Athabasca lag gemütlich inmitten einer blumenübersäten Frühsommerwiese in Bärenleben und ließ sich die Sonne auf den braunen Pelz brennen. Die überwältigenden Düfte um sie herum brachten sie zum Niesen.
„Hatschepüh!“ machte sie lautstark. Und noch einmal: „Hatschepüahhh!“
“Du hörst mir gar nicht zu!“ beklagte sich Kulle, der neben ihr hockte. ‚Stimmt‘, dachte Atti, aber laut sagte sie: „Welch ein Unsinn! Ich lausche jedem deiner Worte mit Hingabe!“
Kulle, blind und taub wie jeder, der verliebt ist, glaubte ihr natürlich jedes Wort und fuhr in seiner Suada fort.
„Na und?“ fragte Athabasca und rollte sich genüsslich im Gras hin und her. Sie liebte es warm.
„Na und, na und! In Dehland werden vielleicht Palmen wachsen, die Sahara wird sich bis nach Spanien ausbreiten, und Grönland wird wieder grün!“
Atti verstand Kulles Aufregung nicht. Sie hatte nichts gegen ein subtropisches oder zumindest warmgemäßigtes Dehland; sie liebte die Wüste, seit sie ein paar Monate im kargen Südwesten der USA zugebracht hatte, und dass Grönland wieder grün werden könnte, erschreckte sie überhaupt nicht: Der Name der Insel legte schließlich nahe, dass ihr Normalzustand eisfrei war.
„Na und?“ fragte sie zum zweiten Mal.
„Nuk!“
Atti sah Kulle an, Kulle sah Atti an. „Was war das?“ fragten beide gleichzeitig. Der merkwürdige Laut, den sie gehört hatten, war irgendwo aus dem hohen Gras gekommen, das sie umgab.
Atti gab sich schnell zufrieden. „Es klang wie eine schlecht geölte Tür, aber hier gibt es ja keine Türen, und schlecht geölte schon gar nicht. Wahrscheinlich eine Grille, die sich im Ton vergriffen hat. Also – was ist schlimm daran, wenn in Grönland Gras wächst?“
Kulle spähte weiter aufmerksam um sich. „Die Albedo der Erde verändert sich drastisch“. brummte er unkonzentriert. Er sah Athabasca noch immer nicht an. „Irgendwas ist da!“ knurrte er.
„Albedo? Habe ich noch nie gehört. Ist das wichtig?“ Kulle reagierte nicht. Ungeduldig fragte Atti: Na, und was….“
Nuk!“
Atti verstummte sofort. Kulle kratzte sich am Kopf. „Es gibt da ein Muster, da bin ich sicher. Das Geräusch, oder was immer es sein soll, wird durch ein Schlüsselwort aktiviert. Aber welches? Was hast du zuletzt gefragt?“ wollte er von Atti wissen.
„Ich habe die Sache mit der Albedo nicht verstanden, Na, und…“
„Nuk!“ machte es zum dritten Mal.
„Na und Nuk, das ist es. Na und Nuk. Naundnuk. Aber was bedeutet das?“
„Das heißt nicht Naundnuk, sondern Nanuk. Nanuk heißt Eisbär. Das ist Inuit. Und gemeint sind wir.“
Der Sprecher, der das sagte, hatte eine helle Stimme und sprach Deutsch mit einem fremden Akzent. Atti und Kulle brauchten nicht lange zu warten, bis er sich ihnen zeigte. Zwei kleine Eisbären tapsten aus dem hohen Gras auf sie zu.
„Knut!“ rief Atti entzückt. „Und gleich zweimal!“
Manchmal fragte Kulle sich, ob Frauen wirklich so blöd sein mussten, wie sie sich meistens gaben, aber er fragte sich das immer und auch jetzt nur ganz im Geheimen. „Nein, das ist nicht Knut!“ erklärte er. „Knut ist inzwischen so groß, dass sich noch nicht mal sein Wärter mehr allein in seinen Käfig traut. Diese beiden heißen Nanuk. Stimmt‘s?“ fragte er.
„Nicht ganz. Ich bin Na, und meine Schwester heißt Nuk. Nanuk heißen wir nur zusammen.“
„Danke für die Vorstellung, Das ist Athabasca, und ich bin Kulle. Wir wohnen hier in Bärenleben. Und woher kommt ihr?“
„Aus Kanada.“
„Ich auch!“ rief Atti begeistert. „Kennt ihr Sunwupta Falls? Kennt ihr einen großen Grizzly namens Otto?“
Die beiden Kleinen schüttelten die Köpfe.
Kulle hätte liebend gerne in Erfahrung gebracht, wer dieser vermaledeite Otto war, aber er hielt nichts von Multitasking, wie man neuerdings sagte, wenn man mehrere Dinge auf einmal machte, und keines davon richtig. Er bevorzugte es, eine Sache nach der anderen zu erledigen. Da kamen ihm die beiden Kleinen gerade recht, denn er musste Atti noch erklären, was Albedo bedeutete.
„Ihr habt ein wundervoll weißes Fell“, sagte er. „Darf Atti das mal anfassen?“
Die Eisbären hatten nichts dagegen, und Athabasca strich mit ihrer rechten Vorderpfote sanft über Haut, die nicht spürbar war, weil sie von daunenweichem weißem Haar bedeckt war.
„Fühlt sich gut an!“ brummte sie.
„Und jetzt leg deine linke Vorderpfote auf dein eigenes Fell!“ kommandierte Kulle. Atti hatte keine Ahnung, warum er das wollte, aber sie tat ihm den Gefallen.
„Oops!“, sagte sie. „Rechts ist es viel kühler als links.“ Sie tastete nach ihrer Stirn. „Habe ich vielleicht Fieber?“
„Du hast kein Fieber, aber dein Fell ist braun, und das Fell der Eisbären ist weiß. ‚Albedo‘ bedeutet Rückstrahlkraft. Die Sonnenstrahlen werden von dem weißen Fell unserer Überraschungsgäste fast vollständig reflektiert, das heißt, es bleibt kaum Wärme an ihnen hängen. Mir deinem braunen Fell ist das anders, es wird aufgeheizt. Und wenn Grönland grün wird und nicht mehr weiß ist, dann wird auch Grönland aufgeheizt, und das hat Auswirkungen auf die gesamte Erde, und….“
„Kulle?“
Ja?!“ Kulle hatte über seiner Erklärung, während deren er sich auf Attis heißes Fell konzentriert hatte, die beiden kleinen Eisbären fast vergessen.
„Dasselbe erzählt Mami uns auch immer!“
„“Mami?“
„Wer ist Mami?“ fragte Athabasca, während Kulle sprachlos blieb. Für Mütter hatte er nichts übrig.
„Mami ist auch hier. Mami hat uns hergebracht. Mamiiii!!!!“ Atti und Kulle hätten nie gedacht, dass Bären, auch wenn es Eisbären waren, so laut kreischen könnten.
Eine Eisbärin tauchte aus den Büschen neben ihnen auf, eine Bärin, die so groß war, wie Atti und Kulle noch nie eine gesehen hatten. Sie war tropfnass.
„Hi there!“ grüßte sie. „Englisch versteht ihr doch, oder? Meine Kinder habe ich multilingual erzogen in Anbetracht des Klimawandels, aber, Entschuldigung, ich selbst kann als Fremdsprache nur Englisch. Ich habe gerade gebadet, um mich abzukühlen – es ist viel zu heiß bei euch. Aber euer See ist nett, und etwas zu essen hat er auch. Habt ihr Hunger?“ Sie spuckte eine große Forelle aus, die sie vorsichtig in ihren Fängen gehalten hatte.
„Ja! Na klar! Immer!“ riefen Na und Nuk durcheinander.
„Danke, nein!“ Atti und Kulle lehnten höflich ab, obwohl ihnen das Wasser im Maul zusammenlief.
Die Eisbärenmutter schleuderte den Fisch ihren Kindern vor die Füße, und die machten sich sofort an ihre Mahlzeit.
„Jetzt haben wir ein bisschen Ruhe vor den Beiden“, brummte sie zufrieden. „Ich heiße Oicy, und wir kommen aus Kanada. Ich bin froh, euch beide gefunden zu haben, denn wir sind schon lange unterwegs, aber in Europa scheint es kaum Bären zu geben. Oder versteckt ihr euch nur so gut?“
„Beides ist richtig“, antwortete Atti. „Es gibt kaum noch Bären, weil es zu viele Menschen gibt, und deshalb verstecken wir uns vor ihnen.“
„Also ist es hier auch gefährlich“, seufzte Oicy. Dann werde ich wohl weiterziehen und mein Glück in der Antarktis versuchen. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich durch die Tropen kommen soll, aber irgendwie…“
„Nein, gefährlich ist es nicht, jedenfalls nicht für uns“, unterbrach Kulle sie. Schaudernd dachte er daran, was für ein Massaker die drei Eisbärinnen unter der Pinguinpopulation rund um den Südpol anstellen würden. „Sag mal: Was hast du eigentlich vor?“
„Ich habe eben gerade den Klimawandel erwähnt. Wisst ihr, was das ist?“
Kulle wollte sich ob dieser Frage empören, aber Atti legte ihm beruhigend die Pfote auf den Arm. „Ich denke schon“, flötete sie und gönnte Kulle einen betörenden Augenaufschlag. „Die Kohlendioxidkonzentration steigt an, und es wird überall immer wärmer. Grönland wird wieder grün werden!“
„Ja, und auch Nordkanada, und der Nordpol wird eisfrei. Er ist im Sommer schon eisfrei!“ grollte Oicy. „Das heißt, dass wir Eisbären dort oben keine Lebensgrundlage mehr haben. Deshalb will ich die Kinder evakuieren. Sie sind noch jung genug, um sich an ein fremdes Habitat und eine andere Ernährung zu gewöhnen. Jedenfalls hoffe ich das. Darf ich meine Theorie gleich mal testen?“
Kulle war immer für die Entwicklung von Theorien und deren Erprobung. „Selbstverständlich!“ sagte er.
Oicy rief ihre Zwillinge, und da die beiden inzwischen aus der Forelle ein Grätenskelett gemacht hatten, kamen sie bereitwillig herbei. „Was isst man denn bei euch so?“ erkundigte sich ihre Mutter.
„Fisch mögen wir genau so gerne wie ihr auch, aber wir fressen auch Wurzeln und andere Pflanzenteile und Beeren und – na ja, und…“ erklärte Atti und verstumme unsicher, weil sie nicht wagte, die weniger appetitlichen Essgewohnheiten der dehländischen Bären zu verraten.
„Aas?“ fragte Oicy nach. „Das mögen wir auch, keine Sorge. Probleme haben wir dagegen mit pflanzlicher Nahrung. Könnt ihr mir mal so eine – wie heißt das – so eine Beere geben, bitte?“
Mit einem Sprung war Atti in einem nahe gelegenen Gebüsch verschwunden und schnell wieder zurück. Als sie ihre Pranke öffnete, lag darin unverletzt ein Häuflein reifer Himbeeren.
„Bitte!“ sagte sie höflich und bot Oicy davon an.
Zögernd langte die riesige Eisbärin zu, fasste mit überraschender Zartheit nach einer Beere und warf sie sich ins Maul. Sofort verwandelte sich ihr Gesicht in eine Grimasse des Ekels. „Pfui Inuit!“ brüllte sie. „So etwas esst ihr? Das werden meine Kinder bestimmt nicht mögen!“
Athabasca war der Meinung, dass Oicy nichts, aber auch gar nichts von Kindererziehung verstand: Wie konnte man seinen Abscheu gegen etwas zum Ausdruck bringen, wenn man erreichen wollte, dass Kinder diesen Abscheu eben nicht entwickelten! Aber sie behielt ihre Meinung höflich für sich. Anstatt etwas zu sagen, nahm sie selbst einige der Himbeeren, gab Kulle ebenfalls ein paar, und als sie sie mit der Zunge zerdrückte, zeigte ihr Gesicht den Ausdruck höchstmöglichen Entzückens. „Himbeeren!“ sagte sie schwärmerisch, „Himbeeren!“ Ich wollte, sie reiften das ganze Jahr lang! Wollt ihr auch mal probieren?“ fragte sie Na und Nuk. „Ich wette, ihr habt noch nie etwas so Köstliches gegessen! Ihr dürft übrigens Tante Atti zu mir sagen!“ Sie trat Kulle heftig gegen ein Bein, und er verstand, was sie von ihm wollte.
„Und ich bin Onkel Kulle“, ergänzte er. „Himbeeren sind wirklich etwas Wunderbares, esst nur!“
Na und Nuk sahen sich unsicher an, aber schnell ergriff Na die Initiative. „Ich bin die Erstgeborene“, erklärte sie selbstbewusst. „Ich probiere jetzt mal!“
„Pah, das sind nur anderthalb Minuten, die du mir voraus hast!“ protestierte Nuk. „Ich esse auch!“
Athabascas Pfote war auf einmal leer. Ängstlich beobachtete sie zusammen mit Kulle die Mienen der beiden Kleinen, aber sie konnte keine Veränderung des Gesichtsausdrucks erkennen, während die beiden kauten und schluckten.
„Hast du davon noch mehr, Tante Atti?“ fragten sie im Chor, als sie fertig waren. Athabasca wusste nicht, ob sie zuerst gelächelt oder zuerst zu einem weiteren Sprung in die Büsche angesetzt hatte. Die beiden Kleinen verputzen die zweite Beerenlieferung im Nu und sagen danach wie aus einer Kehle: „Mehr!“
„‘Mehr, bitte!‘ heißt das“, sagte Atti und schmunzelte. „Mehr ist da drüben in den Büschen. Bedient euch, aber seid vorsichtig: Beerensträucher haben Dornen!“
Sofort waren Na und Nuk verschwunden.
„Das scheint ja zu klappen!“ seufzte Oicy. „Ich muss gestehen, dass ich das gehofft habe. Ihr Vater war nämlich ein Grizzly, kein Eisbär, müsst ihr wissen.“ Tapfer fuhr sie fort: „Ich werde mich davonschleichen, solange sie beschäftigt sind. Ihr werdet ihnen bestimmt erklären können, warum ich nicht hiergeblieben bin. Und…“ Die Stimme versagte ihr. „Bitte, bitte, macht sie glücklich!“
„Na klar machen wir sie glücklich!“ brummte Kulle. „In Bärenleben ist jeder glücklich, sogar ich, nach Maßgabe der immer noch ausstehenden Revolution, natürlich. Gehst du weg“, fragte er plötzlich interessiert, „weil demnächst in Kanada eine Revolution zu erwarten ist?“
„Natürlich nicht. Es sei denn, du bezeichnest es als Revolution, dass alle Eisbären demnächst verhungern werden…“
„Psst“ machte Atti. „Lass das die Kinder nicht hören! Warum willst du überhaupt wieder weg, wenn du deine Kinder hierlassen willst?“
„Das ist doch klar, das liegt doch auf der Hand!“ sagte Kulle selbstbewusst und warf sich in die Brust. „Sie verträgt unsere Nahrung nicht. Sie würde hier sterben!“
„Ach ja?“ fragte Atti. „Ach ja?“ wiederholte sie zornig. „So, sie verträgt unsere Nahrung nicht? Sie würde hier sterben? Und in Kanada verträgt sie das gewechselte Klima nicht, das mit dem Kohlenirgendwas, und da würde sie auch sterben! Warum soll sie also nicht bei uns bleiben, zusammen mit ihren Kindern, und zu leben versuchen? Es wird uns schon was einfallen!“
Kulle gab ungern zu, dass er Unrecht hatte, noch nicht einmal vor sich selbst und schon gar nicht vor anderen. Aber allmählich dämmerte ihm, dass Athabasca Recht hatte. „Es gab da früher ein Verfahren“, sagte er langsam, „mit dem man im Winter Eis erntete. Man lagerte es an einem kühlen Ort, so dass der Vorrat für das ganze Jahr reichte. Wir könnten das System so auszubauen versuchen, dass es für Oicy und Nanuk als Wohnhöhle eingerichtet werden kann. Und wenn die Winter auch in den höheren Lagen von Dehland so warm werden, dass sich nicht mehr genug Eis bildet, dann fällt Manfred bestimmt eine technische Lösung ein. Die Verpflegung sollte kein Problem sein. Nanuk finden Gefallen an pflanzlicher Nahrung, wie es aussieht, und für Carnivoren findet sich in den dehländischen Wäldern und Gewässern immer genug Fleisch. Atti, du hast Recht! Sag mal“, wandte er sich an Oicy, „möchtest du denn bleiben?“
Zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben sah Kulle eine Eisbärin weinen.