Schwächelnde Konjunktur

Die Eisbärenkinder begleiteten Bärdel und Kulle heute auf deren Morgenspaziergang, aber anders als sonst tollsten sie nicht um die beiden Alten herum, sondern tapsten artig hinter ihnen her und waren ungewöhnlich still. Kulle war, seiner Denkart entsprechend, mit gesellschaftspolitischen Problemen beschäftigt und nahm seine Umwelt dabei nicht wahr. Bärdel aber drehte sich schließlich um.

„Na, was ist los mit Euch beiden?“ erkundigte er sich.

Bärdel

„Och, Onkel Bärdel, wir sind ein bisschen traurig.“

„Und warum?“

„Wir haben in den Nachrichten gehört und auch in der Zeitung gelesen, dass es der Konjunktur nicht gut geht. Sie schwächelt. Das heißt doch, dass sie krank ist und immer schwächer wird, oder? Wir würden ihr gerne helfen, aber wir wissen nicht, wie. Wir wissen auch gar nicht recht, wer sie ist und wo wir sie finden können. Wir haben Onkel Manfred danach gefragt, aber der hat einen Lachanfall gekriegt und uns nicht geantwortet. Mami hat uns weggeschickt und gesagt, wir sollten Robben fangen lernen, anstatt dumme Fragen zu stellen. Tante Atti hätte uns bestimmt nicht ausgelacht oder uns weggeschickt, aber die haben wir nicht finden können. Lachst Du uns auch aus, Onkel Bärdel?“

Robben fangen – doch nicht jetzt!

Die Frage war nur allzu berechtigt, denn Bärdel hatte große Mühe, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Um nicht antworten zu müssen, täuschte er einen Hustenanfall vor. Den nutzte er dazu, Kulle in die Seite zu knuffen und aus seinen Gedanken zu reißen.

PD Dr. Kulle – hier informell

„Was ist denn los?“ fragte Kulle unwillig.

Da Bärdel immer noch vorgab zu husten, antwortete Nuk. „Die Konjunktur schwächelt, Onkel Kulle!“

„In der Tat, das scheint so zu sein. Wurde auch allerhöchste Zeit. Kalle würde im Grabe rotieren, wenn er erführe, dass ein Zyklus so lange dauern kann. Zu etwas scheint dieser Trump also doch gut zu sein.“

Na und Nuk schauten erst Kulle an und dann einander. Sie hatten kaum etwas verstanden, aber eines begriffen sie: Onkel Kulle stellte die ethischen Werte, die er selbst ihnen vermittelt hatte, auf den Kopf.

„Du freust Dich, dass jemand krank ist?“ Na war fassungslos.

„Wieso? Wer ist krank?“ Jetzt war Kulle irritiert.

„DIE KONJUNKTUR!“ schrieen die Zwillinge. „UND DU FREUST DICH DARÜBER!“

Nuk und Na

„Ja natürlich!“ Kulle verstand die Aufregung nicht. „Denn…“

Jetzt griff Bärdel ein. Bevor hier noch mehr Missverständnisse wuchsen, musste einiges geklärt werden, fand er.

„Wisst Ihr eigentlich, was die Konjunktur ist?“ wollte er von den Kindern wissen.

Die beiden wussten es nicht, aber es war unter ihrer Würde, ihre Ignoranz zuzugeben.

„Sie ist weiblich,“ behauptete Na selbstsicher.

Kulle machte sich eine mentale Notiz: Über den Unterschied zwischen Genus und Sexus würde man noch zu reden haben.

„Ihr Zustand wird von den Menschen genau beobachtet,“ ergänzte Nuk. 

Und damit waren sie am Ende ihrer Weisheit angekommen. 

„Wir wissen vieles nicht: Was für eine Art Lebewesen sie ist, wo sie lebt und an welcher Krankheit sie leidet. Aber wir finden es richtig, dass sie uns leid tut und dass wir ihr helfen wollen!“ erklärten sie schließlich trotzig.

„Das ist auch gut so. Empathie ist etwas sehr Positives. Aber Ihr geht von einer falschen Voraussetzung aus: Die Konjunktur ist kein Lebewesen. Sie ist ein Abstraktum. Ihr wisst doch, was Abstrakta sind, oder?“

„Klar. Abstrakta sind Begriffe, mit denen etwas bezeichnet wird, das kein Gegenstand ist. Vertrauen zum Beispiel. Oder Freiheit.“

„Sehr gut!“ lobte Bärdel. „Wenn die Freiheit oder das Vertrauen schwinden, dann ist das bedauerlich. Und wenn man das verhindern oder beenden will, dann kann man nicht die Freiheit oder das Vertrauen kurieren, sondern muss die konkreten Verhältnisse ändern, die für ihren Schwund verantwortlich sind. Verstanden?“

„Verstanden, Onkel Bärdel. Unser Ansatz war also falsch. Wir können die Konjunktur nicht finden, denn sie ist kein Konkretum. Wir müssen stattdessen die konkreten Verhältnisse ändern, die für ihr Schwächeln verantwortlich sind. Richtig?“

„In sich schlüssig, an sich falsch.“ Kulle schaltete sich wieder ein. „Ihr geht von der Annahme aus, dass eine starke Konjunktur etwas Positives ist, wie großes Vertrauen und große Freiheit. Bei der Konjunktur stellt sich aber die Frage nach dem cui bono: Wem nützt eine starke, wem eine schwache Konjunktur?“

„Onkel Kulle, bitte!“ Nanuk waren jetzt ganz kleinlaut. „Onkel Kulle, wir haben doch schon zugegeben, dass wir gar nicht wissen, was das ist: die Konjunktur.“

Na, das kann dauern, dachte Bärdel. „Kommt, wir gehen da hinten in die Brombeeren!“ schlug er vor. „Mit einer Erfrischung denkt es sich besser.“

Kulle verstand den Wink mit dem Zaunpfahl – er sollte ein Beispiel für seine Erklärung nutzen. Nachdem alle genüsslich die erste Handvoll der köstlichen schwarzen Bällchen genascht hatten, sagte er: „Konjunktur ist ein Begriff, der die Wirtschaftsleistung in einem Land oder in der ganzen Menschenwelt erfassen soll. Es geht darum, wie viele Menschen Arbeit haben und damit Geld verdienen, und wie viel Geldwert dabei geschaffen wird. Nehmen wir diese Brombeerbüsche hier und stellen wir uns vor, nur für einen kurzen Augenblick, wir wären Menschen“ – die Zwillinge schauderte es, und auch Bärdel fühlte, wie ein Eiszapfen seine Wirbelsäule hinunterwanderte. „Wir könnten alle Beeren in kurzer Zeit abernten. Wir würden dafür bezahlt, und wir oder ein anderer Mensch würde sie verkaufen, an uns oder an andere Menschen. Wir alle hätten Arbeit und würden mit ihr den maximal möglichen Geldwert schaffen. Das wäre eine gesunde Konjunktur!“

Nanuk schauten Kulle an, als zweifelten sie an seinem Verstand.

„Onkel Kulle…“ Nuk wagte nicht weiterzusprechen.

Auch der vorlauten Na fiel es nicht leicht, Kulle ihre Meinung zu sagen, aber sie wagte es trotzdem. „Onkel Kulle, aber das ist doch dumm! Morgen hätte niemand mehr Brombeeren! Ganz abgesehen davon, dass es idiotisch ist, erst Beeren zu ernten, dafür bezahlt zu werden und dann dieselben Beeren wieder zu kaufen, wahrscheinlich für mehr Geld, als man für das Abernten bekommen hat!“

Kulle freute sich über die kluge Antwort, aber Bärdel wusste, dass er einiges klarstellen musste, sonst kamen die Zwillinge noch auf die Idee, seinen Freund für die menschliche sogenannte Wissenschaft ‚Volkswirtschaftslehre‘ verantwortlich zu machen.

„Natürlich ist das dumm! Aber die Menschen wissen es nicht besser. Für uns dagegen  ist eine kranke Konjunktur besser. Die Menschen verbrauchen dann weniger von dem, was die Welt an Schätzen zu bieten hat.“

„Jetzt haben wir verstanden, Onkel Bärdel!“

„Gut!“ meinte Kulle dann können wir ja…“

„…noch ein paar Brombeeren essen!“ fiel Bärdel ihm ins Wort.

Kulle gab sich zufrieden. Sein Freund hatte ja Recht. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Inflationsrate, Freihandel, Schutzzölle und Konjunkturzyklen konnten bis zur nächsten Gelegenheit warten. Er nahm die Geschenke der Eisbärenkinder, die ihm Brombeeren pflückten, gerne an.

August 2018