„Anna und Otto kommen wohl doch nicht zu uns,“ sagt Bärdel enttäuscht zu Kulle. Auf ihrem Morgenspaziergang haben sie bei den üppigsten Brombeerbüschen am Rand von Bärenleben halt gemacht und sich vor dem Frühstück einen saftigen Imbiss gegönnt. „Es ist jetzt schon ein paar Monate her, dass wir sie eingeladen haben.“
„Abwarten!“ Kulle pflückt sich geruhsam weitere schwarzblaue Kugelhaufen und schiebt sie sich in den Mund. „In diesen Corona-Zeiten ist alles nicht so einfach. Als Plüschbär kann man natürlich per Anhalter reisen, wenn man geschickt genug ist, die richtigen Kinder zu finden, die einen in die richtige Richtung mitnehmen und dabei pfleglich behandeln. Das ist nicht ohne Risiko. Aber wir wissen nicht, ob Anna und Otto tatsächlich Plüschtiere sind. Sind sie Bären aus Fleisch und Blut, dann müssen sie sich vor den Menschen verstecken. Vielleicht haben sie sich gar infiziert?“
Vor Schreck lässt Bärdel die Brombeeren, die er für den nächsten großen Haps gesammelt hat, aus der Hand kullern.
„Oh nein!“
Kulle bückt sich und hebt die Früchte auf, die er retten kann. „Reg Dich nicht auf!“ brummt er. „Natürlich weiß man inzwischen, dass sich auch andere Sägetiere als der Mensch das Virus einfangen können. Aber sie werden nicht schwer krank.“
„Ja“, knurrt Bärdel ärgerlich. „Katzen, Hunde, Frettchen, Nerze und Hamster hat man inzwischen untersucht. Und wie viele klinische Studien von Bären sind Dir bekannt?“
Jetzt verliert auch Kulle die Kontrolle über seine Hand. Mehr Brombeeren rieseln zu Boden.
„Du meinst…?“
„Was kann man anderes meinen? Wenn Anna und Otto doch noch hier auftauchen sollten, wenn sie richtige Bären sein sollten, stellen sie eine potentielle Gefahr für uns dar. Sie müssen in Quarantäne. Und wir müssen sie testen.“
Die Bärenlebener warten an strategisch wichtigen Punkten. Sie haben Übung darin, Besucher abzufangen. Schließlich hatten sie bereits drei Kanzler zu Gast, und keiner von denen hatte sich vorher angekündigt.
Die Aufgabe ist nicht leicht, je weiter das Jahr fortschreitet. In jeder Nacht werden die Nebel dicker. Wenn sich jetzt jemand nähert, wird er erst unmittelbar vor den Wachen sichtbar werden.
Zwei Gestalten stehen plötzlich direkt vor den Posten.
„Nebel sei dies Leben! Sind wir hier richtig in Nebelleben?“ fragt der Größere der beiden. Er sieht aus wie ein Bär, ein richtiger Bär, und seine Stimme klingt wie die eines männlichen Bären.
„Eine dem Wetter adäquate Frage!“ erkennt Kulle an. „Ich nehme aber an, Ihr wolltet nach Bärenleben, richtig?“
„Das stimmt. Wir haben Post aus Bärenleben bekommen, in der stand, wie man Euch findet. Unsere Anreise war nicht leicht, deshalb kommen wir erst jetzt. Ich bin übrigens Anna, und das ist Otto. Ihr dürft ihm nicht böse sein: Er ist so verliebt in Palindrome, dass er sich alle Wörter entsprechend zurechtbiegt.“ Das war die Stimme einer Bärenfrau, und sie sah aus wie eine wirkliche Bärenfrau. „Wir sehen, Ihr habt auf uns gewartet. Aber wer seid Ihr? Namen nenne man! Und warum seid Ihr so vermummt?“
„Das sind Manfred und Athabasca, und ich bin Kulle. Wir sind so vermummt, weil wir auf Euch gewartet haben und nicht wissen, ob Ihr Euch mit Covid infiziert habt. Wir werden Euch auf die Krankheit testen, aber wir haben nur Tests, die für Menschen entwickelt worden sind. Wir sind nicht sicher, ob sie auch bei Bären wirken. Deshalb werdet Ihr zur Sicherheit eine Weile in Quarantäne verbringen.“
Anna nickt ergeben, aber Otto boxt sie in die Seite: „Don’t nod! Damit bin ich nicht einverstanden!“
„Warum nicht?“ will Manfred wissen.
„ You can cage a swallow, can’t you, but you can’t swallow a cage, can you? Ich bin erstens keine Schwalbe und zweitens kein Käfig, den man verschlucken kann!“
„Aha,“ sagt Manfred ratlos. „Das hat übrigens auch niemand behauptet.“
Anna versucht zu vermitteln: „Otto hat sich einen freundlicheren Empfang vorgestellt, deshalb ist er nicht einverstanden.“
„Der Empfang ist keineswegs unfreundlich,“ stellt Athabasca richtig. „Er dient nur unser aller Sicherheit. In ein paar Tagen werdet Ihr in Bärenleben bestimmt willkommen sein.“
Es gelingt Atti, die Wogen zu glätten. Zwar murrt Otto noch ein bisschen und grummelt: „Nie Wein!“ und „Und nu?“, aber danach lässt er sich bereitwillig ein Teststäbchen tief in die Nase rammen. Und als er sieht, dass für Anna und ihn eine kleine Privathöhle vorbereitet worden ist, ist er mehr als einverstanden mit dem Arrangement.
Ramses ist misstrauisch. Er weiß. dass Bären immer begeistert sind, wenn es um Bären geht, aber er vergisst Tussis Auftrag nicht: alle Gefahren von ihnen fernhalten. Und in Bärenleben Bewohner aufzunehmen, denen es an Intelligenz mangelt, stellt seiner Meinung nach zweifelsfrei eine Gefahr dar. Dieser Otto ist ihm suspekt. Er will ihm auf den Zahn fühlen, und zu diesem Zweck verbündet er sich mit Piggy und Minerva, den beiden anderen nichtbärischen Dorfbewohnern. Sie werden herausfinden, ob Otto über Dinge außerhalb seiner Palindromwelt Bescheid weiß.
Ramses wagt sich als erster vor. Er pirscht sich an die schlafenden Neuankömmlinge in ihrer kleinen Höhle heran und fragt: „Wie vermehren sich Frösche?“
Otto wird unruhig und weckt Anna. „Ich glaube, hier schleicht ein Frosch herum!“
Ramses versteht nur ein Wort, wenigstens glaubt er das: ‚Laich‘. Mit der Antwort ist er zufrieden.
Anna hat fester geschlafen als Otto, sie hat nichts gehört. „Du hast sicher nur geträumt. Der Frosch hier in Bärenleben heißt Ramses, und Du weißt doch: Nie grub Ramses Marburg ein.“
Otto schläft beruhigt wieder ein.
Minerva stört als nächste. Sie landet auf dem Baum vor dem Höhleneingang und will wissen: „Wen oder was soll man nicht nach Athen tragen?“ Dabei spricht sie sehr undeutlich, wie es manchmal Eulenart ist.
Die beiden Bären schlafen jetzt fest. Minerva muss ihre Frage mehrmals stellen, immer ein bisschen lauter, aber keineswegs deutlicher.
Schließlich wird Otto wach. „Anna, da ruft ein Uhu!“
Minerva ist ebenfalls zufrieden. Zwar ist die Antwort nicht völlig korrekt, aber bubo bubo gehört zur Ordnung der Eulen.
Bleibt Piggy. Das Schwein hat lange überlegt, welche Frage es Anna und Otto stellen soll. Der Frosch und die Eule haben es gut, findet es, sie gehören wichtigen Tierfamilien an, und deshalb ist es angemessen, Fragen über die eigene Art zu stellen. Aber wen interessiert schon ein Schwein? Gibt es überhaupt eine interessante Frage zu Schweinen, außer der nach dem Schlachtgewicht? Piggy kennt jedenfalls keine.
Piggy hat deshalb beschlossen, auf die griechische Antike zurückzugreifen.
„Was ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig und am Abend dreifüßig?“ lautet die Frage.
Anna ist inzwischen wieder eingeschlafen, aber Otto ist noch wach. Er lauscht. Dann grübelt er. Da das gesuchte Wesen Füße hat, handelt es sich dabei vermutlich um ein Tier. Er kennt aber kein Tier, das die Zahl seiner Füße ändert, schon gar nicht im Laufe eines Tages. Insekten? Vögel? Falsch. Fische? Die haben gar keine Füße. Frösche? Die fangen als Kaulquappen ohne Füße an und haben danach vier. Amöben? Die haben nur Scheinfüße.
Otto kommt nicht weiter und wird allmählich zornig.
„So ein dämliches Rätsel kann sich nur ein Mensch ausgedacht haben!“ ruft er aus.
„Ein Mensch,“ murmelt Anna im Schlaf.
Piggy trippelt auf den Hufspitzen ganz leise davon.
Minerva, Piggy und Ramses sind sich schnell einig: Anna und Otto können unter Intelligenzaspekten in Bärenleben aufgenommen werden.
Und da die beiden sich als virenfrei erweisen, steht der Vergrößerung der Dorfgemeinschaft nichts mehr im Wege.
Januar 2022