Bärenabitur
Wenn in Bärenleben ein junger Mann oder eine junge Frau alt genug wurde, um künftig zum Kreis der Erwachsenen gezählt zu werden, musste er oder sie eine Prüfung bestehen – daran führte kein Weg vorbei, denn in dieser Beziehung war die Sippe traditionell. Allerdings bestand die Probe, anders als in früheren Zeiten, nicht mehr darin, körperliche Überlegenheit oder hauswirtschaftliche Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Stattdessen war Denken gefordert. Das konnte vielerlei bedeuten, und sich darauf vorzubereiten war deshalb nahezu unmöglich.
Heute war Dels großer Tag. Gestern noch hatten ihm alle viel Glück gewünscht, aber er hatte trotzdem herzlich schlecht geschlafen und trottete so nach seinem Honigwabenfrühstück ziemlich müde zu Bärdel, der dafür verantwortlich war, die Aufgaben zu stellen. Bärdel drückte ihm einen verschlossenen Umschlag, einen Stift und viel Papier in die Pranke.
“Viel Glück!“ sagte er. “Such dir ein ruhiges Plätzchen und lass dir Zeit!“
Unter Zeitdruck stehe ich also offenbar nicht, dachte Del. Er bekämpfte seine Neugier und suchte seinen Lieblingsplatz auf, von dem niemand außer ihm etwas wusste – eine winzige Lichtung inmitten von Haselbüschen. Dort ließ er sich auf seinen noch nicht sehr dicken Hintern plumpsen, seufzte tief und riss den Brief auf. Und las. Und las noch einmal. Und ein drittes Mal. Er wollte es einfach nicht glauben.
Er zwinkerte. Er rieb sich die Augen. Die Worte standen immer noch da, so oft er auch blinzeln mochte.
Die wollen mich verarschen! schoss es ihm durch den Kopf. Das war durchaus möglich. Manche Aufgaben waren so gestellt, dass der Proband erkennen sollte, dass sie nicht ernst gemeint waren. Trotzdem sollte er sie lösen – gefordert war dann eine kreative, unorthodoxe Bearbeitung. Aber war das hier auch der Fall? Wollte jemand vielleicht ernsthaft eine Verifizierung oder Falsifizierung der Aussage, oder möglicherweise eine Synthese?
Quatsch! schalt sich Del. Hier will niemand etwas Bestimmtes, ich bin schließlich nicht in der Menschenschule. Hier sind meine Denkfähigkeit und mein Humor gefragt, und die Inhalte sind nebensächlich, wenn ich sie nur intelligent und logisch verpacke. Also los!
Und er schrieb:
Der gegebene Aphorismus überzeugt formal durchaus, zeigt er doch rhetorische Meisterschaft. Der als Chiasmus angelegte Buchstabenreim (lebt – Werk; wirkt – Leben) betont die Antithetik der Geschlechter, weist aber auch auf ihr Zusammenwirken hin. Betrachtet man den Sinnspruch unter inhaltlichen Aspekten, ist dagegen Skepsis angebracht.
Mann und Frau in ihrer Heterosexualität sind zweifellos in ihrem Zueinander- Hingezogen-Sein unabdingbar für den Fortbestand der (menschlichen) Art und anderer Spezies, die sich sexuell vermehren, wobei mit dieser Aussage homosexuelle Lebensgemeinschaften keineswegs diskriminiert werden sollen. Beide wirken für das Leben in einem genau zu definierenden Moment: Der Mann schickt seine Spermien in die Genitalregion der Frau, in der sie ein Ei finden und es befruchten, wenn die Frau gerade empfängnisfähig ist, ein Ei, das die Frau dann austrägt, falls sie ihre Leibesfrucht nicht abtreibt. Treibt sie ab, wirkt sie nicht für das Leben. Benutzt der Mann ein Präservativ, tut er es ebenso wenig.
Nehmen wir eine Frau an, die ein oder mehrere Kinder geboren hat. Nehmen wir weiterhin an, sie sei eine “gute“ Mutter – in Dehland hieße das, auf Menschen bezogen, sie bringt ihre Tochter nachmittags mit dem Auto zum Reiten und den Sohn zum – nein, den Sohn braucht sie nirgendwohin zu bringen, er sitzt in seinem Zimmer vor dem Computer, und sie hat es längst aufgegeben, ihn davon wegzuholen. In, sagen wir, Angola, prostituiert sich die “gute“ Mutter und ist deshalb HIV-positiv – nur indem sie ihren Körper verkauft, kann sie ihre Kinder ernähren. Diese Frauen wirken für das Leben, indem sie für das Überleben und zum Teil den Spaß künftiger Spermienträger und Eiträgerinnen sorgen.
Nehmen wir einen Mann an, der ein “guter“ Vater ist – er kann in einem Pueblo in New Mexico seinen Sohn Körbe flechten lehren oder in Dehland ein Jahr oder länger aus seinem Beruf aussteigen, um sich der Erziehung des Nachwuchses zu widmen – auch er wirkt für das Überleben.
Quod erat demonstrandum: Das “Wirken für das Leben“ lässt sich letztlich nur am Zeugungsakt selbst festmachen, für den die Aufzucht der Nachkommen unabdingbar ist, und daran sind Mann wie Frau gleichermaßen beteiligt.
Kommen wir nun zum Leben für das Werk.’
Zunächst muss definiert werden, welches Werk’ gemeint ist. Übersetzt man den Begriff zum Beispiel mit VW-Werk’, könnte der zu analysierende Satz bestenfalls auf Ferdinand Piech und außerdem einige Dutzend VW-Angestellte zutreffen, die seit Jahrzehnten dort malochen und immer noch nicht verstanden haben, dass sie nichts anderes als Verfügungsmasse im großen Spiel um den Shareholder-Value sind – sie haben bisher nur das Glück gehabt, nicht freigesetzt’ worden zu sein, wie es im Wörterbuch des kapitalistischen Unmenschen so schön heißt. Da die Aussage jedoch allgemeiner Art ist, verbietet sich eine solche Interpretation.
Der Mann allgemein, der tätige, die Natur verändernde, der schaffende Mann ist gemeint, der, den die Lateiner homo faber’ nennen. Dieser Menschenmann hat wahrhaft viele Werke vollbracht. In archaischer Zeit tobte er noch durch die Wildnis auf der Jagd nach Beute, mitleidig und zugleich nachsichtig belächelt von den Matriarchinnen, die ihnen den Spaß nicht verderben wollten, aber sehr wohl wussten, dass ihre Sammlertätigkeit die eigentlich verlässliche Grundlage einer halbwegs gesicherten Versorgung mit Nahrungsmitteln war. Seit der neolithischen Revolution jedoch entwickelte er sich aufgrund seiner veränderten ökonomischen Stellung zum Haus- und Staatstyrannen, der alles und alle seiner Machtwillkür unterwarf. Auch uns Bären hat er nahezu ausgerottet, aber das nur am Rande.
Dass der Mann Werke vollbringt, ist unbenommen. Aber – lebt er für das Werk? Nein, primär stirbt er dafür! Die Vorstellung, die Menschenmänner vom richtigen Leben haben, setzten und setzen sie gegen konkurrierende Vorstellungen primär mit kriegerischen Mitteln durch.
Lebt dagegen die Frau für das Werk? Was ist das Werk der Frau? Seit einigen Jahrzehnten gibt es auch Managerinnen, aber von deren Werk’ auszugehen wäre ebenso wenig repräsentativ wie das des Ferdinand Piech. Menschenfrauen haben im Allgemeinen wesentlich weniger Interesse daran, die Welt zu verändern, als ihre männlichen Artgenossen. Das Werk’ der Frau ist die Erhaltung des Status quo, also die Erhaltung der Art, also die Erhaltung des Lebens.
Fazit: Mann und Frau wirken für das Leben beim Zeugungsakt, wie oben erläutert. Mann und Frau definieren den Begriff Werk’ als eine bestimmte Qualität des menschlichen Lebens, wobei der Menschenmann auf Veränderung aus ist, die er Fortschritt nennt, die Menschenfrau dagegen auf Lebenserhaltung. Zur Durchsetzung ihrer Ziele bedienen sich die Angehörigen der beiden Geschlechter unterschiedlicher Strategien: Gewaltanwendung bzw. Kooperation. Die Aussage des gegebenen Aphorismus ist folglich nicht haltbar.
“Uff!“ sagte Del, streckte sich, legte sich ein paar Minuten auf den Rücken und dachte gar nichts, bis er sich sein Werk ein zweites und ein drittes Mal durchlas. Hatte er zu viele Gedankensprünge eingebaut? Lag er völlig daneben? Er glaubte es nicht; eigentlich war er recht zufrieden.
“Na, endlich fertig?“ In die winzige Lichtung, von der Del angenommen hatte, dass sie nur ihm bekannt sei, brach ungestüm Kulle ein. “Ich bin dein Prüfer, das wusstest du doch, oder?“
Nein, das hatte Del nicht gewusst. Kulles Eröffnung beunruhigte ihn zutiefst, denn Kulle galt als sehr kleinlich und sehr belesen – er erkannte jeden sachlichen Fehler.
“Wenn dein Aufsatz nicht ausreichend sein sollte, machen wir beide noch eine mündliche Prüfung zusammen. Dann bestehst du bestimmt!“
Kulles Aussage war beruhigend gemeint, wirkte auf Del aber ganz anders.
“Nun reg dich bloß nicht auf!“ brummte Kulle. “Lass mich erst mal lesen!“
Und er las. Del saß währenddessen auf glühenden Kohlen, weil er beobachten musste, wie Kulle stockte, noch einmal las, die Stirn runzelte, den Kopf schüttelte. Aber schließlich nickte er.
Die Haselsträucher wurden lebendig. Bärinnen und Bären zwängten sich durch die eng stehenden Zweige, die ihnen nur mühsam Durchschlupf erlaubten, aber trotzdem schaffte es jede und jeder, einen Leckerbissen in der Pranke zu halten – und alle boten ihr Geschenk gleichzeitig Del dar.
“Unseren Glückwunsch!“ rief Kulle. “Unseren Glückwunsch für ein ausgezeichnetes Bärenabitur! Du hast den dummen Spruch gehörig abgestraft und dabei historische und politische Kenntnisse wie auch Humor bewiesen. Ab heute gehörst du zu den Erwachsenen!“