Kulles Kanzler-Interview

Kulles Kanzler-Interview

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Kulle
Kulle:
Guten Morgen, Herr Kanzler. Haben Sie gut geschlafen?
Kanzler:
Danke, ausgezeichnet.
Kulle:
Das wundert mich. Denn die Gewinneinkommen sind in den vergangenen sechs Jahren um netto 44 Prozent gestiegen, und die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung netto um 3 Prozent. Der hohen Staatsverschuldung auf der einen Seite steht eine ungeheure Anhäufung der privaten Geldvermögen gegenüber. 30 Prozent des Geldvermögens waren 1996 auf drei Prozent der privaten Haushalte konzentriert. Und das läßt einen sozialdemokratischen Kanzler ruhig schlafen?

Kanzler:
Um Umsteuern kommen wir nicht herum. Wir werden uns auf eine andere Basis stellen müssen. Die Idee, die dahinter steckt, die Herr Riester vorgetragen hat, die Renten anders zu finanzieren beziehungsweise anders zu gestalten, da ist ja eine ganze Menge drin: eine Art von Grundsicherung, dann die Rente, die nach der eigenen persönlichen Leistung gestaltet wird, und dann die private Vorsorge, die der Mensch trifft. Die ist im Prinzip aus meiner Sicht richtig!
Kulle:
Das klingt aber nicht gerade nach sozialer Korrektur!
Kanzler:
Das Problem ist, dass wir das Sparpaket durchbekommen, dass die Konturen, die sich dort abzeichnen, auch klarer werden, dass klarer wird, dass damit die Wirtschaft wieder angekurbelt wird, Arbeitsplätze geschaffen werden und alle jetzt die ärmel hochkrempeln müssen und etwas leisten müssen, damit die Sachen wieder ans laufen kommen, denn der Karren steckt durch die alte Bundesregierung ganz schön tief im Morast, dass der wieder herauskommt und ans laufen kommt.
Kulle:
Ich verstehe. Die Sachen stecken im Morast, und wenn wir alle die ärmel hochkrempeln, dann kommen sie wieder ‚ans laufen‘. Eine inhaltlich wie sprachlich einleuchtende Argumentation, der zweifellos jeder leicht folgen kann.
Kanzler:
Sehen Sie, Kulle, es ist doch so: Mancher, der das Gefühl gehabt hat, für ihn ist manches gesagt worden im Wahlkampf und jetzt wird auf seine Sorgen eingegangen, der stellt plötzlich fest, auch er will gefragt sein, sich an der Sache zu beteiligen. Denn die Frage, dass die Renten nicht so erhöht worden sind, wie sich das mancher erhofft hat, das tut natürlich ein bisschen weh. Man darf aber nicht vergessen – und daran sollte man immer wieder mal erinnern -, das was die alte Regierung vorgehabt hätte, das hätte auch weh getan. Insoweit ist das eine Diskussion, die meiner Meinung nach überflüssig ist. Wenn man jetzt sagt, wir hätten irgendwie versprochen, die Renten würden steigen? Das kann kein Mensch versprochen haben, und das war im Wahlkampf nicht ganz klar, aber jeder hat gewusst: so geht es nicht weiter!
Kulle:
Also geht es doch so weiter?
Kanzler:
Wie – so?
Kulle:
So wie unter der alten Regierung. Sie tun das, was Ihre Vorgänger auch gemacht hätten, wenn die Wähler sie gelassen hätten. Das werden Sie der vielbeschworenen „Neuen Mitte“, die Sie gewählt hat, aber erklären müssen!
Kanzler:
Die Neue Mitte ist definiert durch Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, durch die kulturellen Eliten, aber auch durch diejenigen, die als Handwerksmeister oder als kleine und mittlere Unternehmer tätig sind. Im übrigen: Auch der klassische Arbeitnehmer begreift sich, wenn Sie ihn fragen, als Angehöriger der Mitte. Und diese Neue Mitte macht nach meinem Verständnis die Stabilität einer Gesellschaft aus. Die neue gesellschaftliche Mitte hat mir in besonderer Weise vertraut. Sie hat mich als Verkörperung dessen begriffen, was sie fühlt, wünscht und für richtig hält. Allerdings besteht diese Dialektik zwischen Eigenständigkeit und gelegentlicher Querköpfigkeit auf der einen Seite und Mitgliedschaft in einer großen Organisation wie der SPD auf der anderen Seite nicht nur bei mir.
Kulle:
Danke – jetzt weiß ich endlich, was Dialektik ist. Aber wie wollen Sie Ihre Linie durchsetzen, wenn Ihr Verhältnis zu Ihrer Partei so ambivalent ist?
Kanzler:
Das ist vor allen Dingen der Appell an alle in der Bevölkerung und natürlich auch in der eigenen Partei. Wir werden die Diskussion um die Zukunft unseres Landes gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes und auch mit den großen Organisationen wie den Gewerkschaften, den Unternehmerverbänden, den Kirchen und anderen führen bis hin zur Umweltbewegung oder dem, was sich in der Gesellschaft in den letzten Jahren immer stärker entwickelt hat.
Kulle:
Was immer das auch sein mag…
Kanzler:
Populäre Schnellschüsse sind das eine, wirkliche Reformen das andere. Ich bin ja gerne bereit, darüber nachdenken zu lassen, aber das anzukündigen wäre nun ganz verkehrt.
Kulle:
Ich beneide Sie!
Kanzler:
Worum?
Kulle:
Sie können nachdenken lassen. Ich muß das leider immer selbst erledigen. Mitunter ist das ganz schön anstrengend. übrigens denken – was, denken Sie, denkt der Wähler über ihre Partei?
Kanzler:
Das kann ich Ihnen nicht ganz genau sagen. Ich bin für eine Sprachregelung, die nach draußen klar macht, was wir wollen. Dann kann man sich ja intern immer noch darüber unterhalten, ob man das so oder so hinkriegt. Es interessiert, glaube ich, den Wähler auch nicht, ob wir von da oder von dort kommen, sondern ihn interessiert das Ergebnis. Die Wähler interessiert das Ergebnis, und das Ergebnis ist, dass wir das, was wir versprochen haben, einhalten, nämlich die Wirtschaft wieder ans laufen zu kriegen und die schlimmsten Sachen, die wir dort geerbt haben, zu beseitigen. Das sind vier Millionen Arbeitslose, und das muss weg!
Das ist natürlich nicht schön oder wäre nicht schön – noch ist das ja nicht gelaufen -, wenn jetzt Landtagswahlen verloren gingen, weil wir nicht in der Lage gewesen sind, das, was wir wollen, zu erklären. Da gibt es im Osten immer die Möglichkeit – das muss man mit einschätzen -, dass die Wähler, die keine Bindung haben, ausflippen, zu der Partei und zu der Partei gehen. Die strafen ja jeden ab. Das ist bedauerlich.
Kulle:
Gibt es denn überhaupt noch Wähler mit traditioneller SPD-Bindung?
Kanzler:
Es sind neue hinzugekommen, und die brechen auch wieder weg. Das ist so. Ich glaube, die Bindungen an die Parteien, wie wir sie früher gekannt haben, gibt es nicht mehr. Damit muss man sich auseinandersetzen. Wir wollen ja auch, dass neue hinzukommen. Die jungen Leute sollen uns wählen. Es sollen uns die Frauen wählen. Die wollen, dass wir uns darum bemühen, dass sie im Arbeitsleben einen Platz finden, auch dann, wenn sie Kinder haben, dass also diese beiden Sachen unter einen Hut kommen. Um die wollen wir uns bemühen.
Kulle:
Bemühen Sie sich nur um die Wähler oder auch um deren Anliegen?
Kanzler:
Ich frage Sie, Kulle: Was macht man eigentlich angesichts der Situation, dass jede Dienstleistung und jede Sache, die hergestellt wird, von anderen irgendwo auf dieser Welt hergestellt werden kann zu anderen Bedingungen, preiswerteren Bedingungen, und dass diese hier auf unseren Markt kommen? Da muss man sich Gedanken machen, wie man darauf reagieren möchte. Wenn man möchte, dass Menschen wieder in Lohn und Brot kommen, muss man auch das eine oder andere lieb gewonnene aus Zeiten, als die Märkte noch abgeschotteter waren, aufgeben.
Kulle:
Was heißt das konkret?
Kanzler:
Das heißt nur, dass wir unter anderen Bedingungen uns die Frage stellen müssen, wie verwirklichen wir soziale Gerechtigkeit, wie stärken wir die Kraft unseres Landes und wie sorgen wir dafür, dass die Menschen besser als vielleicht in der Vergangenheit in der Lage sind, mit solchen Herausforderungen fertig zu werden. Das bedeutet beispielsweise, dass Bildung, dass Weiterbildung, dass Fragen der Bewältigung und der Beteiligung am technischen Fortschritt dabei in den Mittelpunkt rücken. Was die Globalisierung oder die weltwirtschaftliche Verflechtung angeht: Es ist völlig unstreitig – und da kann man sich ja auch in Europa mal ein bisschen umschauen -, dass unter diesen Umständen die Rolle des Sozialstaates mehr eine aktivierende, eine helfende, eine unterstützende, nämlich Eigeninitiative und Eigenverantwortung unterstützende sein sollte.
Kulle:
Vielen Dank für die Konkretion. Mich umweht der Geist des Schröder-Blair-Papiers.
Die Unternehmer sind davon übrigens begeistert – das war‘s doch, was Sie erreichen wollten, nicht wahr? Die neue Regierung krümmt der freien Wirtschaft kein Haar. Herr PiËch hat Ihre Intention sehr wohl begriffen, und den ersten Test haben Sie bestanden – VW wird seine Profite wegen der ökologisch sinnvollen Altauto-Verwertungs-Verordnung der EU nicht zu schmälern brauchen. Sie haben diese Verordnung nämlich zu Fall gebracht.
Kanzler:
Ich frage mich verzweifelt, warum man sich über solch ein Papier so aufregen kann. Das sind zum Teil schon längst gegessene Kamellen, denen die ganze SPD sofort zustimmen würde. Da sind ein paar Reizworte drin. Die hätte es nicht Not getan. Eine Angebotspolitik von links oder sonst etwas. Darum geht es gar nicht, um Angebots- oder Nachfragepolitik. Es geht darum, dass Menschen wieder in Lohn und Brot kommen, für sich selber arbeiten und sorgen können, dass junge Leute einen Ausbildungsplatz bekommen, dass wir endlich das wieder schaffen, was andere auch geschafft haben, nämlich eine Wirtschaft zu bekommen, die läuft. Und ob das von Angebot oder Nachfrage gesteuert wird, ist ziemlich egal, Hauptsache, alle haben das Gefühl, sie sind mit gefragt worden, dass sie mit daran teilnehmen können, und keiner hat das Gefühl, er muss die Last alleine schultern.
Kulle:
Ja, das Gefühl, gefragt worden zu sein, ist in der Tat sehr wichtig. Herr Kanzler, ich frage Sie zum Schluß: Wie gefiel Ihnen der Sommer dieses Jahres?
Kanzler:
Wenn man den zurückliegenden Sommer politisch betrachtet, nicht meteorologisch, sondern politisch, dann war er einfach Mist für die Sozialdemokratie. Das ist ja jetzt auch Gott sei Dank zu Ende.
Kulle:
Der Sommer, die Sozialdemokratie – das ist zu Ende.
Herr Kanzler, vielen Dank für das Gespräch.

1 Liebe Leserin, lieber Leser,
ich Kulle, muß gestehen, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben bei diesem Interview nicht streng wissenschaftlich vorgegangen bin. Zwar stammen einige der zitierten äußerungen vom amtierenden Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder, aber neben ihm äußern sich auch Heide Simonis, Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, und Rudolf Scharping, Bundeskriegs – oh, Pardon! – Verteidigungsminister. Alle gehören der SPD an. Das Schröder-Gespräch wurde in der „Woche“ veröffentlicht (1. 10. 98), Simonis und Scharping sind im August 99 vom „Deutschlandfunk“ befragt worden. Ich habe da einiges gemixt, Inhalt und Sprachduktus jedoch nicht verändert.
Ich, Kulle, habe mich bei einigen Fragen von Professor Friedhelm Hengsbach inspirieren lassen, einem klugen Menschen. Mit dem würde ich gerne auch einmal ein Interview machen, vielleicht unter der Fragestellung: Wie lassen sich Klugheit und Priesertum miteinander vereinbaren?
Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

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