“Onkel Kulle, Onkel Kulle! Wir haben heute die Zeitung gelesen!“
Kulle war vertieft in den dritten Band der “Theorien über den Mehrwert“ und wurde vom Überfall der Eisbärenkinder völlig überrascht.
“Schön“, murmelte er zerstreut. “Aktuelle Bildung ist immer gut. Aber der sinkende Fall der Profitrate…“
“Oh, Onkel Kulle, liest Du auch gerade Zeitung?“ erkundigte sich Na.
“Unsinn. Ich lese Karl Marx.“ Zum Beweis hielt Kulle ein dickes blaues Buch in die Höhe. “Das ist ein Standardwerk und schon etwas älter als die Zeitung von heute.“
“Dann ist entweder die Zeitung von heute ziemlich veraltet, oder Dein Karl Marx war ein Hellseher“, bemerkte Nuk naseweis. “Denn wir haben eben erfahren, dass die Profite von vielen Banken mehr als sinken. Und das führt dazu, dass ihre Rate – oder ihr Rating oder so – sich verschlechtert. Wir haben das alles nicht so richtig verstanden. Deshalb sind wir hier – Du kannst uns das doch bestimmt erklären, oder?“
Geschmeichelt klappte Kulle den Band 26.3 der gesammelten Werke von Marx und Engels zu. “Ich kann es ja mal versuchen“, sagte er gespielt bescheiden. Und dann dachte er ziemlich lange nach. Denn es war gar nicht so einfach, jungen Eisbärinnen eine Subprimekrise zu erklären.
“Also…“ begann er schließlich.
“Ja?“
“Also … Ihr wollt ein Haus bauen …“
“Wollen wir gar nicht!“
“Stellt Euch vor, Ihr wollt ein Haus bauen…“
“Warum sollen wir uns das vorstellen?“
Kulle begriff, dass er mit Betroffenheitspädagogik nicht weiterkam.
“Viele Menschen in den Vereinigten Staaten wollten ein Haus bauen oder kaufen, um darin zu wohnen. Menschen brauchen eine Wohnung, das wisst Ihr doch, nicht wahr?“
Nanuk nickten – endlich redete Onkel Kulle vernünftig.
“Aber die meisten hatten dafür nicht genug Geld. Deshalb liehen sie es sich.“
“Wer ist denn so blöd, Menschen Geld zu leihen, die kein Geld haben? Bären bestimmt nicht!“
“Nein, Bären bestimmt nicht. Wir Bären haben ja auch kein Geld, und das ist gut so. Aber Menschen, die Geld haben, leihen Menschen Geld, denen Geld fehlt. Sie wollen das Geld natürlich zurückhaben, und zwar in Raten. Sie leihen den geldlosen Menschen also nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Und die Zeit lassen sie sich in Geld bezahlen. Das nennt man Ratenzahlungen.“
“Das verstehen wir. Menschen, die jetzt kein Geld haben, haben später ein bisschen Geld. Und noch ein bisschen. Und von dem bisschen zahlen sie das geliehene Geld zurück. Und die Zinsen.“
Kulle schmunzelte. “Na, Ihr habt‘s begriffen. Alles völlig unproblematisch!“
“Falsch, Onkel Kulle!“ Nuk hüpfte aufgeregt auf und ab. “Was ist, wenn die geldlosen Menschen auch später geldlose Menschen bleiben? Dann haben die Menschen, die ihr Geld verliehen haben, auch kein Geld mehr. Alle haben dann kein Geld mehr!“
“Ganz einfach!“ Kulle gab sich gelassen. “Dagegen sichern sich die Geldverleiher ab. Die Geldlosen mussten natürlich Schuldscheine unterschreiben. Diese Schuldscheine verkauften die Geldverleiher weiter. So…“
“Entschuldigung, Onkel Kulle!“ Es war offensichtlich, dass Na versuchte, höflich zu bleiben, obwohl es ihr schwerfiel. “Onkel Kulle, solche Schuldscheine kauft doch keiner!“
“Doch!“ sagte Kulle und klappte sein Buch endgültig zu. Er begriff, dass er noch viel würde erklären müssen. “Doch! Denn die Verkäufer sagten den Käufern, dass nur einige der geldlosen Menschen bezahlen werden, aber nicht alle. Sie sagten aber nicht, wie viele. Deshalb machten sie für die Schuldscheine einen Sonderpreis. Aber wenn dann keiner der geldlosen Menschen Geld hätte, wäre auch dieser Sonderpreis zu hoch. Und jetzt hätte auf einmal der Käufer der Schuldscheine kein Geld mehr. Und wenn der Käufer eine Bank wäre, dann hätten deren Kunden auf einmal kein Geld mehr, denn das Geld einer Bank ist das Geld ihrer Kunden. Dann wäre die Bank pleite. Aber eigentlich wären deren Kunden pleite.“
“Gemein!“ sagten Nanuk im Chor und mussten danach erstmal nachdenken.
“Etwas verstehe ich noch nicht, Onkel Kulle“, sagte Nuk nach einer Weile. “Warum haben die Banken geglaubt, dass die geldlosen Menschen nicht geldlos bleiben? Warum haben sie angenommen, dass sie ihre Kredite zurückzahlen können?“
“Eine sehr gute Frage!“ lobte Kulle. “Dazu braucht man eine Blase. Besser noch sind mehrere Blasen.“
Nanuk sagten nichts und fragten nichts, stattdessen wurden sie rot. Über Körperfunktionen redete man in Bärenleben gewöhnlich nicht, und für Sexualität, darin waren sich die Erwachsenen bisher einig gewesen, waren die Zwillinge zu jung. Kulle aber merkte nichts, sondern redete einfach weiter.
“Von einer Blase, besser einer Spekulationsblase spricht man dann, wenn alle Beteiligten davon ausgehen, dass die Preise in die Höhe gehen. In unserem Fall sollten die Preise für Immobilien in den USA weiter steigen, und das taten sie wirklich. Ein geldloser Eigenheimbesitzer, der in einem 40.000-Dollar-Haus wohnte, fand sich ein paar Jahre später in einem 80.000-Dollar-Domizil wieder. Er war also um 40.000 Dollar reicher, zumindest auf dem Papier. So löste er seine alte Hypothek aus und nahm eine neue auf. Die bekam er locker, denn sein Haus war ja viel wert. Und mit dem neuen Geld konnte unser Eigenheimbesitzer viel konsumieren: Autos kaufen, reisen … was Menschen eben so machen, wenn sie zu viel Geld haben.
Unser Eigenheimbesitzer heißt Joe Sixpack, in Deutschland hieße er Michel, in England John Bull…“
“Onkel Kulle!“ Nanuk klangen wirklich empört. “Onkel Kulle, was sind das denn für Leute?“
Kulle schlug sich vor die Stirn. “Entschuldigung, Symbolik haben wir euch ja noch nicht beigebracht. Also, in der politischen Rhetorik..“
“In der politischen was?“
“Ich hätte besser sagen sollen in der politischen Symbolik..“
“In was?“
Kulle gab vorerst auf. Zu den Abstrakta kommen wir besser später‘, murmelte er vor sich hin und sagte dann laut: “Das sind nur Namen für den Durchschnittsbürger. So was wie Eisbär Mustertier‘.“
Na und Nuk sahen Kulle schweigend an, ihre Mienen zwei große, geschwungene Fragezeichen.
Kulle riss sich zusammen. “Zurück zum Thema!“ verkündete er. “Die Eigenheimbesitzer haben Geld ausgegeben, das ihnen nicht gehörte, das freute die Konsumgüterindustrie; häuserlose Menschen wollten ebenfalls ein Eigenheim besitzen und nahmen dafür Hypotheken auf, und Baufirmen haben Eigenheime gebaut, denn die Nachfrage danach war offensichtlich da, und schiefgehen konnte dabei nichts, dachte man, denn Häuser wurden immer wertvoller. Drücke ich mich jetzt verständlich aus?“
Nanuk nickten begeistert.
“Ganz hervorragend, Onkel Kulle!“ lobte Nuk. “Und Du weißt bestimmt auch schon, dass wir jetzt wissen, was dabei nicht klappen kann!“
Kulle erwartete mitnichten, dass ein anderer als er komplizierte ökonomische Zusammenhänge bereits in diesem Stadium der Problemdarstellung durchschauen könnte, aber er ließ sich nichts anmerken. Schließlich war er Pädagoge genug, um die Kleinen nicht zu enttäuschen.
“Ich ahne da etwas,“ lächelte er. Ihm würde schon etwas einfallen, um die zwangsläufig falsche Analyse der Kleinen gleichzeitig zu loben und zurechtzurücken.
Na sah Nuk, die Erstgeborene, auffordernd an, und Nuk erklärte nur allzu gerne.
“Irgendwann gab es vermutlich mehr neu gebaute Häuser als nachfragende Menschen. Da Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen…“
“Kulle wand sich und hielt demonstrativ sein blaues Buch in die Höhe.
“…jedenfalls in bestimmten Grenzen…“
Kulle ließ das Buch wieder sinken.
“…dürften die Häuserpreise gesunken sein. Niemand hat mehr die neuen Häuser gekauft, und die Besitzer der älteren Häuser konnten sich kein neues Geld durch neue höhere Hypotheken beschaffen. Also haben sie ihre Schulden nicht getilgt – das haben sie vermutlich sowieso nicht getan -, aber jetzt haben sie auch keine Zinsen mehr gezahlt. Und damit saßen nicht nur die Baufirmen in der Tinte, sondern auch die Hypothekenbanken. Und alle, die die schlechten Schuldscheine der Hypothekenbanken gekauft haben.“
Jetzt hielt Na es doch nicht mehr aus, dass Nuk alle Lorbeeren allein einsammelte.
“Wir haben gelesen, wie die Hausbesitzer ohne Geld heißen, Onkel Kulle: Ninjas!“
Kulle atmete tief durch. Nuks Vortrag hatte ihn beeindruckt, aber Nas Bemerkung gab ihm Gelegenheit dazu, sich das nicht anmerken lassen zu müssen.
“Kleine Na!“ rügte er sanft. “Harmlose amerikanische Hausbesitzer sind doch keine japanischen Partisanenkämpfer!“
“Das habe ich auch nicht behauptet, Onkel Kulle,“ widersprach Na. “Amis lieben Abkürzungen, das weißt Du doch. Zum Beispiel ‘Dinks‘: double income, no kids‘. Und ‘Ninja“ steht für ‘no income, no job or assets‘.“ Na dachte einen Moment lang nach: “Was machen die denn jetzt, die Ninjas, wenn sie ihre Zinsen nicht zahlen können? Die Bank droht ihnen doch bestimmt, sie vor die Tür zu setzen, oder?“
“Natürlich tut die Bank das, kleine zweitgeborene Na.“ Nuk nutzte wie immer jede Gelegenheit, um ihre paar Sekunden mehr Lebenszeit als größere Intelligenz zu behaupten. “Aber viele Ninjas kommen der Bank zuvor: Sie ziehen einfach aus und schicken der Bank den Hausschlüssel. Damit gehört das Haus nach amerikanischem Recht der Bank – und die hat ein Problem. Was soll sie mit einem Haus, mit vielen Häusern, die niemand haben will? Was ihr dagegen fehlt, ist Geld. Pleite ist sie!“
“Ihr seid wirklich kluge Kinder!“ lobte Kulle aufrichtig. “Die Bank ist pleite, die anderen Banken, die die schlechten Kredite gekauft haben, sind es auch. Sie brauchen Geld – aber wer leiht ihnen schon was? Jeder befürchtet, dass sie ihre Kredite ebenso wenig zurückzahlen können wie die Ninjas‘. Ihre Profitrate ist gesunken, und ihr Rating ist im Keller. Da jeder mit jedem gezockt hat, ist das inzwischen weltweit zu beobachten.“
“Und was passiert jetzt, Onkel Kulle?“
“Uns passiert gar nichts. Aber den Menschen – ich sage nur pffffft‘!! Das sage ich übrigens oft als Fazit meiner wissenschaftlichen Werke – bei Gelegenheit dürft ihr sie mal lesen!“
“Machen wir, Onkel Kulle!“
“Danke, Onkel Kulle!“
Die beiden tobten davon, und Kulle griff schmunzelnd zu seiner unerwartet aktuellen Lektüre.