Wegen der unruhigen Weltläufte hatten die Bewohner Bärenlebens, obwohl sie eifrig alle ihnen zur Verfügung stehenden externen Informationsquellen nutzten, so viele Fragen an Kulle, dass der eines Abends die Geduld verlor.
„Ich weiß auch nicht mehr als Ihr! Mit Logik hat das, was wir gegenwärtig in der Welt bobachten, nur noch wenig zu tun, und ich bin ein durchaus logischer Bär. Ich kann Euch die Ereignisse nicht besser erklären, als Ihr selbst dazu in der Lage seid. Also schlage ich vor, dass wir das Erklären entweder sein lassen – oder es alle gemeinsam versuchen.“
Nun, nichts zu erklären zu versuchen ging den Bären, dem Frosch, dem Schwein, den Eisbären und der Eule natürlich gegen den Strich, aber unter Kulles Andeutung einer Alternativlösung konnten sie sich nichts vorstellen.
„Wie meinst Du das: ‚Wir versuchen es alle gemeinsam?“ wollte Bärdel wissen.
„Ganz einfach. Wir fertigen Lose an mit Nummern drauf, so viele Lose wie Anwesende. Jeder zieht ein Los, natürlich geheim. Dann stellt jemand eine Frage und nennt eine Zahl. Und der, dessen Zahl genannt worden ist, versucht zu antworten.“
„Und das soll funktionieren?“ Tumu zeigte sich skeptisch.
Kulle zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Einen Versuch ist es wert. Und was auch immer dabei herauskommt – wahrscheinlich werden wir viel zu lachen haben.“
Damit hatte er gewonnen. Nach Sexspielen und Fressen war Lachen die liebste Beschäftigung der Bären.
Eine halbe Stunde später waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Jeder kannte seine Nummer, verriet sie niemandem und hoffte mit allen Kräften, dass sie nicht genannt werden würde, aus Angst, sich zu blamieren. Jetzt galt es nur noch anzufangen.
„Ich fange mal an, damit ich an allem schuld bin,“ schmunzelte Kulle. Er beschloss, keine der Fragen zu formulieren, die ihn wirklich bewegten, denn sie befriedigend zu beantworten, war nahezu unmöglich. Also wollte er eine Anfangsbrücke bauen: „Soll Deutschland an der Fußballweltmeisterschaft in diesem Sommer in Russland teilnehmen?“
„Natürlich!“ scholl es ihm aus Dutzenden von Kehlen entgegen. „Wir wollen’s allen zeigen!“ „Wir werden wieder Weltmeister!“
Das war offensichtlich ein falscher Ansatz gewesen. Die Sportbegeisterung der Bärenlebener war so groß, dass politische Bedenken dagegen nicht ins Gewicht fielen.
„Wer von Euch ist der größte Fan? Wer hat als erster gerufen?“ Kulle gab sich harmlos.
„Ich!“ Der sehr alte Bär hob stolz den Kopf und beide Arme.
„Dann darfst Du jetzt Deine Frage stellen und eine Zahl zwischen eins und achtundneunzig nennen.“
Der Alte war überrumpelt, aber er gab sich nicht geschlagen. „Warum war früher alles besser?“ wollte er wissen und schaute erwartungsvoll in die Runde. Die Runde schaute erwartungsvoll zurück. „Du musst noch eine Zahl zwischen eins und achtundneunzig sagen,“ erinnerte ihn die alte Bärin nach einer Weile.
„Fünfundvierzig!“
„Für uns Schweine war früher alles besser, weil wir im Stall viel mehr Platz hatten, und Auslauf hatten wir auch. Wir waren stolz auf unsere Ringelschwänze und hatten ein glückliches langes Leben, bevor wir zu Wurst und Koteletts verarbeitet wurden. Und die schmeckten! Heute besteht unser Fleisch zu großen Teilen aus Wasser und Antibiotika und schmeckt nach nichts. Aber die Menschen kaufen es, weil es billig ist, und sie essen die Antibiotika und werden so resistent gegen viele Krankheiten, und an denen werden sie sterben, und vielleicht wird für uns Schweine dann wieder alles so schön wie früher, weil weniger Menschen da sind, die uns essen wollen.“
Das war sicher nicht die Antwort, die der sehr alte Bär sich erhofft hatte, aber Piggys Rede war beendet, und er musste sich damit zufrieden geben.
Nächste Frage!
„Gehört der Islam zu Dehland? Dreiunddreißig!“
„Natürlich wünscht Du Dir jetzt ein „ja“, denn Muslime essen kein Schweinefleisch. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht.
Gehört Froschlaich zu Dehland? Oder Kuhmist? Oder Mückenstiche? Das sind doch völlig unsinnige Fragen. Gibt es Laich, Mist und Mückenstiche in Dehland? Das ist die richtige Frage, und die Antwort ist: ja. Passen Laich, Mist und Mückenstiche zu Dehland? Ebenfalls ja, denn es gibt hier seit Menschengedenken Frösche, Kühe und auch Mücken. In Dehland gibt es auch Muslime, wenn auch noch nicht lange, und folglich den Islam. Passt der Islam also zu Dehland? Das ist nicht ganz so einfach wie beim Froschlaich, der schon immer da war. Es muss gefragt werden: Ist der neu eingewanderte Islam mit der dehländischen Verfassung vereinbar? Das sollte der Seehofer untersuchen, anstatt dumm rumzublubbern, dafür ist er schließlich Innenminister. Als kleiner grüner Frosch halte ich mich da aber raus.“
Ramses holte tief Luft, bevor er seine Frage losließ: „Wird Dehland seine Klimaziele erreichen? Fünfzig!“
„Ich, weiß, Du wünscht Dir ein „nein“, denn in diesem Fall wird es aufgrund des steigenden Meeresspiegels und der zunehmenden Regenfälle mehr Feuchtgebiete geben als jetzt. Glückwunsch! Dehland wird seine Klimaziele nicht erreichen, und das ist in gewisser Weise auch gut so. Denn das Vorhaben, den Temperaturanstieg auf 2°C zu begrenzen, akzeptiert, dass Bangladesh völlig unter Wasser gesetzt wird. Aktuell hat das Land 166 Millionen Einwohner. Ob jemand in der Bundesregierung schon mal darüber nachgedacht hat, was das für die höher gelegenen Regionen der Nachbarstaaten bedeutet? Ich habe aber auch noch eine schlechte Nachricht: Dehland wird selbst dieses zu niedrig gesetzte Ziel verfehlen. Noch viel mehr dicht besiedelte Gebiete und Städte weltweit werden vom Wasser verschluckt werden.“
Manfred holte Luft und sagte dann: „Soll ich weiter bei Facebook bleiben?Fünf!“
„Da Du ein kluger Bärenlebener bist, hast Du Dich vermutlich nicht unter Deinem Klarnamen registriert und auch bei der Auflistung Deiner ‚Freunde‘ jede Menge falsche Spuren gelegt. Als unser Admin brauchst Du viele Connections, die Du momentan leichter, vielleicht auch nur bei Facebook findest. Solange das so ist, musst Du das Netzwerk nutzen, fürchten wir. Wir haben recherchiert, dass es in den USA wegen der zunehmenden Adipositas Widerstände gegen zu viele Kohlehydrate in der Nahrung gibt, zum Beispiel in sogenannten Erfrischungsgetränken. Vielleicht tut man deshalb auch etwas gegen den Zuckerberg, und das Facebook-Problem erledigt sich von selbst?“
Die Eisbärenzwillinge verstanden nicht, warum ihr Beitrag allgemeine Heiterkeit auslöste. Sie ließen sich nicht beirren und stellten, ohne sich abzusprechen, wie aus einem Mund ihre Frage: „Weiß Präsident Trump, was er tut? Achtundneunzig!“
„Alle sich ihrer selbst bewussten Lebewesen meinen zu wissen, was sie tun. Meistens stimmt das ja auch: Sie wissen, dass sie fressen, dass sie Sex haben, dass ihnen übel ist, dass sie Mittagsschlaf halten, und so weiter. Sie sind sich allerdings nicht immer der Konsequenzen bewusst, die aus ihrem Tun folgen. Wer zum Beispiel Giftiges frisst, kann krank werden oder sterben, beim Sex kann eine Frau schwanger werden. Wenn Trump in Florida Golf spielt, weiß er vermutlich, dass er mit Hilfe speziell geformter Schläger weiße Bälle in hohem Bogen über grünen Rasen durch die Luft schießt, aber er denkt vielleicht nicht daran, dass er sich stattdessen besser mit Melania aussöhnen, mit seinem kleinen Sohn spielen oder mit Putin telefonieren sollte, um Schlimmes von sich und der Welt abzuwenden. Insofern ist Trump wie jeder andere Mensch. Er ist aber nicht wie die meisten anderen amerikanischen Präsidenten vor ihm: Die haben häufiger darüber nachgedacht, welche Folgen ihr Handeln haben könnte.
Ist künstliche Intelligenz gut oder schlecht? Eins!“
„Intelligenz, mein lieber Mann, ist moralisch neutral. Gut oder schlecht wird sie wegen ihrer Anwendung. Es ist jetzt zum Beispiel positiv intelligent, die Bärenlebener Intelligenz darauf zu richten, den Dorfbewohnern zu ihrem notwendigen Schlaf zu verhelfen, damit sie sich Morgen wieder intelligent wie gewohnt verhalten können. Deshalb sollten wir unsere Versammlung jetzt aufheben und die Frage nach der Bewertung der KI auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Gerne übrigens in Fortführung der Form der heutigen Diskussion, die mir gut gefallen hat. Danke, Kulle, für die Idee!“
Tumus Anregung traf auf ungeteilte Zustimmung.
März 2018