Kulle im „MAGAZIN“ 2021

Kulle
Kulle

MAGAZIN: Hallo, Kulle. Wir haben Sie in den letzten Jahren diverse Male für ein Interview zu gewinnen versucht, und immer haben Sie abgelehnt. Jetzt haben Sie zugesagt. Warum?

Kulle: Es gab bisher nichts Neues.

MAGAZIN: Sie meinen die Pandemie?

Kulle: Eine Pandemie ist nichts Neues. Ich werde Ihnen jetzt keinen Überblick über die zahlreichen entsprechenden Vorkommnisse in den letzten Jahrhunderten geben. Das können Sie nachschlagen. Oder falls Sie nicht mehr wissen, was das ist: nachscrollen.

MAGAZIN: Was ist es dann?

Kulle: Der Mythos, der mit der Pandemie einhergeht.

MAGAZIN: Also doch die Pandemie.

Kulle: Der Niveauverlust Ihrer Zeitschrift in den letzten Jahren ist bemerkenswert. Bisher habe ich das als Tribut an das Auffassungsvermögen Ihrer Leser begriffen. Offenbar ist aber auch die Redaktion affiziert.

MAGAZIN: Wie meinen Sie das?

Kulle: Schon gut. Mit der Corona-Epidemie geht ein Narrativ einher, das es wert ist, genauer betrachtet zu werden.

MAGAZIN: Ah -– Narrativ, das ist gut.

Kulle: Ich wusste, dass Ihnen eine modische Leerfloskel eingeht wie Honigseim.

MAGAZIN: Wie bitte?

Kulle: Wie Honig. Lassen wir es dabei. Nein, wir wollen jetzt nicht über Honig sprechen, obwohl ich Ihnen ansehe, dass Sie das gern täten. Wir wollen über den Mythos reden, den Covid in die Welt gesetzt hat. Nein, ich korrigiere mich: Den die reichen Menschen in den reichen Ländern über Covid in die Welt gesetzt haben.

MAGAZIN: Und welcher Mythos wäre das?

Kulle: Dass alle Menschen vor dem neuen Virus, das in die Welt gekommen ist, gleich sind.

MAGAZIN: Das ist aber doch kein Mythos. Das Immunsystem aller Menschen ist der Infektion gleichermaßen ausgeliefert.

Kulle: Das ist korrekt.

MAGAZIN: Wo ist also der Mythos?

Kulle: Da die Lebensbedingungen der Menschen ungleich sind, schlägt das Virus ungleich zu.

MAGAZIN: Natürlich leugnen wir nicht, dass in sozialen Brennpunkten, bei beengten Wohnverhältnissen, mitunter gepaart mit mangelnden Sprachkenntnissen, höhere Inzidenzen zu verzeichnen sind, aber dergleichen ist beherrschbar.

Kulle: Wie?

MAGAZIN: Zwangsquarantäne, polizeiliche Absperrungen…

Kulle: Bedauerlich. Marginalien. Schrecklich. Soziales Gefälle innerhalb eines reichen Landes. Natürlich muss man darüber reflektieren. Aber es gibt Schlimmeres.

MAGAZIN: Was denn?

Kulle: Es scheint denn doch ein Grundsatzvortrag nötig. Also: Auf dieser Welt existieren in überwiegend miserablen Lebensumständen acht Milliarden Menschen, die von Covid infiziert werden können und die, wenn sie es sind, individuell unter der Infektion leiden oder daran sterben können, und, was gesamtgesellschaftlich betrachtet schlimmer ist, die Infektion weitergeben können. Ein Medikament gegen die Krankheit gibt es bisher nicht, allerdings Impfstoffe. Soweit klar?

MAGAZIN: Das ist alles bekannt.

Kulle: Schön. Dann ist die logische Konsequenz auch bekannt: Wir impfen die acht Milliarden Menschen, oder 70 oder 80 Prozent von ihnen, so dass das Virus, das weiter existiert, keine Chance mehr hat, großen gesundheitlichen Schaden anzurichten. Denn wenn wir das nicht tun, wenn große Teile der menschlichen Bevölkerung ungeimpft bleiben, dann hat Corona eine große Spielwiese, kann sich weiter verbreiten, sich dabei verändern, ansteckender werden, tödlicher werden, Resistenzen gegen die Impfstoffe entwickeln, eine neue, noch bessere Attacke starten.

MAGAZIN: Auch bekannt.

Kulle: Ich bin beeindruckt von Ihren Kenntnissen. Sicher wissen Sie auch, wie viele Menschen weltweit inzwischen vollständig geimpft wurden?

MAGAZIN: …

Kulle: Ich sage es Ihnen: knappe 370 Millionen. Das entspricht weniger als fünf Prozent der Population. 75 Prozent des derzeit verfügbaren Vakzins befinden sich in den Händen von zehn Ländern. Zehn! Heute haben Biontech, Moderna und Johnson & Johnson versprochen, rund 1,3 Milliarden Vakzindosen an sogenannte Entwicklungs- und Schwellenländer zu liefern. In der zweiten Jahreshälfte soll damit begonnen werden. Begonnen zu liefern, wohl verstanden, nicht geliefert. Frau von der Leyen hat angekündigt, dass die EU bis Ende des Jahres 100 Millionen Corona-Impfdosen spenden will. Wenn die Pharmahersteller und die reichen Nationen weiterhin so großzügig sind, dann ist die Welt wann geimpft? 2025 vielleicht? 2026?

MAGAZIN: So schnell geht das eben nicht!

Kulle: Bei Covid-Mutationen geht das aber schnell, und wie! Seit dem Ausbruch der Pandemie sind vier neue Varianten entdeckt worden: B.1.1.7. aus Großbritannien, B.1.351 aus Südafrika, B. 1.617 aus Indien und ein neuer Stamm aus Brasilien: P.1.. Und wenn vier Neuentwicklungen gefunden worden sind, bedeutet das wahrscheinlich, dass es weitere gibt, die man nicht identifiziert hat. Das Virus gewinnt den Wettlauf.

MAGAZIN: Deutschland ist auf dem besten Weg, beim Impfwettlauf ganz vorn mitzumischen.

Kulle: Das ist wohl richtig. Die Erde ist übrigens eine Scheibe, und Deutschland ist eine Insel. Und alle Menschen sind vor dem neuen Virus, das in die Welt gekommen ist, gleich.

MAGAZIN: Zugegeben, einige sind gleicher…Aber lassen Sie uns auf eine Ihrer letzten Aussagen zurückkommen: ‚Deutschland ist eine Insel‘. Wie dürfen wir das verstehen?

Kulle: Ironisch. Nur ironisch. Das Leben ist voller Ironien. Die Rohstoffe und Vorprodukte, die die deutsche Industrie benötigt, werden künftig hier produziert. Die Deutschen, vor Corona stolz auf den Titel des Reiseweltmeisters, werden zu Insulanern. Gab es nicht schon einmal einen deutschen Regierungschef, der vehement die Idee der Autarkie des Großdeutschen Reiches vertreten hat?

MAGAZIN: Jetzt sind Sie zynisch.

Kulle: Was ethischen Skeptizismus anbelangt, so bin ich in der Tat ein Kyniker. Mit meiner Bedürfnislosigkeit dagegen ist es nicht so weit her. Ich esse gern gut.

MAGAZIN: Dürfen wir bei Ihrer Kritik an einer künftigen Insellage Deutschlands also auch egoistische Motive unterstellen? Sie fürchten um Ihren Alaska-Lachs aus Wildfang?

Kulle: Sie dürfen. Vor allem aber dürfen Sie endlich anfangen zu denken. Da Deutschland eben keine Insel ist, die sich vom Rest der Welt abschotten kann, werden die Escape-Covid-Varianten, denen viel Zeit gegeben wird, sich zu entwickeln, hierher kommen und uns keine Ruhe lassen. Und irgendwann sind alle Menschen, auch die Geimpften und Genesenen, vor den neuen Virusmutationen, die in die Welt gekommen sind, gleich. Gleich anfällig, gleich krank.

MAGAZIN: Kulle, Sie übertreiben.

Kulle: Mag sein. Vor ein paar Jahren haben Sie die Klimakatastrophe auch kleingeredet. Was sollte gegen Palmen in Bochum einzuwenden sein? Uns passiert schon nichts. Heute brennen auch in Deutschland die Wälder, Dürre breitet sich aus, und morgen werden die Klimaflüchtlinge nicht nur aus Afrika, sondern auch aus Südeuropa vor unserer Tür stehen. Sie werden wohl nicht anklopfen, sondern die Tür aufbrechen. Wir sprechen uns in ein paar Jahren wieder.

Mai 2021