Vorwort
Es rauscht anno 2007 im dehländischen Medienwald in der Vorschau auf ein wahrhaft wenig spektakuläres Jubiläum, nämlich ein vierzigjähriges. Wir sprechen vom Jahr 1968.
Nun, Anlässe zum Erinnern gäbe es genug. Zum Beispiel wurde die Mehrwertsteuer im Januar in Dehland eingeführt, der Vietcong gab dem Vietnamkrieg durch die TET-Offensive eine entscheidende Wendung, in den USA wurden im April Martin Luther King und im Juni Robert F. Kennedy ermordet, und im August endete der sogenannte “Prager Frühling“ mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei.
Aber nicht der Einstieg in eine mittelalterlich anmutende Abgaben-Unkultur, nicht individualterroristische noch staatsterroristische Angriffe, ja, noch nicht einmal der Vietnamkrieg sind Gegenstand der medialen Erinnerung. Die Erinnerung dient der Nabelschau, der Nabelschau derjenigen im Vorruhestands- und Rentenalter, die damals um die zwanzig Jahre alt waren, links waren und sich später als “68er“ bezeichneten. Heute sind sie in der Regel nicht mehr links, ganz im Gegenteil, aber sentimental. Konstitutioneller Bestandteil von Sentimentalität ist es, dass der Sentimentale sich unendlich leid tut, immer recht hat und dem Bedürfnis, sich selbst zu bespiegeln, nicht widerstehen kann.
Es wird zu untersuchen sein, ob die Unruhen des Jahres 1968 in Dehland Aufmerksamkeit oder gar eine breite Würdigung verdienen.
Die Studentenunruhen in der Bundesrepublik Deutschland 1
Was wollten “die 68er“? Schon in dieser Frage verbirgt sich ein weit verbreiteter Irrtum, denn “die“ 68er gab es nicht.
Der SDS erkor sich den Vietnamkrieg als wichtigsten Topos in der Hoffnung, anhand dieses Themas die Notwendigkeit der Weltrevolution am einfachsten deutlich machen zu können. Rudi Dutschke schreibt:
“Diese (…) Antwort McNamaras deutet darauf hin, daß in den entscheidenden Phasen der Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution auch die Bourgeoisie mehr denn je historisch-materialistische Elemente der Erkenntnis in sich aufgenommen hat. Sie ist so wenig wie wir dazu verurteilt, die Geschichte als blindes Geschehen über sich ergehen zu lassen, kann – ähnlich wie wir – aktiv und autonom in den Prozeß der Geschichte eingreifen, in ihn eingreifen, um die Unterordnung der Massen, um die Ausbeutung und das Elend zu perpetuieren.“
Nota bene: Die deutschen die Welt revolutionierenden Studenten wollten gemeinsam mit der internationalen Bourgeoisie in den Prozess der Geschichte eingreifen, um die Ausbeutung zu perpetuieren… Übrigens scheute dieser studentische Eingriff vor Gewalt nicht zurück: Holger Meins drehte einen Lehrfilm über den Bau von Molotow-Cocktails.2
Unter den Berliner Studenten traf die Vietnam-Kampagne des SDS auf viel Zustimmung. Die “Normalberliner“ waren allerdings völlig anderer Meinung. 80.000 von ihnen folgten auf einer Demonstration der Losung: Berlin darf nicht Saigon werden!“3 Um ganz sicher zu sein, dass das nie geschehen wird, schlugen sie etwa 40 verdächtige“ Studentendemonstranten zusammen, obwohl deren Losung:
Bürger, runter vom Balkon,
unterstützt den Vietcong!“
niemand Folge leistete.4
Überhaupt blieben die Studenten unter sich. Versuche wie die von Hans-Jürgen Krahl, der in Frankfurt zu einem gemeinsamen politischen Streik von Arbeitern, Schülern und Studenten gegen die Notstandsgesetze aufrief, scheiterten kläglich: Die Reaktion war gleich Null.
Ein wenig erfolgreicher war die Studentenbewegung bei ihren Aktionen gegen die Springer-Presse: Nach dem Revolver-Attentat auf Rudi Dutschke wurde tagelang versucht, die Auslieferung von Blättern des Verlags, insbesondere der BILD-Zeitung, zu verhindern. Die Aktionen erfuhren sogar internationale Unterstützung durch Solidaritätsdemonstrationen z. B. in Wien, Prag, Belgrad, Oslo, Tel Aviv(!), Paris, Amsterdam, London, Toronto, Washington und New York. Der dehländische Spießbürger dagegen war empört, und heute bekommt er, was ihm gebührt.5
Kein großes“ politisches Thema überlebte die Jahresmitte. Stattdessen machte sich Spaßkultur breit:
- Münchener Studenten verkleideten sich als Polizisten und sprengten Universitätsvorlesungen. Die Uniformen hatten sie sich bei einem Kostümverleih geborgt. Sie wurden dafür zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt6.
- Brandsätze explodierten nachts in zwei Kaufhäusern auf der Frankfurter Zeil, gelegt von Baader, Ensslin, Söhnlein und Proll. Sie gaben an, sie hätten die Kaufhäuser niederbrennen wollen, “um gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den Morden in Vietnam zu protestieren“. Das Gericht verhängte über alle vier Angeklagten eine Zuchthausstrafe von jeweils drei Jahren.7
- Gegen Ende des Jahres ergriff endlich eine Frauengruppe das Wort und bereitete dem Streit um die “Frauenfrage“ ein radikales Ende mit der Forderung:“Befreit die sozialistischen Eminenzenvon ihren bürgerlichen Schwänzen.“8
Wie weit die “dehländischen revolutionären“ Studenten und ihre Adressaten emotional9 voneinander entfernt waren, zeigt die folgende Anekdote. Als Protestmaßnahme gegen den Vietnamkrieg kündigte die Internationale der Kriegsdienstgegner an, einen Hund öffentlich verbrennen zu wollen – um zu “beweisen“, dass der Krieg, würde er gegen tierische Hausgenossen geführt, schon nach kurzer Zeit gestoppt worden wäre. Natürlich erhob sich die erwartete Protestwelle gegen das Vorhaben; unter anderem erbot sich eine Frau, sich anstelle des Hundes verbrennen zu lassen10.
Zum Vergleich: Der französische Mai
Am Vormittag des 3. Mai wollten sich etwa 100 linksgerichtete Studenten gegen einen Überfall einer faschistischen Gruppe auf ihre Universität im Pariser Vorort Nanterre wehren. In der darauf folgenden Nacht lieferten sich im Quartier Latin Tausende von Polizisten eine Schlacht mit Tausenden von Studenten und einer großen Zahl von Bürgern, die sich mit den Studenten solidarisiert hatten. Drei Wochen später streikten im ganzen Land mehr als zehn Millionen Arbeiter im ersten “wilden“ Generalstreik der französischen Geschichte, viele Großbetriebe waren besetzt. Das Staatsoberhaupt, General de Gaulle, brach verunsichert einen Staatsbesuch in Rumänien ab und wagte sich erst zurück in sein lothringisches Heimatstädtchen Colombey les-deux-Églieses, nachdem er sich in Dehland durch einen General der Loyalität der französischen Armee hatte versichern lassen. Unter dem Druck der Verhältnisse wurde die Nationalversammlung aufgelöst, einen Monat später fanden Neuwahlen statt, und das aufgrund der Ereignisse politisch angeschlagene Staatsoberhaupt trat kurz danach unter einem Vorwand zurück. So weit die Erfolgsbilanz.
Allerdings hat die Medaille auch eine zweite Seite: Bei den Parlamentswahlen im Juni verzeichneten die Gaullisten einen klaren Wahlsieg. Die Arbeiterklasse hatte sich kaufen lassen und für eine 35prozentige Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf die klassenlose Gesellschaft verzichtet. Und was nützt die ganze Revolution, fragte sich Monsieur Dupont11 , wenn das Benzin knapp wird, weil alle streiken?
Die Aktionen im französischen Mai waren nicht geplant und verfolgten, anders als etliche Aktionen der Studenten in Dehland, kein klar definiertes Ziel. Trotzdem waren sie erfolgreicher, was vor allem der Aktionseinheit von Proletariat und Studierenden geschuldet ist. Wie kam diese Aktionseinheit zustande?
Eine nur scheinbar randständige Episode des aktionsreichen 3. Mai mag eine Antwort geben. Das Quartier Latin befand sich am Abend im Belagerungszustand – schwer bewaffnete Polizisten der CRS standen den demonstrierenden linken Studenten gegenüber. In einer Straße neben der medizinischen Fakultät stoppte ein Mann12 seinen Wagen und fragte einen Beamten, was es gebe. Als Antwort erhielt er zwei Schläge mit dem Gummiknüppel – und schloss sich daraufhin den Demonstranten an.
Ein Volk muss ein Gefühl für Recht und Unrecht haben anstatt Angst, sonst wird alles Quark, nicht aber Revolution!13
Exkurs: Slogans
Bei einem Vergleich der Sprüche, die 1968 geprägt wurden, zeigen sich zwischen Dehland und Frankreich ebenfalls signifikante Unterschiede.
In Frankreich gab es utopische Aussagen, die in Dehland völlig fehlten, zum Beispiel:
- L’imagination prend le pouvoir!
- Je prends mes désirs pour des réalités car je crois en la réalité de mes désirs.
oder die in Dehland unmöglich wären:
- Soyez réalistes, demandez l’impossible!
Dehländische Kurzaussagen, die Wunschvorstellungen implizieren, waren dagegen meist nicht allgemeiner, sondern individuell-sexueller Natur:
- Petting statt Pershing!
- Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.
und partiell sogar resignativ:
- Euch die Macht – uns die Nacht.
In Frankreich fehlten Wortspiele unpolitischer Natur, die in Dehland weit verbreitet waren, völlig:
- Ich geh kaputt – gehst du mit?
- Lieber arm dran, als Arm ab!14
Über Formulierungen, die Verweigerung und partiell Gegengewalt implizieren, verfügen beide Spruchkulturen, zum Teil wörtlich:
- Imagine: c’est la guerre et personne n’y va! – Stell dir vor, es
ist Krieg, und keiner geht hin! - Sous les pavés, la plage – Unter dem Pflaster liegt der Strand.15
oder sinnverwandt: - Ne travaillez jamais! – Arbeit adelt – ich bleibe lieber bürgerlich!
Den Studierenden musste es auch um ihre Arbeitsbedingungen gehen, sollte man meinen, aber die französischen taten das ganz kurz ab: “Fin de l’université!“. Die Deutschen wollten dagegen in ihrem Elfenbeinturm unter verbesserten Bedingungen bleiben und verlangten: “Runter mit der Rüstung, mehr Geld für die Bildung!“ und: “Marx an die Uni!“.
Resignation ist den Franzosen fremd. Während die Dehländer Goethe zitieren: “Oh glücklich, wer noch hoffen kann, ais diesem Meer des Irrtums aufzuwachen“, oder selber schreiben: “Gestern standen wir noch vor einem Abgrund. Heute sind wir schon einen großen Schritt weiter.“, fehlen ähnliche Äußerungen bei den Franzosen völlig.
Conclusio
Nicht die Dehländischen “68er“ sollten sich sentimental selbstverliebt an das Jahr 1968 erinnern, sondern rational selbstkritisch die Franzosen. Und die Franzosen sollten ihre nächste Revolution ordentlich planen, damit sie endlich einmal klappt. Bei den Dehländern sind eh Hopfen und Malz verloren.
Endnoten:
1. Wir sind uns selbstverständlich der Tatsache bewusst, dass die politischen Aktionen der dehländischen Studierenden nicht erst 1968 begannen. Wir beschränken uns jedoch in dieser kleinen Untersuchung auf den Rahmen dieses Jahres.
2. Bezeichnend, dass man in Dehland derlei Anleitungen bedarf!
3. Natürlich ist das eine Forderung, zu deren Charakterisierung selbst das wissenschaftlichen Kriterien nicht genügende Adjektiv “saublöd“ nicht hinreicht. Da sie aber vom Berliner Senat formuliert worden war, wurde sie von den Bürgern akzeptiert, die diesen Senat ja gewählt hatten. Wir vermuten hier eine gewisse Reziprozität des Intellekts.
4. Es bleibt einer späteren Untersuchung vorbehalten, ob diese Verweigerung politische Gründe hatte oder ob ihre Ursache in dem schlechten Reim zu suchen ist.
5. Angesichts der Dominanz des gelben“ Journalismus, der nicht zuletzt aufgrund der Einführung des Privatfernsehens 1985 in Dehland einen Aufschwung genommen hat, an den 1968 niemand denken konnte, bleibt das nostalgische Schwärmen vieler in die Jahre gekommener älterer Herren in Erinnerung an ihre damaligen Blockadeversuche unverständlich.
6. Man sieht, dass es in Dehland 1968 keine humoristische Behandlung des Humors mehr gibt, anders als im angeblich dem Gelächter so abholden zweiten Kaiserreich. Von Wilhelm II. wird berichtet, dass er sich köstlich amüsiert habe, als er von Wilhelm Voigts erfolgreicher Übernahme des Köpenicker Rathauses anno 1906 erfuhr.
7. Hätte das Gericht in diesem Prozess Psychiater als Gutachter hinzugezogen, wäre die Geschichte Dehlands vielleicht anders verlaufen.
8. Ein weiterer schlechter Reim, der ebenfalls keine Wirkung zeitigte.
9. Von Intellekt wollen wir hier vorsichtshalber nicht sprechen.
10. Homo homini lupus? Unsinn! Homo homini homo! Mich persönlich interessiert übrigens, ob die Dame sich für einen Bären ebenso stark gemacht hätte.
11. Der französische Bruder von Otto Normalverbraucher.
12. Es handelt sich um Claude Frèche.
13. Der Spruch: “Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark!“ ziert noch heute einige wenige Häuserwände in Dehland.
14. Die dehländische Lust am Wortspiel führt sogar zu Entpolitisierungen politischer Aussagen. So hat ausgerechnet Wolfgang Neuss formuliert: “Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen.“ Allerdings hat Neuss auch Kluges geschrieben, wie z. B.: “Der Faschismus ist eine Spielart der freien Marktwirtschaft.“
15. Diesen Slogan haben die Franzosen entwickelt, wenn auch die Frankfurter sogenannten “Spontis“ ihn mit ihrer Zeitschrift “PflasterStrand“ für sich zu reklamieren versuchten.