelt, dass Deine Frau mit keinem von denen was hatte? Nie vermutet, dass sie vielleicht doch mit dem einen oder andern das Bettchen geteilt hat?“
Der Mann sprang auf und verbreitete eine neue Gestankswolke im Raum. „Nein,“ brüllte er. Der Wachtmeister trat einen Schritt nach vorn, aber er winkte ab. „Das geht schon in Ordnung,“ sagte er zu ihm. Und zu dem Ausgenüchterten: „Gestern hat Dich jemand mit dieser Behauptung provoziert, richtig?“
Der Mann nickte und setzte sich wieder hin. „Bitte noch einen Schluck Wasser,“ murmelte er.
Wieder trank er den Becher in einem Zug leer.
„Ja,“ bestätigte er dann.
„Und dann habt Ihr Euch geschlagen.“
Nicken.
„Wer ist er?“
„Er wohnt im selben Haus. Sogar auf dem selben Flur. Aber ich kenne ihn kaum. Eigentlich kenne ich niemanden außer meiner Frau.“
„Weißt Du, wie er heißt?“
„Nicht genau. Aber er heißt entweder Prinz oder König. Alle heißen so, die dort wohnen.“
„Wie seid Ihr miteinander in Kontakt gekommen?“
„Durch den Hausierer.“
„Den Hausierer? Wer ist das? Was verkauft er?“
„Er verkauft Pulver und Pillen. Er nennt sie Mittel des Vergessens. Die habe ich noch nicht probiert. Und er verkauft Wasser. ‚Wasser des Glücks‘ nennt er es. Das Wasser ist anders als das aus Deinem Brunnen hier in der Wand. Zuerst brennt es in der Kehle, danach macht es immer durstiger, und zum Schluss…“
„Zum Schluss macht es aggressiv, nicht wahr?“
„Der Mann nickte. „Ich habe mit dem vom selben Flur das Wasser des Glücks getrunken. Er hat mich zum Schluss nach meiner Frau gefragt. Als ich ihm von ihr erzählt habe, hat er mich ausgelacht. Da habe ich noch versucht, mich zu beherrschen. Ich wollte etwas über seine Frau wissen.
Er hat gesagt, dass sie lange Zeit als Küchenmagd arbeiten musste, weil ihre bösen Stiefschwestern und die Stiefmutter sie dazu zwangen. Sie war aber fromm und geduldig und hat alles ertragen. Auch lag ihr gar nichts an Reichtum. Als der König des Landes aber ein großes Fest veranstaltete, einen Ball, wollte sie unbedingt daran teilnehmen. Die Stiefverwandtschaft versuchte, ihr möglichst viele Steine in den Weg zu legen, und stellte ihr schier unlösbare Aufgaben, aber Tauben halfen ihr.“
Schon wieder eine Stiefmutter, dachte er.
„Ja, habe ich gespottet, die Art Tauben kenne ich. Sie leben bei der Alten im Wald und haben kleine goldene Schlüsselchen. Damit sorgen sie für Essen, für ein weiches Bettchen, für schöne Kleider, und hastdunichtgesehen wird aus den angeblich unschuldigen Vögelchen ein verzauberter Prinz, der geheiratet werden will.“
„Und spätestens jetzt wart Ihr beide wütend. Und aggressiv. Und habt Euch geprügelt.“
Wieder ein Nicken.
„Dich hat die Streife hier abgeliefert. Von dem anderen wissen wir nichts, Offenbar ist er abgehauen und hat keine Anzeige erstattet. Willst Du ihn anzeigen?“
„Warum sollte ich das tun?“
„Wegen Körperverletzung. Er hat Dich ganz schön zugerichtet.“
„Ich ihn sicher auch.“
„Dann kannst Du jetzt gehen. Und…“ Er verkniff sich die Bemerkung: „Du solltest dringend duschen.“ Stattdessen sagte er: „Alles Gute.“
Und schaltete das Handy aus.
November 23