„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen…Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“
Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort). in: MEW Bd. 13, S. 8f, Berlin 197
Der häufige Rekurs auf dieses Zitat könnte als peinlich gelten, beinhalteten die oben bereits in anderen Untersuchungen angeführten Sätze nicht so mannigfaltige Denkanstöße. Aktuell ist uns der Siegeszug von Sars-CoV2 über den Globus Anlass, die durch das Virus initiierten sozial-ökonomischen Veränderungen zu betrachten. Dabei geht es an dieser Stelle nicht um eine umfassende Analyse, die wir uns für später vorbehalten1, sondern um den Aspekt der Umwälzung des gesellschaftlichen Überbaus im Bereich der Kultur in Dehland.
Ein Rückblick sei gestattet auf den Umbruch, den der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland vor 30 Jahren bewirkte.
In der DDR gab es zuletzt 18.118 Bibliotheken; wenn man Gewerkschafts- und Betriebseinrichtungen hinzuzählt, kommt man sogar auf 32.000. 84% der DDR-Bürger gaben seinerzeit an, deren Angebot zu nutzen oder genutzt zu haben, während es in der alten Bundesrepublik 46% waren. Auch kurze Zeit nach der „Wende“ war die Diskrepanz im Leseverhalten noch signifikant: 68% der Ostdeutschen behaupteten 1992, mindestens ein Mal pro Woche ein Buch zu lesen, während es in Westdeutschland 46%2 waren. Bis zum Jahr 2008 hatte sich das Leseverhalten zwischen Ost- und Westdeutschen bereits weitgehend angeglichen, und zwar auf rückläufigem Niveau. Wöchentliche Buchlektüre gehörte nur noch bei 42 Prozent der Ostdeutschen zur Beschäftigung, bei Westdeutschen waren es 43 Prozent.
Wenn wir auf die Zahl der Bibliotheken in Gesamtdeutschland schauen, stellen wir seit Jahren einen Schwund fest. 2019 gab es insgesamt rund 9.300 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken, zehn Jahre zuvor waren es noch knapp 11.000. Während die Anzahl der wissenschaftlichen Bibliotheken Schwankungen unterworfen ist, verzeichnen die öffentlichen Bibliotheken einen stetigen jährlichen Rückgang.
Man mag einwenden, dass Lesen eine individuelle Tätigkeit ist, über deren Ausübung oder Nichtausübung die Menschen autonom entscheiden können, so sie nicht (freiwillig oder gezwungenermaßen) in einer Bildungseinrichtung agieren, die Buchwissen von ihnen fordert. Die obige Skizze über das Bibliothekswesen in BRD und DDR legt allerdings nahe, dass öffentliches Angebot bzw. Nichtangebot das Leseverhalten aktiv3 beeinflussen kann, positiv 4 wie auch negativ.
Es bietet sich an zu untersuchen, ob dergleichen Korrelationen ebenfalls für andere Bereiche des künstlerischen Überbaus gelten.
Auch der Blick auf die Theaterlandschaft beider deutscher Staaten fällt quantitativ zugunsten der DDR aus. 213 Theater leistete man sich, und in den über 2000 Kulturhäusern des Landes befanden sich in der Regel Theatersäle, die auch für Gastspiele genutzt wurden. Dem stehen heute in Gesamtdeutschland 142 Staatstheater, Stadttheater und Landesbühnen sowie 199 Privattheater gegenüber. 213 Theater für 16, maximal 18 Millionen Einwohner stehen 341 Bühnen für mehr als 80 Millionen gegenüber.5
Die öffentliche dehländische Hand lässt sich die bestehenden kulturellen Einrichtungen aktuell einiges kosten, denn Eintrittspreise bzw. Gebühren decken die Ausgaben nicht. Nur ein Beispiel: Eine Eintrittskarte in die Münchner Philharmonie kostete ohne Subventionen 100 Euro im Schnitt mehr. Bund, Länder und Gemeinden geben cum grano salis jährlich zehn Milliarden Euro für Kulturzuschüsse aus.
Warum und wofür tut man das?
Hören wir Wolfgang Thierse, der unter anderem Vorsitzender des SPD-Kulturforums und auch Präsident und Vizepräsident des Deutschen Bundestages war: „Sozialtransfers allein werden die Situation 6 nicht verbessern, es kommt vielmehr gerade auf Teilhabe an Bildung und Kultur an.” Dergleichen Aussagen lassen sich aus Politikermund häufig vernehmen. Staatliche Förderung für Kultur gilt in Dehland als zwingend notwendiger Bestandteil des Sozialstaats, zumindest in Sonntagsreden.
Bleibt zu fragen, welcher Kulturbegriff hier gemeint ist.
Die bedürftigen Empfänger von Sozialtransfers wie die Empfänger des Arbeitslosengeldes II7, lassen sich im Theater auffällig selten blicken. Das dürfte am Geld allein nicht liegen, kostet ein umfangreiches Pay-TV-Angebot doch mehr als 40 Euro im Monat, die auch von Geringverdienern erstaunlich häufig gezahlt werden. Das liegt stattdessen daran, dass der geförderte Kulturbetrieb die tatsächliche Nachfrage nach Kultur ignoriert, dass er den Bürger kulturell entmündigt. Der Staat erklärt dem Bürger, was gute und was schlechte Kunst ist. Der hierdurch adressierte „Bürger“ stellt aber nur ein kleines Segment der Bevökerung dar: Er ist Angehöriger der Mittelschicht mit einer relativ hohen formalen Bildung und einem relativ hohen Alter, der unsicher genug ist, sich von Dramaturgen bevormunden zu lassen.
Dergleichen Strukturen sollen die Ausgaben des Staaes, der sich als Mäzen geriert, legitimieren; sie delegitimieren jedoch die Kunst, weil sie nicht dem Geschmack der Menschen entspricht. Sensiblere Naturen als Thierse dürften das seit geraumer Zeit spüren und nicht wie er sagen: „Unser Wohlstand hängt von der Höhe der öffentlichen Investitionen in Kultur ab”, sondern eher: „Der staatliche Paternalismus muss ein Ende haben; die Kunst geht nach Brot, ja, aber nach dem Brot, das das Publikum zahlt.“
Und dann kommt Corona – und damit das Ende der Bühnen-Kultur.
Das Virus lähmt die gesellschaftliche Produktion des Lebens der Menschen partiell oder nahezu völlig, aber ein totaler „Shutdown“ oder „Lockdown“ ist nur auf begrenzte Zeit möglich, will man soziale Unruhen 8 vermeiden. Auch bei steigenden Infektionszahlen wird, nachdem die Pandemie seit einigen Monaten gewütet hat, versucht, Produktion, Distribution und Konsum „wichtiger Güter“ aufrecht zu erhalten. Das gilt auch für den Bildungssektor: Schulpflichtige Kinder sind die entscheidenden Wirtschaftssubjekte von morgen und deren Eltern die von heute. Also wird der Präsenzunterricht allen medizinischen Empfehlungen zum Trotz qua ministerieller Anordnung erzwungen.
Andere Bereiche sind dagegen nicht „systemrelevant“: Freizeiteinrichtungen, und dazu zählen eben auch Kultureinrichtungen. Aber Freizeit ist nicht gleich Freizeit: Der Besuch einer Shopping-Mall ist systemrelevant 9, der Besuch eines Sinfoniekonzertes kostet den Steuerzahler nur Geld, wegen der Subventionierung der Eintrittskarten. Teile des gesellschaftlichen Überbaus wie das Theater haben ihren historischen Zenit überschritten, zumindest in der Form, in der es heute misshandelt wird.
„Ist das Kunst, oder kann das weg?“ Diese lustig daherkommende Frage, in der die Verachtung für Kunst bereits unüberhörbar ist, kann endlich in eine Aussage umformuliert werden: „Das ist Kunst, also kann das weg.“
Anders lagen die Dinge in der DDR: Theater- und Lesekultur waren systemrelevant, weil der Mensch nicht nur als Wirtschaftssubjekt gedacht wurde, das sein Fressen verdiente, sondern als ein Wesen mit sozialistischer Moral. Der Wismut-Kumpel fluchte, weil er mit seiner Brigade nicht nur nach Uran schürfen, sondern auch am Abend mit ihr ins Kulturhaus gehen musste – aber er ging, und manchmal fand er die Darbietung sogar interessant. Da das in stalinistischen Strukturen verkrustete System aber nicht in der Lage war, außer linientreuer Kunst auch Bananen, Reise- und Gedankenfreiheit bereitzustellen, weigerte sich der DDR-Bürger, ein neuer Mensch zu werden. Er wurde stattdessen Konsument.
Wer empört sich heute über die Erdrosselung der Bühnenkultur wirklich außer den immer noch unermüdlichen Sonntagsrednern? Natürlich die Künstler10, denen der Broterwerb genommen wurde. Und sonst? Die Millenials wird der Verlust nicht auf die Barrikaden treiben, sie treiben zu Recht die Fragen nach ihrer Zukunft um. Die Theaterbesucher werden auch keine Steine aus dem Pflaster reißen, dazu sind sie zu alt.
Manchmal wälzt sich der ganze ungeheure Überbau nicht langsamer, sondern rascher um.
Dezember 2020