Wochenlang herrschte nach der Theateraufführung von Bärdel, Kulle und Manfred für das jugendliche Publikum Bärenlebens scheinbare Ruhe. Niemand von den “Erwachsenen” bekam mit, dass sich Ramses, Piggy, Del und Nanuk regelmäßig jeden Tag trafen und hitzig miteinander diskutierten. Vor ihren Treffen verbrachten sie in der Regel lange Stunden in der Bibliothek und vor den Computern, mit denen sie im Internet recherchierten. Sie suchten nach der Formel für ein ideales gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen, wie Bärdel es ihnen aufgetragen hatte, aber sie hatten auch noch einen ehrgeizigen weiteren Plan.
“Es geht nicht!” stellte Piggy schließlich resigniert fest. “Es geht einfach nicht! Wir sind gescheitert!”
“Nein, das sind wir nicht!” widersprach Del. “Nicht wir sind gescheitert, sondern die Menschen. Und das und die Gründe dafür kann man doch zeigen, oder?”
Das sahen Piggy und die anderen ein. Sie fanden es jedoch langweilig, sich vorführen zu lassen, was sie schon selbst herausgefunden hatten. Außerdem fanden Sie, dass Bärdel und Kulle eine Belohnung für ihre Polittheatershow verdient hatten. Manfred eigentlich auch, aber der würde arbeiten müssen – sie brauchten seine Hilfe, wenn jetzt sie ein Stück inszenierten.
Manfred half den “Kleinen” gerne, und sie begannen heimlich mit den Proben. Bärdel war völlig überrascht, als er am Beginn einer Abendversammlung bestimmt, aber höflich von Nuk unterbrochen wurde.
“Bitte entschuldige, Onkel Bärdel!” piepste sie. “Ich weiß, dass ich Dich eigentlich nicht stören darf. Aber heute Abend stehen keine wichtigen Entscheidungen auf der Tagesordnung, und wenn das nicht der Fall ist, erzählen wir uns sowieso nur Märchen. Anstatt das zu tun, können wir auch ins Theater gehen – wir jungen Bärenlebener haben ein kleines Stück einstudiert.”
Die Bären nahmen den Vorschlag begeistert an und gruppierten sich vor der Bühne. Na übernahm die Einführung und erklärte, worum es gehen sollte. Und dann erlosch das Licht auf dem Podium. Im Zuschauerraum war es schon lange dunkel, denn es war später Herbst.
Als die Lichter auf der Bühne wieder angingen, sahen die Zuschauer zunächst einen Stummfilm, in dem warme Farben vorherrschten. Er zeigte Menschen in einfachen Verhältnissen, die glücklich zu sein schienen, bei einfachen Tätigkeiten. Sie aßen, tranken, arbeiteten, lasen, diskutierten, schliefen, spielten mit ihren Kindern. Ab und zu diskutierten alle über das gleiche. Dann wurde die entsprechende Frage eingeblendet. “Sollen wir eine Brücke über den Fluss bauen oder darauf verzichten, weil wir damit den Lebensraum einer Fledermaus gefährdeten?” “Wollen wir genmanipulierte Pflanzen anbauen und so die landwirtschaftlichen Erträge steigern, obwohl dadurch vermutlich die Reproduktionsrate der Schmetterlinge verringert wird?” “Wollen wir ein Fastfood-Restaurant eröffnen oder eine zweite Bibliothek einrichten?”
Wann immer es galt, eine solche Frage zu beantworten, trafen sich alle Erwachsenen auf einem großen Platz. Es gab niemanden, der zu Hause blieb, außer den ganz Kranken und Schwachen. Sie diskutierten nur kurz und entschieden sich schnell: Für die Fledermäuse, die Schmetterlinge und die Bibliothek. Und: Sie entschieden immer einstimmig.
Der Film endete, und die Bären wollen schon anfangen zu applaudieren, als ein freundlich aussehender Menschenmann in altmodischer Kleidung und mit einer Perücke auf dem Kopf auf der Bühne erschien und eine Erklärung abgab:
“Wie viele schwer zu vereinigende Dinge setzt diese Regierungsform überhaupt voraus! Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder Bürger genügende Gelegenheit hat, alle anderen kennenzulernen; zweitens eine große Einfachheit der Sitten, die keine Veranlassung zu vielen schwierigen Arbeiten und Verhandlungen gibt, sodann fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte; endlich wenig oder gar keinen Luxus, denn der Luxus ist entweder die Folge des Reichtums oder macht ihn nötig; er verdirbt nicht nur den Reichen, sondern auch den Armen, jenen durch den Besitz, diesen durch die Lüsternheit; er verwandelt das Vaterland in eine Stätte der Weichlichkeit und Eitelkeit; er entzieht dem Staate alle Bürger, um die einen zu Sklaven der anderen und alle zu Sklaven des Vorurteils zu machen.”
Hier machte der freundliche Herr eine lange Pause, die ebenso wie seine lange Rede von gelegentlichem Kichern aus dem Publikum unterbrochen wurde. Trotz aller Verkleidungskünste und Schminkbemühungen ließ sich nicht übersehen, dass der Sprecher ein grünes Gesicht hatte. Und ein grünes Gesicht hatte in Bärenleben nur einer: Ramses.
Der verkleidete Frosch schloss: “Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht.”
Er verbeugte sich tief und ging ab.
“Aber sehr wohl für Bären!” brummte ein sehr alter Bär, der sich sonst meist damit hervortat, dass er gegen alles war. Er begann, die Pranken ineinander zu schlagen, aber auch jetzt war die Vorstellung noch nicht zu Ende. Eine Melodie erklang, laut und kämpferisch, die den meisten Anwesenden bekannt vorkam. Dazu marschierten auf der Leinwand Soldaten in einem nicht enden wollenden Zug. Die Filmaufnahme war diesmal schwarzweiß. Den Text des Liedes hatte bisher niemand gekannt.
Auf, Kinder des Vaterlands!
Der Tag des Ruhms ist da.
Gegen uns wurde der Tyrannei
Blutiges Banner erhoben.
Hört Ihr auf den Feldern
Das Brüllen der grausamen Krieger?
Sie kommen bis in eure Arme
Eure Söhne, eure Frauen zu erwürgen!
An die Waffen, Bürger!
Schließt die Reihen,
Vorwärts, marschieren wir!
Damit ein unreines Blut
Unsere Äcker tränkt!
“Ich wusste gar nicht, dass die Marseillaise so einen blutrünstigen Text hat!” seufzte Tumu, “Das ist ja schrecklich!”
Wieder erschien Ramses auf der Bühne, in ähnlichem, aber in erkennbar anderem Kostüm, auch mit anderer Perücke. Er setzte sich auf einen Louis-XVI.-Stuhl und begann zu häkeln, wobei er freundlich ins Publikum lächelte.
“Ja, schrecklich ist es, aber in revolutionären Zeiten gibt es ohne Schrecken keine Tugend, und wir leben in revolutionären Zeiten: Deshalb: Alle Verdächtigen an die Laterne, wie es früher hieß, bevor der gute Dr. Guillotin seinen humanen Tötungsapparat erfunden hat. Glauben Sie bitte nicht, dass ich mich an den Hinrichtungen berausche – ich war noch bei keiner einzigen dabei. Blut ist mir zutiefst zuwider. Aber unser Land ist entartet, und wenn diese Entartung beendet werden soll, wenn wieder Moral, Grundsätze, Vernunft, Seelengröße und Wahrheit herrschen sollen, wie es Jean-Jacques Rousseau, der Prophet des “Höchsten Wesens”, gewollt hat, dann müssen wir die Parasiten am Volkskörper ausmerzen, ausmerzen, ausmerzen!”
Der Sprecher lächelte jetzt nicht mehr, und er hatte auch aufgehört zu häkeln. Seine Miene war verklärt, und zu den letzten drei Worten hatte er begonnen, den Takt zu klatschen.
Das Licht auf der Bühne wechselte, Ramses versank im Dunklen, und die Spielzeugguillotine, die Bärdel und Kulle für ihr vorhergehendes politisches Theaterstück gebaut hatten, tauchte auf. Piggy trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf, war aber trotzdem am Ringelschwänzchen gut zu erkennen. Das Schwein agierte als Henker. Na und Nuk hatten sich rote Streifen um den Hals gemalt und spielten die Opfer. Nacheinander legten sie sich auf das Schafott, und bei jedem Händeklatschen ließ Piggy das Beil herabsausen, das aber auf halber Strecke stoppte. Die “Exekutierte” verbarg den nicht abgeschlagenen Kopf in den Armen, ließ sich von der Guillotine rollen und versteckte sich dahinter. Kaum war das geschehen, spielte der andere Eisbärenzwilling den nächsten Verurteilten. Und immer so fort.
Das wirkte so komisch, dass die Zuschauer, die zunächst betreten dreingeschaut hatten, bald das Lachen nicht mehr unterdrücken konnten. Ein erstes verschämtes Lächeln wurde zum unterdrückten Gepruste, bis sich allgemein schallendes Gelächter durchsetzte.
Die Schauspieler schafften es eine Zeitlang, diese ungebührliche Reaktion zu ignorieren. Schließlich aber platzte Nanuk der Kragen. Sie hörten auf, sich exekutieren zu lassen, und stellten sich an die Rampe.
“Ihr Ignoranten!”
“Ihr seid vielleicht blöd!”
“Das ist alles historisch verbürgt!”
“Und komisch ist das überhaupt nicht!”
“Weil nämlich Robbespierre auch ein dogmatischer Ignorant war.”
“Er hat eine gute Idee pervertiert.”
“Er hat sie nicht verstanden und hat trotzdem versucht, sie mit Gewalt durchzusetzen.”
“Und wir haben rausgefunden, dass das bei dem Menschen immer wieder passiert.”
“Zum Beispiel in der Religion.”
“Oder in der Politik.”
“Und ihr lacht darüber!!!”
Die Bären im Publikum sahen einander unsicher an. Gehörte das noch zum Stück? Natürlich waren sie alle kulturinteressiert und kannten Handkes “Publikumsbeschimpfung”. Oder war das jetzt ernst gemeint?
Ein kleiner Kopf tauchte aus dem Souffleurkasten auf und wandte sich den Zuschauern zu. “Das, liebe Bären, ist sehr ernst gemeint!” sagte Del.
Sofort kehrte Ruhe ein.
Nach wenigen Sekunden allerdings erhob sich donnernder Applaus.