(Erklärungs-)Krise

“Onkel Kulle!“

Einbärenfamilie

Nanuk sprangen pitschnass aus dem Dorfteich von Bärenleben und schüttelten sich am Ufer so erfolgreich, dass Kulle an diesem Tag auf eine Dusche würde verzichten können. Aber er liebte die Zwillinge heiß und innig und nahm ihnen nichts übel.

“Onkel Kulle, kannst Du uns was erklären?“

Da Kulle felsenfest davon überzeugt war, dass Erklärungen zu seinen Spezialitäten gehörten, sagte er natürlich sofort “Ja“ und wollte erst anschließend wissen, worum es denn gehe.

Kulle

“Wir haben gerade mit Mami im Wasser gespielt“, sagte Na.

“Dabei waren wir wohl ein bisschen wild“, gab Nuk zu.

“Jedenfalls hat Mami gesagt, sie kriegt die Krise. Und jetzt sollst Du uns das mit der Krise erklären. Bitte!“

“Aber“, stotterte Kulle, “wenn Oicy psychische Probleme hat, dann bin ich der Letzte, der sich mit so etwas auskennt. Bärdel kann bestimmt…“

“Nein, Onkel Kulle, wir meinen die andere Krise, von der alle reden, die mit dem Bruder vom Mann aus Lehm und dem Euro und den USA und so. Wir möchten nicht, dass Mami diese Krise kriegt!“

“Ihr wollt also etwas über die aktuelle ökonomische Krise wissen, ist es das?“

“Wenn Du das sagst, Onkel Kulle, dann ist es bestimmt richtig. Aber wir wollen nicht nur etwas darüber wissen, sondern alles.“

Wäre Kulle ein Mensch gewesen, hätte er jetzt “Scheiße“ gedacht. Da er aber ein Bär war, dachte er “Brombeermist“. Ausgerechnet diese Krise, die niemand wirklich erklären konnte, und er – wenn er ehrlich war – auch nicht. Er überlegte, wie er es anfangen sollte. Er überlegte lange.

Die Eisbärenzwillinge trockneten ihr Fell in der Herbstsonne, aber bald wurde ihnen das zu langweilig.

“Onkel Kulle, warum sagst Du nichts?“ fragte Nuk.

Na wollte Kulle helfen: “Wir haben bei Karl Marx gelesen, dass alle Krisen im Kapitalismus Überproduktionskrisen sind. Weil der Marktprozess nicht geplant werden kann, aber jeder Produzent den höchstmöglichen Profit erwirtschaften will, kommt es in periodischen Abständen dazu, dass die geschaffenen Werte nicht als Waren realisiert werden können. Ist das diesmal genauso?“

‘Schön wäre es‘, schoss es Kulle durch den Kopf. Dann könnte ich alles wirklich erklären. ‘Aber der Große Karl ist über hundert Jahre tot, und was der Kapitalismus sich seitdem alles ausgedacht hat, konnte er beim besten Willen nicht antizipieren.‘

“Ihr seid erstaunlich gut vorgebildet!“ lobte er. Es klang lahm. “Aber diese Kenntnisse helfen uns nicht dabei, die konkreten Probleme zu analysieren. Die sind nämlich neu.“

“Toll, Onkel Kulle! Uns interessiert immer alles, was neu ist!“

Hilfe für Kulle kam von unerwarteter Seite. Am Teichufer gegenüber schimpfte Tumu so lautstark mit Manfred, dass es unmöglich war, darüber hinwegzuhören. Ihr Sohn blieb ihr nichts schuldig und gab ebenso lärmend Contra. So hatten die Zwillinge ihre Unterhaltung, und Kulle gewann Zeit zum Nachdenken.

“Du machst das immer noch? Immer noch? Ich habe geglaubt, diese Verbrechermethode brauchten wir nur in Amerika!“

“Klar mache ich das immer noch! Denkst Du etwa, alle Technik, mit der wir hier leben, ist vom Himmel gefallen? Meinst Du, ich habe Deinen Luxusbackofen mit Programmautomatik selbst zusammengeschraubt? Und es ist keine Verbrechermethode, wenn ich Kreditkarten nutze, die mir angeboten werden. Na gut – unter falschem Namen und falscher Adresse, das gebe ich zu. Aber die Banken wollen betrogen werden, sie bieten ihre Karten an wie sauer Bier. Die müssen Geld haben wie Heu!“

,Klick!‘ machte es in Kulles Kopf. Aber er beschloss, zunächst den Mund zu halten. Vielleicht konnte er noch mehr von Manfred lernen.

“Für wie dumm hältst Du mich eigentlich?“ fauchte Tumu. “Den Banken geht es schlecht, das kannst Du jeden Tag in der Zeitung lesen.“

“Ach – und wer ist schuld daran, dass es den Banken angeblich schlecht geht? Die Banken! Die haben insolventen Kreditnehmern in den USA ihr vieles Geld hinterhergeworfen und haben sich dabei halt verspekuliert – Pech gehabt. Aber keine Sorge – schlecht geht es den Banken nicht. Die sind, wie man sagt, systemrelevant. Weil die gesamte Menschenwelt auf Pump lebt, Privathaushalte genauso wie Firmen und Staaten, funktioniert die Wirtschaft ohne Banken einfach nicht. Im Zweifelsfalle werden sie gerettet, das heißt, sie bekommen viel Geld. So viel Geld haben nur Staaten, die können es nämlich drucken.“

“Das heißt…“ Tumus Stimme war jetzt deutlich leiser.

“Das heißt, wenn ich Banken schädige, schädige ich niemanden. Jedenfalls nicht direkt.“

“Hm, vielleicht hätte ich Dir keine Szene machen sollen, mein Sohn. Und was den Backofen angeht – der funktioniert einfach hervorragend. Was hältst Du von einem Honigkuchen? Das dauert nur ein knappes Stündchen!“

“Gerne! Darf ich Dir helfen?“

Mutter und Sohn trollten sich und verschwanden in der Höhlenküche von Bärenleben.

Na und Nuk schlugen ihre Kinderaugen auf.

“Onkel Kulle, wir glauben, wir haben schon viel verstanden. Aber ein paar Fragen haben wir noch. Warum gibt es zu viel Geld auf der Welt? Wir dachten immer, es gibt zu wenig.“

“Die meisten Menschen haben zu wenig Geld, das stimmt. Aber damit der Kapitalismus funktioniert, muss es genug Geld bei den Banken geben, das sie verleihen können. Nach den Attentaten am 11. September 2001 hat die US-Notenbank die Welt mit Geld überschwemmt, weil sie eine Wirtschaftskrise verhindern wollte.“

“Und deshalb kriegt Onkel Manfred so viele Kreditkartenangebote?“

“Genau.“

“Und die Staaten, die den Banken das Geld geben?“

“Die machen Schulden und müssen dafür Zinsen zahlen. Wenn nicht sicher ist, ob sie ihre Schulden zurückzahlen können, werden die Zinsen erhöht. Das ist nicht gut für die Menschen, die in diesen Staaten leben, denn sie müssen das Geld bereitstellen, das der Staat braucht, also hohe Steuern zahlen. Vielleicht gibt es auch eine Inflation, weil viel Geld gedruckt worden ist, aber die Warenmenge nicht gewachsen.“

“Oh je, Onkel Kulle, das ist aber ganz schön kompliziert. Darüber müssen wir erst mal nachdenken. Dürfen wir zum Schluss noch eine Frage stellen?“

“Klar!“

“Wer ist der Bruder vom Mann aus Lehm? Ist das der Golem?“

Kulle griff sich an die Stirn. “Ich krieg die Krise,“ murmelte er.

Na und Nuk begriffen, dass Kulle in diesem Moment nicht antworten wollte. Fröhlich hüpften sie wieder in das kühle Wasser des Dorfteiches.