Morgenspaziergang
Auch in der neuen Welt wollten die Übersiedler selbstverständlich nicht auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten – schließlich waren sie konservative Europäer. So hatten Bärdel und Kulle ihre morgendlichen Spaziergänge wieder aufgenommen, sobald Kulles Pfoten verheilt waren (vergleiche: “Der erste Tag“). Anders als in Bärenleben aber bestand Bärdel darauf, in Kulles Nähe zu bleiben – er befürchtete weitere unbedachte Taten seines Freundes. Da er es verstand, seinen Mund zu halten, akzeptierte Kulle die Begleitung ohne irgend einen Kommentar.
Wie auch früher hielten sie eine feste Route ein: Ihr Weg führte sie bergauf über eine Wiese bis zu einem Bach, der unterhalb eines Geröllfeldes talabwärts plätscherte, dann parallel zum Hang durch einen lichten Aspenbestand und in einem sanften Bogen wieder hinunter zurück zur Höhle, die sie inzwischen „Zuhause“ nannten. Direkt hinter dem Wäldchen kreuzten sie dabei einen Fahrweg, der nach dehländischen Kriterien den Namen „Straße“ nicht verdiente, hierzulande aber durchaus als solche galt. Allerdings hatten sie noch nie erlebt, daß jemand diese sogenannte Straße benutzte. Bis heute.
Kulle wollte gerade, gedankenverloren wie immer, den Schutz der Bäume verlassen, als Bärdel nach ihm griff und ihn gerade noch am Schulterfell erwischte.
„Stop!“ flüsterte er. „Da ist doch was!“
Auf dem Fahrweg oder auf der Straße, jedenfalls auf dem festgefahrenen Lehm, stand ein Auto. Es sah so aus, als gehörte es nicht hierher in die Berge und als wollte es auch nicht hier sein. Der ehemals weiße PKW war lehmüberkrustet. Der linke Vorderreifen war platt, und unter dem Wagen breitete sich eine übelriechende schillernde Öllache aus. Die Scheiben waren dunkel getönt, aber dennoch konnten die beiden bei genauem Hinsehen erkennen, daß die Vordersitze besetzt waren.
„Menschen!“ Bärdels Stimme war noch leiser als vorhin. „Laß uns verschwinden!“
Kulle schüttelte jedoch den Kopf. Er sah Studienobjekte vor sich, keine unmittelbare Gefahr. „Nicht so eilig“, sagte er. „Die beiden schlafen doch, das sieht sogar eine Blindschleiche. Außerdem sieht es sehr so aus, als ob sie sich verirrt hätten – ihr Auto ist jedenfalls eine einzige Katastrophe. Ich möchte mir das näher ansehen.“
Bevor Bärdel reagieren konnte, sah Kulle sich das näher an, so wie er es verstand: Er ging ohne Umschweife auf das Auto zu und riß die Beifahrertür weit auf. Der Oberkörper eines jungen Mannes in dunkelblauem Anzug rutschte in den frei gewordenen Raum, und der Kopf wäre auf den harten Boden aufgeschlagen, hätte Kulle ihn nicht im letzten Moment aufgefangen.
„Oh“, sagte Kulle überrascht.
„Oh“, sagte der junge Mann und schlug die Augen auf. Er machte die Augen sofort wieder zu, und sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Zuerst schien er skeptisch zu sein, aber dann begann er zu lächeln. Das Lächeln wurde immer strahlender, und als sein Mund so breit war, daß er die Ohren zu berühren schien, schlug er die Augen wieder auf. Er schaute Kulle voller Vertrauen an, hob die Arme hoch über seinen Kopf und senkte sie stufenweise wieder.
„Pay Lay Ale“, sagte er dabei.
„Kulle“, sagte Kulle, als er sich seinerseits vorstellte. Er war jedoch verwirrt – so einen merkwürdigen Namen hatte er noch nie gehört, und auch das Begrüßungsritual war ihm unbekannt.
Seine Antwort schien den jungen Mann nicht minder durcheinanderzubringen. Er schloß seine Augen wieder, rieb sich die Stirn, massierte sich die Schläfen und sah Kulle danach zum zweiten Mal an. Diesmal war sein Blick mißtrauischer und klarer zugleich. Er schüttelte den Kopf, als hätte er einen entsetzlichen Fehler begangen, und wandte sich der Gestalt auf dem Fahrersitz zu. Kulle beugte sich tiefer hinab, um besser sehen zu können.
Der Mann auf dem Fahrersitz war ebenso jung und ebenso weiß wie der Beifahrer und trug den gleichen blauen Anzug. Auch er schlief fest oder war vielleicht ohnmächtig, wie es sein Freund oder Kollege vor wenigen Minuten auch getan hatte oder gewesen war. Kräftiges Schütteln seines Beifahrers brachte ihn jedoch wieder zu Bewußtsein.
„Wasser!“ sagte er.
Damit konnten die Spaziergänger dienen. Seit dem Abenteuer des ersten Tages hatte Bärdel die Höhle nie wieder verlassen, ohne eine große Flasche Wasser mitzunehmen, und sei es auch nur für einen kurzen Ausflug. Und er hatte allen Bärenlebenern eingeschärft, es genauso zu halten. Also drängelte er sich jetzt nach vorne und reichte seine Flasche ins Auto.
„Bitte, trinkt ruhig, soviel ihr mögt. Wir haben genug.“ Selbstverständlich sprach Bärdel amerikanisches Englisch, aber als er sprach, merkte er, daß der junge Mann das nicht getan hatte. „Wasser“ hatte er verlangt. Buchstäblich. „Wasser“ auf deutsch.
Nachdem sowohl der Fahrer als auch sein Begleiter die Flasche gierig geleert hatten und sie, sichtlich beschämt wegen ihrer Gier, zurückgaben, begann Bärdel zu fragen. „Seid ihr Deutsche?“
Beide nickten.
„Verirrt?“ Beide nickten wieder.
„Touristen?“ Beide schüttelten den Kopf.
„Nein, wir sind Miss…“, begann der eine, aber der andere fiel ihm sofort ins Wort. „Dürfen wir euch etwas fragen?“ wollte er wissen.
“Selbstverständlich!“ sagte Kulle spontan. Er war überzeugt davon, daß es keine Frage gab, die er nicht beantworten konnte.
„Glaubt ihr an Gott?“
Das überraschte Kulle denn doch, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann aber holte er tief Luft. „Natürlich ni…“
„Natürlich nimmt diese Frage sich unter völlig Fremden ein wenig merkwürdig aus“, erklärte Bärdel anscheinend seelenruhig beinahe gleichzeitig. Die beiden Fremden sahen jedenfalls nicht, daß er Kulle heftig in die Seite knuffte, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Es ist schließlich eine sehr persönliche Frage, aber ich will sie trotzdem beantworten: „Ja!“
Kulle blies ihm seinen heißen Atem ins Gesicht, als er ihn verblüfft ansah, aber Bärdel zwinkerte oder blinzelte kein bißchen. Stattdessen lächelte er die Fremden harmlos und strahlend an.
Die beiden strahlten zurück. Der Zusammenbruch ihres Autos, ihre offensichtliche Erschöpfung, vielleicht sogar Verletzungen – alles schien wie weggeblasen. „Wir auch!“ sagten sie im Chor. Und ebenfalls unisono: „Es ist schön, euch zu treffen, Brüder!“
„Gut, gut“, brummte Kulle, „dann sind wir uns also einig, und jeder kann wieder seiner Wege gehen.“ Er sah Bärdel auffordernd an. So neugierig er auch war, einen Disput mit religiös Verrückten, die auf einem Waldweg in einem zusammengebrochenen Auto saßen, hielt er für wenig fruchtbar. Bärdel schien jedoch anderer Meinung zu sein, denn er blieb wie angewurzelt stehen und wartete offenbar auf etwas. Er brauchte nicht viel Geduld zu haben.
„Die Botschaft der Bibel ist wunderbar, nicht wahr?“ fragte Fahrer.
Bärdel nickte mit verklärtem Lächeln. Kulle schaute mehr und mehr verwirrt drein.
„Aber…“ sagte Fahrer.
Bärdel runzelte die Stirn. Er schien nicht geneigt, irgend etwas auf die Bibel kommen zu lassen.Kulle sah jedoch, daß er schauspielerte. Er hatte zunehmend das Gefühl, an einer Schmierenkomödie teilzunehmen, die er allerdings nicht kannte.
„Aber was?“ wollte Bärdel wissen.
Seine augenscheinliche Skepsis veranlaßte Fahrer zu einer anderen Strategie. „Aber viele Menschen glauben leider, daß Gott sich heute nicht mehr offenbart“, erklärte er.
„Tut er das denn?“ Das war wieder Bärdel.
Kulle verlor die Geduld. Gut, abstrakt hatte er verstanden, was hier ablief. Die beiden jungen Männer wollten ihn und seinen Freund für ihre Religion keilen. Bärdel hatte das eher begriffen als er und wollte die beiden jetzt genüßlich und ausführlich vorführen. Aber Kulle hatte keine Lust, sich eine langatmige und bestimmt langweilige Religionsgemeinschaftsgründungs- oder Wundergeschichte anzuhören nach dem Schema: Jungfrau Maria erscheint drei armen Bauernmädchen, Gott erscheint viehhütendem Araberjungen, Nomade klettert bei schlechtem Wetter auf einen Berg – oder so ähnlich. Da er in Amerika war, war er sicher, daß in der Story der Beiden Gottvater samt Sohn, vielleicht auch noch begleitet von einer Dunstwolke, einem Knaben erschienen war, der vermutlich Miller oder Smith hieß – eigentlich also nichts Neues. Viel spannender war da doch, was die neue Religion zu bieten hatte.
„Also, das tut er bestimmt, wenn ich euch beide so ansehe. Wer mitten in der Wildnis über nichts anderes reden will als über Gott, dem ist er zweifellos erschienen!“ knurrte er. Bärdel sah ihn böse an, aber die beiden jungen Männer strahlten Kulle an, als sei er der Weihnachtsmann. „Na, dann erzählt mal – wie ist die Kosten-Nutzen-Relation?“
Bärdel fühlte sich genötigt zu übersetzen, als er die Verwirrung der Autofahrer bemerkte. „Mein Freund möchte gerne wissen, was der Gott, an den ihr glaubt, von seinen Dienern verlangt und wie er ihren Dienst belohnt. Mich interessiert das natürlich ebenfalls“, fügte er höflich hinzu.
Jetzt waren die beiden jungen Männer nicht mehr zu halten. Sie stiegen aus ihrem Auto, federnd und energiegeladen, kamen auf Bärdel und Kulle zu, legten ihnen jeweils einen Arm über die Schulter und übertrumpften sich wechselseitig mit ihren Erklärungen.
„Errichtung des Gottesreiches in Amerika…“
„Ewiges Leben im Himmel, in der Anwesenheit Gottes, mit eurer gesamten Familie…“
„…also mit allen Generationen…“
„…selbstverständlich ewige Fortführung der Ehe…“
„Ein glückliches, drogenfreies Leben auf dieser Erde…“
„Ein irdisches Leben ohne überflüssige Zweifel, denn wir gehorchen der Obrigkeit und dem Gesetz…“
„Beistand von geschulten Brüdern und Schwestern bei allen Problemen, mindestens einmal monatlich…“
Das verbale Trommelfeuer der beiden wollte zunächst gar nicht wieder aufhören, aber endlich verebbte ihr Redefluß.
„Das alles und noch mehr gibt es nur für den Zehnten“, sagte schließlich Fahrer. „Und ein bißchen Engagement“, fügte Beifahrer hinzu. Sie schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an.
Kulle suchte den Blickkontakt mit Bärdel, und Bärdel nickte. Kulle hatte freie Bahn. Bärdel sah aus, als freute er sich kräftig auf ein ordentliches show-down, aber Kulle enttäuschte ihn.
„Hmhm“, machte er. „Wir sollten jetzt mal alle kräftig anfassen, den platten Reifen wechseln und euer Auto umdrehen, damit ihr wenigstens bergab rollen könnt und wieder zu euren Leuten kommt. Die Bremsen sind doch in Ordnung, oder?“
Die beiden Männer schwankten eine Weile zwischen dem Wunsch nach der Fortsetzung ihres theologischen Gesprächs und der vorgeschlagenen Rettungsmaßnahme hin und her, entschieden sich schließlich jedoch für Kulles Vorschlag. Als ihr Auto nach einer arbeitsamen Weile mit der Nase bergab zeigte, stiegen sie ein, bedankten sich, versprachen wiederzukommen, schalteten die Zündung ein, lösten die Bremse und legten den Leerlauf ein. Langsam, dann rascher begannen sie zu rollen. Bevor sie hinter der ersten Kurve verschwanden, leuchteten die Bremslichter auf.
Bärdel grinste Kulle an. „Das waren übrigens
LDS“, informierte er ihn. „Ich habe sie sofort erkannt, denn Ramses hat mir inzwischen einiges über sie erzählt. Deshalb dachte ich, daß ich sie dir bei dieser günstigen Gelegenheit gleich live vorführen sollte. Aber sag mal – seit wann bist du denn gegenüber religiösen Eiferern so nachsichtig, daß du auch noch dafür sorgst, daß sie sicher nach Hause kommen?“
„Nachsichtig?“ knurrte Kulle. „Bin ich das? Ihre Ölwanne ist leer, also können sie den Motor nicht anlassen. Der würde sich sofort festfressen. Ohne Motor haben sie keine Bremskraftverstärkung. Auch als LDS-Mitglied sollte man solche simpelsten technischen Sachverhalte kennen. Wenn sie heil unten ankommen wollen, dann brauchen sie also entweder kräftige Muskeln oder einen kräftigen Gott. Haben sie eins von beiden oder beides, dann wünsche ich ihnen ein glückliches drogenfreies Leben unter irgendeinem grausamen, aber selbstverständlich von Gott eingesetzten Diktator. Und wenn ihnen beides fehlt, ist das auch nicht schlimm, denn es erwartet sie ein nicht endendes Leben mit ihrer lieben Familie in Gottes Reich.“
„Um Gottes willen!“ flüsterte Bärdel entgeistert.
„Nun fang du nicht auch noch so an!“ fauchte Kulle. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, erstens. Wir können solche Typen hier oben nicht brauchen, zweitens. Und jetzt ist es Zeit zum Frühstücken.“